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Ein Tod – eine Erzählung
ОглавлениеDer Wagenführer Gert Grundmann stand und starrte auf den Strom der Fahrgäste, der aus seinem Zug den Bahnsteig entlang den Ausgängen zuspülte. Da liefen sie, und ihre Blicke waren geradeausgerichtet. Es zog grußlos vorbei - das Heer, das ihm Sicherheit verdankte, jeden Tag. Und wo einmal ein Auge ihn traf, da tastete es gleichgültig über die Uniform hin, umgriff für Sekunden die Aktentasche mit Frühstücksbrot und Kaffeeflasche, glitt vorüber, ohne zu verstehen: Dort steht Gert Grundmann, Fahrer des Stadtbahnzuges 709.
Den Mann an der Sperre grüßen sie alle, dachte er. Dem Aufsichtsbeamten nicken sie zu, dachte er. Aber für ihn gab es nur das Nicken der Signale und das leise Summen der Kontrolluhr im Führerstand - alle zwanzig Sekunden die Frage aus dem Metall: Lebst du noch? Und alle zwanzig Sekunden der Tritt auf den Fußhebel: Ich, Gert Grundmann, lebe noch! Der Uhr war es nicht gleichgültig. Sie würde erschrecken, wenn die Antwort einmal ausbliebe, und sie würde statt seiner handeln. Aber sonst war keiner, der fragen würde: Lebst du, Gert Grundmann?
Der Zug glitt über die Schienen hinweg. In seinem blauen Bauch barg er vierhundertsiebenunddreißig Fahrgäste - eine kleine Welt, wohlgeordnet in Reiche und Arme, Raucher und Nichtraucher; aber keinen, der fragen oder nicken oder grüßen wird. - Signale, Bahnhöfe, Signale; und immer das Summen der Uhr und die Antwort des Fußes: Ich lebe. Ich lebe noch.
Und wenn er eines Tages nichts mehr erwidert, werden sie seinen Namen in die Zeitung setzen: "Gert Grundmann... im Alter von neunundfünfzig Jahren... in treuer Pflichterfüllung... stets ein ehrendes Andenken bewahren... Die Direktion. Der Betriebsrat." Sie werden ihn gar nicht kennen. Und sie werden seiner auch nicht gedenken. Aber die Vorschrift verlangt das - als Gegenleistung für treue Pflichterfüllung.
Signale, Bahnhöfe, Signale. In Gert Grundmann war Haß. Jeder Blick, der ihn mit Gleichgültigkeit streifte, jedes Nicken, das ihm nicht galt, jeder Gruß, der an ihm vorbeifiel, nährte den Haß. Aber der Wagenführer wußte nichts davon. Sein Fuß trat die Antwort, sein Auge maß die Signale. Er wußte nicht, daß er wartete - auf den Augenblick wartete, wo man ihn beachten müßte. Und dann, ohne jeden Übergang, war er gekommen. Der Haß tauchte empor und gebar die Tat in seinen Körper hinein:
Das Geleise neigte sich einen langen Hang hinab, unten stand das Signal vor der Weiche. Es zeigte auf Halt, und er wußte, daß die Weiche dahinter seinen Weg versperrte. Das Vorsignal glitt vorüber: Jetzt hatte er die Bremse zu betätigen. Aber seine Hand lag starr auf dem Fahrthebel, schwer lastete ihr Druck, steigerte die Geschwindigkeit. Es war, als wollte alles an ihm vereisen. Nur das Blut schlug gegen die Schläfen: Du mußt bremsen, Wagenführer 709! Doch etwas sang in ihm: Sie werden dich im Andenken bewahren, Gert Grundmann! Und der Fuß trat höhnisch die Antwort: Ja, ich lebe! Jetzt erst lebe ich!
Die Räder klirrten auf dem Stahl der Schienen; seine Augen fraßen sich am Rot des Signals fest: Dort würde die Selbstbremse einsetzen, aber es wird dann schon zu spät sein - zu schnell drehten sich bereits die Achsen dem Tal entgegen.
Du bist wahnsinnig, dachte er. Doch die Hand lag ruhig und sicher auf dem Hebel. Die Hand eines Mörders, dachte er. Doch der Fuß belog mit stetem Gleichtakt die Kontrolluhr. Die Signalleuchte flog heran, hatte ihr Rot über alles gegossen, was vor ihm lag. Sein Auge vermochte keine anderen Farben mehr zu fassen, und so blieb ihm auch verborgen, daß eben nun dem Zug der Weg freigegeben wurde.
Als die Räder sicher die Weiche entlangstoben, bemerkte Gert Grundmann, daß sein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Sein Körper schien ihm in unendliche Ferne gehoben, während er in Wahrheit in sich zusammenbrach. Der Bahnhof - gleich kommt der Bahnhof, dachte er. Und seine Hand riß die Alarmvorrichtung herum.
Als sein Kopf gegen den Boden schlug, durchlief ein erstes Zittern den Leib des Zuges: Die Bremsen erfüllten gehorsam den letzten Willen des Wagenführers Gert Grundmann.
(1961)