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CHESSMAN

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Er stellte das Radio an. Scheiße, die Nachrichten. Es war ein verbeultes Kofferradio, das er in einem leeren Schuhkarton aufbewahrte, und er brauchte sich gar keine Hoffnung zu machen, irgendwo auf den Frequenzen das zu finden, worauf er jetzt am meisten Bock hatte: ein bisschen Jazz nämlich oder ein paar Bläser.

Caryl Chessman, der am 22. Mai 1948 in siebzehn von achtzehn Anklagepunkten überführt und der Entführung mit schwerer Körperverletzung, des Raubes, der Notzucht in zwei Fällen und des Autodiebstahls für schuldig befunden worden ist, wird am kommenden Montag um zehn Uhr morgens in der Gaskammer des San-Quentin-Zuchthauses in San Rafael, Kalifornien, ein paar Meilen nördlich von San Francisco, hingerichtet.

Chessman ist unter dem Spitznamen Red Light Bandit bekannt geworden. Auf dunklen Landstraßen lauerte er im Umkreis von Los Angeles Liebespärchen auf, die er dann mit einem roten Scheinwerfer stoppte und überwältigte. Seine Opfer hielten ihn für eine Polizeistreife. In den zwölf Jahren, die er in der Todeszelle von San Quentin verbrachte, hat Chessman beharrlich seine Unschuld beteuert. Hier in San Quentin entstand auch sein Bestseller. Gouverneur Brown hatte kürzlich die Urteilsvollstreckung noch einmal um sechzig Tage ausgesetzt, um damit der Legislative von Kalifornien die Chance zu geben, ein Gesetz gegen die Todesstrafe zu erlassen. Diese Frist läuft jedoch in diesen Tagen ab, ohne dass ein neues Gesetz in Kraft getreten ist.

Es sieht also ganz so aus, als ob Chessman am nächsten Montag tatsächlich eine Ladung Pfirsichduft in die Lunge geblasen kriegt ...

Er stellte das Radio ab. Plötzlich setzten die Halluzinationen ein. Er phantasierte von Zyankalikugeln und Todesgas und kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. »Armer Chessman«, brummte er. Er war immer noch leicht benebelt von der Meskalindosis, die er sich in der Nacht zuvor genehmigt hatte, und von dem schlaflosen Morgen danach mit den plötzlichen Energieausbrüchen, die er dazu benutzt hatte, endlich die Anfangszeilen von »Out of the Cradle Endlessly Rocking« auswendig zu lernen. Das Beste wäre wohl, rauszugehen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Kurz darauf schlenderte er die Vierte Straße entlang in Richtung Tompkins Square Park. Irgendwo unterwegs lief ihm dann Scoobie über den Weg und überredete ihn, mit rüber zur West Side zu kommen, wo sie bei J. A. was zu futtern abstauben könnten. Das J. A. am Sheridan Square war damals eine ziemlich populäre Schnorrerkneipe, da, wo heute die Prudential Savings Bank steht. Beide hatten den weitausholenden, eiligen Hipstergang ihrer Epoche drauf; es war schon fast im Laufschritt, wie sie jetzt nebeneinander über die kurzgeschorene Wiese marschierten, die East und West Side voneinander trennte.

Als sie am Sheridan Square an einer Buchhandlung vorbeikamen, drückte jemand Sam ein Flugblatt in die Hand, das zu einem Protestmarsch gegen Chessmans Hinrichtung aufrief. Er sollte am nächsten Tag stattfinden, vom Columbus Circle bis hinunter zum Washington Park führen und schließlich mit einer Massenkundgebung an der Judson Memorial Church enden.

Sam ließ das Flugblatt sinken. Scoobie stand dicht neben ihm und blies ihm auf dem Trichter einer eng zusammengerollten Zeitung ein kompliziertes Solo ins Ohr. »Also weißt du, Scoob — ich glaube, wir sollten morgen für Chessman mitmarschieren.« Und damit stopfte er sich das Flugblatt in die Tasche.

Jahrelang hatte er über den Fall Chessman gelesen. Und nach Hunderten von Zeitungsartikeln und Radioreportagen war es immer noch ziemlich schwierig rauszukriegen, was Chessman denn nun eigentlich verbrochen hatte und warum man ihm mit aller Macht diesen letzten Atemzug verpassen wollte. Es war ungefähr so, als wenn man in den fünfziger Jahren versuchen wollte, durch das Studium des Arizona Republic rauszufinden, was Robert Oppenheimer denn nun exakt getan hatte, um seine politische Glaubwürdigkeit zu verlieren.

In Chessmans Fall steckten die Zeitungen voller mysteriöser Contra-naturam-Andeutungen, lauter Geschwafel über die »unmenschlichen Akte«, zu denen der Red Light Bandit seine Opfer gezwungen haben sollte. Eine ganze Menge hatte mit dieser Tante zu tun, die später in der Irrenanstalt landete, angeblich weil Chessmans Perversionen sie in geistige Umnachtung gestürzt hatten.

Chessman war nach einem Gesetz zum Tode verurteilt worden, das während der zwölf Jahre, die er in der Todeszelle verbracht hatte, abgeschafft worden war, und deshalb, so folgerte Sam, sollte er jetzt im Namen einer reinen Halluzination vergast werden. War es denn tatsächlich möglich, dass der Staat Kalifornien Hunderte und Tausende von Dollar zum Fenster rauswarf, um ein Todesurteil zu vollstrecken, das man ihm damals verpasst hatte, bloß weil er dieses durchgedrehte Weibsbild gezwungen hatte, ihm einen abzukauen?

Ein weltweiter Sturm der Entrüstung erhob sich gegen die bevorstehende Hinrichtung. Der Papst war außer sich. Die ausländische Presse tobte. Tausende von Briefen und Petitionen setzten die kalifornische Regierung unter Druck und protestierten gegen diese kleine achteckige Gaskammer aus Metall. Andererseits war die Meinung von Sams Schwager wiederum typisch für die meisten Pseudoliberalen von New York: »Tja ... sicher sollte die Todesstrafe abgeschafft werden. Das steht ganz außer Frage. Allerdings muss man sich aber auch mal klar darüber werden, dass Chessman nicht zum Testfall für die Abschaffung werden darf. Chessman ist ein Atheist. Ein Unhold!«

Aber die Hoffnung lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Am selben Nachmittag, als Sam und Scoobie von der Lower East Side zum Sheridan Square rübergingen, um sich was zu essen zu besorgen, hatte drüben an der Westküste Stuart L. Daniels in der Todeszelle eine Unterredung mit dem Autor. Daniels war der Verleger von Prentice Hall, wo Chessman seine erfolgreichen Bücher publiziert hatte. Als die Reporter den Verleger nach der Besprechung über den Inhalt des Gesprächs ausfragten, erzählte Daniels ihnen: »Ob Sie es glauben oder nicht, meine Herren, er wollte mit mir über seine zukünftigen schriftstellerischen Projekte sprechen.«

1960 war Wahljahr und garantiert nicht die rechte Zeit, in der Öffentlichkeit Gnade an irgendeinem angeblichen Red Light Bandit walten zu lassen. Anfang April hatte beispielsweise der Verband der amerikanisch-hebräischen Gemeinden jene sieben Männer angeschrieben, die in der Presse am Häufigsten als mögliche Präsidentschaftskandidaten genannt wurden und nach ihrer Einstellung zur Todesstrafe befragt. Richard Nixon hatte geantwortet, dass er die Todesstrafe für Kidnapper befürworte: »Selbstverständlich machen wir uns Gedanken über das Schicksal von Kriminellen, die wir gefasst haben. Aber noch mehr liegt uns die Sicherheit der unschuldigen Bürger am Herzen, die derartigen Verbrechern schutzlos ausgeliefert wären, wenn wir dieses abschreckende Mittel nicht hätten.«

Am nächsten Morgen wälzte Sam sich gerade noch rechtzeitig aus dem Bett und fuhr mit der U-Bahn bis zum Columbus Circle, dem Startort des Chessman-Marsches. Sam hätte es nie im Leben für möglich gehalten, dass ausgerechnet er sich jemals an einem Protestmarsch beteiligen würde. Aber nun wurde mit von dem unaussprechlichen Drang erfüllt, weiter zu marschieren, weiter zu singen und zu protestieren. Hier endlich bot sich eine Gelegenheit, es den Scheißkerlen heimzuzahlen, die alles kaputtgemacht hatten. Die Transparente waren deutlicher und klarer als alle anderen, die Sam je gesehen hatte. SCHAFFT DIE TODESSTRAFE AB, forderten sie, RETTET CHESSMAN und LEGALER MORD BLEIBT MORD.

Ein Lastwagen mit der Pappmaché-Imitation einer Gaskammer führte den Zug der empörten und aufgebrachten Demonstranten an, die um zwei Uhr nachmittags die Neunundfünfzigste Straße entlang marschierten. Vorbei an den stinkvornehmen Hotels, wo im Plaza die feinen Herrschaften der Gesellschaft die Serviette zum Mund führten und sprachlos auf die Protestler hinunter gafften. Sie winkten ihnen zu: »Kommt runter und macht mit!« schrien sie. »Kommt mit uns!«

An der Fünften Avenue bog der Zug nach rechts ab, und dann begann ein dreistündiger Trott die Avenue hinunter, einundfünfzig Blocks weit, bis zum Washington Square, wo Norman Thomas und Elaine de Kooning zu der Menschenmenge sprachen, die sich an der Judson Memorial Church versammelt hatte.

Für den jungen Sam bedeutete dieser Marsch das erste Aufflackern von Solidarität. Zum ersten Mal erlebte er das Gefühl, seine Wut mit den anderen, die sich vor den Barrikaden aufgestellt hatten, zu teilen. Noch ahnte er nichts von den Schrecken der Barrikaden, die die sechziger Jahre für ihn bereithielten, diesen grauen Mauern, die er noch so oft verhöhnen und gegen die er noch so oft blindlings anrennen sollte.

Der Samstagabend verflog für Sam in einer Orgie von Hasch und endlosen Diskussionen in den Kneipen und Bistros des Village. Am Sonntag, dem 1. Mai 1960, passierte nichts Besonderes. Die Berichterstattung über Chessman lief auf vollen Touren. Auf allen Frequenzen wurde Sam mit den neuesten Meldungen über ihn bombardiert. Sie hörten einfach nicht auf. Sam war nervös und spürte zum ersten Mal den stechenden Schmerz der Frustration, wenn man einsehen muss, dass aller Protest gegen die korrupte Gesellschaft zwecklos ist. Er fühlte sich so elend, als ob der gesamte Kontinent zur Gaskammer verurteilt wäre.

Drüben in Kalifornien gab Chessman eine Pressekonferenz und meinte, seine Aussichten stünden Fifty-fifty. Und für den Fall, dass es schiefgehen sollte, kündigte er an: »Dann geh ich halt rein, hock mich auf meinen Stuhl und warte auf das Ende!«

Ebenfalls am Sonntag fuhr der Bürgerrechts-Anwalt A. L. Wirin zu Kaliforniens Gouverneur Brown und verhandelte mit ihm über eine nochmalige Aussetzung der Urteilsvollstreckung. Er begründete seinen Antrag mit der bevorstehenden Wahl eines neuen Richters für das Bundesgericht von Kalifornien, der am ersten Juni vereidigt werden sollte — möglicherweise könnte ein neuer Richter an den Drei-zu-Vier-Abstimmungen was ändern, die nun schon dreimal Chessmans verschiedene Gnadengesuche abgeschmettert hatten.

Auch Bischof James A. Pike sprach bei Gouverneur Brown vor und bat um Gnade für Chessman, aber Brown blieb ungerührt und ließ beide eiskalt abblitzen.

Steve Allen, Marlon Brando, Shirley McLaine, Eugene Burdock und Richard Drinnon — sie alle fuhren an diesem Tag hinüber nach Sacramento und forderten Brown auf, die Aussetzung bis zum kommenden November zu verlängern, wenn die Nation selbst über die Frage der Todesstrafe entscheiden sollte. Brown antwortete, dass er mit einem solchen Aufschub nicht nur seine Amtsgewalt missbrauchen, sondern auch sein Gewissen vergewaltigen müsste. Nach seiner Absage machten Chessmans Anwälte eine kurze Verschnaufpause und schickten dann am Sonntagabend per Express ein allerletztes Gnadengesuch an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten in Washington.

In der Nacht von Sonntag auf Montag marschierten einhundert Collegestudenten von San Francisco nach San Rafael. Sie hielten Nachtwache für Chessman.

Um fünf Uhr nachmittags holten sie Chessman aus seiner Todeszelle im sechsten Stock und führten ihn zum Aufzug. Seine Hände waren mit Handschellen an den Gürtel gefesselt. Sie sollten ihn in die sogenannte »Wartezelle« unten im Parterre bringen, wo er seine letzten siebzehn Stunden Sauerstoff atmen würde. »Bis morgen früh dann — «, rief er seinen Kumpels im Trakt zu, als sie ihn abführten — der traditionelle Abschiedsgruß der Todeskandidaten, wenn sie am letzten Abend nach unten verlegt werden.

Ein paar Meter nur von der achteckigen Gaskammer entfernt lagen die zwei Wartezellen. Man versorgte Chessman mit einer neuen blauen Hose, einem blauen Hemd dazu und leichten Segeltuchschuhen. Als er zur Wartezelle hinüberging, konnte er die Gaskammer noch nicht sehen, so rücksichtsvoll war der Architekt wenigstens gewesen; sie lag rechter Hand am Ende eines schmalen Korridors.

Die ganze Nacht und auch noch den frühen Morgen hindurch arbeitete Caryl Chessman an seinen Papieren und schrieb seine letzten Briefe. Als sie ihn dann kurz vor zehn abholten, legte er den Stift aus der Hand und bereitete sich aufs Sterben vor.

Das Bundesgericht von Kalifornien hatte sich am frühen Morgen noch einmal versammelt, um über ein Gnadengesuch zu beraten, das am Samstagmorgen für eine nochmalige Urteilsüberprüfung eingegangen war, und kurz vor der offiziellen Urteilsvollstreckung, um neun Uhr zehn abermals mit drei zu vier Stimmen dagegen gestimmt.

Um neun Uhr fünfundfünfzig forderten die Anwälte Gordon T. Davis und Rosalie Asher in den Amtsräumen des kalifornischen Bundesrichters Louis Goodwin einen kurzen Aufschub für die Hinrichtung. Zur gleichen Zeit erhielt in Washington Richter William O. Douglas die per Express zugestellten Unterlagen und gab bekannt, dass eine nochmalige Aussetzung der Urteilsvollstreckung nicht infrage komme.

Richter Goodwin hatte jedoch in der Zwischenzeit zwei Kanzlisten zu seiner Sekretärin geschickt, mit dem Auftrag, den Direktor von San Quentin anzurufen und einen kurzen Aufschub anzuordnen. Es war zehn Uhr drei. Die Telefonnummer war mündlich weitergegeben und von der Sekretärin prompt verwechselt worden. In fieberhafter Eile brachte sie die richtige Nummer zusammen und wählte noch einmal, aber der stellvertretende Direktor von San Quentin konnte ihr nur noch mitteilen, dass die Zyankalikugeln soeben gefallen waren.

Im Vorraum der Gaskammer drängelten sich mittlerweile die Zuschauer. Zwei Drittel der Anwesenden im Zeugenraum waren Fernseh-, Radio- und Zeitungsreporter. Die Exekutionskammer ragte etwa zur Hälfte in den Zuschauerraum hinein. Sie hatte längliche Fensterhöhlen, durch die man hineinlugen konnte. Über der Eingangstür zu dem grün ausgelegten Zeugenraum hing ein Schild mit der Aufschrift RAUCHEN STRENGSTENS VERBOTEN, und an der Außenwand der Gaskammer befand sich ein Geländer mit der Warnung: ÜBERSCHREITEN DES GELÄNDES WIRD STRAFRECHTLICH VERFOLGT.

Alle Beteiligten bekamen Sonderzulagen. Der Vorschrift entsprechend erhielt der Direktor in seiner Eigenschaft als hauptverantwortlicher Leiter der Hinrichtung einhundertfünfundzwanzig Dollar. Sein amtierender Stellvertreter bekam fünfzig. Die Wachen, die dafür verantwortlich waren, dass das Opfer sich friedlich und ohne Scherereien auf seinen Sitz begab, jeweils fünfundsiebzig. Und der Kaplan ebenfalls fünfzig.

Erst am Morgen der Hinrichtung schlossen die Gefängniswärter die Haupttür der Gaskammer auf. Sie hatte die Form eines Ovals. Für den Gefangenen musste es scheinen, als ginge er an Bord eines teuflischen Raumfahrtkommandos. Die beiden Wärter überprüften noch einmal, ob die Kabine auch wirklich luftdicht abgeschlossen war, denn keiner von ihnen, ganz zu schweigen vom Direktor, war scharf drauf, an etwa entweichendem Zyankali zu krepieren. Im Innern der Todeskammer befanden sich zwei metallene Stühle, die mit Stoffgurten versehen waren. Im Fall einer Massenexekution hatte der Staat den Vorteil, immer gleich zwei auf einmal abservieren zu können und damit rationeller zu arbeiten.

Die »Zyankalieier« wurden sorgfältig abgezählt und in Mull gewickelt. Ein Beamter mit Gummihandschuhen hängte die giftigen Todeskugeln in automatische Halterungen, die auf der Unterseite des rechten Stuhls über einem Eimer mit Säure angebracht waren. Dann maßen sie die Säure ab und kippten sie in einen Trichter, von wo aus sie später in den Eimer geleitet werden würde. Wenn sie die Eier dann hineinfallen ließen, würde das Kaliumferrocyanid seinen eigentümlichen, pfirsichartigen Duft verströmen. Zur Sicherheit checkten sie auch nochmal die Telefonleitung, die zur Gaskammer führte, damit im Falle eines Aufschubs in letzter Minute auch garantiert nichts schiefgehen konnte.

Pünktlich um neun Uhr fünfzig betraten der Direktor von San Quentin und der diensttuende Oberarzt Chessmans Wartezelle. Der Direktor verlas Chessmans vollen bürgerlichen Namen und eröffnete damit seine Todesstunde. Dann schüttelte er ihm die Hand und ging mit dem Doktor nach draußen. In seinen letzten Worten an den Direktor bestritt Chessman noch einmal, mit dem Red Light Bandit identisch zu sein.

Früher hatte man den Gefangenen kurz vor ihrer Hinrichtung meistens ein paar Whiskeys verpasst; heute kriegen sie statt dessen Beruhigungspillen und — wie könnte es in Amerika anders sein — den unvermeidlichen Kaffee und eine Zigarette. Die Wärter waren immer noch damit beschäftigt, die Haupttür zur Gaskammer zu überprüfen. Sie machten sie ein paar Mal auf und zu, um wirklich hundertprozentig sicher zu sein, dass sie vollkommen dicht war. Inzwischen zogen zwei Wächter einen grünen Teppich aus der Zelle, die neben Chessmans lag, und entrollten ihn sorgsam über den drei Meter langen Korridor, der von seiner Zelle zu der ovalen Tür führte.

Schließlich war es Zeit, die Kleider zu wechseln. Die Wärter gingen wieder hinüber und betraten die Zelle des Opfers, um ihn dabei zu beaufsichtigen. Der Doktor kam dazu. Das Opfer zog sich aus. Der Doc lokalisierte Chessmans Herzschlag und schnallte ihm einen Galvanometer auf die Brust. Als er sein weißes Hemd angezogen und zugeknöpft hatte, baumelte der schwarze Gummischlauch des Messgerätes vorne heraus.

Dann stieg er in frische Bluejeans. Unterwäsche gab es keine, wegen dem Scheißkrampf am Schluss. Auch Schuhe waren verboten, aber dafür kriegte er ein Paar frische Socken.

Und immer noch regte sich in ihm ein Fünkchen Hoffnung. Schließlich war sogar Dostojewski noch begnadigt worden, obwohl das Feuerkommando schon vor ihm Aufstellung genommen hatte. Chessman verabschiedete sich vom Gefängniskaplan und verließ dann seine Zelle; jetzt begleiteten ihn vier Wärter. Er bog nach rechts, ging über den grünen Teppich auf die Kammer zu, trat über die Schwelle am Eingang, ging zum rechten Stuhl und setzte sich hin.

Sie zerrten ihm die Stoffgurte zu, einen über der Brust, einen über den Beinen und jeweils einer über den Armen. Die Elektroden des Messgerätes wurden jetzt mit anderen verbunden, die durch die Kabinenwand in einen Extraraum führten, wo der Doktor stand und die Herzschläge überwachte. Dort wurden sie an sein Stethoskop angeschlossen.

Schließlich waren sie fertig mit den Gurten. Einer der Wärter tippte dem Opfer auf die Schulter und wünschte ihm viel Glück. Der Legende nach raten die Wärter dem Todeskandidaten meistens noch: »Mach am besten einen tiefen Atemzug, sobald du das Gas riechen kannst — das macht die Sache leichter.«

Die Stahltür wurde verschlossen und fest zugeschraubt. Der Doktor stand ruhig da, mit seinem Kopfhörer auf, der an das Stethoskop angeschlossen war, den Formularen und einer Stoppuhr, die auf Sekundenbruchteile genau war. Chessman wandte den Kopf nach rechts und entdeckte zwei Reporter hinter den Beobachtungsfenstern. Sein Mund formte eine letzte Botschaft: »Sagt Rosalie auf Wiedersehen von mir. Alles in Ordnung.«

Das Opfer saß dem Doktor und dem Gefängnisdirektor zugewandt, die im sogenannten Beobachtungsraum stationiert waren. Der Kontakt zu den sterbenden Augen und der Anblick eines keuchenden, sabbernden und geifernden Opfers ließ sich notfalls vermeiden, indem man einfach die Rollos herunterließ, die an den Fenstern zwischen Todeskammer und Beobachtungsraum angebracht waren.

Exakt fünfzehn Sekunden nach zehn Uhr drei am Vormittag nickte der Direktor einem Sergeanten zu, der auf einen Knopf drückte und damit die Zyankalikugeln in die Säure fallen ließ: Plop plop. Das Opfer hörte einmal: Plop und dann noch mal: Plop. Etwa zehn Sekunden später holte Chessman tief Luft und klappte ohnmächtig zusammen, der Kopf pendelte hilflos hin und her und der Doktor verfolgte in seinem Kopfhörer den Herzschlag, rasend schnell und unregelmäßig. Um zehn Uhr zwölf stellte er seinen Exitus fest. Er notierte die Zeit auf seinem Block und streifte sich die Kopfhörer ab. Die Zeugen unterschrieben das Protokoll und schoben im Gänsemarsch ab nach draußen.

In New York City saß Sam zur selben Zeit in der Bibliothek am Washington Square Park und blätterte in ein paar Büchern. Als sein Blick auf die Wanduhr fiel, rückte der Zeiger gerade auf zwölf Uhr neunundfünfzig. Unwillkürlich fing er an, sich die Exekution vorzustellen, die sich in diesen Sekunden drüben in San Rafael abspielte. Er fluchte leise vor sich hin. Der Bibliotheksbeamte starrte ihn teilnahmslos an.

»Wissen Sie überhaupt, was diese Schweine grade jetzt in diesem Moment machen? Sie vergasen Chessman! Diese gottverdammten Killer!« Der Beamte sagte nichts. Er drehte sich um, sah, dass das Lämpchen vom Transportaufzug blinkte, schlurfte hin und lud ein paar dicke Wälzer aus.

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