Читать книгу Tarzan – Band 4 – Tarzans Sohn - Edgar Rice Burroughs - Страница 9
Eine tolle Fahrt
ОглавлениеDie Ermordung des greisen Russen Michael Sabrov, der keinerlei Freunde und Verwandte hinterließ, durch seinen großen dressierten Affen war eine Sensation, die ein paar Tage in allen Zeitungen lebhaft erörtert wurde.
Lord Greystoke las natürlich auch von der Sache, und während er besondere Vorkehrungen dafür traf, dass sein Name keinesfalls irgendwie in unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Affäre gebracht wurde, hielt er sich ständig bei der Polizei über das Ergebnis der Nachforschungen nach dem Verbleib des Menschenaffen auf dem laufenden.
Allgemein bekannt war, dass er sich bei der ganzen Angelegenheit in erster Linie nur für das rätselhafte Verschwinden des Mörders interessierte, wenigstens so lange, bis er einige Tage nach der Tragödie erfuhr, dass sein Sohn Jack nicht nach Dover zur Schule zurückgekehrt sei, wohin man ihn doch mit jenem Nachmittagszuge sicher unterwegs geglaubt hatte. Aber selbst dann konnte sich der Vater das Verschwinden seines Sohnes nicht so erklären, dass er irgendwie mit den mehr oder weniger wahrscheinlichen Gerüchten über das Wo und Wohin des Affen auf einer Linie lag. Nach einem Monat hatten indessen sorgfältige Nachforschungen das Dunkel schon mehr gelichtet: Es stand fest, dass der Junge den Zug noch vor der Abfahrt von der Londoner Station verlassen hatte. Man hatte schließlich auch den Droschkenkutscher herausbekommen, der ihn nach der Wohnung des alten Russen gefahren, und so kam der Affen-Tarzan denn auch zu der Überzeugung, dass Akut irgendwie etwas mit dem Verschwinden Jacks zu tun haben musste.
*
Am Tage nach dem Tode Alexei Pawlowitschs hatte sich ein Junge in Begleitung seiner kränklichen Großmutter eingeschifft. Die alte Dame war dicht verschleiert und musste, da sie durch allerlei Altersbeschwerden und Krankheiten zu sehr geschwächt war, in einem Krankenfahrstuhl an Bord des Schiffes gebracht werden.
Der Junge schob den Fahrstuhl selbst und duldete keinerlei Unterstützung. Mit eigenen Händen war er ihr auch beim Verlassen des Fahrstuhls behilflich und geleitete sie fürsorglich in die gemeinsame Kabine. Dies war übrigens das einzige Mal, dass Personal und Passagiere des Dampfers die alte Dame zu sehen bekamen, ehe sich beide wieder ausschifften; denn der Junge ließ es sich auch nicht nehmen, alle Arbeiten, die an sich dem Kabinensteward zufielen, selbst zu erledigen, da, wie er angab, seine Großmutter unter schweren nervösen Anfällen litt, die sich in Gegenwart Fremder nur verschlimmerten und für sie verhängnisvoll werden könnten.
Was der Junge in seiner Kabine trieb, wusste niemand an Bord. War er nicht dort, führte er sich jedenfalls wie jeder andere gesunde und normale englische Junge auf. Er knüpfte Bekanntschaften mit den übrigen Passagieren an, war bald bei den Offizieren des Dampfers sehr beliebt und schloss mit mehreren einfachen Matrosen Freundschaft. Er war bisweilen freigiebig, trug ein natürliches, offenes Wesen zur Schau und hatte im Übrigen noch jenen feinen Hauch einer gewissen Würde und Selbstbeherrschung an sich, der ihm die Achtung und Zuneigung seiner vielen neuen Bekannten sicherte.
Unter den Passagieren befand sich auch ein Amerikaner namens Condon, ein bekannter Falschspieler und Hochstapler, der von mindestens einem halben Dutzend größerer amerikanischer Städte steckbrieflich verfolgt wurde. Er hatte den Knaben anfangs wenig beachtet, doch änderte sich dies, als er ihn eines Tages zufällig beobachtete, wie er ein Bündel Banknoten zählte. Von diesem Augenblick an suchte er öfters mit dem jungen Briten zusammenzukommen. Er brachte leicht heraus, dass der Junge allein mit seiner kranken Großmutter reiste, und dass sein Ziel ein kleiner Hafen an der Westküste war; ferner, dass er Billings hieß, und dass die beiden in der kleinen Kolonie, nach der sie reisten, keine Freunde und Bekannten hatten. Als Condon dann noch nach dem eigentlichen Zweck der Reise fragte, schwieg sich der junge Engländer völlig aus und ließ auch nicht weiter in sich dringen. Condon seinerseits war klug genug, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben; er hatte auch schließlich alles erfahren, was er zunächst wissen wollte.
Eines Tages ging der Dampfer am Fuße eines bewaldeten Vorgebirges vor Anker. Wie ein hässlicher Schandfleck auf dem schönen verlockenden Antlitz der Natur wirkten die zwanzig oder mehr Häuser mit ihren Wellblechdächern und schrien es den Ankommenden gleichsam entgegen, dass die Zivilisation mit ihren Errungenschaften dort ihr grelles Banner aufgerichtet hatte. Etwas abseits lagen die strohbedeckten Hütten der Eingeborenen, malerisch in ihrer Einfachheit und geboren aus der Urgewalt der Wildnis, wunderbar in ihrer Harmonie mit dem Tropenurwald im Hintergrund, und in grellem Gegensatz zu den abstoßend-hässlichen Bauwerken der weißen Kolonisten! Der Junge beugte sich über die Reling. Seine Blicke schweiften weit hinweg über die kleine Ansiedlung, dieses nur von Menschenhand hervorgestampfte Machwerk, weit hinaus in den Dschungel, den Gott gebaut. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn in diesem Augenblick, ein leichter Schauer rann ihm den Rücken hinab … und dann sah er – ganz ohne dass er es gewollt hätte – auf einmal die liebenden Augen seiner Mutter vor sich … und das strenge Antlitz seines Vaters, das aber trotz einer gewissen männlichen Härte und Geschlossenheit keine geringere Liebe widerspiegelte. Er fühlte, wie er selbst mit einem Male schwankend und unschlüssig wurde …
Nicht weit von ihm stand ein Schiffsoffizier und rief mit dröhnender Stimme der nahenden Bootflottille allerhand Befehle zu; denn die Eingeborenen kamen, um den für diesen kleinen Hafen bestimmten Teil der Schiffsladung zu löschen. Wann legt der nächste Dampfer nach England hier an? fragte der Junge.
Der »Emanuel« muss bald vorbeikommen. Ich nahm eigentlich an, wir würden ihm hier begegnen, gab der Offizier zur Antwort und fuhr sogleich fort, das wüste Durcheinander, das auf den Fluten immer näher an den Dampfer heranschaukelte, zu entwirren und richtig zu dirigieren.
Es war eine äußerst schwierige Aufgabe, die Großmutter des Jungen von Bord des Dampfers in ein bereitliegendes Boot hinabzubefördern. Der Junge hielt sich an Bord ständig an ihrer Seite und ließ sich von niemandem helfen. Erst als sie schließlich unten im Boot, das sie an Land bringen sollte, sicher geborgen war, kletterte der Enkel, gewandt wie eine Katze, zu ihr hinab. So sehr hatte er sich bemüht, ihr alle Unbequemlichkeiten zu erleichtern, dass er nicht einmal auf das kleine Paket achtgab, das schon aus seiner Tasche herausgerutscht war, während er mit zugriff, um die alte Dame auf einem mit Seilen verknüpften Sitz über die Reling ins Boot hinabzulassen. Er merkte es auch nicht, als das Päckchen ganz herausglitt und ins Wasser fiel.
Kaum war das Boot mit dem Jungen und der alten Dame nach dem Strande unterwegs, als Condon sich auf der anderen Seite des Schiffes einen Eingeborenen mit seinem Kanu heranrief. Nachdem er sich mit dem Manne über den Preis geeinigt, ließ er sein Gepäck hinab und folgte selber.
Einmal an Land, beobachtete er aus einiger Entfernung den hässlichen zweistöckigen Bau, der sich mit der hochtrabenden Bezeichnung »Hotel« geschmückt hatte, um arglose Reisende auf seine zahllosen Unbequemlichkeiten und so weiter hereinfallen zu lassen. Erst als es bereits völlig dunkel war, wagte er hineinzugehen und sich seine Unterkunft zu sichern. –
In einem nach rückwärts gelegenen Zimmer im zweiten Stock erklärte der Junge seiner »Großmutter« – allerdings nicht ohne beträchtliche Schwierigkeiten – dass er sich entschlossen habe, mit dem nächsten Dampfer nach England zurückzukehren. Er gab sich dabei die größte Mühe, um der alten Dame begreiflich zu machen, dass sie in Afrika bleiben könne, sofern sie dies wünsche. Ihn für seine Person zwinge jedenfalls sein Gewissen, sich zu Vater und Mutter zurückzubegeben; denn beide Eltern grämten sich zweifellos jetzt bitterlich, weil er ihnen durchgegangen sei …, woraus zu entnehmen ist, dass seine Eltern nicht in die Pläne eingeweiht waren, die ihn und die alte Dame zu ihrer abenteuerlichen Reise in die afrikanische Wildnis geführt hatten. –
Schließlich waren die beiden doch einig geworden; dem Jungen war es gleich ganz anders zumute, und die quälenden Gedanken wichen, die ihn manche schlaflose Nacht wie böse Geister gepeinigt hatten. Und als sich seine Augen heute zum Schlummer schlossen, träumte er von einem glücklichen Wiedersehen mit den Seinen daheim. Doch während ihm diese Träume ihre trügerischen Bilder vorgaukelten, nahte auf dem dunklen Korridor des schmutzigen »Hotels«, in dem er schlief, heimlich und auf leisen Sohlen, grausam und unerbittlich das Verhängnis, das Verhängnis in Gestalt des amerikanischen Hochstaplers Condon.
Behutsam schlich sich der Mann an die Zimmertür, presste sich mit dem Ohr dicht heran und horchte so lange, bis ihn die tiefen regelmäßigen Atemzüge drinnen davon überzeugten, dass die beiden fest schliefen. Ruhig steckte er dann einen schmalen Schlüssel in das Schlüsselloch, drehte ihn mit außerordentlicher Fingerfertigkeit im Schloss herum und drückte gleichzeitig die Klinke nieder. Jeder hätte ohne weiteres gesehen, dass Condon solch heimliche »Bearbeitung« von Schloss und Riegel, hinter denen sich Hab und Gut seiner Mitmenschen sicherte, lange gewohnt war. Ein leichter Druck gegen die Tür und sie glitt langsam in den Angeln nach innen. Der Mann trat ein und schloss die Tür hinter sich. Draußen schien der Mond, doch war er von Zeit zu Zeit von schweren schwarzen Wolken verhüllt. So auch jetzt: Im Zimmer herrschte nahezu völlige Dunkelheit. Condon tastete sich nach dem Bett hin, indessen sich in einer entfernten Ecke des Zimmers etwas anderes bewegte, ganz leise und noch viel vorsichtiger, als es dem gewerbsmäßigen Einbrecher trotz aller seiner Routine gelang. Condon hörte nichts davon. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf das Bett, in dem er den jungen Engländer und dessen hilflose, gebrechliche Großmutter vermutete.
Der Amerikaner wollte auch nur das Bündel Banknoten. Konnte er es an sich reißen, ohne dass man erst auf ihn aufmerksam wurde, sollte es ihm recht sein. Wenn der Junge Widerstand leistete, auch gut. Er hatte sich auf alles gerüstet. Anzug und Unterkleidung des Jungen lagen auf einem Stuhl neben dem Bett. Der Amerikaner wühlte die Sachen rasch durch: In den Taschen war nichts von einem Bündel neuer Banknoten oder dergleichen zu entdecken. Der Junge hatte es zweifellos unter den Kopfkissen versteckt, und so trat er näher an den ahnungslos Schlafenden. Eine Hand hatte sich schon halb unter das Kopfkissen geschoben, als die große schwarze Wolke, die sich vor den Mond gelagert hatte, beiseite glitt: Helles Licht flutete in das Zimmer. Der Junge schlug im gleichen Moment seine Augen auf und blickte Condon gerade ins Gesicht. Der Mann erkannte sofort, dass der Junge allein in dem Bett lag und krallte seine Finger um den Hals seines Opfers. Der Junge richtete sich indessen in die Höhe, um sich zu wehren. Condon hörte in seinem Rücken ein dumpfes Brummen, dann riss ihn der Junge an den Handgelenken herum und bewies ihm damit deutlich, dass sich unter seinen schmalen blassen Fingern Muskeln von Stahl verbargen.
Und noch ein paar Hände grapsten nach ihm, raue, behaarte Hände. Über seine Schulter kamen sie von hinten heran und langten nach seinem Halse. Condon warf einen entsetzten Blick rückwärts, die Haare standen ihm zu Berge, wie er ein riesiges menschenähnliches Affenungetüm im Angriff dicht hinter sich gewahrte. Die weitgeöffneten Fänge des Menschenaffen mussten ihm im nächsten Augenblick seine Kehle umschnüren, der Junge hielt ihn an den Händen wie mit eisernen Klammern gefesselt, keiner von beiden gab einen Ton von sich. Wo war denn die Großmutter? Mit einem einzigen Blick suchte er das Zimmer bis in alle seine Winkel ab, und seine Augen traten ihm vor Entsetzen fast aus den Höhlen, wie ihm in jenem verzweifelten Moment ein Licht über die wahren Zusammenhänge aufging. Was waren das für furchtbare, unheimliche Wesen, in deren Gewalt er sich ahnungslos gestürzt hatte! Wie ein Rasender wehrte er sich jetzt. Es galt erst einmal den verdammten Jungen abzuschütteln, damit er dann mit voller Wucht auf das schreckliche Tier hinter seinem Rücken losgehen könne. Eine Hand hatte er schon frei, ein heftiger Schlag traf den Jungen ins Gesicht. Doch damit hatte er seine Lage nur verschlimmert: Es schien, als sei das struppige Ungetüm mit einem Male von tausend Teufeln besessen. Wütend würgte es ihn am Halse, Condon hörte noch ein tiefes wildes Brummen … und das war auch das Letzte, was er in seinem Leben hörte. Er wurde nach rückwärts auf den Boden herabgezerrt, ein schwerer Körper wälzte sich auf ihn nieder, mächtige Zähne bohrten sich in seine Schlagader … und seine Seele wirbelte hinüber in die schwarze Nacht am Rande der Ewigkeit. Im nächsten Augenblick erhob sich der Affe. Langhingestreckt lag sein Opfer vor ihm … doch Condon wusste nichts mehr davon, er war tot.
Der Junge sprang entsetzt aus dem Bett und beugte sich über den Körper des Fremdlings. Er wusste wohl, dass Akut damals Michael Sabrov in der Notwehr getötet hatte; doch was würde man hier mit ihm und seinem getreuen Affen machen, wenn man dies erfuhr? Hier im wilden Afrika, weit weg von daheim und von den Freunden? Der Junge wusste, dass auf Mord die Todesstrafe stand, er wusste auch, dass mit dem Täter der Helfershelfer dem gleichen Schicksal verfallen war. Wer sollte hier Zeuge sein, wer sollte sie beide verteidigen? Alles, alles würde gegen sie sprechen. Die Leute hier waren kaum mehr als halbzivilisiert zu nennen, es war nichts anderes zu erwarten, als dass man ihn und Akut bei Morgengrauen hinaus vor die Stadt schleppte und sie beide am ersten besten Baum aufknüpfte. Oft hatte er gelesen, dass man es in Amerika so machte, und in Afrika? Hier ging es sicher nur noch schlimmer und grausamer zu als im großen Westen, der Heimat seiner Mutter. Ja, man würde sie beide eines Morgens hängen! Gab es denn kein Entrinnen? Er dachte ein paar Minuten ruhig nach, dann rieb er mit einem Ausruf der Erleichterung die Hände und griff nach seinem Anzug auf dem Stuhle. Das Geld! Ja, mit Geld würde noch etwas zu machen sein. Das Geld würde ihn und Akut retten! Er wollte das Bündel Banknoten aus der Tasche ziehen, in der er es gewöhnlich trug: es war nicht mehr darin! Erst suchte er bedächtig in den anderen Taschen, doch von Sekunde zu Sekunde steigerte sich seine Unruhe. Fast wie ein Wahnsinniger rutschte er dann auf Händen und Knien im Zimmer herum und tastete den Boden ab. Er machte sich Licht, rückte das Bett beiseite und suchte Zentimeter für Zentimeter den ganzen Raum ab. Da lag Condon. Der Knabe zögerte, es war ihm zuwider, ihn anzurühren. Doch schließlich riss er sich zusammen und zog die Leiche beiseite. Auch da war nichts von dem Geld zu sehen. Ihm kam jetzt der Gedanke, dass Condon eingedrungen sein konnte, um ihn zu berauben; doch konnte er nicht glauben, dass der Mann schon genug Zeit gehabt hatte, sich des Geldes zu bemächtigen. Indessen – sonst war es nirgends zu finden, der Tote musste es also schon bei sich verstaut haben. Jack visitierte die Kleider des Amerikaners. Vergeblich! Immer und immer wieder stand er auf, durchsuchte das Zimmer von Neuem … und jedes Mal kehrte er wieder zu der Leiche des Fremdlings zurück. Das Geld war und blieb verschwunden.
Er war der völligen Verzweiflung nahe. Was sollten sie denn nun tun? Am Morgen würde man sie aufgreifen und einfach töten. Gewiss, er war ein kluger und stämmiger Bursche, dem viele beneidenswerte Eigenschaften von seinen Eltern her gleichsam im Blute lagen: Doch jetzt, nach alledem, war er schließlich nicht viel mehr wie ein kleiner Junge, ein kleiner Junge, den Furcht und Heimweh gepackt haben, und der alles vom Standpunkt seiner spärlichen Jugenderfahrung aus beurteilt.
Er sah alles nur von der einen offenkundigen Tatsache aus an, dass sie einen Menschen getötet hatten. Außerdem waren sie mitten unter halbwilden fremden Leuten, denen nicht viel Verständnis für seine besondere Lage zuzutrauen war. Das und Ähnliches mehr hatte er sich aus allerlei Schauerromanen zusammengelesen, das waren seine »Erfahrungen«. –
Geld brauchten sie beide, sie mussten das Geld wiederhaben!
Er beugte sich wieder über den Toten. Diesmal wollte er aber rücksichtslos und entschlossen vorgehen! Der Affe hockte in einer Zimmerecke und folgte jeder Bewegung des Jungen, der dem Amerikaner ein Kleidungsstück nach dem anderen auszog und Stück für Stück minutenlang visitierte. Sogar die Schuhe durchsuchte er mit peinlicher Sorgfalt und, als er dem Toten auch das Letzte vom Leibe gezogen hatte, warf er sich aufs Bett. Er schien fast den Verstand zu verlieren, seine Augen starrten weitgeöffnet ins Leere … und doch auch wieder nicht. Ein grässliches Bild stand vor seinem Innern, das war das, was kommen musste.
Wie lange er so dagesessen hatte, wusste er nicht, als ihn schließlich ein Geräusch im ersten Stock unten aufscheuchte. Er sprang rasch auf seine Beine, blies die Lampe aus, eilte zur Tür und schloss sie von innen. Dann wandte er sich zu dem Affen; er war inzwischen zu einem anderen Entschluss gekommen.
Gestern Abend war er noch der Ansicht gewesen, dass es das beste sei, bei nächster Gelegenheit nach der Heimat zurückzureisen und seine Eltern um Verzeihung dieses tollen Abenteuers zu bitten. Jetzt hatte er das Gefühl, dass er nie wieder nach Hause kommen würde. Das Blut eines Mitmenschen klebte an seinen Händen, ja an seinen Händen, wie er sich nun schon fest eingeredet hatte. Die geradezu krankhaften Vorstellungen, die in den letzten Stunden sein Hirn durchwühlt, hatten ihre Arbeit getan. Er war jetzt soweit: Nicht der Affe hatte Condon umgebracht. Nein, in seinen Schreckensnöten und in seiner Verwirrung legte er die ganze Schuld sich allein zur Last. Hätte er sein Geld noch, würde er sich vielleicht den Freispruch erkaufen können. Aber so, nicht einen Penny in der Tasche? Was sollten Fremde hier ohne Geld in dieser Lage noch zu erhoffen haben?
Wo das Geld nur war? Er suchte sich in die Erinnerung zurückzurufen, wann er das Bündel Banknoten zum letzten Mal gesehen. Doch er konnte sich an nichts entsinnen, und selbst wenn er es gekonnt hätte, würde er sich unmöglich über das Verschwinden des Päckchens klar geworden sein; denn er hatte eben keine Ahnung davon, dass es ihm aus der Tasche gerutscht und ins Meer gefallen war, als er sich über die Reling des Dampfers schwang und in das bereitstehende Boot kletterte.
Komm! wandte er sich an Akut in der Sprache der Menschenaffen. Er dachte gar nicht mehr daran, dass er nur einen leichten Schlafanzug trug, als er zum offenen Fenster ging, seinen Kopf hinaussteckte und gespannt in die Nacht hinaushorchte. Nicht weit vom Fenster entfernt streckte ein einzelstehender Baum seine Äste nach oben. Behänd sprang der Junge hinüber, klammerte sich einen Augenblick katzenartig dicht am Stamme fest, wie wenn er erst sehen müsste, ob irgendwie Gefahr drohe, und kletterte dann ruhig abwärts. Dicht nach ihm kam der große Affe. In etwa zweihundert Meter Entfernung berührte ein schmaler Ausläufer des Dschungels die Siedlung mit ihren verstreut liegenden Häusern, und dorthin lenkte der junge Engländer seine Schritte. Niemand mochte die beiden sehen, wie sie hinüberschlichen; im nächsten Augenblick schon tauchten sie im Dschungel unter:
Der kleine Jack, der künftige Lord Greystoke, war dem Gesichtskreis der zivilisierten Welt entrückt.
Es war schon spät am anderen Morgen, als der Hausdiener, ein Eingeborener, an die Tür des Zimmers klopfte, das man Mr. Billings und dessen Großmutter zugewiesen hatte. Da er keine Antwort erhielt, wollte er mit dem Hauptschlüssel öffnen; doch stellte es sich sofort heraus, dass bereits ein anderer Schlüssel, und zwar von innen her, im Schloss steckte. Er berichtete dies dem Besitzer des Hotels, einem gewissen Herrn Skopf, der sogleich mit nach dem zweiten Stock hinaufging und kräftig an der Zimmertür trommelte. Auch diesmal kam keine Antwort. Er bückte sich und versuchte, ob er irgendetwas durch das Schlüsselloch erkennen könne. Dabei verlor er das Gleichgewicht, was bei seiner starken Figur nicht zu verwundern war, doch konnte er sich wenigstens gerade noch mit einer Hand auf den Boden stützen. Er fühlte an seinen Fingern etwas Weiches, so wie wenn ihnen mit einem Male eine dicke Flüssigkeit anhaftete, hob die Hand dicht vor die Augen und suchte, so gut es im Halbdunkel des Korridors möglich war, das neue Rätsel zu lösen. Ein Schauder durchlief ihn, als er tiefdunkles Blut an seiner Hand gewahrte. Er sprang auf und stemmte sich mit seinem Oberkörper gegen die Tür. Herr Skopf ist ein starker, stattlicher Mann – oder er war es damals wenigstens, denn ich habe ihn ein paar Jahre nicht wiedergesehen. Die schwache Tür gab jedenfalls unter der Wucht dieses Druckes nach, und Herr Skopf stürzte kopfüber nach innen.
Vor ihm lag das größte Geheimnis seines Lebens: Da war die Leiche eines ihm völlig unbekannten Mannes. Das Genick war gebrochen, die Schlagader durchgebissen, wie wenn sich die reißenden Zähne eines wilden Tieres hineingegraben hätten. Der Körper war splitternackt, die Kleider lagen ringsherum auf dem Boden verstreut. Die alte Dame und deren Enkel waren verschwunden, das Fenster weit geöffnet. Sie mussten also durch das Fenster entkommen sein, denn die Tür war ja von innen verschlossen gewesen.
Aber wie sollte der Junge seine alte kranke Großmutter so aus dem zweiten Stock hinuntergebracht haben? Nein, das war doch zu albern, so etwas überhaupt anzunehmen. Herr Skopf durchsuchte das kleine Zimmer, er bemerkte, dass das Bett von der Wand abgerückt war. Und warum? Zum dritten oder vierten Male blickte er nun unter das Bett … Es blieb dabei: Die beiden hatten sich aus dem Staube gemacht, und doch sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass die alte Dame unmöglich ohne Träger hinuntergekommen sein konnte; man hatte sie ja gestern herauftragen müssen …
Die weiteren Nachforschungen breiteten nur immer dichtere Schleier über das große Geheimnis. Man fand sämtliche Kleidungsstücke der beiden noch im Zimmer. Sie mussten sich also nackt oder in ihren Nachtgewändern davongemacht haben.
Das Ganze war Herrn Skopf ein großes Geheimnis und ist es zweifellos auch heute noch.