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Kapitel 2 – Die Suche nach der Wahrheit

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Die beiden alten Priester saßen in einem verborgenen Raum des Inneren Zirkels der Akademie von Modonos. Dieser war bisher nicht einmal dem Höchsten Priester bekannt gewesen.

„Als Meister der Todeszeremonie hat man so seine Geheimnisse“, lächelte Roxolay. „Wir befinden uns hier in meinem einstigen Gastzimmer, wie es jedem Mitglied des Inneren Zirkels zusteht. Ich habe allerdings durch einige kleinere Umbauten dafür gesorgt, dass es in Vergessenheit gerät.“

„Warum hast du es mir gezeigt?“, erkundigte sich Ulban.

„Es geht nur darum, dass wir hier ungestört sind“, erwiderte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Außerdem ist es der ideale Ausgangspunkt für mein Vorhaben.“

„Welches Vorhaben?“, wollte der Höchste Priester wissen.

„Murbolts Aufzeichnungen sind nicht das einzige Dokument, das gefälscht wurde“, antwortete Roxolay. „In Rabenstein befindet sich das „Buch der Vorzeit“. Ich bin sicher, dass sogar an diesem Buch Veränderungen vorgenommen wurden.“

Ulban starrte ihn ungläubig an: „Wie kommst du darauf?“

Roxolay spielte geistesabwesend mit einem Federkiel, der vor ihm auf dem Tisch lag, und erzählte: „Einige der alten Geschichten berichten von den Kriegen zwischen den Sterzen und dem Volk von Dunstein. In einer dieser Geschichten wird am Rande erwähnt, dass es in Derfat Timbris und in Tirk Modon bereits bei den Ur-Sterzen Heiligtümer gegeben habe, die nur von wenigen Auserwählten betreten werden durften. Bei Derfat Timbris weiß ich nicht, um welche Gebäude es sich gehandelt haben soll. Aber bei Modonos bin ich mir ziemlich sicher.“ Er hielt inne und sah den Höchsten Priester erwartungsvoll an. Der hatte sofort verstanden: „Die Rotunde?“

„Genau“, bestätigte Roxolay. „Manche Hinweise erlangen erst dann Bedeutung, wenn es sie nicht mehr gibt. Kürzlich habe ich an der besagten Geschichte gearbeitet. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Hinweis auf den heiligen Status fehlt, den diese Orte bei den Ur-Sterzen hatten. Das Gleiche gilt auch für die anderen Heiligtümer wie beispielsweise Loxoterantos oder Kijanduk. Wenn sich jemand derart viel Mühe gibt, ein Buch zu verfälschen, muss es sich um eine Sache von überragender Wichtigkeit handeln.“

„Deswegen willst du, dass ich dir die Rotunde öffne“, stellte Ulban fest, der als Einziger den Schlüssel zu diesem unscheinbaren, aber geschichtsträchtigen Bauwerk besaß. Es war bei der Errichtung des „Inneren Zirkels“ nicht angetastet und sogar als Mittelpunkt gewählt worden.

„Möchtest du etwa nicht wissen, warum das „Buch der Vorzeit“ verfälscht wurde?“, fragte Roxolay zurück.

„Gewiss“, murmelte der Höchste Priester zerknirscht. „Manchmal bin ich wohl etwas zerstreut.“

Roxolay erhob sich und ging zu der Wandvertäfelung. Dort klappte er eine der Zierkassetten nach außen. Mit Hilfe des darunter angebrachten Griffelements schob er ein türgroßes Teil der Trennwand zur Seite. Durch die Öffnung betraten die beiden Priester einen Raum, der große Ähnlichkeit mit dem Zimmer hatte, das sie gerade verließen. Nur befanden sich dort auch tatsächlich Bücher in den deckenhohen Regalen.

Roxolay schob die getarnte Tür in der Wandvertäfelung wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Dann verließen sie auch den zweiten Raum, dieses Mal jedoch durch eine normale Tür, an deren Außenseite sich der Name Roxolays befand. Die mondänen Korridore, denen sie anschließend folgten, waren menschenleer. Tiefe, blaue Teppiche dämpften ihre Schritte. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Rotunde, die durch ihre schmucklosen Steinwände wie ein Fremdkörper innerhalb des „Inneren Zirkels“ wirkte. Ulban fischte einen Schlüsselbund aus seinem Gewand und öffnete die schwere Rundbogentür. Er sah sich noch einmal kurz um. Dann betrat er gemeinsam mit Roxolay den karg ausgestatteten Raum mit der schmucklosen Kuppel.

„Wonach suchen wir?“, fragte der Höchste Priester.

„Das weiß ich auch noch nicht so ganz genau“, gestand Roxolay und ließ seinen Blick über die Decke, die Wände und schließlich den Boden schweifen. Dabei stutzte er. Das durch schmale Einlässe unterhalb der Kuppel einfallende Licht zeichnete eine kreisrunde Fläche in der Mitte des Raumes in einem unmerklich abweichenden Farbton. Das Rot des Sandsteins wirkte dort geringfügig heller.

„Das ist das Licht“, bemerkte Ulban, der dem Blick des Mannes aus Rabenstein gefolgt war. Anstelle einer Antwort hielt dieser seinen Arm über die runde Fläche. Eine Veränderung war nicht feststellbar.

„Es ist nicht das Licht“, staunte der Höchste Priester.

„Der Farbunterschied wird durch den Hohlraum bewirkt, der sich darunter befindet“, bestätigte Roxolay. „Das ist eine Abdeckplatte. Wir müssen die Vorrichtung finden, mit deren Hilfe wir sie bewegen können.“

„Wenn es überhaupt eine gibt“, zweifelte Ulban und deutete mit einer raumgreifenden Geste auf die kahlen, glatten Wände. „Ich glaube nicht, dass es eine gibt. Wahrscheinlich sollte mit der Platte der darunter liegende Schacht endgültig verschlossen werden.“

Roxolay nickte nachdenklich.

„Da muss ich dir zustimmen. Die Platte wurde völlig fugenlos eingesetzt. Das legt den Schluss nahe, dass sie nicht als Abdeckung erkannt werden sollte. Wir müssen sie wohl zerstören wenn wir den Schacht öffnen wollen.“

Ulban starrte ihn entgeistert an.

„Das ist ein Heiligtum. Es wurde selbst beim Bau des Inneren Zirkels nicht angetastet“, stammelte er.

Roxolay verschränkte die Arme vor der Brust.

„Jemand hat das wichtigste Buch der Menschheit und damit unsere Geschichte verfälscht“, rief er in Erinnerung. „Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sollen in die Irre geführt werden. Ich betrachte das zugleich als Bedrohung. Glaubst du wirklich, ich ließe mich von einer lächerlichen Steinplatte davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden?“ In diesem Augenblick ging von dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie etwas Bedrohliches aus. Der Höchste Priester wich einen Schritt zurück.

„Besorge das notwendige Werkzeug!“, forderte Roxolay ihn in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete.

Ulban wandte sich der Tür zu, aber Roxolay rief ihn noch einmal zurück: „Lass den Schlüssel hier!“

Ohne Widerspruch händigte der Höchste Priester dem Mann aus Rabenstein den Schlüssel zur Rotunde aus, den dieser eigentlich nicht besitzen durfte. Dann verließ er den uralten Kuppelbau, um eine Spitzhacke und einen schweren Hammer zu besorgen.

Nachdem es ganz still im Inneren der Rotunde geworden war, kniete sich Roxolay auf die kreisförmige Platte. Dabei fand er bestätigt, was er bisher eher geahnt als gefühlt hatte. Nur er als Spiritant konnte die feinen, für andere Menschen nicht wahrnehmbaren Schwingungen spüren, die offensichtlich aus der Tiefe des Schachts kamen und die Abdeckplatte durchdrangen.

Roxolay wartete zwei Stunden. Der Höchste Priester hätte längst zurück sein müssen. Schließlich fand sich der ehemalige Meister der Todeszeremonie mit den nicht mehr zu leugnenden Tatsachen ab: Ulban würde nicht mehr kommen; ihm war etwas zugestoßen.

Roxolay verließ die Rotunde und verschloss sie. Er begab sich zu seinem verborgenen Zimmer und von dort aus durch den Geheimgang zu der unscheinbaren Scheune auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Vorerst waren seine Nachforschungen gescheitert.

*

Die schwarzhaarige Frau in dem braun gestreiften Gewand kam Ulban gerade recht.

„Würden Sie mir bitte eine Spitzhacke und einen schweren Hammer besorgen?“, bat er sie.

Die nette Dame mit der schlimmen Narbe im Gesicht nickte freundlich und entfernte sich mit einem „Gerne, Eminenz“, obwohl ein gewisses Erstaunen in ihrem Gesichtsausdruck nicht zu übersehen war.

Ulban öffnete die für den Höchsten Priester bestimmte, jedoch lange Zeit unbewohnte Zimmerflucht. Sein Vorgänger, Saradur, hatte nach seiner Beförderung weiterhin die Räume des Ordenssprechers beibehalten, und dessen Vorgänger, Berion, hatte sich fast nie mehr als ein paar Stunden in Modonos aufgehalten.

Auf dem Tisch stand ein Becher mit klarem Mineralwasser, das noch leicht perlte.

Gedankenverloren trank der Höchste Priester einen Schluck und setzte sich dann an seinen Arbeitsplatz. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ulban verwarf seinen ersten Gedanken, dass die Frau mit den von ihm angeforderten Gerätschaften bereits zurückgekehrt sein könnte. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, welcher in der braun gestreiften Kleidung der Hilfskräfte vor der Tür stand.

„Darf ich eintreten, Eminenz?“, fragte er respektvoll. „Ich habe eine Nachricht für Sie.“

„Kommen Sie herein!“, forderte Ulban ihn auf. „Ich habe jedoch nur wenig Zeit.“

Beim Eintreten warf der Mann einen kurzen Blick auf das Glas mit dem Wasser. Der Höchste Priester bemerkte, dass sein Besucher irgendetwas kaute.

„Mein Name ist Brinngulf Sterndek“, stellte sich der Mann vor. „Ich muss Sie bitten, mich auf einer langen Reise zu begleiten.“

Der Höchste Priester sah ihn an, als zweifle er an seiner geistigen Gesundheit.

„Sie haben wohl den Verstand verloren“, herrschte er den drahtigen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht an. „Ich habe hier wichtige Aufgaben zu erfüllen. Verschwinden Sie jetzt!“

Brinngulf Sterndek rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Ich bitte Sie inständig, Ihre Entscheidung nochmals in aller Ruhe zu überdenken“, insistierte er und deutete auf den Wasserbecher. „Geriadis ist das heimtückischste aller Gifte. Seine Wirkung setzt erst nach zehn Stunden ein, aber dann löst es fürchterliche Qualen aus, bevor es zum Tod führt. Wenn es einmal in den Körper gelangt ist, kann man es nie mehr beseitigen. Es gibt lediglich ein Gegenmittel, mit dem die Wirkung immer wieder um zehn Stunden hinausgeschoben werden kann. Ich besitze eine große Menge dieses Gegenmittels.“

Voller Entsetzen blickte Ulban zu dem Becher, aus dem er kurz zuvor getrunken hatte. Die Tür, die einen Spaltbreit offengeblieben war, wurde aufgeschoben. Die schwarzhaarige Frau mit der auffälligen Narbe trat ein. Sie hatte jedoch nicht die Werkzeuge bei sich, die sie besorgen sollte.

„Wir können jetzt gehen“, sagte sie.

„Er ist noch unentschlossen“, erwiderte Brinngulf Sterndek.

Langsam verstand Ulban. „Sie haben das Wasser vergiftet“, warf er der Frau anklagend vor.

„Das ist richtig“, entgegnete sie ungerührt, trat zu dem Tisch und leerte den restlichen Inhalt des Bechers in einem Zug. Dann trocknete sie ihn mit einem Zipfel ihres Gewandes aus und stellte ihn zurück.

„Ich bin immun gegen Gifte aller Art“, erklärte sie. „Ihnen rate ich dagegen dringend, das Angebot meines Bruders anzunehmen.“

Obgleich Ulban zweifelte, folgte er dem sonderbaren Geschwisterpaar. Er war nicht bereit, ein tödliches Risiko einzugehen, noch nicht.

*

Sein langer, blauer Mantel umwehte den Herold, als er mit zwei Pferden am Zügel den Besucher aus Mithrien vor dem Höhleneingang von Sylabit erwartete.

Auch Sestors schwarze Haare wurden beim Verlassen der Höhle vom Sturm erfasst und flatterten wie ein Banner um seinen Kopf. Der Wind heulte so laut, dass der Eisgraf schreien musste, um sich verständlich zu machen.

„Ich bin Sestor“, rief er. „Ich liebe die Stürme von Zogh.“

„Mein Name ist Prandorak“, tönte der Herold und hielt dem Eisgrafen die Zügel eines der beiden Pferde entgegen. „Jetzt bin ich tatsächlich dem ersten Menschen begegnet, der die Stürme von Zogh liebt.“

Trotz der widrigen Witterung lachten beide, während sie auf die Pferde aufstiegen.

„Haben Sie schon etwas in Erfahrung bringen können?“, wollte Sestor wissen.

„Nachdem ich gehört habe, worum es geht, war ich nicht untätig“, antwortete Prandorak. „Ich werde Ihnen unterwegs alles erzählen, Graf Sestor.“

„Nenne mich einfach „Sestor“!“, verlangte der Eisgraf. „Wir werden wohl längere Zeit zusammen reiten. Da sollten wir uns nicht mit Förmlichkeiten aufhalten.“

„Einverstanden“, gab der Herold bereitwillig zurück und trieb sein Pferd an. „Zuerst reiten wir zum Zyggdal-Gebirge. Dort gibt es eine Frau, die als Kind eine Replica gesehen haben will.“

Die erste Rast legten der Eisgraf und der Herold nach drei Stunden ein. Prandorak packte seinen Proviantsack aus und reichte Sestor ein großes Stück dunkel gebackenen Brotes, geräucherte Fleischstreifen und getrocknete Früchte.

„Ich habe mich so sehr nach diesem wundervollen Brot gesehnt“, schwärmte Sestor mit leuchtenden Augen. „Ich hoffe, du hast noch jede Menge davon.“

„Da kannst du beruhigt sein“, erwiderte Prandorak. „Außerdem bekommen wir es auch in den Höhlen. Wenn ich dich so höre, solltest du dir überlegen, nach Zogh umzusiedeln.“

Sestor grinste: „Es würde mir aber schwerfallen, mich zu entscheiden, wo ich hier am liebsten leben würde.“

„Du hast ja jetzt ausreichend Gelegenheit, die Höhlen kennenzulernen“, versprach der Herold. „Aber erzähle mir: Worum geht es eigentlich bei der Suche nach dieser Weißen Frau?“

„Telimur und Königin Quintora glauben, dass diese Frau namens Larradana die Stammmutter der Pylax und deshalb vor den anderen Replicas geflohen ist. So steht es jedenfalls in einer alten Schrift, die nach der Meinung des Königspaars gefälscht wurde“, berichtete Sestor. „In dem Buch steht jetzt, Larradana sei getötet worden. Telimur will beweisen, dass dies eine Fälschung ist, und vor allem will er den Grund für diese Fälschung herausfinden.“

Prandorak schüttelte verständnislos den Kopf: „Wegen eines Buches jagen wir ein Phantom?“

„Ich finde das ziemlich spannend“, grinste Sestor. „Wenn die Geschichte allerdings stimmt, kann es ganz schnell sehr gefährlich werden. Die Weiße Frau soll über ungeheure Kräfte verfügen, wohingegen angeblich meine besonderen Fähigkeiten als Eisgraf in ihrer Gegenwart versagen. Das glaubt jedenfalls Quintora.“

Prandorak wusste, dass Sestor damit den „vernichtenden Blick“ meinte.

„Meine Boten haben die Frau überwacht, die angeblich als Kind von einer Replica gerettet wurde“, berichtete er. „Sie bringt regelmäßig Opfergaben in eine Höhle.“

„Opfergaben?“, sinnierte Sestor. Ein Blick in Prandoraks Augen bestätigte ihm, dass der Herold das Gleiche dachte wie er. Bereits nach einem dreistündigen Ritt hatten sie jahrhundertealte Barrieren durchbrochen und ein wechselseitiges Verständnis entwickelt, das oft keiner Worte bedurfte. Sie bestiegen wieder ihre Pferde und ritten den restlichen Weg durch den „Saum“, die Hügellandschaft in den Ausläufern des Aralt. Am frühen Abend erreichten sie eine kleine Ortschaft am Fuß des Toipengeh, wo ihr Aufstieg in das Hochgebirge beginnen sollte. Dort kehrten sie in einer kleinen Herberge ein. Bei Höhlenbier und einer deftigen Mahlzeit scherzten und lachten die beiden Männer bis tief in die Nacht hinein. Bei ihrem Anblick hätte niemand vermutet, dass sie im Begriff standen, eine Katastrophe auszulösen.

*

Aus dem Bewacher war ein Mann geworden, der nun seinerseits bewacht wurde. Seit vielen Monaten wurde Xaranth in einem geräumigen Kellerraum gefangen gehalten. Dieser Raum gehörte zum herrschaftlichen Landsitz des freien Kapitäns Jalbik Gisildawain auf einem idyllisch gelegenen Hügel der Insel Borgoi. Fenster und Türen des privaten Kerkers waren mit dicken Eisenstäben vergittert. Für den Bewacher der Gruft wären dies keine Hindernisse gewesen, wenn er noch über seine Salastra hätte verfügen können. Er hatte diese schreckliche Waffe jedoch geopfert, um sich selbst zu retten. Xaranth erinnerte sich noch haargenau an die Sekunden bevor der tosende Orkan sein Schiff zerfetzt und ihn über Bord gefegt hatte. In dem Augenblick, als er die Salastra ins Meer fallen ließ, brach er den Jahrtausende alten Schwur. Aber gleichzeitig rettete er damit sein Leben. Nur – was war das nun für ein Leben?

Der Freibeuterkapitän hatte ihn aus dem südlichen Ozean gefischt und hielt ihn seitdem gefangen. Jalbik Gisildawain ahnte, dass der außergewöhnlich große, hagere Mann mit den fremdartigen, gelben Augen etwas Besonderes darstellte. Allerdings war es ihm bisher immer noch nicht gelungen, herauszufinden, wer bereit sein könnte, für seinen unfreiwilligen Gast ein stattliches Lösegeld zu zahlen.

Wenngleich der Kapitän auch nicht die gefährliche Aura spürte, die den Gefangenen umgab, so hatte er sich doch stets bemüht, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Er besorgte ihm alle gewünschten Speisen und Getränke, soweit dies in seiner Macht stand. Wenn er nicht gerade zur See fuhr, leistete er ihm oft stundenlang Gesellschaft. Dennoch kam es nie zu einem wirklich tiefgründigen Gespräch – nicht bis zu diesem Abend.

„Es geht Ihnen nicht um ein Lösegeld“, behauptete Xaranth. „Das erzählen Sie nur, weil Ihre Mannschaft das hören will.“

„Wie kommen Sie auf diese Idee?“, fragte Jalbik Gisildawain, scheinbar verwundert.

„Nur Menschen streben nach Reichtum“, erwiderte der Bewacher der Gruft. „Sie sind aber keine menschliche Lebensform. In all den Monaten meiner Gefangenschaft und unserer Begegnungen habe ich Ihr Verhalten sorgfältig studiert. Sogar Ihre Augen sind anders als diejenigen der Menschen.“

Es trat eine lange Pause ein. Dann sagte Jalbik Gisildawain: „Sie irren sich zumindest in einem Punkt. Vor Ihnen steht tatsächlich ein Mensch. Nur spricht nicht er zu Ihnen, sondern ich.“

Aus der Brusttasche des Freibeuters krabbelte ein kleines, schwarzes, raupenartiges Wesen. „Die Obesier nennen uns Mon’ghale“, fuhr der Kapitän fort. „Ich nehme an, Sie wollen mir einen Handel vorschlagen.“

„Dazu müsste ich zuerst einmal wissen, womit ich Ihnen überhaupt helfen kann“, belehrte Xaranth mit seiner unangenehm sägenden Stimme den Mon’ghal.

„Für die Fortpflanzung unseres Volkes ist eine Ovaria erforderlich, eine Stammmutter“, erklärte der Mon’ghal durch den Mund des Kapitäns. „Die Gute Mutter in Obesien wurde von einer Eisgräfin getötet. Jetzt gibt es nur noch eine schlummernde Ovaria. Sie ist die Einzige, die den Fortbestand meines Volkes sichern könnte. In Obesien befindet sie sich jedoch in großer Gefahr. Sie muss in Sicherheit gebracht werden.“

Xaranth steckte in einem Dilemma. Solange er die Salastra trug, war es ihm verboten gewesen, Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht mit der Bewachung der Gruft und der Goldenen Pforte in Zusammenhang standen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob sich daran nun etwas geändert hatte. Dagegen wusste er mit tödlicher Sicherheit, dass er auf keinen Fall einen Fehler begehen durfte. Es gab Mächte in dieser Welt, gegen die selbst ein Bewacher der Gruft völlig hilflos war. Durch seinen Schwur hatte er sich diesen Mächten ausgeliefert, auch wenn er diesen Schwur gebrochen hatte. Es gab weitaus Schlimmeres als dieses Gefängnis.

„Ich brauche drei Tage Bedenkzeit“, sagte er ungewöhnlich leise.

Er wusste nicht, wie seine Entscheidung aussehen würde, und dies erfuhr er auch nie. Die Entscheidung wurde ihm kurz vor Ablauf der selbst gesetzten Frist abgenommen.

*

Die Erregung des Rektors steigerte sich noch mehr als er den Eindruck gewann, dass bei diesem Angriff die Waffen einer Frau sehr gezielt eingesetzt wurden. Und das auch noch von zwei Frauen. Es fiel ihm schwer, seinen Blick von den lasziv übergeschlagenen Beinen seiner beiden Besucherinnen loszureißen. Die ohnehin kurzen Kittel waren im Verlauf des Gesprächs bis zum Ansatz der Oberschenkel hochgerutscht. Was als harmloser Versuch begonnen hatte, die Überzeugungsbildung des Gesprächspartners zu beeinflussen, schien nun in einen Wettbewerb zu münden. Spätestens als auf den markant männlichen Zügen des ebenso charmanten wie gebildeten Rektors dieses gewinnende Lächeln erschien, statt eines lüsternen Grinsens, wurde den Zwillingen erstmals in ihrem Leben bewusst, dass dieses eine Exemplar nicht für zwei Frauen ausreichen würde.

Den Rektor seinerseits plagte das gegenteilige Problem. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich auf einen Teil dieses äußerst attraktiven Duos festzulegen.

„Man hat mich gegen meinen Willen zu einer Symbolfigur erhoben“, erklärte er zaudernd. „Wenn ich jetzt nach Modonos ginge, könnte dies den zerbrechlichen Frieden im Osten und auch den Zusammenhalt des Ordens gefährden.“

Die Zwillinge verständigten sich durch einen kurzen Blick. Dann sprach Teralura.

„Es wäre ja nur vorübergehend“, sagte sie mit einschmeichelnder Stimme. „Bis Sie zu einem Abschluss Ihrer Studien gekommen sind.“

„Wenn Roxolays Annahmen zutreffen, werden aber sehr gründliche und langwierige Studien erforderlich sein“, gab Zyrkol zu bedenken. „Man müsste dann versuchen, sämtliche Stellen aufzuspüren, die in den alten Schriften verändert wurden. Die Nachforschungen sollten sich vielleicht nicht nur auf das „Buch der Vorzeit“ beschränken.“

„Aber wer außer Ihnen sollte hierzu imstande sein?“, hielt Orhalura ihm vor. „Sie sind der belesenste Mann des Ordens. Nachdem die Originale verschwunden sind, könnte folglich keiner so viele Ungereimtheiten feststellen wie Sie.“

„Haben Sie auch daran gedacht, dass man versuchen wird, mich in die internen Auseinandersetzungen des Ordens hineinzuziehen?“, fragte Zyrkol. „Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass Ulban tot oder verschwunden ist, wird es ein Gerangel um das Amt des Höchsten Priesters geben. Ich bin nicht bereit, mich an solchen Auseinandersetzungen zu beteiligen.“ Tief in seinem Inneren wusste der Rektor jedoch, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Er, der immer nach einer Erneuerung des Ordens gestrebt hatte, würde nur allzu gerne bereit sein, eine tragende Rolle in diesen Intrigen zu übernehmen.

„Wir werden Sie abschirmen“, beteuerten die Zwillinge wie aus einem Mund und setzten ihr süßestes und verführerischstes Lächeln auf. Zyrkol atmete tief durch: „Glauben Sie wirklich, dass ich mich dann noch mit der notwendigen Aufmerksamkeit der Aufgabe widmen könnte, die Roxolay mir zugedacht hat?“

Zur gleichen Zeit, als sein Name in Dunculbur ausgesprochen wurde, fasste der Meister der Todeszeremonie in seinem kleinen, unscheinbaren Haus am nördlichen Stadtrand von Modonos einen folgenschweren Entschluss. Er war kein Mann, der tatenlos herumsitzen und warten konnte. Ein erneutes Eindringen in die Rotunde schien derzeit nicht denkbar. Nach dem Verschwinden Ulbans herrschte auf den Gängen des Inneren Zirkels ein hektisches Treiben. Verschiedene Interessengruppen hatten bereits begonnen, über Bündnisse zur Besetzung seines angeblich vakanten Postens zu verhandeln. Gerade Roxolay hätte sich nicht auf den Korridoren um die Rotunde herumtreiben können, ohne bemerkt und ständig angesprochen zu werden. Deshalb beschloss er, sich zu einem anderen Ort zu begeben, einem Ort, dessen frühere Bedeutung ebenso wie diejenige der Rotunde durch eine Fälschung aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit gelöscht werden sollte: Derfat Timbris.

*

Trotz seiner beträchtlichen Leibesfülle und Körpermasse bewegte sich der Ureinwohner wie ein schlanker, pfeilschneller Fisch unterhalb der Wasseroberfläche des gewaltigen Lumbur-Stromes auf das gegenüberliegende Ufer zu. Seitlich versetzt zu den Brücken, die die Inseln miteinander verbanden, schwamm Mulmok bis er die letzte Insel erreicht hatte. Von dieser Insel aus konnte man deutlich das „Tor zu Lumburia“ sehen, zwei Felsnadeln, die selbst die hohen Bäume des umliegenden Regenwaldes überragten.

Er wusste, dass jetzt der schwierigste Teil seines Vorhabens begonnen hatte. Von der letzten Insel aus gab es keine Brücke zum lumburischen Ufer. Früher konnte man dieses Ufer durch eine Fähre erreichen. Diese war jedoch inzwischen längst stillgelegt worden. Obwohl sich die Fähre nicht mehr in Betrieb befand, zweifelte Mulmok nicht daran, dass irgendwo in der Nähe der ehemaligen Anlegestelle der Fährmann lauerte. Sicherlich übte er nunmehr die Tätigkeit eines Wächters aus.

Jedes ungewohnte Geräusch, jede außergewöhnliche Wellenbewegung, konnte verräterisch sein. Mit äußerster Vorsicht näherte sich Mulmok der Rückseite der kleinen Insel, die von der Anlegestelle aus nicht einsehbar war. Behutsam, jeden unnötigen Schwung vermeidend, ließ er sich mehr auf die Sandbank gleiten, als dass er seinen Körper gezielt bewegte.

Mulmok befand sich im Klaren darüber, dass er einen Tabubruch beging, dessen Notwendigkeit er selbst verschuldet hatte. Wieso hatte er nicht bemerkt oder sogar unwissentlich zugelassen, dass Korvinag den Wanderstab Qaromars nach Lumburia zurückgebracht hatte? Während des Kampfes gegen die Weiße Frau in Rabenstein war der Einsiedler klammheimlich verschwunden, um ein törichtes Versprechen einzulösen. Nun musste Mulmok in ein Land eindringen, zu dem man ihm den Zutritt verboten hatte, ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es als sein Heimatland galt.

Erst als sicher schien, dass der Fährmann seine Ankunft nicht bemerkt hatte, robbte er zu der Anhöhe hinauf, die ihm einen Blick auf die andere Seite des breiten Stroms ermöglichte. Lange Zeit verharrte er völlig regungslos. Auch im Bereich der Anlegestelle war nicht die geringste Bewegung erkennbar. Ein winziger, für menschliche Augen nicht erkennbarer Reflex genügte. Die Augenpaare zweier Ureinwohner hatten ihn sofort erfasst. Eine nur handtellergroße Scheibe, die zwanzig Meter oberhalb des lumburischen Ufers in der Luft mit irrwitziger Geschwindigkeit rotierte, schien in nebelhafter Weise eine Flüssigkeit zu versprühen. Der Fährmann tauchte blitzartig zwischen den Büschen am oberen Rand der Uferböschung hinter dem schmalen Sandstreifen auf. An seinen Lippen lag ein Blasrohr. Mulmok brauchte nicht genauer hinzusehen, um zu wissen, dass er giftige Pfeile auf die kleine Scheibe abschoss. Diese entfernte sich jedoch unglaublich schnell ins Landesinnere. Als Mulmok den Blick von der Stelle löste, an der sie soeben entschwunden war, konnte er auch den Fährmann nicht mehr sehen.

Der Lumburier verharrte in seinem Versteck bis zum Einbruch der Nacht. Dann glitt er geräuschlos durch den Fluss zum lumburischen Ufer. Dort näherte er sich unter Aufbietung aller ihm möglichen Vorsicht dem Ort, an dem er den Fährmann zuletzt gesehen hatte. Zehn Meter entfernt hielt er bewegungslos inne. Die Stunden vergingen ohne jegliches Lebenszeichen des Uferwächters.

Im frühen Morgengrauen lichteten sich die Nebel in der Flussniederung. Zäh stiegen sie in diesigen Schleiern hoch und verhingen die aufgehende Sonne. Mulmok tastete sich noch näher an den letzten Standort des Fährmanns heran. Und dort befand er sich immer noch! Mit eigenartig verrenkten Gliedern hing er kopfüber in mehreren durchgebogenen Baumschößlingen.

Mulmok ließ nun alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Er erhob sich und ging zu dem reglosen Körper. Ein Griff zum Puls des Fährmanns bestätigte ihm, dass dieser noch lebte. Mulmok wuchtete seinen schweren Landsmann in den weichen Sand und untersuchte ihn. Die Lebensfunktionen des Uferwächters waren auf ein Minimum gesunken. Sein Zustand schien kritisch, aber Mulmok wusste, dass er überleben würde. Die Bewusstlosigkeit würde allerdings noch Tage andauern. Daher trug er ihn zu der Fähre und legte ihn dort ab. Danach verankerte er das Floß weit genug vom Ufer entfernt im Fluss, sodass der Körper vor wilden Tieren geschützt war. Anschließend setzte er seinen Weg fort.

Der schmale Pfad durch den lumburischen Regenwald führte zu der kleinen Ansiedlung, an deren Errichtung der Lumburier einst maßgeblich beteiligt war. Dort hatte eine Gruppe von Leuten versucht, Rote Mondorchideen zu kultivieren, um einer anderen Gruppe von Leuten das ewige Leben zu ermöglichen. Geendet hatte das alles in einer Orgie von Gewalt und Tod. Mulmoks analytisch und akribisch arbeitender Verstand war weit davon entfernt, solche Dinge auch nur ansatzweise zu verstehen. Er hatte sich seinerzeit allein aus Freundschaft zu dem letzten Wanderpriester Qaromar an diesem Projekt beteiligt. Dabei hatte er nicht nur eine Verschwörung aufgedeckt, sondern gleichzeitig auch die damals größte Gefahr für den Kontinent beseitigt. Gedankt hatte man ihm dies mit der Verbannung aus Lumburia. Aber deswegen Groll zu hegen, kam ihm nicht in den Sinn. Er scherte sich ohnehin nicht um Verbote, sondern tat, was getan werden musste. Dabei ließ er sich von nichts und niemandem behindern.

Während der ganzen Zeit seiner Wanderung herrschte in der Umgebung des Pfades eine sonderbare Stille. Mulmok hatte den Eindruck, als würde er auf einem endlosen Friedhof wandeln.

Nach fünf Tagesmärschen erreichte er die Ansiedlung auf der kleinen Lichtung. Dort fiel ihm zuerst eine zusammengekrümmte Gestalt mitten auf dem Platz zwischen den teilweise bereits verfallenen Hütten auf. Mulmok drehte den Mann auf den Rücken. Es handelte sich um einen jüngeren Lumburier, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Sein Zustand entsprach dem des Fährmanns: eine voraussichtlich lang andauernde, aber nicht lebensbedrohliche Bewusstlosigkeit.

Mulmok schaute sich um. Das Lager schien menschenleer zu sein. Aber es waren auch keine der gewohnten Tierlaute zu hören. Bei näherem Hinsehen stellte der Ureinwohner fest, dass einige kleine Echsen und Vögel bewegungslos am Boden lagen. Das Ganze wirkte äußerst unheimlich. Mulmok besann sich auf sein Vorhaben und beschloss, es möglichst schnell zu Ende zu bringen. Er ging zu der Hütte, die nach außen hin den besten Erhaltungszustand vermittelte. Seine Mutmaßung hatte ihn nicht getrogen. Er hatte sein Ziel erreicht.

Auf dem mit Schilfmatten ausgelegten Boden lag ein alter, weißhaariger Ureinwohner. Seine Hand umklammerte den Stab des letzten Wanderpriesters. Einige Beschädigungen der Hüttenwände unterhalb des umlaufenden Lichtdurchlasses deuteten darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Die Kratzer und Löcher stammten zweifellos von der rötlichen, immer noch ausgefahrenen Lanzenspitze des Stabes.

Ein Griff zur Halsschlagader des alten Mannes bestätigte Mulmok, dass er tot war. Die Lumburier hatten das angesehenste Mitglied ihrer lockeren Stammesgemeinschaft verloren. Diese Gemeinschaft, die trotz ihrer losen Bindung ein unvergleichlich starkes Bollwerk nach außen darstellte, war durch das Ableben des Ältesten zweifellos erheblich geschwächt. Der Weiseste der Ureinwohner verlor nun zum zweiten Mal den Besitz des mysteriösen Wanderstabes, den Korvinag getreu seinem Versprechen nach Lumburia zurückgebracht hatte. Dieses Mal war der Verlust des mächtigen Artefakts endgültig.

Mulmok öffnete vorsichtig die erkaltete Hand des alten Mannes und entnahm ihr den Stab mit der versenkbaren Klinge, die aus einem Material bestand, das von den Eingeweihten „Torr-barakt“ genannt wurde, die „gefrorene Flamme“. Behutsam bettete Mulmok die Leiche der wichtigsten Autorität seines Volkes auf dessen Liegestatt. Dann verließ er die Hütte und schloss die Tür. Der bewusstlose junge Ureinwohner würde nach seinem Erwachen den Toten finden und entsprechend den Riten seines Volkes bestatten lassen.

Als der junge Mann lange Zeit später die Augen aufschlug, hatte Mulmok mit dem Wanderstab längst den Lumbur-Strom durchquert und befand sich auf seiner Rückreise durch Surdyrien nach Rabenstein.

*

„Da kommt ein einzelner Reiter!“, meldete Wurluwux. Die Schärfe seiner Augen entsprach ihrem stechenden Blick, der ihm den Tarnnamen „Skorpion“ eingetragen hatte.

„Mit einer solchen Information kann niemand etwas anfangen“, grantelte der vierschrötige, narbengesichtige Mann mit dem auffälligen, zerbeulten Spitzhut. Er stand am Fuß der Mauer, auf deren Krone sich der „Skorpion“ postiert hatte.

„Dann komm doch selbst rauf, wenn du meinst, dass eine Blindschleiche mehr sieht als ein Adler“, schimpfte der kleine Mann mit dem braunen Wuschelkopf auf der Mauer.

Shrogotekh setzte bereits zu einer handfesten Entgegnung an, aber dann ertönten die warnenden Worte des „Skorpions“: „Das ist der alte Kerl mit dem Totenschädel und den weißen Fransen. Gib sofort Schaddoch und Rakoving Bescheid!“

Der Räuberhauptmann am Fuß der Mauer machte auf dem Absatz kehrt und spurtete zu dem eingefallenen Langhaus, in dessen Inneren sich Baron Schaddoch mit seinen Begleitern niedergelassen hatte.

„Der Berg kommt zum Propheten“, murmelte Rakoving, nachdem Shrogotekh die Nachricht überbracht hatte. „Ich werde ihm auf dem Vorplatz hinter der Torallee entgegentreten. Ihr könnt euch dort in den umliegenden Ruinen verstecken.“

Sofort hasteten die Männer los. Sie hetzten durch die staubigen Straßen und altehrwürdigen Ruinen der einstmals heiligen Stadt. Rakoving begab sich hingegen ohne Eile zu dem Vorplatz, wo der Legende nach die Oberhäupter der Sterzen mit ihren Opfergaben die Prozession der heiligen Männer empfangen hatten. Inmitten dieses Platzes erwartete Rakoving mit verschränkten Armen den einsamen Reiter, der wohl gekommen war, um ihn zu töten. Offenbar hatte er mit seiner Verwandlung das Geflecht der alten Wesenheiten nicht täuschen können. Der Meister der Todeszeremonie wusste anscheinend genau, wo sein Opfer sich aufhielt. Der knochige Klepper des Meisters schien genauso alt zu sein wie sein Reiter, der sich nur noch mit Mühe im Sattel zu halten schien. Aber Rakoving ließ sich nicht blenden. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Mann, an dessen Seite er geholfen hatte, Rabenstein zu verteidigen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies gerade eben erst geschehen war. Und nun waren aus Kampfgefährten Todfeinde geworden.

„Ich grüße Euch, Meister der Todeszeremonie“, sagte Rakoving mit seltsamer Betonung.

Auf Roxolays Gesicht trat ein Ausdruck des Erstaunens. „Wer seid Ihr, dass Ihr mich so nennt?“, fragte er.

Der ehemalige Eremit aus Borthul beschloss, das Spiel des Alten eine Weile mitzuspielen. „Mein Name ist Rakoving“, antwortete er.

„Rakoving“, wiederholte der Meister der Todeszeremonie versonnen. Und nochmals: „Rakoving.“ Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten: „Wahrlich, Ihr seid ein phänomenaler Schauspieler. An Eurem Äußeren hätte ich Euch nie und nimmer erkannt. Aber ist dieses vordergründige Spiel mit den Buchstaben Eurer würdig? Virkagon, der Mitbegründer des Geheimen Bundes von Dunculbur, Korvinag, der alte Eremit aus Borthul, und jetzt Rakoving?“

„Der Name einer Person ist mit ihrer Seele verwoben“, entgegnete der Schauspieler. „Man kann ihn nicht aufgeben, wohl aber die Reihenfolge seiner Buchstaben verändern. Ist das wirklich zu durchsichtig? Ohne das Geflecht hättet Ihr mich nie gefunden.“

Roxolay zog fragend die weißen Augenbrauen hoch: „Wieso sollte ich Euch gesucht haben?“ Dann aber veränderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck. Völlig ansatzlos hielt er plötzlich eine Kristallskulptur in der Hand. Sie reflektierte die warme Abendsonne in allen Farben des Regenbogens.

Rakoving wusste um die Wirkungen dieses Gegenstandes, der auch als schreckliche Waffe benutzt werden konnte. Sobald die Statue auf dem Boden zersplitterte, würde auch Roxolays Gegner in Tausende von Stücken zerbersten.

„Nun ist die Maske gefallen“, stellte der frühere Einsiedler leidenschaftslos fest.

„Warum wollt Ihr mich töten?“, fragte Roxolay.

Der Borthuler lachte auf: „Was soll diese Komödie?“

„Sagt Euren Männern in ihren Hinterhalten, dass sie die Stiftlader weglegen sollen“, verlangte Roxolay. „Dann werde ich den Kristall wegstecken, und wir können uns darüber unterhalten, was all dies zu bedeuten hat.“

„Wenn ich das tun würde, wäre ich schutzlos“, widersprach Rakoving. „Ihr seid gekommen, um mich zu töten. Oder seid Ihr etwa nicht der Meister der Todeszeremonie?“

Roxolay schaute ihn durchdringend an. „Habt Ihr hier irgendwo einen weißen Kreis gesehen?“, fragte er. „Wir kennen doch beide die Regeln.“ Rakoving musterte genau die Umgebung und wurde plötzlich sehr nachdenklich. Dann gab er ein Handzeichen.

Schaddoch und seine Männer legten in ihren Verstecken die Stiftlader beiseite. Roxolay ließ die kleine Kristallskulptur unter seinem Gewand verschwinden und fragte den ehemaligen Kampfgefährten: „Wovor fürchtet sich der gefährlichste Mann der Welt, den jemand einmal den „Kettenhund des Geflechts“ genannt hat?“

„Vor dem anderen Kettenhund des Geflechts“, erwiderte Rakoving und deutete auf den Meister der Todeszeremonie. Dann fügte er etwas leiser hinzu: „Und vor dem Geflecht selbst.“

Roxolay sah ihn erschrocken an. Dann schwang er sich von seinem Pferd und ging ein paar Schritte auf Rakoving zu: „Was ist geschehen, alter Freund?“

„Habt Ihr nicht den Aufschrei des Geflechts gehört?“ fragte der Borthuler erstaunt. Unfähig zu einer Antwort schaute Roxolay nur fassungslos drein.

„Dann schwebt Ihr in der gleichen Gefahr wie ich“, stellte Rakoving nüchtern fest. „Aber sagt – warum seid Ihr hier, wenn nicht um mich zu töten?“

In knappen Worten berichtete der Meister der Todeszeremonie von der Fälschung der alten Schriften und der Aufzeichnungen Murbolts, von seinem Eindringen in die Rotunde und dem Verschwinden Ulbans. Er schloss mit den Worten: „Ich bin davon überzeugt, dass entweder in der Rotunde oder hier in Derfat Timbris der Schlüssel liegt.“ Rakoving nickte nachdenklich und gab ein weiteres Handzeichen. Daraufhin verließen Schaddoch und seine Begleiter ihre Verstecke und näherten sich den beiden Männern. Währenddessen erzählte der ehemalige Eremit von seiner Suche nach Selazidang und den Entdeckungen, die er dabei gemacht hatte.

„Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wo man mit den Nachforschungen über das Geheimnis von Derfat Timbris beginnen könnte?“, fragte er zuletzt.

Roxolay kraulte sich gedankenverloren am Kinn. „Derfat Timbris war ein geweihter Ort“, meinte er. „Es gibt hier viele Tempelanlagen und sonstige Heiligtümer. Die einzige Anlage, die aus dem Rahmen fällt, ist die Arena. Wenn jemand in der Blütezeit einen Ort für ein unauffälliges Versteck gesucht hat, zu dem jedermann jederzeit Zutritt hatte, könnte das in jener Umgebung gewesen sein. Dort sollten wir jedenfalls anfangen.“

*

Die Frau war eindeutig erregt und verlegen. Sestor hatte noch nie eine erregte und verlegene Zogh gesehen. Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein und hatte sich die herbe Schönheit der grauhäutigen Gebirgsmenschen bewahrt.

„Wie alt warst du damals?“, wollte Prandorak wissen.

„So genau weiß ich das nicht mehr“, erklärte die Frau ausweichend. „Ich bin noch ein Kind gewesen. Ich kann mich nur noch gut daran erinnern, wie ich auf dem nassen Pfad abrutschte und in die Spalte fiel. Dort blieb ich an einem Baum hängen. Ich habe geschrien, aber es dauerte eine Ewigkeit bis ich endlich herausgezogen wurde. Dann sah ich in das weiße Gesicht dieser wunderschönen Frau, die mich gerettet hat.“

„Du bringst ihr auch heute noch Opfergaben?“, fragte der Herold unverfänglich.

„Ja“, antwortete die Zogh. „Obwohl sie wahrscheinlich längst nicht mehr lebt. Aber ich bin ihr unendlich dankbar und finde darin meinen Seelenfrieden.“

„Und weshalb trägst du die Sachen in die Trellinda-Höhle?“, bohrte Prandorak weiter.

„Dort hat sie mich hingebracht und versorgt, nachdem sie mich gerettet hatte. Aber warum fragt ihr das alles? Was wollt ihr von der Weißen Frau?“

„Wir wollen sie retten“, mischte sich Sestor ein. „Menschen, die genauso aussehen wie die Weiße Frau, verfolgen sie. Vor denen wollen wir sie warnen.“

„Aber du hast ja gesagt, dass du nicht weißt, wo sie sich aufhält“, unterbrach ihn Prandorak. „Wir haben jetzt keine Fragen mehr. Du kannst gehen.“

Nachdem sie gegangen war, warfen sich die beiden Männer einen kurzen Blick zu und nickten. Wieder einmal dachten sie das Gleiche und brauchten es nicht auszusprechen. Beide waren davon überzeugt, dass die Frau sie zu Larradana führen würde. Prandorak schickte nach einem der ihm unterstellten Boten. Diesem befahl er, die von der Replica gerettete Frau zu überwachen und ihm sofort Bescheid zu geben, sobald sie ihr Haus mit Opfergaben verlassen würde.

Bereits am nächsten Morgen war es soweit. Der von Prandorak ausgesandte Bote berichtete, dass sich die Frau mit ihrem Korb zur Trellinda-Höhle aufgemacht hatte. Der Herold und der Eisgraf schlangen die Reste ihres Frühstücks hinunter und brachen dann ebenfalls auf.

Ihr Weg führte sie über den steinigen Sordas-Rücken, der in einer windgeschützten Lage von hohen Gipfeln einiger gewaltiger Bergmassive umgeben war. Sie kamen immer wieder an ausgewaschenen Felsmulden vorbei, in denen sich knorrige Krüppelbäume, die winzigen, gelben Lederblümchen und das harte, blaue Sefirgras angesiedelt hatten. Ansonsten gab es außer Moosen und Flechten in dieser Höhe kaum Vegetation. Am Ende einer zweistündigen Wanderung erreichten Sestor und Prandorak schließlich die Kante des Bergkamms. Nach einem kurzen Abstieg gelangten sie zum Eingang der einsamen, weit von den bevölkerten Höhlen entfernt liegenden Trellinda-Kaverne.

Gedankenschnell duckten sich beide Männer hinter einem Geröllbrocken. Gerade stand die Zogh-Frau im Begriff, die Höhle zu verlassen. Nachdem sie sich außer Sichtweite befand, betraten Sestor und Prandorak die Höhle. Sie war nicht besonders groß, ihr Erscheinungsbild dagegen außergewöhnlich. Auf der rechten Seite verlief eine Felsrampe, wie ein breiter Weg mit einer Brüstung, bis fast zur Höhlendecke. Dort endete die Rampe unvermittelt vor der gewachsenen Wand. In der linken, hinteren Ecke hatte sich aus dem Gestein eine balkonartige Galerie ausgebildet, die nahezu künstlich wirkte. Graue Adern durchzogen die im Licht der einfallenden Sonne glitzernden Wände.

„Ilumit und Bergkristalle“, murmelte Sestor.

Den Korb mit den „Opfergaben“, den die Zogh im hinteren Teil der Höhle abgestellt hatte, fanden die beiden Männer unberührt vor.

Sie näherten sich dem Korb und stellten fest, dass er mit Früchten und den nahrhaften Wurzeln des Sogorth-Strauchs gefüllt war.

„Der Herold der Höhlen und ein Eisgraf. Welch eine Ehre!“ In der wohlklingenden Stimme schwang ein belustigter Unterton. Die beiden Männer fuhren herum. Noch in der Drehung überkam Sestor die verstörende Erkenntnis, dass er tatsächlich nicht in der Lage sein würde, von seinem „vernichtenden Blick“ Gebrauch zu machen.

Die Weiße Frau lehnte lässig an einer von drei unregelmäßigen Felssäulen, die bis zur Decke der Höhle empor reichten.

Als sie die Sprachlosigkeit der Männer gewahrte, fügte sie sarkastisch hinzu: „Ihr seid also gekommen, um mich vor einer Gefahr zu warnen, die mir seit mehr als fünftausend Jahren bekannt ist.“

„Das war nur ein Vorwand“, gab Sestor unumwunden zu. „Ich habe das nur deshalb zu der Frau gesagt, weil ich mit Euch sprechen wollte. Ich weiß, dass Ihr auf der Flucht seid. Könnt Ihr Euch aber ewig verstecken? Die Eisgrafen sind die Beschützer der Eisbäume. Die Eisbäume sind jedoch fest an einem Ort verwurzelt. Sie können nicht fliehen, wenn sie bedroht werden. Also ist die Flucht auch niemals eine Lösung für diejenigen, die zu ihrem Schutz ausersehen sind. Als ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf eine wichtige Frage gestoßen: Kann Flucht überhaupt eine Lösung sein? Solltet Ihr nicht in Erwägung ziehen, den Kampf anzunehmen?“

Larradana nahm nun zum ersten Mal das Bild des Eisgrafen mit einem gewissen Interesse durch die schwarzen Sehschlitze ihrer gelben Augen in sich auf.

„Ihr seid ein bemerkenswerter Mann, Graf Sestor“, stellte sie fest. „Ihr seid nicht hergekommen, um mich zu warnen. Aber Ihr seid auch nicht hergekommen, um mir gute Ratschläge zu erteilen. Was also wollt Ihr wirklich?“ Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Sestor den Vorhang seiner schwarzen Haare aus dem Gesicht: „Die Wahrheit ist: Ich suche die Wahrheit.“

*

Zwischen den beiden völlig unterschiedlichen Lebensformen hatte sich unbewusst eine stillschweigende Übereinkunft herausgebildet. Wenn Jalbik Gisildawain an seinem Lieblingsplatz auf dem Hügel Karadastak saß, zog sich der Mon’ghal vollständig aus dem Geist des Freibeuterkapitäns zurück. So konnte der Mann von Borgoi seine Gedanken frei schweifen lassen, wenn er das wunderschöne Panorama der Klippen von Trofft und der Wasischen Atolle genoss, die der Insel im Westen vorgelagert waren.

Stets löste dieser Anblick der unendlichen Weiten des Meeres eine unstillbare Sehnsucht in dem Mann aus, der die meiste Zeit seines Lebens auf hoher See verbracht hatte.

Der Mon’ghal befand sich währenddessen in einem Dämmerzustand. Er hatte feststellen müssen, dass sich der geistige Kontakt zu den Menschen von Borgoi für ihn wesentlich schwieriger und damit auch anstrengender gestaltete als zu den Obesiern. Unmerklich, aber stetig waren die Zeiten länger geworden, in denen er vollkommene Ruhe benötigte.

Jalbik Gisildawain hatte längst bemerkt, dass es da irgendeine Störung in seiner Geistestätigkeit gab. Aber noch war er der Ursache nicht auf die Schliche gekommen. Manchmal zermarterte er sich das Hirn, gab dann aber die Anstrengungen erfolglos wieder auf.

In die Betrachtung der Klippen und Atolle versunken, blieb ihm eine ganze Weile verborgen, dass sich auf dem Pfad zu der hochgelegenen Steinbank ein Mann näherte. Bei seinem Anblick erschrak er. Dieser Mann war ihm nicht geheuer, obgleich er einst als einfacher Matrose auf seinem Freibeuterschiff gedient hatte. Nur allzu gut erinnerte sich der Kapitän noch an jene Nacht, in der die sturmgepeitschte See immer wieder für Sekunden von zuckenden Blitzen taghell beleuchtet wurde.

Der Ankömmling war damals gerade damit beschäftigt gewesen, eine Leine des Rahsegels an einem Spill festzubinden, als der Blitz einschlug. Das grelle Flackern hatte den Matrosen vollständig eingehüllt. Eigentlich hätte nur noch ein Häufchen Asche von ihm übrig sein dürfen. Die Männer der Besatzung trauten ihren Augen nicht. Der erloschene Blitz hatte dunkle Verbrennungen auf den Planken des Oberdecks hinterlassen. Brinngulf Sterndek zerrte jedoch unbeirrt weiterhin an dem Seil und mühte sich ab als sei nichts geschehen.

Nach Beendigung dieser Kaperfahrt hatte der Mann abgeheuert. Das löste bei Jalbik Gisildawain seinerzeit eine befreiende Erleichterung aus. Der Kapitän war ein Draufgänger und als Freibeuter allerhand gewohnt. Aber er fürchtete sich vor allem, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien.

„Hallo, Kapitän, lange nicht gesehen“, rief der Ankömmling kauend und spuckte ein Stück Speckschwarte aus. Jalbik Gisildawain kniff die Augen zusammen und beobachtete den ehemaligen Matrosen mit versteinertem Gesicht. Unbeweglich blieb er auf der Bank sitzen, bis Brinngulf Sterndek unmittelbar vor ihm stand.

„Was wollen Sie?“, fragte der Freibeuter. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Der Mon’ghal war erwacht.

„Ich biete Ihnen das beste Geschäft Ihres Lebens an“, verkündete der Besucher mit einem Überschwang, der in keiner Weise zu ihm passte. „Sie verdienen mehr als bei einer guten Prise und brauchen praktisch überhaupt nichts dafür zu tun.“ Mit einer weit ausholenden, dramatischen Geste riss er das prall gefüllte Säckchen von seinem Gürtel los und knallte es neben Jalbik Gisildawain auf die Steinbank. Er öffnete die Schnur, die den Beutel am oberen Ende zusammenhielt, sodass der Kapitän den Inhalt sehen konnte: glänzende Silberstücke.

„Und was soll ich dafür tun?“, fragte Jalbik Gisildawain vorsichtig.

„Eigentlich nichts, wie ich bereits gesagt hatte“, erwiderte Brinngulf Sterndek. „Es handelt sich lediglich um einen Gefangenenaustausch. Sie geben mir Xaranth und bekommen dafür Ulban, den Höchsten Priester des Wissens. Das ist für Sie sogar noch von großem Vorteil, weil der Alte viel ungefährlicher ist als der Bewacher der Gruft.“ Das hinter dieser Forderung stehende Wissen hätte dem Freibeuter eigentlich einen unbändigen Schreck einjagen müssen. Aber Brinngulf Sterndek war ihm ohnehin dermaßen unheimlich, dass ihn selbst solche Kenntnisse nur mäßig überraschten. Daher versuchte er erst gar nicht, die Tatsache zu leugnen, dass er jenen merkwürdigen Mann gefangenhielt.

„Woher wissen Sie davon?“, erkundigte er sich misstrauisch.

„Jeder hat seine Geheimnisse“, entgegnete sein ehemaliger Matrose zugeknöpft.

Jalbik Gisildawain hätte den Handel sofort angenommen. Aber der Mon’ghal sah seinen mühevoll aufgebauten Plan in Gefahr. Was sollte er mit einem alten Priester des Wissens anfangen? Xaranth wäre genau der Richtige gewesen, der ihm geeignet erschien, die schlummernde Ovaria aufzuspüren und in Sicherheit zu bringen. Er musste jedoch vorsichtig sein. Offenbar kannte der Ankömmling den Kapitän und wusste, wie sich ein Freibeuter in einer solchen Situation verhielt.

„Was wäre wenn ich diesen Tausch ablehnen würde?“, wollte Jalbik Gisildawain wissen.

Brinngulf Sterndeks Gesichtszüge veränderten sich schlagartig.

„Sie wären so gut wie tot“, erklärte er mit eisiger Stimme. „Ich habe Ihnen nicht gesagt, in wessen Auftrag ich handele, weil Sie sich ohnehin nicht die Macht vorstellen können, die dahintersteht. Sie haben keine Wahl.“

Dann huschte plötzlich ein wissendes Lächeln über das Gesicht des ehemaligen Matrosen. Er ließ sich neben Jalbik Gisildawain auf der Bank nieder und schaute eine Weile hinaus aufs Meer.

Schließlich sah er den Kapitän von der Seite her an und sagte: „Ich hätte da noch einen weiteren Anreiz. In Xotos gibt es einen Mann namens Plarcadt. Er ist nicht nur der Ducarion des Gorilla-Heeres, sondern er weiß auch vieles, was normalen Menschen nicht bekannt ist. Er kennt beispielsweise den Ort, an dem die letzte Stammmutter der Mon’ghale schlummert. Und sicherlich wäre er auch bereit zu helfen, wenn sie in Sicherheit gebracht werden müsste.“

Noch in der gleichen Nacht fand der Gefangenenaustausch statt. Tannea Sterndek brachte Ulban und einen riesigen Vorrat des Gegengifts zu dem herrschaftlichen Sitz des Freibeuters auf dem Hügel Karadastak. Brinngulf Sterndek hatte sich ausbedungen, allein mit Xaranth zu reden, um ihn von der Sinnhaltigkeit seiner Freilassung und den damit verbundenen Folgen zu überzeugen.

Nicht ohne Scheu betrachtete er den hochgewachsenen Mann mit den fremdartigen, gelben Augen. „Ich wurde geschickt, um Sie hier abzuholen“, eröffnete er dem Bewacher der Gruft.

„Von wem?“, fragte jener zurück.

Brinngulf überbrachte daraufhin seine Botschaft: „Ich soll Ihnen folgendes ausrichten: Sie haben den Treueschwur gebrochen. Aber Sie bekommen eine zweite Chance. Anstelle der Salastra werden Sie eine noch viel mächtigere Waffe erhalten. Dafür müssen Sie jedoch einen erneuerten Treueschwur leisten. Und dieses Mal wird es nicht so einfach werden wie das Bewachen einer Gruft und einer goldenen Pforte. Sie werden gegen mächtige Gegner kämpfen müssen. Wie entscheiden Sie sich? Kampf oder Tod?“

Die gelben Augen des Bewachers erschienen völlig ausdruckslos, als er erwiderte: „Worin liegt da der Unterschied?“ Brinngulf Sterndek konnte ihm diese Frage nicht beantworten. Das hatte Xaranth auch nicht erwartet. „Gehen wir!“, sagte er nur.

*

Baradia war beeindruckt von der gewaltigen Menschenansammlung, die überwiegend aus Shondo bestand. Sie hatten am Rand des Regenwalds eine Fläche gerodet, doppelt so groß wie die Besitztümer des Monasteriums.

„Eine beeindruckende Streitmacht“, meinte die Rektorin anerkennend.

„Das ist keine Armee. Das sind Minenarbeiter“, widersprach der große, schwarzhäutige Mann mit den langen, schwarzen Haaren.

„Alle Shondo sind Krieger“, entgegnete Baradia. „Auch wenn sie zwischenzeitlich in Bergwerken gearbeitet haben.“

Der erste Teil ihres Planes war aufgegangen.

Das neu eingerichtete Collegium, die Übergangsregierung von Surdyrien, hatte Baradias Ansprüche auf das Erbe Senesia Sidas nicht anerkannt. Nach dem Tod des sindrischen Hochkönigs Gylbax, der den gesamten Besitz der Halbschwester Baradias annektiert hatte, schloss Baron Schaddoch einen denkwürdigen Handel mit dem Nachfolger des Hochkönigs ab. Er erkannte die Ansprüche des neuen Hochkönigs Yxistradojn I. an. Danach übereignete der neue Hochkönig das gesamte Erbe Senesia Sidas einschließlich der Bergwerke dem surdyrischen Volk.

Baradia und ihr Verbündeter Uggx, der Schnorst von Oot, gaben sich damit aber noch nicht geschlagen. Als Oberhaupt der Shondo übte Uggx seinen Einfluss auf die Minenarbeiter aus, die mehrheitlich aus den Urwäldern von Oot stammten. Zuerst überredete er sie zu Arbeitsniederlegungen. Als dies nicht das gewünschte Ergebnis zeitigte, forderte er sie auf, Surdyrien zu verlassen und nach Oot heimzukehren. Die meisten waren seinem Ruf gefolgt und lagerten nun in der Nähe von Baradias Monasterium, das den Namen „Paradies der Küste“ trug. Der Besitzer einer in Lumbur-Seyth beheimateten Handelsflotte hatte die Shondo nach Oot gebracht. Baradia nutzte die Gunst der Stunde und überredete den Flottenbesitzer, in einer Bucht zehn Meilen nördlich des Monasteriums eine kleine Ansiedlung mit einem Hafen zu gründen. Für die Ausführung der erforderlichen Arbeiten stellte Uggx einen Teil der aus Surdyrien überführten Shondo zur Verfügung. Der Rest bekam die Aufgabe, die zur Versorgung der Menschen erforderlichen Plantagen und Viehweiden anzulegen.

Vor rund einhundertundsechzig Jahren hatte Baradia gemeinsam mit ihrem Vater, Berion, einen Weg gefunden, die Alterung des menschlichen Körpers zu besiegen. Um den „Odem des Lebens“ herstellen zu können, wurden der Extrakt einer Orchideenart und Ilumit benötigt. Genau darin bestand jedoch der Schönheitsfehler des zweiten Teils von Baradias Plan.

„Wir sind im Begriff, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen“, bemerkte Uggx. Durch den Abzug der Shondo aus Surdyrien war der dortige Ilumit-Abbau weitgehend zum Erliegen gekommen. „Nein“, widersprach Baradia. „Wir lösen zwei Probleme gleichzeitig. Du wirst die Shondo aus Surdyrien gegen die Rebellen in Sna-Snoot führen. Danach verkaufen wir die besiegten Rebellen als Arbeitskräfte nach Surdyrien. Genauer gesagt: Wir tauschen sie gegen Ilumit ein.“

Nach seiner Rückkehr aus Lumbur-Seyth und Surdyrien, wo Uggx die Interessen Baradias im Zusammenhang mit dem Erbe Senesia Sidas vertreten hatte, erhoben sich die Shondo in seinem eigenen Land gegen ihn. Sie fanden sich nicht länger bereit, einen Schnorst von Oot anzuerkennen, der aus ihrer Sicht ein bloßer Handlanger der „Gütigen Frau“ war. Sie verwehrten ihm sogar den Zutritt zu der heiligen Stätte Sna-Snoot. Um seine Unsterblichkeit zu erhalten, blieb Uggx nichts anderes übrig, als mit Baradia zusammenzuarbeiten.

„Sna-Snoot ist praktisch uneinnehmbar“, entgegnete der Schnorst von Oot resigniert. „Ich kann die heilige Stadt nicht erobern, und schon gar nicht mit Minenarbeitern.“

„Lass das meine Sorge sein“, beruhigte ihn Baradia. „Ich werde jetzt in das Paradies der Küste zurückkehren und hoffe, dass mich Stilpin dort schon erwartet. Auch ihm werden wir die Unsterblichkeit anbieten müssen. Aber das ist er für uns wert.“

Bei ihrer Rückkehr fand Baradia tatsächlich bereits den Priester aus Modonos vor. Er trug die rote Robe, die den Mitgliedern des Leitungsgremiums der Akademie vorbehalten war. In der Hierarchie des Ordens standen sie zwischen dem Inneren Zirkel und den einfachen Priestern. Stilpin mochte um die vierzig Jahre alt sein, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge mit ausgeprägten Wangenknochen und kurzes, braunes Haar. Mit seinen leicht federnden, geschmeidigen Bewegungen und seiner dunklen Stimme erregte er Baradias Aufmerksamkeit weit mehr als sie dies erwartet hätte. Obwohl sie in gewissen Zeitabständen die Akademie von Modonos immer mal wieder besuchte, hatte sie ihn dort noch nie gesehen. Stilpin war ihr von einem ihrer Kontaktmänner in der Akademie empfohlen worden. Baradia begegnete ihm zunächst mit Skepsis, weil es sich bei dem Mann aus dem Leitungsgremium bekanntermaßen um einen Vertrauten Atarcos handelte. Dadurch verfügte er aber gleichzeitig auch über ausgezeichnete Informationsquellen. Deshalb hatte sie ihm schließlich doch die Aufgabe zugeteilt, die ihr von ungeheurer Wichtigkeit erschien. Sie bestand in der Überwachung des Höchsten Priesters.

„Ulban wurde entführt“, eröffnete ihr der Priester aus Modonos nach einer kurzen Begrüßung und wechselseitigen Vorstellung. Damit hatte die „Gütige Frau“ nicht gerechnet. Die Ausführung ihres kühnen Planes war dadurch plötzlich in Gefahr geraten. Die Worte des Priesters lasteten wie dichter Nebel auf der zuvor strahlenden Atmosphäre des kleinen, verschwenderisch ausgestatteten Raumes.

„Wer hat das getan?“, wollte Baradia wissen.

„Das konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen“, erwiderte Stilpin. „Aber ich weiß, wohin man ihn gebracht hat.“

„Wohin?“, fragte Baradia sofort.

Stilpin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stellte eine Gegenfrage: „Wäre es nicht an der Zeit, über meine Entlohnung zu sprechen?“

Er lächelte die Frau mit den üppigen, weiblichen Formen unter dem blassgelben Gewand herausfordernd an. Baradia beugte sich vor und schenkte Tee nach. Zuerst bestaunte der Priester des Wissens die prächtige Orchidee in ihrem Haar. Dann wanderten seine Augen weiter nach unten. Der freizügige Ausschnitt in Baradias Kleid gestattete tiefe Einblicke. Stilpin konnte erkennen, dass sie unter diesem Kleid nichts trug. Ruckartig hob sie ihren Kopf und sah ihm tief in die Augen.

„Vielleicht denke ich auch über die Art der Entlohnung nach, die Ihnen anscheinend jetzt gerade vorschwebt“, sagte sie mit verführerischer Stimme. „Aber sicherlich haben Sie auch schon davon gehört, dass ich über den „Odem des Lebens“ verfüge, ein Elixier, das die Sterblichkeit besiegt. Also nocheinmal: Wo befindet sich Ulban?“

„Auf der Insel Borgoi“, antwortete Stilpin, der nun einen beträchtlichen Teil seiner Selbstsicherheit verloren hatte. „Auf dem Landsitz des Freibeuterkapitäns Jalbik Gisildawain.“

*

Ohne zu wissen, was sie eigentlich suchten, durchforschten Roxolay, Rakoving sowie Schaddoch und seine Männer seit Tagen die alte Arena von Derfat Timbris. Sie bestand aus einem großen, teilweise mit Steinplatten belegten Oval, einundzwanzig umlaufenden Zuschauerrängen und zwei Gebäuden hinter den Längsseiten, die die Zuschauerränge geringfügig überragten. Zum überwiegenden Teil wies die Anlage einen einsturzgefährdeten Zustand auf. In der Frühzeit Obesiens hatte die Bevölkerung von Modonos die alte Tempelstadt aus Ehrfurcht vor der Vergangenheit noch in ihrem ursprünglichen Zustand zu erhalten versucht. Ihre Nachkommen hatten irgendwann das Interesse an Derfat Timbris verloren. So entstand aus dem einstmaligen Zentrum einer blühenden Kultur eine verlassene, dem Verfall preisgegebene Ruinenstadt.

„Ich bezweifle, dass wir überhaupt am richtigen Ort suchen“, maulte Iplokh.

„Wir haben noch nicht einmal ein Drittel der Arena gründlich abgesucht“, erinnerte ihn Schaddoch.

Iplokh legte einen weiteren Trümmerstein beiseite und richtete sich auf. Er sah von seinem erhöhten Standort auf der achtzehnten Zuschauerreihe hinab zu Roxolay, der mit auf den Boden gerichtetem Blick das innere Oval durchschritt. Dann schaute Iplokh hinüber zu Rakoving, der wie schon am Abend zuvor mit dem Rücken an einer Säule lehnte und auf die seitliche Außenwand des rückwärtigen Gebäudes der Arena stierte.

„Die Kerle könnten uns hier helfen anstatt nur herumzulungern“, machte der Gefährte Schaddochs seinem Unmut Luft.

„Dennoch wird einer von ihnen derjenige sein, der das Versteck entdeckt“, mutmaßte Schaddoch. „Wenn wir überhaupt jemals eines finden.“

Seine Worte sollten sich bewahrheiten. Eine halbe Stunde später hielt Roxolay plötzlich inne. Rakoving hatte ihn gerufen. Es war ein lautloser Ruf, nur für einen Spiritanten hörbar. Der ehemalige Meister der Todeszeremonie ging hinüber zu dem Borthuler, der immer noch reglos an der Säule lehnte. Inzwischen hatte die Abenddämmerung eingesetzt. Im verblassenden Licht der langsam untergehenden Sonne wurden die Konturen der Ruinen weicher. Roxolay stellte sich neben Rakoving.

Sie nahmen dasselbe wahr, aber auf völlig unterschiedliche Weise. Rakoving hatte einen blitzschnellen, dunklen Schatten in der Luft gesehen, Roxolay die Ausstrahlung eines kleinen Flugtiers gespürt.

„Fledermäuse“, stellte er fest. Plötzlich fuhr sein Kopf ruckartig hoch, und er sah Rakoving an. Dieser nickte: „Sie fliegen durch den kleinen Schlitz dort und kommen nicht mehr heraus. Seit ich das beobachte, ist keine einzige mehr herausgekommen.“

„Sie erlöschen“, murmelte Roxolay.

„Du meinst: sie sterben?“, vergewisserte sich Rakoving. Roxolay nickte.

„Wir müssen da hinein“, bestimmte der ehemalige Eremit und rief laut nach Schaddoch.

Nachdem der Baron alle seine Begleiter um sich geschart hatte, betraten sie das hohe Steingebäude. Im Inneren war es stockfinster. Rakoving entzündete eine Fackel. Schaddoch tat es ihm gleich. Im flackernden Lichtschein wurde erkennbar, dass es sich bei dem Bauwerk im Wesentlichen um ein großes Treppenhaus handelte. Mehrere breite Treppen führten nach oben. Es handelte sich eindeutig um die Zugänge zu den Zuschauerrängen. Aber Rakoving und Roxolay waren nicht an den Treppen interessiert. Sie liefen ein Stück an der rückwärtigen Mauer entlang.

„Wozu sollte eine Außenwand mehr als vier Meter dick sein, wenn es kein Schutzwall ist?“, stellte Rakoving eine Frage, die nicht als solche gemeint war. Roxolay schüttelte den Kopf, was in diesem Falle aber Zustimmung bedeutete. Zwischenzeitlich traf auch Schaddoch mit seinen Begleitern ein. Der ehemalige Meister der Todeszeremonie deutete auf die Rückwand des Gebäudes.

„Diese Wand ist vier Meter von der Außenmauer entfernt“, schätzte er. „Es muss einen Zwischenraum geben.“ Kamgadroch trat an die Wand heran. Er hielt noch die Spitzhacke in der Hand, mit deren Hilfe er zuvor Geröll beiseite geräumt hatte. Kraftvoll schlug er auf die Mauer ein, bis sich plötzlich zwei Steine lösten und nach innen fielen.

„Ich glaube, wir haben gefunden wonach wir gesucht haben“, verkündete Rakoving.

Shrogotekh und Iplokh eilten in die Arena zurück und holten ihre Werkzeuge. Dann halfen sie Kamgadroch bei der Vergrößerung der Öffnung, bis diese ohne Schwierigkeiten auch von einem etwas größeren Mann durchschritten werden konnte. Anschließend zündeten alle Anwesenden Fackeln an und betraten den mehr als drei Meter breiten Zwischenraum zwischen der Rückwand im Inneren und der Außenmauer des Gebäudes.

„Halt!“, rief Rakoving schon nach wenigen Metern und zeigte auf ein ungesichertes, quadratisches Loch im Boden.

Roxolay warf einen Stein in die Grube und erklärte anschließend: „Das Loch ist etwa fünf Meter tief. Wir brauchen ein Seil.“

Shrogotekh holte ein Seil herbei und ließ es in den Schacht hinab. Das Ende des Seils verknotete er an einem der steinernen Stützpfeiler, die die Decke trugen. Rakoving ließ sich als Erster bis zum Boden der Grube gleiten. In der linken Seitenwand erkannte er eine mannshohe, rechteckige Öffnung. Bei näherer Betrachtung erwies sie sich als Ausgangspunkt eines Ganges, dessen Ende nicht absehbar war.

Schaddoch wies Shrogotekh und Jalbik Truchardin an, das obere Ende des Seils im Treppengebäude zu bewachen. Dann folgte er mit Wurluwux, Iplokh und Kamgadroch dem Priester des Wissens und dem Borthuler. Langsam tasteten sie sich in dem dunklen, schmalen Gang voran, bis Rakoving plötzlich stehenblieb und auf den Boden zeigte. Im flackernden Widerschein der Fackel war eine ungewöhnliche, quer über den Boden verlaufende Anhäufung von Staub zu erkennen. Als er weitergehen wollte, hielt Roxolay ihn am Arm zurück. Rakoving verharrte und sah unmittelbar darauf den gleichen Vorgang, den der alte Meister der Todeszeremonie mit seinen Fähigkeiten als Spiritant bereits wahrgenommen hatte. Ein kleiner Schatten in der Luft, der nur knapp an seinem Kopf vorbeischwirrte, dann ein kurzes Aufglühen und ein wenig Staub, der zu Boden rieselte.

„Ist es das, was ich denke?“, wollte Rakoving von dem alten Priester wissen.

„Eine Fledermaus, ja“, flüsterte Roxolay. „Sie ist unmittelbar vor uns verschwunden. Als ob ihr Leben dort erloschen wäre.“

Rakoving dachte kurz nach. Dann warf er seine Fackel in den vor ihm liegenden Gang. Sie fiel einige Meter entfernt zu Boden und brannte weiter.

Roxolay wiegte den Kopf: „Das ist keine Fledermaus.“

„Ich bin auch keine Fledermaus“, erklärte Rakoving entschlossen und machte drei schnelle Schritte nach vorn. Roxolays Hand, die ihn zurückhalten wollte, griff ins Leere. Rakoving bückte sich, hob die Fackel auf und zuckte mit den Schultern. Langsam ging nun auch Roxolay weiter. Nichts geschah. Als Schaddoch sich in Bewegung setzte, hatte Rakoving bereits die nächste Biegung des Ganges erreicht. Das Licht seiner Fackel fiel in einen Raum, der am Ende des Ganges lag. Der Borthuler stieß einen überraschten Ruf aus. Schaddoch verhielt erschrocken seine Schritte, sodass Wurluwux auf seinen Rücken auflief und ins Stolpern geriet. Der Baron schnellte herum und fing ihn gerade noch rechtzeitig auf ehe er zu Boden stürzte. Dann jedoch erstarrte Schaddoch. Iplokh hatte sich abstützen können. Von Kamgadroch fehlte dagegen jede Spur. Er war verschwunden, gerade so als ob die Finsternis des dunklen Ganges ihn verschlungen hätte.


Splitter einer vergangenen Zukunft

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