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Einleitung Das Haus des Islam – Innenansichten

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Muslime prägen das Weltgeschehen und sind fester Bestandteil der medialen Berichterstattung. Doch kaum jemand von uns versteht sie wirklich. Dadurch beruht unser Umgang mit ihnen im besten Fall auf Ahnungslosigkeit, im schlimmeren auf Halbwahrheiten. Dieses Buch bietet einen Überblick über die Glaubensgrundlagen der Muslime und erläutert, wie das Haus des Islam aufgebaut ist. Es erkundet die Anschauungen der Muslime und ihre Weltsicht und beschreibt, wie sie denken, wie sie den Islam praktizieren und wie sie ihn selbst wahrnehmen. Ich schreibe dieses Buch als ein in Großbritannien geborener und sozialisierter Muslim. Ich entstamme dem Westen und bin zugleich gläubiger Anhänger des Islam. Zwischen zwei Welten gefangen, habe ich gelernt, die beiden Facetten meiner Identität miteinander zu vereinbaren. Dieses Buch spiegelt diese innere Brücke zwischen der westlichen Welt und dem Islam wider.

Auf der Welt leben 1,7 Milliarden Muslime – somit ist jeder fünfte Mensch ein Muslim, 59 Länder haben eine muslimische Bevölkerungsmehrheit. Prognosen zufolge wird sich bis ins Jahr 2050 der muslimische Teil der Bevölkerung doppelt so schnell vermehren wie die Gesamtbevölkerung. Über 2050 hinaus werden die Muslime wohl die Christen als weltweit größte Glaubensgemeinschaft abgelöst haben. Während die Weltbevölkerung nach Berechnungen des PEW-Forschungszentrums bis ins Jahr 2050 um 35 Prozent zunehmen wird, soll die muslimische Bevölkerung um 73 Prozent auf fast drei Milliarden Menschen anwachsen. Muslime bekommen mehr Kinder als Anhänger anderer Glaubensgemeinschaften. Im Schnitt bringen muslimische Frauen 2,9 Kinder auf die Welt und damit deutlich mehr als die durchschnittlich 2,2 Kinder unter Nicht-Muslimen.

Anhand von fünf Faktoren, die hier zusammentreffen, lässt sich dieser globale Anstieg der Geburtenrate unter Muslimen erklären. Erstens, so schätzt PEW, erreichen zahlreiche Muslime jetzt den Lebensabschnitt, in dem sie Kinder haben werden. Zweitens lebt mehr als ein Drittel der Muslime im Nahen Osten sowie in Afrika, den Weltregionen mit dem größten prognostizierten Bevölkerungswachstum. Drittens herrscht in den meisten muslimischen Ländern noch immer ein sehr traditionelles Rollenverständnis von Frauen als Ehepartnerinnen und Müttern vor. Deshalb ist die Bedeutung des Kinderkriegens stärker ausgeprägt. Viertens vertrauen wegen des fest verankerten Glaubens an Gottes Fürsorge für ihre Kinder viele Muslime darauf, dass der Höchste ausreichend Nahrung, Kleidung und Wohnraum für sie bereitstellen wird. Und zuletzt wird der Geburt von Jungen kulturell traurigerweise noch immer ein höherer Stellenwert beigemessen als der von Mädchen. Viele Familien bekommen deswegen so lange weiter Kinder, bis ein Sohn geboren wird, der den Familiennamen in die nächste Generation trägt. Dabei ist, im Gegensatz zum Katholizismus, Verhütung im Islam nicht verboten.

Durch die globale Massenmigration – und seitdem Flüchtlinge und Arbeitskräfte überwiegend aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit nach Europa kommen – hat das, was innerhalb des Islam geschieht, Auswirkungen auf uns alle. Extreme Spielarten des politischen Islam wirken darauf hin, unseren gesellschaftlichen Frieden durch fortschreitende soziale Abkapselung, Konfrontation, Herrschaftsansprüche sowie politisch motivierte Gewalt und Terrorismus zu zerstören.

Momentan ist eine auf der ganzen Welt ausgetragene Schlacht um das Wesen des Islam in vollem Gange. Weshalb? Worum geht es, wo verlaufen die Fronten? Und inwiefern betrifft das den Westen? Auf verschiedene Weise verlief mein Leben an der vordersten Linie dieses Kampfes.

Geboren wurde ich in London als Kind muslimischer Einwanderer aus Britisch-Indien. Ich gehöre damit zur ersten Generation von Muslimen, die im Westen geboren und aufgewachsen ist. Mein erstes Buch The Islamist zeichnet meinen Weg als Jugendlicher in die internationale religiöse Radikalität nach – und wie ich mich davon lossagte. Ich habe sowohl den Islamismus als auch den Salafismus und den Sufismus durchlebt. Vom Wunsch getrieben, den Islam ohne Bezug zu militanten Muslimen besser zu verstehen, verbrachte ich zwei Jahre im syrischen Damaskus, um mit muslimischen Gelehrten aus dem religiösen Mainstream Arabisch und die Grundlagen des Glaubens zu studieren.

Dort lebte ich von 2003 bis 2005 in einer Diktatur, in der es mir gestattet war, zu studieren, solange ich in der Öffentlichkeit keine politische Meinung äußerte. Doch auch im Privaten verdächtigten wir fortwährend Kommilitonen und sogar unsere Lehrer – wer mochte ein Spitzel sein? Die tiefgehenden Kenntnisse der syrischen Gelehrten in islamischer Theologie, Geschichte und Philosophie suchten ihresgleichen. Ohne Freiheit fühlte sich die Bildung, die wir dort genossen, jedoch immer einseitig und unvollständig an, und die Studierenden, die ihre kritischen Fragen andernorts hätten stellen dürfen, waren nur halbherzig bei der Sache.

Aus der Sehnsucht heraus, näher an den Wurzeln des Islam zu sein, zog ich im Jahr 2005 nach Dschidda, Saudi-Arabien, um dort zu leben. Unter der Woche arbeitete ich als Lehrer am British Council, die Wochenenden verbrachte ich an den heiligsten Stätten des Islam in Mekka und Medina. Dort betete ich und traf Muslime aus der ganzen Welt. Das Eintauchen in die arabische Sprache, Religion, Kultur und der Kontakt mit den Menschen erfüllte mich. Zu Hause aber, in Großbritannien, entging meine jüngste Schwester nur um wenige Minuten dem Tod, als am 7. Juli Bombenanschläge in der Londoner U-Bahn verübt wurden. Als daraufhin meine saudischen Schüler mir gegenüber mit den Worten reagierten, Großbritannien habe diese Anschläge verdient und es handele sich um Dschihad gegen Ungläubige, empfand ich Wut und ein tiefes Bedürfnis, nach Hause, nach London, zurückzukehren. Mir war klar, dass uns ein Krieg der Vorstellungswelten bevorstand. Wenn zwanzigjährige Saudis, die den heiligen Koran befolgen, dem Leid im Westen nicht mit Mitgefühl, sondern stattdessen mit offener Freude begegnen und junge Muslime, die im Westen geboren und aufgewachsen sind, sich selbst und ihre Mitbürger im öffentlichen Nahverkehr von London töten, so würden die Gefühle und Überzeugungen, die zu solchen Taten führten, nicht einfach wieder verschwinden. Und tatsächlich sind die vielen tausend in den letzten Jahren radikalisierten europäischen Muslime, die mit ihren Angriffen auf Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland, Norwegen, Kanada und Dänemark zu Terroristen wurden, Sprösslinge genau dieses Trends.

Zurück in Großbritannien schloss ich ein Masterstudium in Islamwissenschaft und Politik des Nahen Ostens ab. Daraufhin baute ich 2007 einen Thinktank auf: Quilliam, benannt nach dem in viktorianischer Zeit geborenen Muslim Abdullah Quilliam, um hervorzuheben, dass der Islam in Großbritannien nicht allein mit der Einwanderung oder der noch jüngeren Radikalisierung assoziiert werden sollte. Von Muslimen geführt, die sich gegen den Radikalismus wandten und diesen erforschten, war Quilliam weltweit der erste Thinktank seiner Art. Die Arbeit war kontrovers, aber es war notwendig, voranzugehen und zu zeigen, wie der Islam durch die Wut in der arabischen Öffentlichkeit politisch vereinnahmt wurde. Ich war überzeugt, dass es meine religiöse und bürgerliche Pflicht sei, mich gegen die feindliche politische Übernahme meiner Religion auszusprechen. Zahlreiche Medienauftritte machten Quilliam zum Erfolg und halfen dabei, die britische Regierungspolitik zu verändern sowie mehrere europäische Regierungen zu beraten. Durch Vorträge an über den ganzen Kontinent verteilten Universitäten überzeugten wir gerade auch muslimische Aktivisten, ihre konfrontativen, anti-westlichen Einstellungen zu überdenken. Doch die Gegenreaktion der Kritiker war enorm. Wer außerstande ist, eine verbale Auseinandersetzung für sich zu entscheiden, greift gewohnheitsmäßig auf Todesdrohungen und körperliche Einschüchterung zurück. Ich spürte, dass ich Großbritannien für eine Zeit verlassen musste.

Ende 2010 wurde ich Senior Fellow für Nahoststudien an einem der führenden außenpolitischen Thinktanks in Amerika, dem Council on Foreign Relations. Vier Jahre lang lebte ich in New York und Washington, D. C., forschte und publizierte zu Politik in der arabischen Welt, nationaler Sicherheit, Islam und Muslimen. Zu den Mitgliedern des Councils gehörten hochrangige Vertreter der US-Regierung sowie Persönlichkeiten aus Medien, Wirtschaft und den Universitäten. Ich befand mich in einer einzigartigen Position: Als Brite, Muslim und jemand, der fließend Arabisch spricht, konnte ich die Herausforderungen des modernen Nahen Ostens erklären und die Mächtigen auf dem Höhepunkt der Aufstände des Arabischen Frühlings über Amerikas politische Optionen beraten. Auf der anderen Seite hatte ich Gelegenheit, auf Reisen nach Ägypten, Pakistan, in die Türkei und an den Golf ebenfalls den arabischen und muslimischen Regierungen sowie Vertretern der Zivilgesellschaft das Vorgehen des Westens zu erläutern.

Ich besitze das seltene Privileg, sowohl im Westen als auch in der muslimischen Welt ein Insider zu sein. Genau davon lebt dieses Buch: Die Gespräche, Überlegungen und Erfahrungen der letzten zehn Jahre ermöglichten mir, das ‚Haus des Islam‘ von innen zu erkunden. Eine Geschichte, die man mir in Nigeria erzählte, illustriert das sehr schön.

Ein amerikanischer Milliardär besuchte ein großes westafrikanisches Dorf. Anstatt jedoch die Spendengelder seiner Wohltätigkeitsorganisation einfach direkt zu verteilen, war er sehr daran interessiert, Afrika mit eigenen Augen zu sehen, es selbst zu spüren und zu schmecken, um dann sein eigenes Urteil zu fällen. Eines Freitagmorgens parkte er seinen Jeep vor dem Haus des lokalen Stammesfürsten. Dessen einfaches, staubiges Heim wirkte neben dem glänzenden schwarzen Wagen winzig.

Als der Stammesführer und der Milliardär gerade Nettigkeiten austauschten und Kokoswasser tranken, sah der Amerikaner auf einmal Scharen von Kindern, die riesige, leere Plastikbehälter davontrugen.

„Wohin gehen die Kinder?“, fragte er überrascht. „Sollten sie nicht in der Schule sein?“

„Sie gehen für ihre Familien Wasser vom Fluss holen“, antwortete das Stammesoberhaupt. „Sie gehen jede Woche um diese Zeit. Eine Stunde zum Fluss und eine Stunde zurück. Die Schule beginnt in zwei Stunden, wenn sie zurückkommen.“

Für den Amerikaner war das ein Aha-Erlebnis. Er erkannte einen Bedarf und dachte wie ein westlicher Geschäftsmann: Hier würde es sich lohnen, in den Dörfern Brunnenpumpen zu installieren. Die Kinder könnten dann zur Schule gehen, eine Ausbildung genießen und auf eigenen Beinen stehen. Er behielt seine Gedanken für sich und bei seiner Rückkehr nach New York wies er die Mitarbeiter seiner Wohltätigkeitsorganisation an, die Pumpen in Zusammenarbeit mit der Zentralregierung einzurichten.

Daraufhin wurden Berater, Ingenieure und örtliche Sachverständige beauftragt, diese „weitsichtige Initiative“ umzusetzen. Weitsichtig war die Initiative deshalb, weil sie den Zugang zu Bildung und Wohlstand erleichtern würde, wie unablässig auf allen Meetings wiederholt wurde – die Pumpen dienten als Sinnbild für den Wandel.

Ein Jahr später kam der Amerikaner wieder an einem Freitagmorgen in das afrikanische Dorf. Der Stammesführer begrüßte ihn zusammen mit den Dorfältesten. Voller afrikanischer Warmherzigkeit dankten sie ihm für seinen Beitrag. Im Sprech der Unternehmens- und Wohlfahrtsbranche handelte es sich um einen ‚Monitoring- und Evaluierungsbesuch‘.

Die Wasserpumpen wirkten neu und sauber. Der Amerikaner setzte sich und unterhielt sich höflich mit den Dorfbewohnern. Alsbald kamen die Kinder wieder scharenweise mit Plastikbehältern aus ihren Häusern gelaufen. Der Milliardär schaute zu, wie sie in Richtung der Pumpen gingen. Doch dann liefen sie einfach weiter. Wie im Jahr zuvor setzten sie ihren Weg fort und liefen zum Fluss.

„Warum tun sie das?“, beschwerte sich der Milliardär. „Es gibt doch jetzt Wasser im Dorf!“

„Lassen Sie uns unter vier Augen sprechen“, meinte der Stammesführer und bat den Amerikaner abseits seiner Entourage in sein Haus.

„Mein Freund“, sprach er, „eure Absichten in allen Ehren, aber ihr habt uns nicht gefragt, ob wir fließendes Wasser im Dorf brauchen. Habt ihr unsere winzigen Häuser gesehen? Wir haben große Familien, viele Personen leben in einem Raum zusammen. Wir schicken die Kinder zum Wasserholen, damit Mann und Frau eine Weile allein sein können, um ihre Ehe zu pflegen!“

Dem amerikanischen Milliardär hatte, obwohl er sich so nahe am Geschehen wähnte, einfach das Insiderwissen über die Lebenswirklichkeiten in Westafrika gefehlt. Und dem Stammesoberhaupt war es nicht in den Sinn gekommen, diesen Umstand zur Sprache zu bringen. Auf ganz ähnliche Weise versteht der Westen auch heute den Islam und die Muslime nicht so, wie sie sind.

Alles wird vom liberalen, westlichen Individualismus durchdrungen: Den Westen infrage zu stellen gilt als rückständig und primitiv. Während der Westen sich selbst als fortschrittlich rühmt, wird der Islam als ultimativ rückschrittliche Religion betrachtet. Verstärkt wird dies noch durch die alltäglichen Schlagzeilen über islamischen Extremismus, Terrorismus, Frauenhass und sogar Sklaverei, die das westliche Überlegenheitsempfinden nur weiter steigern.

Als die arabischen Aufstände von 2011 gänzlich unerwartet die vom Westen gestützten Diktaturen in Tunesien, Ägypten, Jemen und Libyen stürzten, blickten wir zu Recht voller Achtung auf die arabische Jugend. In der ganzen Region rief sie nach hurriya, karama, adala idschtima‘iya, was ‚Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit‘ bedeutet. Im ersten Moment nahmen wir an, die Aufstände seien säkular. Wie vorprogrammiert dachten unsere Experten und Staatenlenker an die Französische Revolution von 1789: Letzten Endes habe die Demokratie den Nahen Osten erreicht. Wie falsch wir doch damit lagen.

Wer mit der islamischen Welt vertraut ist, konnte die Anzeichen jedoch erkennen. Die Proteste im Zuge des Arabischen Frühlings fanden nicht samstagabends statt, sondern freitagnachmittags. Wieso? Weil das der Tag für das gemeinschaftliche Gebet ist. Jeden Freitag zogen Millionen Muslime aus den Moscheen, um gegen ihre Politiker zu demonstrieren. Das waren keine Radikalen, sondern ganz normale Muslime. In Ägypten und andernorts wurden die zu Tode gekommenen Jugendlichen schahid (Pl. schuhada) genannt – Märtyrer. Dieses Wort aus dem Koran bezeichnet diejenigen, die als Zeugen Gottes sterben. Auch die Fotos der Toten wurden mit Koranversen versehen.

Bald beteten Christen und Muslime sonntags und freitags gemeinsam auf öffentlichen Plätzen. Auf dem Tahrir-Platz in Ägypten bildeten Christen einen Schutzring um ihre muslimischen Brüder. Wir übersahen diese religiösen Aspekte, bis Extremisten auftauchten und die Proteste vereinnahmten, indem sie Kirchen anzündeten und die israelische Botschaft in Kairo angriffen. In Tunesien wurde die amerikanische Vertretung attackiert, in Libyen der amerikanische Botschafter umgebracht. Dieser Wirbelsturm des Radikalismus, der durch den Nahen Osten fegte, fand schließlich im sektiererischen Milieu des Irak und Syriens eine neue Heimat. Von unseren Medien wurde dieses Gebilde fälschlicherweise als ‚Islamischer Staat im Irak und Syrien‘ (ISIS) bezeichnet. Wir gewähren dem selbsternannten Kalifat einen PR-Erfolg, indem wir es ‚den islamischen Staat‘ nennen, ungeachtet dessen, dass wir im Westen gar nicht im Stande sind, festzulegen, ob ISIS nun islamisch ist oder nicht.1

Die Fehleinschätzungen des Westens lassen sich weit zurückverfolgen: sei es die Überhöhung der Unterstützerbasis Chomeinis, die Toleranz gegenüber Intoleranz von Muslimen im Westen im Fall Rushdie, die Tatenlosigkeit in Algerien, als das Militär islamistischen Demokraten die Macht verwehrte, das Unverständnis für die religiösen Befindlichkeiten bei der Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien, oder die Warnungen in den Wind zu schlagen, dass die Absetzung des Sunniten Saddam Hussein eine stärkere iranisch-schiitische Präsenz im Nahen Osten heraufbeschwören würde. Und der Westen begeht wieder folgenschwere Fehler, so zum Beispiel mit der Duldung der Masseninhaftierungen von Islamisten nach dem Sturz des ersten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi im Jahr 2013 in Ägypten. Haben wir nichts aus dem Terror gelernt, der in den 1960er Jahren in Ägyptens Folterknästen entstand? Wir haben in den 1980er Jahren arabische und afghanische Islamisten für ihren Kampf gegen den Sowjetkommunismus in Afghanistan ausgerüstet und unterstützt. Und daraus wurde al-Qaida. Jetzt unterstützen wir kurdische Kommunisten dabei, Islamisten in Syrien zu töten.

Lawrence von Arabien versprach verschiedenen Stammesfürsten ein und dasselbe arabische Königreich, um sie zum Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen. Aktiv wurde im letzten Jahrhundert der Wahhabismus gegenüber dem türkischen Sufismus gestärkt (kannten wir überhaupt den Unterschied?), jetzt raufen wir uns verzweifelt die Haare, weil sich die wahhabitische Intoleranz über den gesamten Globus ausbreitet. Immer mehr Kämpfer schließen sich den Dschihadisten an und haben es auf unsere eigene muslimische Bevölkerung im Westen abgesehen.

Immer wieder interpretiert der Westen die politischen Entwicklungen in der islamischen Welt falsch. Im Jahr 1917 versprach die britische Regierung in der Balfour-Erklärung eine ‚jüdische Heimstätte‘ in Palästina. Was für einen Frieden haben wir Juden und Arabern seither gebracht? Im Geheimen wurde im Hussein-McMahon-Briefwechsel von 1915/16 die Aufteilung der arabischen Länder sowie die Vertreibung der Osmanen aus diesen Gebieten vereinbart. Was für einen Frieden hat das den Arabern im Irak, in Syrien oder Ägypten seither gebracht, außer von nationalistisch-sozialistischen Diktatoren beherrscht zu werden? Durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 entstanden Nationalstaaten, die in Europa nach dem Westfälischen Modell gebildet worden waren. Welche Bedeutung haben diese Grenzen heute noch, wenn transnational agierende Islamisten und Dschihadisten sich einfach über diese hinwegsetzen? Wir haben 1979 dabei geholfen, ‚Ajatollah‘ Chomeini populär zu machen – bis ins 19. Jahrhundert gab es den formalen Titel Ajatollah, was ‚Zeichen Gottes‘ bedeutet, überhaupt nicht. Er nannte sich selbst Ajatollah, also haben wir die Bezeichnung einfach übernommen. Weshalb? Chomeini beanspruchte Autorität und als mediales Sprachrohr halfen wir ihm dabei, seine Stellung zu konsolidieren. Mit Urteilen hielten wir uns dabei zurück. Dasselbe Prinzip von damals gilt heute für ISIS. Dass die große Mehrheit der Muslime weder die Autorität des Ajatollah noch die von ISIS anerkennt, spielt dabei keine Rolle.

Der religiöse Extremismus hat die iranische Regierung seit 1979 fest im Griff. Der Westen versteht das im Iran vorherrschende messianische Bekenntnis zur Wilayat al-Faqih (Herrschaft des Klerus) jedoch nicht, die eine Art Übergangsregierung für die Wartezeit bis zur Ankunft des gelobten Messias, bekannt als der unfehlbare Mahdi, darstellt. Unter dem Vorwand, das Land auf diesen vollkommenen Mahdi vorzubereiten, rechtfertigt die klerikale Regierung ihre tyrannische Herrschaft. Über 1000 Jahre kannten die Schiiten kein solches Konzept von Geistlichen, die in Abwesenheit ihres Mahdi regieren. Geduldig erwarteten sie sein Himmelreich. Chomeini hat diesen machtbewussten Kunstgriff erfunden. Jetzt geht es dem Iran darum, andere schiitische Gemeinschaften auf der ganzen Welt mit dem Dogma der Wilayat al-Faqih zu beeinflussen. Sowohl die Unterstützung des Terrorismus gegen Israel von Seiten des Iran durch seine Stellvertreter Hisbollah und Hamas als auch der Versuch, Nuklearwaffen zu erlangen, sind von einem imaginären apokalyptischen Krieg gegen den Westen und seine Verbündeten getrieben. Die iranische Regierung hat jedes Mal davon profitiert, wenn der Westen sich wieder einmal blamierte. Heute dominiert im Irak, nach der Beseitigung Saddam Husseins, der Iran und kontrolliert mehrere Städte, darunter Bagdad. In Syrien hat der Iran, nachdem der Westen zum Sturz Asads aufrief, aber keine Taten folgen ließ, Hunderttausende friedliche Demonstranten ermordet, um die pro-iranische Regierung in Damaskus an der Macht zu halten. Wenn der Westen schon nicht das notwendige strategische Stehvermögen für den langwierigen Kampf im Irak oder in Syrien hat, warum dann halbherzige Maßnahmen ergreifen, die nur den Iran stärken? Nicht allein im Nahen Osten ist der Westen ins Wanken geraten.

Wir töten unsere eigenen Bürger, ohne uns an Gesetze zu halten. Im Jahr 2015 verteidigte der Premierminister Großbritanniens seine Entscheidung, britische Muslime in den Reihen von ISIS mit Drohnenangriffen umzubringen. Im Jahr 2012 hatten die Vereinigten Staaten bereits den Weg gewiesen, indem sie den amerikanischen Staatsbürger Anwar al-Aulaki mit einer Drohne töteten. In einem weiteren Fall wurde sogar die Unschuldsvermutung übergangen, das herrschende Gesetz ignoriert und ein Gerichtsverfahren verwehrt. Wenn wir diese zivilisatorischen Errungenschaften wieder hochhielten, dann wären unsere Armeen sicher bereit, für deren Verteidigung zu sterben. Ohne Verhaftungen oder Gerichtsverfahren, mit einer neuen Form von Schnelljustiz, wird stattdessen die Grenze zwischen Diktatur und Demokratie immer schmaler. Das Schlimme daran ist, dass wir auf diese Weise den Zorn der Fanatiker nähren und ihr universales Narrativ bestätigen: Sie hätten weder Rechte noch Würde, ihnen bliebe nur zu töten oder getötet zu werden.

Der Westen gießt mit aufsehenerregenden Schlagzeilen weiter Öl ins Feuer, gängelt die unschuldige Mehrheit mit Sanktionen und setzt Drohnen gegen die Symptome ein, statt sich mit den Ursachen der Konflikte in und mit der islamischen Welt auseinanderzusetzen. Unsere führenden Politiker sind nicht im Stande, über die nächste Wahlperiode hinauszudenken. Sie entwerfen kurzfristige Strategien, wohingegen unsere extremistischen Feinde viel langfristiger denken.

Der Westen kann den unter den Muslimen weitverbreiteten Anti-Amerikanismus nicht umkehren, ohne die tiefsitzenden Gefühle des Verrats, des Schmerzes, der Ungerechtigkeit und Erniedrigung anzuerkennen, welche von vielen – nicht nur Radikalen – gehegt werden. Wie der amerikanische Milliardär betrachten auch wir die Probleme durch eine materialistische Brille. Uns entgeht, was nicht sichtbar, aber überaus wirkmächtig ist: Gefühle, Narrative und Wahrnehmungen. Eben hier hat sich eine Kluft zwischen dem modernen Westen und dem Islam aufgetan.

Vor gerade mal etwas mehr als einem Jahrhundert bezogen sich Schriftsteller und Politiker auf das Christentum als globale Einheit. Diesen Bezug stellen heute nur noch eine Handvoll Kirchenoberhäupter her. In weiten Teilen des Westens hat der enorme Einfluss eines lautstarken Säkularismus die Religion aus der öffentlichen Sphäre verdrängt. Was früher als ‚das Christentum‘ galt, ist nun ‚der Westen‘ geworden. Moderne säkulare Philosophen sind an die Stelle von Propheten getreten. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Vordenker der französischen Revolution, argumentierte, der Mensch sei ein selbstgenügsames Individuum mit absoluter Freiheit. Tradition und Glauben zum Trotz hatte er mit seiner Hausmagd fünf Kinder, die er alle in einem Heim zurückließ. Familie bedeutete Rousseau nichts. Und ebenso wenig wie Kinder ein Recht auf Familie hatten, gab es auch kein göttliches Vorrecht von Königen und Königinnen. Die Monarchie wurde gestürzt, die moderne Freiheit war geboren.

Die rückhaltlosen Verfechter der Moderne blicken ehrfürchtig auf die Aufklärung – in blindem Glauben, wenn man so will. Wir übersehen dabei, dass die Herren damals ebenso Fehler begingen wie ihre Nachfolger heute. Sie waren eben nicht immer die freidenkerischen Befreier, für die wir sie heute halten. Der britische Philosoph John Gray enthüllt deren regressives Denken. Voltaire, so erinnert uns Gray, glaubte an eine säkulare Variante der antisemitischen Präadamitentheorie. So wird die von einigen christlichen Theologen vorgebrachte Vorstellung bezeichnet, die Juden seien Präadamiten, Überbleibsel einer älteren Spezies, die vor Adam existiert habe.2 Immanuel Kant, der ultimative Guru der Aufklärung, stellte die Behauptung auf, es gebe angeborene, natürliche Unterschiede zwischen den ‚Rassen‘. Er urteilte, weiße Menschen „verfügten über sämtliche Eigenschaften, die für das Fortschreiten zur Vollkommenheit notwendig seien“, schreibt Gray. Afrikaner seien „für die Sklaverei prädisponiert“. Gray zitiert Kant mit den Worten „Die Negers (sic!) von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.“3 Asiaten erging es nur wenig besser. In Über die Freiheit beschrieb John Stuart Mill China als eine stagnierende Kultur: „Es ist zum Stillstand gekommen – schon seit Tausenden von Jahren; und was ihm noch an Verbesserung in Aussicht steht, wird es den Fremden verdanken.“4 Sein Vater James Mill meinte in seiner Schrift Geschichte des britischen Indien, dass die Einheimischen Fortschritt nur erlangen könnten, wenn sie ihre Sprachen und Religionen hinter sich ließen. Marx verteidigte koloniale Herrschaft als einen Weg, die Idiotie des Landlebens zu überwinden. ‚Fortschritt‘ war das Heilsversprechen der Aufklärung. Gray erinnert uns daran: „Alle sollten zu Europäern gemacht werden, wenn nötig mit Gewalt.“5

Voltaire verhöhnte die katholische Kirche und den Islam. Nietzsche erklärte Gott für tot. Rousseau, Bentham, Voltaire, Mill, Nietzsche, Marx, Lenin und ihre Weltanschauungen herrschen heute im Westen vor. Ebenso wie Juden und Muslime Propheten und deren Gräber verehren, hält es der moderne, liberale Westen mit seinen Philosophen. Rousseau wurde von den französischen Revolutionären exhumiert und 1794 ins Pantheon überführt, eine der höchsten Ehrbezeugungen im säkularen Frankreich. Bentham wurde einbalsamiert und wird noch immer am University College London in Bloomsbury zur Schau gestellt. Lenin wurde in Moskau ebenfalls mumifiziert.

Dennoch existiert ein anderer, weniger bekannter Westen: jener von Edmund Burke (1729–1797). Über den angelsächsischen Raum hinaus weitgehend unbekannt, war Burke als Ire Mitglied im britischen Parlament. Als frommer Gläubiger bezog er dezidiert Stellung gegen die Französische Revolution und sah die Verwerfungen sowie den Terror voraus, welche sie entfesselte. Die radikalen Angriffe auf die französische Monarchie und die Konfiszierung von Kircheneigentum betrachtete er als gottlos. Für Burke verhießen Rousseau und Voltaire Zerstörung und Finsternis. Die Grundlage von Burkes Konservatismus bildete die Religion, sein Einsatz für die britische Monarchie war begleitet vom Drang nach größerer parlamentarischer Mitbestimmung. Seine politische Philosophie brachte die älteste Partei der Welt hervor: die ‚British Conservative Party‘ (Konservative und Unionistische Partei).

In seinem wegweisenden Werk Bemerkungen über die Französische Revolution schrieb Burke folgendes: „Gesellschaft umfasst in einem weiten umfassenden Bande nicht nur alle die leben, sondern Lebende, Tote und Kommende.“6 Er legte dar, dass dieses soziale Band „die sichtbare und die unsichtbare Welt“7 verbände. Unsere Zeit auf Erden betrachtete er als Sachwalterschaft über ihre Ressourcen für die kommende Generation sowie als das Erbe der vorherigen. Somit lehnte er Tyrannei und Ungerechtigkeit wider die Schöpfung Gottes ab. Darum unterstützte er auch die Emanzipation der Menschen in Amerika, Irland und Indien. Andererseits kam er schon früh zu dem Schluss, dass in Frankreich die Revolutionäre die Tyrannen waren, da sie danach trachteten, alle Reste von Tradition abzuschaffen und der Gesellschaft neue abstrakte Vorstellungen aufzuerlegen.

Richtet der moderne Westen sich stärker nach Rousseau und Bentham, so hält sich die islamische Welt an den konservativen Burke. Mit konservativ meine ich, dass Muslime nach dem Erhalt von kollektiv überlieferter Weisheit und der Güte vergangener Zeiten streben. Diese Auffassung klingt in Burkes Bemerkungen an: „Wenn alte Meinungen und Lebensregeln dahin schwinden, wer ist den Verlust zu bestimmen fähig. Von da ab fehlt uns der Kompass: der Lauf des Schiffes geht verloren.“8 Aber uns ist die Verbindung zwischen Burke, dem Konservatismus und der islamischen Welt nicht aufgefallen – stattdessen haben wir seit der Invasion Napoleons 1798 in Ägypten versucht, ihr Rousseau, Voltaire und Marx durch Kriege, Propaganda, Bildung und Besatzung aufzuzwängen. Wir müssen die Kraft des Konservatismus erst noch verstehen lernen, um beständige Bündnisse mit der islamischen Welt aufzubauen.

Auf die Frage zum Beispiel: „Gibt es Traditionen und Bräuche, die Ihnen wichtig sind, oder nicht?“, antwortete in muslimischen Ländern jeweils eine Mehrheit mit: „Ja.“ In Jordanien 96 Prozent, in Saudi-Arabien 95 Prozent, in der Türkei 90 Prozent und in Ägypten 87 Prozent. Im Vergleich dazu sehen die Zahlen in postmodernen Gesellschaften wie folgt aus: Vereinigte Staaten von Amerika 54 Prozent, das Vereinigte Königreich 36 Prozent, Frankreich 20 Prozent und Belgien 23 Prozent.9 Diese Zahlen zeigen, dass Tradition, Religion und Brauchtum in so unterschiedlichen muslimischen Ländern wie der Türkei und Ägypten sehr bedeutsam sind. Wenn dem so ist, was sind das für Traditionen, was ist das für eine Gläubigkeit, die mehr als eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt vereint?

Im Gegensatz zu einem im Verschwinden begriffenen Christentum existiert ‚die islamische Welt‘ noch und ihre auf Glauben basierende Identität sprüht vor Leben. Eine Gallup-Umfrage in mehr als 35 muslimischen Staaten aus dem Jahr 2007 ergab, dass der Islam für 90 Prozent der Muslime eine wichtige Rolle im Alltag spielt. Dazu zählen Spiritualität und Essen, Kleider- und Hygienevorschriften, tägliche Gebete mit älteren Angehörigen, eine gemeinsame Kultur und geteilte Geschichte – all das verbindet Muslime. Von Marokko bis Indonesien, von Bosnien bis in den Jemen ist der Islam in der Sprache ebenso präsent wie im Verhalten, in Gebeten, der Architektur, den Speisen und Gewohnheiten, die allesamt die Menschen einen. Natürlich gibt es sprachliche, kulturelle, ethnische und politische Unterschiede, jedoch existiert eine grundsätzliche Einheit inmitten dieser Vielfalt.

„Man kann sich immer darauf verlassen, dass die Amerikaner das Richtige tun“, sagte Winston Churchill und fuhr fort, „nachdem sie alles andere ausprobiert haben.“ Churchills Ausspruch über Amerika war damals instinktiv richtig und ist es heute umso mehr. Wie viele neue Kriege, Drohnenattacken und Anti-Terroroperationen wird der Westen noch führen? Und wie viele neue Terrororganisationen werden in den muslimischen Ländern hervorsprießen? Der Kreislauf aus Terror und Anti-Terrormaßnahmen seit dem 11. September hat unsere Welt nicht sicherer gemacht. Der Westen übersieht, dass die politisch motivierte Gewalt nur das Symptom einer viel tiefer liegenden Misere in der islamischen Welt darstellt, die wir noch gar nicht ganz erfasst haben.

In der ganzen islamischen Welt gibt es drei vorherrschende Tendenzen, die jede muslimische Gemeinde heutzutage spürt und auf verschiedene Art und Weise bereits seit einigen Jahrzehnten zu spüren bekommen hat. Bei der ersten handelt es sich um eine Arabisierung, ungeachtet dessen, dass die große Mehrheit der Muslime weltweit keine Araber sind. Lediglich 20 Prozent der Bevölkerung in der islamischen Welt sind Araber, allerdings lassen sich die Konflikte und Ideologien, welche die muslimischen Gemeinden weltweit prägen, in die arabischen Staaten des Nahen Ostens zurückverfolgen. Das pulsierende Herz des Islam, den Nahen Osten, zu verstehen, ist daher für das Verständnis der islamischen Welt entscheidend. In den ersten Kapiteln werde ich die Begriffe Islam, Muslime, Koran, Sunniten und Schiiten näher bestimmen.

Getragen wird dieser unverhältnismäßige arabische Einfluss auf die Lebenswelt der Muslime von mehreren Faktoren: Der Islam erblickte in Arabien das Licht der Welt, der Koran ist auf Arabisch niedergeschrieben, der Prophet Mohammed war Araber, die Frühgeschichte des Islam mit ihren Hauptprotagonisten ereignete sich in Mekka und Medina auf der arabischen Halbinsel, und auf der ganzen Welt wenden sich Muslime fünf Mal am Tag im Gebet gen Mekka. Diese Frömmigkeit, Geschichte, Kultur und Geografie sind ausschlaggebend. Der Hidschab als Kleidungsstück für Frauen entstammt der arabischen Kultur, die Relevanz des Palästinakonflikts, die Beliebtheit arabisch-islamistischer Autoren bei allen Muslimen – all diese Punkte weisen, neben vielen weiteren, auf die arabische Vormachtstellung hin, die den zeitgenössischen Islam durchzieht.

Noch vor hundert Jahren waren sich Muslime in der Türkei, Indien oder Afrika kulturell fern, jetzt gilt jedoch zunehmend die Kultur vom arabischen Golf als Maßstab islamischer Authentizität und religiöser Identität: vom Kleidungsstil, der Verwendung religiöser arabischer Begrifflichkeiten in Gesprächen, der Namensgebung bei Kindern sowie Fernseh- und Lesegewohnheiten und der Beliebtheit golf-arabischer Geistlicher bis dahin, wie Männer ihre Bärte trimmen und Frauen sich kleiden. Diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr: Saudi-Arabien hat über die letzten 70 Jahre schätzungsweise 200 Milliarden US-Dollar für den Bau von Moscheen sowie die Ausbildung und die weltweite Entsendung von Geistlichen ausgegeben. Darüber hinaus werden saudische Botschaften benutzt, um die Welt mit ihrer Form eines solchen arabisierten Islam zu missionieren.

Die Kapitel 7 bis 11 beschäftigen sich mit den Vorstellungen, Gemeinsamkeiten und Konsequenzen dieser Arabisierung, als deren Begleiterscheinung in wachsendem Maße Wut und Zorn zu beobachten sind. Diese Kapitel behandeln die muslimische Auseinandersetzung über Bedeutung und Stellenwert von Scharia, Sufismus, Islamismus, Salafismus, Wahhabismus, Dschihadismus sowie das Wiederauftreten des Charidschitentums.

Die zweite Tendenz kann als Verwestlichung und als Verlust muslimischen Selbstvertrauens gefasst werden: An die gesamte islamische Welt ergeht der Ruf, eine Spielart der säkularen, liberalen sowie demokratischen westlichen Regierungsweise zu übernehmen. Dabei wird keine andere auf Konsens beruhende Regierungsform geduldet. Ein Staat, der nicht demokratisch ist, wird vom Westen als autokratisch eingestuft. Genauso wie in der Antike: wer kein Grieche, der Barbar. Der Westen duldet hierbei keine Grauzonen, das heißt jegliche Anerkennung von konsensuellen oder tribalen Regierungsformen wird anderen Kulturkreisen verwehrt. Dabei schrieb der nordafrikanische Gelehrte Ibn Chaldun (gest. 1406) 200 Jahre vor Hobbes über einen Gesellschaftsvertrag. Ebenso wie die Arabisierung die Traditionen von Muslimen aus dem Gleichgewicht gebracht hat, geschieht dies durch Verwestlichung. Diejenigen, die nicht arabisiert sind, sind meist nominell verwestlicht, was sich in Musikgeschmack, Kleidungsstil, Konsumverhalten, einer Vorliebe für Hollywoodfilme sowie im Gebrauch der englischen Sprache äußert. Die Kapitel 12 bis 16 setzen sich mit der Tragweite dieser anhaltenden Ausrichtung am Westen, im Positiven wie Negativen, und dem damit verbundenen Unbehagen in der islamischen Welt auseinander.

Die dritte Tendenz entsteht dann, wenn Verwestlichung und Arabisierung aufeinanderprallen und der Spagat zwischen beiden gewagt wird. Im Zuge dessen treten Menschen mit widersprüchlichen Einstellungen in Erscheinung, die zwar fließend Englisch sprechen, amerikanische Autos fahren, bei McDonald’s Essen gehen, Jeans und Baseballcaps tragen, sich aber gleichzeitig für die Errichtung eines Kalifats oder die Zerstörung Israels aussprechen.

Doch ungeachtet dieser verwirrenden Tendenzen zieht der Islam seine Anhänger, wie Kapitel 17 bis 20 zeigen werden, außergewöhnlich stark in seinen Bann. Muslime wissen vieles zu schätzen, was in der Moderne im Westen verloren gegangen ist. Doch das allein erklärt noch nicht den gegenwärtigen Konflikt – Offenheit und Koexistenz sind möglich.

Was tun gegen die vielschichtige Misere in der islamischen Welt? Das Schlusswort dieses Buches bietet einen Ausblick auf neue Ideen, die einer besseren Zukunft den Weg ebnen könnten.

Über die Jahrhunderte haben Muslime die Traditionen ihres Glaubens mittels mündlicher Überlieferung und Erzählkunst weitergegeben. Der Koran enthält Abschnitte, die nach Propheten und deren Geschichten benannt sind. Die großen Sufis vermittelten ihre Weisheit durch Erzählungen. Muslime suchen in ihrer Vergangenheit gleichermaßen nach Bestätigung und einer Vision für die Zukunft. Burke vertrat eine ähnliche Auffassung: „Das Volk, das seine Vorfahren vergisst, wird auch seine Nachkommen nicht bedenken.“10

Der moderne Westen sperrt die Vergangenheit aus und schafft sich in „schöpferischer Zerstörung“ eine neue Zukunft, wie es Joseph Schumpeter auf einen Begriff brachte. Diese Annahme rührt von einem unbeirrbaren Fortschrittsglauben her. Für Muslime sind die Geschichte und deren Persönlichkeiten wichtig: Um nach vorn schauen zu können, blicken wir zurück; vor dem Sprung voraus treten wir einen Schritt nach hinten.

Wenn es um Persönlichkeiten und Begebenheiten geht, die für Muslime zur Allgemeinbildung gehören – wie zum Beispiel die Ereignisse von Kerbela oder Persönlichkeiten wie Rumi, Chayyam, Hafis, Ibn Arabi, Dschahanara oder Hasan al-Banna, um nur einige zu nennen – habe ich Einzelheiten aufgeführt, die den Lesern den Blick aufs Ganze vermitteln sollen.

Für die im Westen verbreitete Denkweise ist es beispielsweise schwer vorstellbar, an Wunder, Engel, das Göttliche oder ein Leben nach dem Tod zu glauben. Für die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe der Erde sind das jedoch ganz lebendige Glaubensinhalte. Lassen wir für ein besseres Verständnis unsere Vorurteile einmal außen vor.

Weltoffen aus Tradition

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