Читать книгу Prozessberatung für die Organisation der Zukunft - Эдгар Шейн, Edgar H. Schein - Страница 10

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2. Kapitel:

Die Psychodynamik der helfenden Beziehung

Beratung wird im Lexikon als Ratsuche oder professionelle Beratung definiert. Diese Definition passt ausgezeichnet zu dem im ersten Kapitel beschriebenen Arzt-Patient-Modell. Prozessberatung als Philosophie erkennt, dass hinter der Suche nach Rat oder hinter Beratung ein grundlegenderes Ziel steckt: Es geht um Hilfe für ein empfundenes Problem. Wir wollen einen Rat oder beraten werden, um Probleme zu lösen, die wir allein nicht lösen können. Und wir hoffen, dass die Beratung oder der Rat uns dabei weiterhelfen. Aber wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, helfen uns häufig Ratschläge und Beratung nicht weiter, was bei dem Hilfesuchenden zu Widerstand und Abwehr führt. Um diesen Widerstand besser zu verstehen, müssen wir uns näher mit der Psychodynamik der helfenden Beziehung beschäftigen und untersuchen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Hilfe tatsächlich möglich wird.

Ebenso gilt es, die helfende Beziehung von einer Reihe anderer Beziehungen zu unterscheiden, die sich zwischen Menschen entwickeln können – wie die zwischen Gebendem und Nehmendem, zwischen Lehrer und Schüler, Freunden, Ehegatten sowie zwischen Vorgesetztem und Untergebenem. In jedem dieser Fälle kann Hilfe ein Thema der Beziehung sein, allerdings ein Thema unter vielen. Aber bei vielen Interaktionen zwischen Menschen geht es auch um den Austausch von etwas anderem als Hilfe.

Man kann dieses Feld unter anderem erkunden, indem man den expliziten und impliziten psychologischen Vertrag zwischen den Helfern und denen, denen sie helfen, genannt »Klienten«, untersucht. Wovon geht die jeweilige Partei aus, was glaubt sie zu geben und zu bekommen? Welche psychologischen Bedingungen müssen für einen erfolgreichen Austausch erfüllt sein? Zum Beispiel sind gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Akzeptanz und gegenseitiger Respekt unabdingbar für eine erfolgreiche helfende Beziehung. Wenn dies so ist, wie lassen sich diese Bedingungen herstellen? Der erste Schritt dazu ist ein klares Verständnis der psychologischen Kräfte, die am Werk sind, wenn ein Mensch einen anderen um »Hilfe« bittet.

Das anfängliche Statusungleichgewicht in helfenden Beziehungen

In vielen Kulturen wird Selbstvertrauen betont und großer Wert darauf gelegt, seine Probleme selbst zu lösen. Hilfe zu suchen und sich damit für eine gewisse Zeit abhängig von jemand anderem zu machen, gilt damit de facto als Eingeständnis der eigenen Schwäche oder des eigenen Versagens. Dies trifft vor allem auf westliche, wettbewerbsorientierte, individualisierte Gesellschaften zu. Die beiden an einer helfenden Beziehung beteiligten Parteien befinden sich zu Beginn in einer schiefen oder unbalancierten Beziehung. Dabei ist der Helfer »oben« und der Hilfesuchende »unten«. Aus diesem »Unten« des Klienten ergeben sich, das kann man sich ausrechnen, ein oder mehrere bewusste oder unbewusste Reaktionsmöglichkeiten, von denen jede darauf zielt, die Beziehung wieder ins Lot zu bringen.7

Mögliche Reaktionen und Gefühle des Klienten

1. Ablehnung und Abwehr (gegenseitige Abhängigkeit) manifestiert sich beim Klienten in der Nutzung jeder Gelegenheit, den Berater in ein schlechtes Licht zu rücken, seine Ratschläge herabzusetzen, die vorgebrachten Fakten anzuzweifeln und ihn herunterzuziehen, um sich selbst wieder gleichwertig fühlen zu können.

»Ihr Vorschlag kann nicht funktionieren, weil …«

»Daran habe ich auch schon gedacht und das geht nicht.«

»Sie verstehen das nicht wirklich. Die Situation ist viel komplexer.«

2. Erleichterung darüber, das Problem und die damit verbundene Frustration endlich jemanden anvertraut zu haben, der einem vielleicht dabei weiterhelfen kann.

»Ich bin so froh, mit jemandem darüber reden zu können.«

»Dass Sie mir vielleicht bei meinem Problem helfen können, ist wunderbar.«

»Ich bin froh, dass Sie verstehen, was ich durchgemacht habe.«

3. Abhängigkeit und Unterwerfung manifestieren sich in der vorrangigen Suche nach Bestätigung, Rat und Unterstützung.

»Was soll ich jetzt tun?«

»Ich habe Folgendes vor … Sind Sie nicht auch der Meinung, dass das die richtige Vorgehensweise ist?«

»Ich bin so froh, dass mir jetzt jemand anderer einen Rat gibt, was ich tun soll.«

4. Übertragung von Wahrnehmungen und Gefühlen auf den momentanen Berater, die auf früheren Erfahrungen mit Helfern basiert. Diese Übertragung erscheint zunächst als gleichrangig mit den oben beschriebenen Reaktionen, beruht jedoch auf tieferen, unbewussten Projektionen, von denen vorerst weder Berater noch Klient etwas ahnen. Zum Beispiel kann der Berater als ein freundlicher oder unfreundlicher Elternteil oder als geliebter oder gehasster Lehrer aus der Vergangenheit wahrgenommen werden.

Dieses Gefühl, »unten« zu sein, wirkt sich nicht nur auf das Selbstwertgefühl aus, es macht sich noch weitaus stärker in der Beziehung zu anderen in der Organisation bemerkbar. In vielen Unternehmen wird das Hinzuziehen eines Beraters mit dem Eingeständnis gleichgesetzt, man sei nicht in der Lage, seine Arbeit zu machen. Während meiner vierteljährlichen Besuche bei einem europäischen Unternehmen, in dem ich fünf Jahre lang als Berater tätig war, wurde ich gelegentlich in die Kantine für Führungskräfte zum Essen eingeladen. Dort traf ich einige Manager, mit denen ich an verschiedenen Projekten gearbeitet hatte, und musste feststellen, dass sie mir auswichen und es vermieden, mir in die Augen zu sehen, als würden sie mich nicht kennen. Mein Gastgeber erklärte mir, sie wollten nicht, dass ihre Kollegen erführen, dass sie mit mir gearbeitet hatten, um nicht an Ansehen zu verlieren. Das Gegenstück zu diesem Gefühl sind die peinlichen Blicke, die bisweilen zwischen den Patienten ausgetauscht werden, die das Behandlungszimmer eines Psychiaters verlassen und denen, die im Wartezimmer sitzen. Manche Psychiater sind deshalb dazu übergegangen, einen Seiteneingang einzurichten, um ihren Patienten ein solches Spießrutenlaufen zu ersparen.

Reaktionen und Gefühle der Helfer

Die Gefühle des Klienten, seine Abwehr, Erleichterung, seine Entspannung und Abhängigkeit werden den Berater mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit dazu verführen, den höheren Status und die Machtposition anzunehmen, die der Klient ihm anbietet. Wenn der Berater dann »oben« ist, kann das bei ihm eine Reihe von Gefühlen und Verhaltensweisen auslösen.

1. Diese Macht und Autorität dazu zu nutzen, voreilig Weisheiten von sich zu geben und den Klienten so noch kleiner zu machen.

»Ganz einfach, gehen Sie nur wie folgt vor…«

»Das ist kein wirkliches Problem. Ich will ihnen einmal erzählen, was ich in einer ähnlichen Situation gemacht habe, und das war damals wirklich übel.«

»Ich weiß genau, was Sie da tun können. In dieser Situation war ich schon sehr häufig.«

2. Sich einlassen auf die Abhängigkeit und Überreaktion darauf, was sich gewöhnlich darin äußert, den Klienten unangemessenerweise zu unterstützen und zu bestärken.

»Sie armer Kerl. Sie tun mir wirklich leid, das ist ja ganz schlimm für Sie.«

»Sie stecken aber in der Klemme. Machen Sie einfach, was Ihnen richtig erscheint.«

»Ich bin sicher, was Sie planen, wird klappen. Und wenn es nicht klappt, ist es nicht Ihre Schuld.«

3. Auf Abwehr mit noch größerem Druck antworten.

»Ich glaube nicht, dass Sie meinen Vorschlag verstanden haben. Ich will Ihnen erklären, wie ich mir das vorstelle.«

»Ich verstehe, dass Sie zögern, das auszuprobieren. Lassen Sie mich Ihnen nun erklären, warum bei diesem Vorschlag gar nichts schief gehen kann.«

»Sie hören mir nicht zu. Das wird funktionieren. Vertrauen Sie mir. Versuchen Sie es.«

4. Widerstand, sich auf die Beziehung einzulassen, da die Aufgabe der Machtposition, »oben« zu sein, vom Berater verlangt, sich beeinflussen zu lassen und seine Wahrnehmung der Situation zu ändern.

»Ich kann nicht sicher sagen, was hier helfen könnte. Aber Sie könnten Folgendes versuchen…«

»Sie könnten es hiermit probieren…, aber wenn das nicht funktioniert, müssen wir einen neuen Termin vereinbaren, da ich nur wenig Zeit habe.«

»Haben Sie das bereits mit … besprochen? Vielleicht könnte er ihnen helfen.«

5. Gegenübertragung des Helfers, der einige seiner Gefühle und Wahrnehmungen auf den Klienten überträgt, die frühere Berater-Klienten-Beziehungen wiederherstellen. Es kann sein, dass der Klient den Helfer an jemanden aus der Vergangenheit erinnert und er auf diesen Klienten deshalb unbewusst genauso reagiert, wie er auf den Klienten damals reagierte.

Der Helfer bringt viele psychologische Neigungen und kulturelle Vorurteile mit in die Beziehung. Allein die Tatsache, um Hilfe gebeten zu werden, weist enorme Macht zu, impliziert, dass der Klient dem Helfer unterstellt, ihm helfen zu können, ihm Expertenwissen und die Verantwortung zutraut, die Situation nicht auszunutzen, und dass der Klient, falls er für die gewünschte Hilfe zahlt, mit einer entsprechenden Gegenleistung rechnet. Gleichzeitig fühlt sich der Helfer vielleicht frustriert, da er häufig glaubt, dem Klienten so viel mehr geben zu können, als dieser zu verlangen scheint; oder er fühlt sich enttäuscht, wenn das, was er als Hilfe auffasst, vom Klienten als nicht besonders hilfreich empfunden wird. Häufig sind Berater frustriert, dass sie zwar Hilfe anbieten, aber niemand zu ihnen kommt. Vor allem betriebsinterne Berater finden sich oft in dieser Situation wieder. Kommt dann endlich jemand und braucht Hilfe, sind sie so erleichtert, dass sie viel mehr »Hilfe« geben, als benötigt oder gewünscht wird.

Im weiteren Verlauf der Beziehung entdeckt der Berater häufig viel früher mögliche Lösungen als der Klient oder – schlimmer – gelangt zu der Einstellung, der Klient sei wirklich dumm, bekomme nichts geregelt, sehe nicht, was auf der Hand liegt, oder kapiere nichts. Ungeduld, Wut und Verachtung sind die Folge. Eines der frustrierendsten Rätsel für Helfer ist, dass seines Erachtens brillante Erkenntnisse oder Interventionen kaum wahrgenommen werden, während reine Routinefragen oder Beobachtungen vom Klienten als entscheidende Interventionen gepriesen werden. Nicht selten machen eher zufällige Ereignisse einen weitaus größeren Unterschied als sorgfältig berechnete Interventionen, was ein Beispiel zeigt.

Vor ein paar Jahren arbeitete ich mit dem Topteam eines jungen Unternehmens. Es ging dabei um ihre wöchentliche Freitagnachmittagssitzung. Mein Job dabei war, ihnen dabei zu helfen, ihre Sitzungen effektiver zu gestalten. Ich sah eine hart arbeitende Gruppe, die es nie schaffte, in den zwei Stunden mehr als die Hälfte ihrer mindestens zehn Punkte umfassenden Agenda abzuarbeiten. Ich versuchte verschiedene Interventionen, die darauf abzielten, ergebnislose Diskussionen oder Abschweifungen zu nicht auf der Agenda stehenden Themen zu unterbinden – vergebens. Mir dämmerte, ich musste mich zuerst damit befassen, wie diese Gruppe arbeitet. Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich »mein Nichtwissen noch nicht eingesetzt« hatte, das heißt, ich hatte nicht wirklich verstanden, warum sie so arbeiteten, wie sie arbeiteten. Ich war von einem Stereotyp ausgegangen, wie das Meeting laufen sollte.

Nachdem ich viele frustrierende Sitzungen gesehen hatte, fragte ich schließlich vollkommen blauäugig, wie denn die Agenda zustande komme. Man erklärte mir, sie werde von der Sekretärin des Präsidenten zusammengestellt. Dabei wurde uns schlagartig klar, dass niemand wusste, wie sie die Liste zusammenstellte. Wir baten die Sekretärin ins Zimmer und sie erzählte uns, sie nehme die Themen, wie sie hereinkämen und tippe sie für das Meeting sorgfältig ab. Ohne dass ich ein Wort sagte, beschloss die Gruppe sofort, dieses System zu ändern. In Zukunft sollte sie eine Liste mit Themenvorschlägen präsentieren, in der die Gruppe dann ihre Prioritäten setzen würde, so dass die weniger wichtigen Themen nach hinten rückten oder fallen gelassen wurden. Die Qualität des Meetings und das Gefühl, weitergekommen zu sein, profitierten immens. Am meisten hatte der Gruppe dabei meine vollkommen unschuldige Frage nach der Herkunft der Agenda geholfen.

Eine der größten Schwierigkeiten für einen Helfer ist es, Leute zu finden, mit denen der Prozess des Helfens selbst diskutiert werden kann, mit denen die wunderbaren Interventionen, die zum Durchbruch führenden Erkenntnisse und die entsetzlichen Fehler besprochen und analysiert werden können. Der Klient ist sich häufig gar nicht bewusst, wie sanft ihm die Interventionen des Beraters zu entscheidenden Einsichten verhalfen – und es wäre kaum angebracht, würde der Berater ihn darauf hinweisen. Um Anerkennung zu finden und sich gegenseitig zu helfen, gründen in helfenden Berufen Tätige darum häufig Verbände. So können sie gegenseitig ihr Verhalten in einem sicheren Peer-Umfeld analysieren. Hier können sie Geschichten erzählen darüber, was hervorragend funktionierte, und Hilfe finden, wenn etwas weniger hervorragend funktioniert. Aus genau diesem Grund ist es bei der Arbeit mit Gruppen und Organisationen entscheidend, die Probleme als Teil eines Beratungsteams anzugehen, das sich nicht selten aus Insidern und Outsidern zusammensetzt, die die Interventionen gemeinsam planen und dann die Ergebnisse überprüfen.

In Anbetracht dieser Kräfte ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Berater umgehend in eine Variante der Experten- oder Arztrolle schlüpfen, da der Klient dies ihrer Ansicht nach wünscht. Nach dem Motto: »Wenn ich keine brillante Diagnose liefere und einen guten Rat gebe, mache ich meine Arbeit schlecht und erfülle nicht die Erwartungen des Klienten.« Und: »Wenn ich bezahlt werde, muss ich dann nicht eine professionelle Arbeit abliefern, am besten in schriftlicher Form?«

Was ist dabei das Problem? Was ist hier falsch? Warum nicht einfach munter drauflos arbeiten als Arzt oder Experte? Vom Prozessberatungsstandpunkt aus betrachtet ist das Problem bei dieser Vorgehensweise, dass der Klient aus einem bewussten oder unbewussten Gefühl der Verwundbarkeit heraus häufig nur ungern die tiefer liegenden Gründe oder die ganze Komplexität dessen enthüllt, was ihm Sorge bereitet, solange er nicht überzeugt ist, dass der Berater ihn akzeptiert, unterstützt und – vor allem – bereit ist, ihm zuzuhören. Die Problemdarstellung am Anfang fungiert dabei oft als Test, um die Reaktion des Helfers zu sehen. Das wirkliche Problem taucht erst später auf, wenn gegenseitiges Vertrauen aufgebaut ist. Der Klient verbirgt bei den ersten Treffen vielleicht sogar manches vor sich selbst, gesteht sich vieles erst ein, wenn die Beziehung auf gegenseitigem Vertrauen beruht.

Um tatsächlich zu helfen, muss der Berater daher als erstes eine Beziehung schaffen, die das Selbstwertgefühl des Klienten wiederherstellt, das Statusgefälle zwischen Klient und Helfer wieder ins Lot bringt und das Gefühl der Abhängigkeit oder Gegenabhängigkeit abbaut, das der Klient möglicherweise anfangs empfindet. Wird es versäumt, eine solche gleichwertige Beziehung aufzubauen, besteht das Risiko, dass der Klient sein Problem nicht offen legt, nicht zuhört, in der Abwehrhaltung verharrt und auf vielfältige Weise die angebotene Hilfe unterminiert. Dann sind Klient wie Helfer auf der Verliererseite.

Aushandeln von impliziter Rolle und Status

Man muss, will man die Beziehung ins Lot bringen, über die soziale Dynamik von Status und Rolle Bescheid wissen. Eine subtile, aber gewaltige Macht in helfenden Beziehungen kommt dabei dem Status und der Rolle zu, die sich die beiden Parteien anfangs entsprechend den kulturellen Normen und persönlichen Gewichten gegenseitig zuweisen. Wenn wir uns mit einem Problem herumschlagen und glauben, ohne Hilfe von außen nicht weiterzukommen, durchlaufen wir eine Reihe bewusster und unbewusster Prozesse, durch die wir uns klar werden, ob wir uns damit an einen Freund, unseren Ehegatten, den Chef, einen Therapeuten, Psychiater, Sozialarbeiter, Arzt, Anwalt oder einen anderen Berater wenden. Entschließen wir uns dazu, einen professionellen Berater aufzusuchen, müssen wir uns überlegen, ob wir zu einem fremden oder einem uns bereits bekannten Berater gehen wollen. Im ersteren Fall stellt sich das Problem, jemanden auszusuchen, dem wir zutrauen, uns wirklich zu helfen. Wie sollen wir dabei vorgehen? In diesem Selektionsprozess bauen wir eine Vorstellung darüber auf, was wir von dem Helfer bekommen werden, und diese Vorstellung kann seinen tatsächlichen Möglichkeiten in die Quere kommen.

Aus diesem Grund wird in der Beratungsliteratur so großes Gewicht auf den »Vertrag« am Anfang der Beziehung gelegt. Doch in den frühen Stadien ihrer Beziehung reichen weder die Informationen des Helfers noch die des Klienten aus, um einen hieb- und stichfesten Vertrag ausarbeiten zu können. Vielleicht wäre es daher ein besseres Konzept, sich über »wechselseitige Erwartungen« zu einigen als über einen »Vertrag«. Der Helfer sollte sicherlich über die impliziten Erwartungen des Klienten Bescheid wissen, allerdings können einige dieser impliziten Erwartungen unbewusst sein und erst zum Vorschein kommen, wenn sie verletzt werden. Zum Beispiel gehen Klienten insgeheim oft davon aus, dass die Geschichte, die sie erzählen, zweifelsohne akzeptiert wird. Will der Berater dann wissen, warum der Klient dieses oder jenes getan hat oder zu tun gedenkt, ist er vielleicht schockiert und entsetzt. Erst dann wird den beiden beteiligten Parteien klar, dass stillschweigend von einer Billigung ausgegangen worden und diese auch gewünscht war.

Auf der Seite des Beraters kann es die implizite Erwartung geben, dass seine Vorschläge angehört werden und eine faire Chance bekommen. Er wird seinerseits geschockt und entsetzt sein, wenn der Klient sich gegen ihn wendet und seinen Vorschlag als trivial oder offensichtlich nicht umsetzbar abtut. Beim Aufbau einer helfenden Beziehung ist es wichtig, dass man versucht, aus solchen Gefühlen zu lernen und sie nicht als Anlass nimmt, voneinander enttäuscht zu sein. Sie müssen als normaler Prozess beim Aufbau einer Beziehung betrachtet werden, als ein Zugang zu neuen Erkenntnissen und Lernprozessen.

Diese sozialen Kräfte werden weiter kompliziert durch die Psychodynamik der Übertragung und Gegenübertragung, die vom Berater verlangt, sein Augenmerk auf die Projektionen des Klienten zu richten – darauf, was der Klient auf ihn projiziert, und darauf, was er selbst auf die Wirklichkeit des Klienten projiziert bzw. wie sehr er dazu tendiert, diese Wirklichkeit falsch zu verstehen. Für den Berater bedeutet die Wahrnehmung der Realität und der Umgang mit ihr vor allem zu lernen, seine eigenen inneren Verzerrungen wahrzunehmen und damit umzugehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Berater lernen, ihr Nichtwissen einzusetzen und ihre Stereotype zu überwinden.

Die Beziehung wird erst dann fruchtbar, wenn beide Parteien sich mit ihrem eigenen Status und ihrer eigenen Rolle sowie denen des Gegenübers wohl zu fühlen beginnen. Dabei beeinflussen kulturelle Normen unsere Anschauung darüber enorm, welche Form der Abhängigkeit wir legitimer finden. Man ist eher bereit, sich in eine Abhängigkeit zu begeben, wenn man einen hochangesehenen Therapeuten, Psychiater, Coach oder Berater aufsucht, als wenn man sein Problem einem Freund oder Bekannten anvertraut. Wer sich mit einem beruflichen Problem an seinen Chef wendet, wird sich weniger vorsehen, sich abhängig zu machen, als wer damit zu einem gleichrangigen Kollegen oder einem Untergebenen geht.

In jeder Gesellschaft gibt es Normen darüber, welche Formen der Abhängigkeit als legitim betrachtet werden und welche einen Gesichtsverlust zur Folge haben. In der westlichen, wettbewerbsorientierten, individualistisch geprägten Gesellschaft gilt so gut wie jede Abhängigkeit als Gesichtsverlust, während in vielen asiatischen Gesellschaften die Abhängigkeit von Älteren oder Höhergestellten geradezu erwartet wird. Je egalitärer eine Gesellschaft ist, desto schwieriger ist es, sich darüber klar zu werden, welche Gefühle gegenseitige Abhängigkeiten auslösen. Daher ist wohl die Klärung solcher Gefühle in der westlichen Gesellschaft schwieriger als in vielen anderen Kulturen.

Beziehungsaufbau auf verschiedenen Stufen gegenseitiger Akzeptanz

Bei der ersten Begegnung zwischen dem Hilfesuchenden und dem Helfer treten sämtliche oben beschriebenen Faktoren in Aktion. Wie entwickelt sich dann aus dem ersten Gespräch allmählich eine Beziehung, in der die beiden Parteien einander zuhören, verstehen und ihre wechselseitigen Bedürfnisse erfüllen? Das beste Modell, um diesen Prozess zu beschreiben, ist, das Ganze als eine Reihe gegenseitiger Tests zur Überprüfung zu sehen, auf welcher Stufe die Parteien einander jeweils akzeptieren können. Während der Klient seine Geschichte darstellt, wird er sehr genau darauf achten, inwieweit der Berater aktiv zuhört, das Gesagte versteht und ihn unterstützt. Erscheint ihm die Unterstützung sicher und hat er das Gefühl, was immer er sagt, wird – wenn auch nicht alles vollkommen gutgeheißen – so doch zumindest verstanden, wird er sich auf eine privatere, intimere Stufe vorwagen, bis er fürchtet, er könnte zuviel von sich preisgeben und damit den Helfer oder vielleicht sogar sich selbst überfordern. Der Berater muss sich darüber im Klaren sein, dass kulturelle Normen stets begrenzen, wie »offen« ein Gespräch werden kann. So etwas wie »alles raus lassen« gibt es nicht. Es wird immer Bewusstseinsebenen geben, die der Klient für sich behalten und nicht einmal einem Berater, dem er vertraut, enthüllen will. Und es gibt Bewusstseinsschichten, die wir nicht einmal selbst akzeptieren können und deshalb verdrängen.

Auf der anderen Seite wird der Helfer genau austarieren, wie der Klient auf seine Anregungen, Fragen, Vorschläge und auf sein ganzes Auftreten als Berater reagiert. Er will herausfinden, wie groß die Abhängigkeit ist, auf die der Klient sich einzulassen bereit ist, und wie bereit er (der Berater) selbst ist, sich auf diese Abhängigkeit einzulassen. Je mehr der Klient den Berater akzeptiert, desto bereiter wird dieser (der Berater) ihn in seine verborgeneren Gedankengänge einweihen und eine tiefere Gesprächsebene zulassen. Aber während dieses gesamten Prozesses überprüfen sich die beiden Parteien ständig gegenseitig und achten auf gefährliches Feedback. Tritt dieses dann auf, müssen beide Parteien ihre Beziehung erneut auskalibrieren und den psychologischen Vertrag überdenken: Hat eine der beiden Parteien eine implizite Grenze übertreten? Lässt sich der implizite Vertrag neu verhandeln oder hat die Beziehung eine Ebene erreicht, über die sie nicht hinauskommt? Oder, schlimmer noch, wurde sie in einem Ausmaß beschädigt, dass entweder Klient oder Berater das Gefühl haben, sie beenden zu müssen? Wir alle haben diese Erfahrung bereits gemacht, Vertrauen aufzubauen kostet weitaus mehr Kraft und Zeit, als es zu verlieren. Entscheidend bei dem Aufbau gegenseitigen Vertrauens ist daher, dabei langsam vorzugehen, das Ziel – zunehmende gegenseitige Akzeptanz und gleich hoher Status in der Beziehung – nicht aus den Augen zu verlieren. Die kritischen Interventionen bestehen darin, den Klienten seine Geschichte erzählen zu lassen und engagiert nachzufragen, d.h. der Helfer arbeitet mit seinem Nichtwissen und behebt seine Wissenslücken.

Dieser Prozess, das gilt es zu beachten, kann durchaus als wechselseitiger Prozess des Helfens betrachtet werden. Der Helfer kann Vertrauen herstellen, indem er tatsächlich auf jeder Ebene akzeptiert, was der Klient von sich preisgibt, und dabei vielleicht auch seine eigenen Vorstellungen über das Geschehen ändert. In einem gewissen Sinn ist der Helfer vom Klienten abhängig, um exakte Informationen zu erhalten und die benötigte emotionale Rückmeldung. Und der Helfer muss bereit sein zu helfen, damit der Klient das notwendige Vertrauen aufbauen kann, ohne das er seine tieferen Gefühle nicht zeigen wird. Je mehr die beiden Parteien sich gegenseitig helfen und helfen lassen, desto ausgeglichener wird die Beziehung.

Implikationen für die Praxis

Um ein Klima für eine effektive Beratungssituation zu schaffen, muss sich der Helfer zunächst die bislang dargestellten fünf übergreifenden Prinzipien vergegenwärtigen (»Versuche stets zu helfen«; »Verliere nie den Bezug zu der aktuellen Realität«; »Setze dein Nichtwissen ein«; »Alles, was du tust, ist eine Intervention«; »Das Problem und seine Lösung gehören dem Klienten«). Dem können wir nun ein sechstes Prinzip hinzufügen, dass es stets zu beachten gilt.

SECHSTES PRINZIP

Geh mit dem Flow

Jedes Klientensystem entwickelt eine Kultur und versucht, seine Stabilität aufrechtzuerhalten, indem es an dieser Kultur festhält. Jeder Klient entwickelt seine eigene Persönlichkeit und seinen Stil. Da mir diese kulturellen und individuellen Wirklichkeiten nicht von Anfang an bekannt sind, muss ich erst herausfinden, wo der Klient motiviert ist und wo er bereit ist, sich zu ändern. In diesen Bereichen kann ich dann ansetzen.

Der Helfer muss herauszufinden versuchen, in welche Richtung sich der Klient und die Beziehung entwickeln, und er darf nicht versuchen, die Situation mit zu vielen Anliegen oder Stereotypen zu überfrachten. Falls es mir tatsächlich darum geht, die Realität dieser Situation zu erfassen, und ich Zugang dazu habe, was ich wirklich nicht weiß, und mir darüber im Klaren bin, dass alles, was ich frage oder tue, eine Intervention ist und dass ich mir das Problem nicht selbst aufladen muss, erscheint mir die Vorstellung vollkommen natürlich, mit dem Flow zu gehen, mich von den Gefühlen des Klienten und meinen Reaktionen darauf leiten zu lassen, statt mich nach willkürlichen Regeln über den richtigen Verlauf einer Beratung zu richten.

Es hilft, wenn man sich dabei über die bereits erwähnten Fallen im Klaren ist und sich immer wieder fragt: »Arbeiten wir als Team?« »Ist die Beziehung, was den Status angeht, ausgeglichen?« »Bekommen und geben wir entsprechend den jeweiligen Erwartungen?« Prozessorientierte Fragen wie »Hilft dieses Gespräch?« »Bekomme ich einen Eindruck von dem Problem?« »Sprechen wir über die richtigen Themen?« helfen Ihnen dabei, den richtigen Kurs zu halten.

Geht der Berater davon aus, dass die Situation, in der der Klient sich befindet, wahrscheinlich komplex ist und er zu Beginn der Beziehung von dieser Komplexität keine Ahnung haben kann, wird er sich mit voreiligen Bewertungen und Urteilen zurückhalten. Es geht nicht nur darum, damit nicht laut hinauszuplatzen, sondern vielmehr sollte man sich klarmachen, wie wenig man weiß und wie unangebracht es daher ist, die Situation erahnen oder beurteilen zu wollen. Eine nichtdirektive Interviewweise, die dem Klienten den Platz am Steuer überlässt und ihm erlaubt, seine Sichtweise darzustellen, wird einen am ehesten vor solchen vorschnellen Urteilen bewahren und den Klienten im Prozessverlauf das Gefühl vermitteln, ernstgenommen und geschätzt zu werden. Das nächste Kapitel beschäftigt sich eingehend mit dieser »aktiven Frageweise«.

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Ich versuchte die wesentlichen psychodynamischen Punkte in der helfenden Beziehung darzustellen, indem ich die psychologische Ausgangslage des Hilfesuchenden und des Helfers beschrieb sowie die ersten Interaktionen zwischen den beiden Parteien. Das strategische Ziel dabei ist, einen psychologischen Zustand zu schaffen, in der es einen funktionierenden psychologischen Vertrag gibt, eine Situation, in der jede Partei den jeweiligen Erwartungen entsprechend gibt und nimmt und in der Helfer und Klient sich als Team zu fühlen beginnen, dessen Zusammenarbeit sich zunächst auf die Diagnose des Klientenproblems konzentriert und sich dann den nächsten Schritten zuwendet. Die Schaffung eines solchen funktionierenden psychologischen Vertrags setzt bei beiden Parteien eine Einsicht in ihre ursprüngliche vorurteilsbehaftete Wahrnehmung der Situation voraus und die Bereitschaft, sich auf ein Gespräch einzulassen, in dem diese Vorurteile und Klischees auftauchen dürfen. Gleichzeitig dürfen beide es nicht an gegenseitigem Respekt und wechselseitiger Unterstützung fehlen lassen.

Das Dilemma beim Schaffen einer funktionierenden helfenden Beziehung ist, dass beide Parteien sich zunächst kennen lernen müssen, gleichzeitig jedoch eine sichere Umgebung für den Klienten bereitet werden muss, damit dieser seine Geschichte erzählen kann, da der Klient zu Beginn der Beziehung verletzlicher und abhängiger ist als der Helfer. Die Helfer müssen dem ursprünglichen Impuls widerstehen, in dieses Machtvakuum vorzurücken, das die Klienten mit ihrem Problemeingeständnis schaffen. Statt dessen sollten sie sich auf eine Balance zwischen ihrem Status und dem des Klienten konzentrieren. Helfer müssen erkennen, dass sie auf die Hilfe des Klienten angewiesen sind, wenn sie die Realität ihres Klienten wirklich erfassen wollen, und dass eine helfende Beziehung am besten funktioniert, wenn beide Parteien der Meinung sind, sich gegenseitig zu helfen, obwohl sie sich explizit mit den Problemen des Klienten befassen.

Die übergreifenden Prinzipien, die es dabei ständig im Kopf zu behalten gilt, lauten:

1. Versuche stets zu helfen.

2. Verliere nie den Bezug zu der aktuellen Realität.

3. Setze dein Nichtwissen ein.

4. Alles, was du tust, ist eine Intervention.

5. Das Problem und seine Lösung gehören dem Klienten.

6. Geh mit dem Flow.

Die im nächsten Kapitel geschilderten Fallbeispiele erläutern viele der hier vorgestellten Punkte.

Übung 2.1

Hilfe geben und nehmen

In dieser Übung sollen Sie lernen, (1) explizit in die Rolle des Helfers zu schlüpfen; (2) die psychologische Dynamik zwischen Helfer und Klient zu beobachten und (3) sich auf die Technik zu konzentrieren, bewusst mit Ihrem Nichtwissen zu arbeiten.

1. Bitten Sie einen Freund, über ein Problem oder ein Thema, das ihn bewegt, mit Ihnen zu sprechen.

2. Versuchen Sie ganz bewusst, während Ihr Freund Ihnen sein Problem darstellt, im Kopf oder auf einem Blatt Papier alles festzuhalten, was Ihnen zu dem Problem einfällt und worüber sie nichts wissen.

3. Versuchen Sie, eine Reihe von Fragen zu formulieren, durch die Sie mehr erfahren, und stellen Sie diese.

4. Bemühen Sie sich, auf die Geschichte Ihres Freundes nicht zu reagieren, weder mit einem Ratschlag, noch mit einem Urteil oder emotional.

5. Diskutieren Sie nach etwa zwanzig Minuten miteinander die Gefühle, die Sie während der vorangegangenen zwanzig Minuten bewegten. Achten Sie dabei darauf, ob darunter auch einige der in diesem Kapitel erwähnten Gefühle waren.

6. Werfen Sie einen Blick zurück auf die »Wissenslücken«, um zu überprüfen, wie erfolgreich Sie Ihre Klischees und Vorurteile überwinden konnten.

Prozessberatung für die Organisation der Zukunft

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