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Erstes Kapitel: Arme Uhha

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Im Dorf des Kannibalen-Häuptlings Odebe am Rande des Ugogo hockte Esteban Miranda im Schmutz der finsteren Hütte und kaute an den Resten eines nur halb garen Fisches. Seinen Nacken zierte ein eisernes Sklavenhalsband, das mit einer einige Meter langen rostigen Kette an einem Pfosten hing, der neben dem niederen Hütteneingang tief in den Boden eingegraben war. Der Ausgang ging auf die Dorfstraße hinaus und befand sich in nächster Nähe von Odebes eigener Hütte.

Seit einem vollen Jahre lag Esteban Miranda wie ein Hund angekettet, kroch manchmal durch das niedere Loch aus seinem Kotter hinaus und ließ sich von der Sonne bescheinen. Nur zwei Zerstreuungen hatte er. Die eine war seine zum Dauerzustand gewordene Einbildung, Affen-Tarzan zu sein, den er als guter Schauspieler so lange und mit solch zunehmender Vollendung gespielt hatte, dass er zum Schluss diese Rolle gänzlich lebte und erlebte. Er war Affen-Tarzan - für ihn stand das fest - es gab keinen andern! Genau das gleiche dachte auch Odebe. Aber der Dorfzauberer behauptete unentwegt, man habe den Flussteufel vor sich, den man günstig stimmen müsse und nicht ärgern dürfe.

Diese Meinungsverschiedenheit zwischen dem Häuptling und dem Schamane hatte Esteban Miranda bisher von den Fleischtöpfen des Dorfes gerettet. Odebe wollte ihn gern fressen, weil er ihn für seinen alten Erzfeind, den Affenmenschen hielt. Der Schamane dagegen hatte die abergläubischen Befürchtungen der Dörfler geweckt, die er halb und halb davon überzeugte, dass der Flussteufel - als Tarzan aufgeputzt - in dem Gefangenen stecke. Wenn das aber der Fall war, dann musste das Dorf das Schlimmste befürchten, sobald jenem etwas geschah. Als Ergebnis dieses Zwiespalts zwischen Odebe und dem Zauberer blieb des Spaniers Leben geschont, bis sich herausstellen würde, wer recht hatte. Starb der Weiße eines natürlichen Todes, dann hatte man es mit dem sterblichen Tarzan zu tun gehabt und Odebe behielt recht. Blieb jener aber ewig am Leben oder verschwand er auf geheimnisvolle Weise, dann musste die Behauptung des Zauberers als Evangelium angenommen werden. Als der Spanier erst etwas von der Sprache der Dorfbewohner verstand und herausfand, wie die Ähnlichkeit mit Tarzan ihn zu diesen Menschenfressern und nahe an den Rand der Kochtöpfe gebracht hatte, legte er weniger Wert darauf, sich für Affen-Tarzan auszugeben. Von da ab ließ er geheimnisvolle Andeutungen fallen, dass er kein anderer als der Flussteufel sei. Der Schamane war entzückt, und alle ließen sich narren, nur nicht Odebe. Der war ein alter, gerissener Bursche und glaubte nicht an Flussteufel. Zwar, der Schamane war gleichfalls alt und gerissen und glaubte ebenso wenig daran, aber er wusste den großen Vorteil zu schätzen, wenn seine Gemeinde es glaubte. Dieses Hinundher war für den Spanier immerhin eine Abwechslung in der tödlichen Langeweile, die auf ihn drückte. Die andere bestand darin, dass er sich an dem Säckchen mit Diamanten weidete, die noch immer in seinem Besitz waren. Damals, als Tarzan die Gomangani des Tales von der tyrannischen Bedrückung der Bolgani befreite, hatte der alte Mann ihm unten in den tiefen Gewölben des Diamantenturms jenes Säckchen ausgehändigt. Der Russe Kraski stahl es, und später fiel es in die Hände des Spaniers, der den Dieb erschlug.

Stundenlang kauerte Esteban Miranda im Halbdunkel seines Schmutzgelasses, die glitzernden Steine zählend und mit ihnen spielend. Tausendmal wog er jeden einzelnen in der Hand, schätzte seinen Wert und stellte sich vor, was für Genüsse er sich in den Großstädten der Welt dafür erkaufen könnte. Er saß im Schmutz, musste von halb verfaulten Resten leben, die ihm unreine Hände hinwarfen, und besaß doch die Reichtümer eines Krösus. Aber in seiner Einbildung lebte er gleich einem solchen. Seine erbärmliche Hütte ward ihm unter dem gleißenden Schein seiner kostbaren Steine zum prächtigen Palast. Aber beim ersten näherkommenden Fußtritt schob er hastig seinen märchenhaften Schatz in das zerlumpte Lendentuch, sein einziges Kleidungsstück, und war wieder der Gefangene in der Negerhütte.

Ein Jahr dieser schrecklichen Einzelhaft war vergangen, da kam eine dritte Zerstreuung in Gestalt Uhhas, der Tochter des Schamanen Khamis. Uhha war vierzehn Jahre alt, hübsch und neugierig. Ein volles Jahr hatte sie nun schon den geheimnisvollen Gefangenen aus der Ferne beobachtet. Schließlich schwand ihre Scheu mit der Gewöhnung, und eines Tages näherte sie sich ihm, als er sich wieder draußen sonnte. Esteban bemerkte ihre halb zaghafte Annäherung und lächelte ihr ermutigend zu. Er hatte keine einzige freundlich gesinnte Seele unter den Dorfbewohnern; wenn er eine fand, wurde sein Los viel leichter, und er war der Freiheit einen Schritt näher. Endlich blieb Uhha ein paar Schritte vor ihm stehen. Sie war zwar noch ein Kind, aber unwissend und eine Wilde, aber sie war doch ein Weib, und Esteban Miranda kannte das schwache Geschlecht.

»Seit einem Jahre bin ich im Dorf des Häuptlings Odebe«, sagte er gebrochen in der Sprache, die er seinen Kerkermeistern abgelauscht hatte. »Nie hätte ich geahnt, dass seine Umwallung eine solche Schönheit birgt wie dich. Wie heißest du?«

Uhha freute sich und zeigte ein breites Lächeln. »Ich bin Uhha«, erklärte sie ihm. »Mein Vater ist Khamis, der Schamane.«

Jetzt war es an Esteban, sich zu freuen. Das Schicksal, das ihn so lange herumgestoßen hatte, zeigte sich endlich geneigter und sandte ihm jemanden, der ihm bei geeigneter Behandlung eine Hoffnung bot.

»Warum hast du mich nie zuvor besucht?«, fragte Esteban.

»Ich hatte Angst«, erwiderte Uhha schlicht.

»Warum?«

»Ich hatte Angst, weil...« Sie zögerte.

»...weil du dachtest, ich sei der Flussteufel und könne dir ein Leid antun?«, fragte der Spanier lächelnd.

»Ja«, gestand sie.

»Höre denn«, flüsterte Esteban, »doch sage es niemandem. Ich bin der Flussteufel, aber dir... dir werde ich nichts tun.«

»Wenn du wirklich der Flussteufel bist, warum bleibst du denn hier an diesem Pfahl angekettet? Warum verwandelst du dich dann nicht in etwas anderes und kehrst in den Fluss zurück?«, forschte Uhha.

»Das wundert dich wohl, nicht wahr?«, fragte Miranda, der sich erst eine passende Ausrede zurechtlegen musste.

»Nicht nur Uhha wundert sich darüber«, entgegnete das Mädchen. »Viele andere haben in letzter Zeit die gleiche Frage gestellt. Odebe zuerst, und keiner konnte ihm darauf antworten. Odebe behauptet, du seist Tarzan, sein Feind und der Feind seines Volkes; nur mein Vater Khamis erklärt, dass du der Flussteufel bist, dich, wenn du willst, in eine Schlange verwandeln und durch den eisernen Ring kriechen kannst, den du um den Hals trägst. Aber die Leute wundern sich bereits, warum du das nicht tust, und viele beginnen zu denken, dass du gar nicht der Flussteufel bist.«

»Komm näher, schöne Uhha«, flüsterte Miranda, »damit keine fremden Ohren hören, was ich dir sagen will. Das Mädchen kam etwas näher und beugte sich zu dem auf dem Boden kauernden Spanier hinab.

»Ich bin wirklich der Flussteufel«, sagte Esteban. »Ich kann kommen und gehen, ganz wie es mir gefällt. Nachts, wenn alles im Dorf schläft, wandere ich durch die Fluten des Ugogo, aber ich komme immer wieder zurück. Ich will das Volk von Odebes Dorf prüfen, Uhha, denn ich muss wissen, wer mein Freund ist, und wer nicht. Dass Odebe nicht mein Freund ist, weiß ich bereits, und bei Khamis bin ich nicht ganz sicher. Wenn Khamis ein rechter Freund wäre, hätte er mir doch gutes Essen und Trinken bringen müssen.

Wenn ich wollte, hätte ich längst fliehen können, aber ich warte ab, ob sich einer in Odebes Dorf findet, der mich in Freiheit setzen will. Daran kann ich sehen, wer mein bester Freund ist. Sollte es einen solchen geben, Uhha, dann wird ihm immerdar das Glück lächeln, jeder Wunsch wird ihm erfüllt werden, und er soll ein hohes Alter erreichen, denn er hat vom Flussteufel nichts zu fürchten, der ihm in allen Dingen helfen wird. Aber höre, Uhha, sage keinem, was ich dir eröffnet habe. Noch kurze Zeit werde ich warten, hat sich dann kein solcher Freund in Odebes Dorf gefunden, dann werde ich zu Vater und Mutter, zum Ugogo zurückkehren und Odebes ganzes Dorf vernichten. Nicht einer soll am Leben bleiben.«

Das Mädchen wich entsetzt zurück. Augenscheinlich hatte er starken Eindruck auf sie gemacht.

»Hab' keine Angst«, beruhigte er sie. »Dir werde ich nichts tun.«

»Aber wenn du alle Leute umbringst...?«, fragte sie.

»Dann kann ich dich natürlich auch nicht schonen«, sagte er. »Aber hoffentlich kommt jemand und befreit mich, damit ich weiß, dass ich wenigstens einen guten Freund hier habe. Jetzt gehe deines Wegs, Uhha, aber denke daran, dass du niemand erzählen darfst, was ich dir gesagt habe.«

Sie ging einige Schritte fort, kam aber wieder zurück. »Wann wirst du das Dorf vernichten?«, fragte sie.

»In wenigen Tagen«, beschied er sie.

Uhha rannte zitternd vor Angst nach ihres Vaters Hütte. Esteban Miranda aber lächelte befriedigt, kroch wieder in sein Loch und gab sich beim Flimmern der Edelsteine frohen Gedanken hin.

Der Schamane Khamis befand sich nicht in seiner Hütte, als Uhha, halbtot vor Furcht, in deren Dunkel hineinkroch. Auch seine Weiber waren nicht da; die arbeiteten draußen mit ihren anderen Kindern außerhalb der Palisaden, wo Uhha eigentlich auch hätte sein sollen. So blieb dem Mädchen Zeit zur Überlegung, ehe ihr eine von den anderen zu Gesicht kam. Dabei kam ihr auch wieder die Erinnerung an einen Umstand, den sie in ihrem ersten Schrecken fast vergessen hatte, nämlich dass ihr der Flussteufel ausdrücklich verboten hatte, ihr Gespräch weiterzuerzählen. Und sie hatte eben ihrem Vater alles sagen wollen! Dann wäre ihr sicher ein ganz schlimmes Unheil zugestoßen! Sie zitterte beim Gedanken an ein Geschick, dessen Furchtbarkeit sie sich gar nicht mehr ausmalen konnte. Mit knapper Not war sie davongekommen! Aber was sollte sie jetzt anfangen? Zusammengekrümmt lag sie auf einer Grasmatte und zermarterte ihr kleines dummes Gehirn, um eine Lösung des ungeheuren Problems zu finden, das sich ihr aufgetan hatte. Zum ersten Mal war ihr eine andere Frage aufgetaucht als die, wie sie sich um die Plackerei auf dem Felde herumdrücken könnte. Plötzlich fuhr sie auf und saß ganz starr wie ein Steinbild, denn ihr war ein Gedanke gekommen. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Klar und deutlich hatte er es gesagt und sogar noch einmal wiederholt. »wenn er freigelassen würde, wüsste er, dass er wenigstens einen Freund im Dorf Odebes habe, dem er dann hohes Alter und lauter gute Dinge gewähren werde. Aber ein paar Minuten später ließ Uhha diesen Gedanken wieder fallen. Wie sollte sie, ein kleines Mädchen, die Befreiung des Flussteufels allein durchführen?

»Baba«, fragte sie später, als ihr Vater in die Hütte heimkam, »wie bringt der Flussteufel die Leute um, die ihm Leid zufügen?«

»Soviel der Fische im Wasser sind, so viele Mittel und Wege hat der Flussteufel - zahllos sind sie«, erwiderte Khamis. »Er kann die Fische aus dem Flusse fortsenden, das Wild der Dschungel verjagen und unsere Ernte verkommen lassen. Dann müssen wir verhungern. Oder er lässt nachts Feuer vom Himmel fallen und alles Volk Odebes erschlagen.«

»Denkst du, er wird uns so behandeln, Baba?«

»Khamis wird er nichts tun«, erwiderte der Schamane, »denn der hat ihn vor dem Tode bewahrt, den ihm Odebe bereiten wollte.«

Uhha dachte daran, dass sich der Flussteufel über Khamis beklagte, weil ihm dieser kein gutes Essen und kein Bier brachte. Aber sie wagte keine Bemerkung darüber, dass ihr Vater keineswegs beim Flussteufel so hoch in Gunst stand, wie er glaubte. Sie ging anders vor. »Wie soll er aber entkommen«, fragte sie, »er hat doch den eisernen Ring um den Hals - wer nimmt ihm den ab?«

»Den kann niemand abnehmen außer Odebe, der das Stück Messing zum Öffnen des Halsbandes in seiner Tasche hat«, erwiderte Khamis. »Aber der Flussteufel bedarf keiner Hilfe, denn wenn die Zeit kommt, dass er frei sein will, dann verwandelt er sich einfach in eine Schlange und schlüpft durch das Eisenband um seinen Hals durch. Wohin willst du, Uhha?»

»Odebes Tochter besuchen«, rief die Kleine über die Schulter zurück. Die Häuptlingstochter war beim Maismahlen, eine Arbeit, bei der eigentlich auch Uhha hätte sein sollen. Sie sah auf und lächelte, als die Tochter des Schamanen näher kam.

»Sei leise, Uhha«, warnte sie, »mein Vater Odebe schläft drinnen.«

Die Besucherin hockte sich nieder, und die beiden plauderten leise. Sie sprachen über ihren Schmuck, ihre Frisuren und über die jungen Männer im Dorf; aber wenn sie auf die zu reden kamen, kicherten sie häufig. Ihre Unterhaltung unterschied sich wenig von der zweier Mädchen aus anderen Rassen unter anderen Breitengraden. Während ihres Gespräches wanderten Uhhas Augen immer wieder nach Odebes Hütte, und mehrmals deutete das Zusammenziehen ihrer Augenbrauen tieferes Nachdenken an, als ihr müßiges Geschwätz ahnen ließ.

Plötzlich fragte sie. »Wo hast du das Armband aus Kupferdraht, das dir deines Vaters Bruder zu Anfang des letzten Mondes gab?«

Odebes Tochter zuckte die Achseln. »Er nahm es mir wieder und gab es der Schwester seines jüngsten Weibes.« Uhha ließ die Flügel hängen. Ob sie etwa das Kupferarmband selbst gern gehabt hätte? Ihre Augen musterten die Freundin scharf. Mit einem Mal hellte sich ihr Gesicht auf.

»Und das Halsband mit den vielen Perlen, das dein Vater von der Leiche des Kriegers nahm, den wir für das letzte Fest fingen? Das hast du doch nicht verloren?«

»Nein«, erwiderte ihre Freundin. »Das ist beim Vater im Hause. Wenn ich Mais mahle, ist es mir immer im Wege, deswegen habe ich es beiseitegelegt.«

»Kann ich’s sehen?«, fragte Uhha.

»Ich werde es holen!«

»Nein, du könntest Odebe aufwecken, und dann wird er sehr böse«, sagte die Häuptlingstochter.

»Ich werde ihn nicht stören«, widersprach Uhha und wandte sich nach dem Hütteneingang.

Ihre Freundin wollte sie abhalten. »Ich werde es holen, sobald Baba aufgewacht ist«, versprach sie Uhha, doch diese hörte gar nicht hin und kroch bereits vorsichtig ins Innere der Hütte. Dort wartete sie eine Weile, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. An der anderen Hüttenwand lag Odebe langgestreckt auf einer Schlafmatte und schnarchte friedlich. Uhha kroch so verstohlen wie Sheeta, der Leopard, auf ihn zu. Ihr Herz schlug wie ein Tam-tam, wenn der Tanz am wildesten ist. Sie fürchtete, das Klopfen ihres Herzens und ihre keuchenden Atemzüge würden den alten Häuptling wecken, vor dem sie nicht weniger Scheu hatte als vor dem Flussteufel. Aber Odebe schnarchte ruhig weiter.

Jetzt war Uhha dich neben ihm, und ihre Augen hatten sich an das Halbdunkel der Hütte gewöhnt. Neben Odebe, halb unter dem Körper versteckt, sah sie eine Tasche. Vorsichtig legte sie ihre zitternden Finger daran und wollte sie hervorziehen. Da rührte sich der Schläfer unbehaglich, und Uhha wich angstvoll zurück. Odebe änderte seine Lage, und Uhha dachte, er sei aufgewacht. Sie war starr vor Schrecken, sonst wäre sie Hals über Kopf aus der Hütte geflohen, aber zu ihrem Glück wagte sie nicht, sich zu rühren, und alsbald schnarchte Odebe weiter. Doch nun war ihr Mut dahin, und sie dachte nur noch daran, wie sie, ohne entdeckt zu werden, wieder aus der Hütte kommen könnte. Noch einen letzten ängstlichen Blick warf sie auf den Häuptling, ob er auch schliefe. Da fielen ihre Blicke auf die Tasche. Odebe hatte sich herumgedreht, und da lag sie, von seinem Körpergewicht befreit, greifbar in ihrem Bereich.

Sie griff danach und zog die Hand wieder zurück. Sie wendete sich ab, denn das Herz wollte ihr versagen, und sie fühlte sich ganz schwindelig. Aber dann dachte sie an den Flussteufel und die schrecklichen Todesarten, die er senden konnte. Noch einmal fasste sie nach der Tasche, und diesmal nahm sie sie auf, öffnete sie hastig und untersuchte den Inhalt. Da war der Messingschlüssel. Sie kannte ihn gleich, denn er war das einzige Stück, dessen Zweck sie nicht kannte. Halsring, Kette und Schlüssel hatte Odebe einst einem arabischen Sklavenjäger abgenommen, den sie getötet und auf gefressen hatten, und da einige der älteren Leute aus Odebes Dorf ähnliche Fesseln zu kosten bekommen hatten, war es nicht schwierig, sie erforderlichenfalls zu verwenden. Uhha schloss hastig die Tasche und legte sie wieder an Odebes Seite. Den Schlüssel in der geballten Faust verborgen, kroch sie schleunigst durch die Tür hinaus. Am nämlichen Abend noch, sobald die Glut der Kochfeuer mit Erde bedeckt war und Odebes Volk sich in seine Hütten zurückgezogen hatte, hörte Esteban Miranda eine verstohlene Bewegung am Eingang seines Verließes. Er lauschte angespannt. Jemand kam hereingekrochen - jemand oder etwas.

»Wer ist da?«, fragte der Spanier mit einer Stimme, die kaum das Zittern verbergen konnte.

»Psst!«, erwiderte der Eindringling leise. »Ich bin’s, Uhha, die Tochter von Khamis, dem Schamane. Ich komme, um dich zu befreien, damit du weißt, dass du doch einen guten Freund in Odebes Dorf hast und uns darum nicht zu vernichten brauchst.«

Miranda musste lächeln. Seine Andeutung hatte schneller gefruchtet, als er hoffen konnte; offenbar hatte das Mädchen auch das anbefohlene Stillschweigen gewahrt, aber das machte nichts mehr aus, wenn er auch so sein Ziel, die Freiheit, erreichte. Er hatte dem Mädchen nur darum Schweigen anbefohlen, weil er glaubte, dass das der sicherste Weg sei, seine Worte im Dorf herumzubringen. Dort würden sie dann schon zu den Ohren von irgendeinem abergläubischen Schwarzen gelangen, der Mittel und Wege fand, ihn zu befreien, sobald der Ansporn dazu gegeben war.

»Wie willst du mich denn befreien?«, fragte Miranda.

»Schau!«, rief Uhha. »Ich habe den Schlüssel zum Ring um deinen Hals mitgebracht.«

Uhha kroch näher an den Mann heran und reichte ihm den Schlüssel. Dann wollte sie flüchten.

»Warte!«, gebot der Gefangene. »Wenn ich frei bin, musst du mich bis zur Dschungel begleiten. Wer mich befreit, muss auch das tun, wenn er die Gunst des Flussgottes gewinnen will.«

Uhha hatte Angst, aber sie wagte keine Weigerung. Miranda fingerte einige Minuten an dem alten Schloss herum, ehe es endlich dem abgenützten Schlüssel nachgab. Als er aus dem Halsring geschlüpft war, schnappte er das Schloss wieder zu, nahm den Schlüssel an sich und kroch ins Freie.

»Besorg' mir Waffen«, flüsterte er dem Mädchen zu, und Uhha verschwand in dem Schatten der Dorfstraße. Miranda wusste, dass die Kleine voller Angst war, aber er war sicher, dass gerade diese Furcht sie wieder mit Waffen zu ihm zurückführen würde. In der Tat kam Uhha noch vor Ablauf von fünf Minuten mit einem Köcher voll Pfeile, einem Bogen und einem kräftigen Messer zurück.

»Führe mich jetzt zum Tor«, befahl Esteban.

Uhha führte den Flüchtling zum Dorftor, wobei sie die Hauptstraße vermied und sich so viel wie möglich hinter den Hütten hielt. Sie war etwas überrascht, dass der Flussteufel nicht wusste, wie man das Dorftor entriegelte, und öffnete; sie hatte gedacht, Flussteufel seien allwissend. Aber sie tat, was er ihr gebot, zeigte ihm, wie man die große Vorlegestange zurückzog, und half ihm, die Torflügel so weit aufzudrücken, dass man hindurchkonnte. Drüben war die Lichtung, die zum Flusse führte, zu beiden Seiten ragten die Riesen der Dschungel zum Himmel. Es war recht dunkel draußen, und Esteban Miranda fand plötzlich, dass die neugewonnene Freiheit auch ihre unangenehmen Seiten hatte. Der Gedanke, nachts allein in die finstere, unheimliche Dschungel hinauszumüssen, erfüllte ihn mit namenlosem Grauen.

Uhha wich vom Tor zurück. Sie hatte ihr Teil getan und das Dorf vor der Vernichtung gerettet. Jetzt wollte sie das Tor wieder schließen und zur Hütte ihres Vaters zurückeilen, um sich dort niederzulegen und zitternd den Morgen zu erwarten, der dem Dorf das Entkommen des Flussteufels enthüllen musste.

Da griff Esteban zu und packte sie am Arme. »Komm«, sagte er, »und nimm deine Belohnung.«

Uhha suchte sich ihm zu entreißen. »Lass mich los«, rief sie. »Ich fürchte mich.«

Aber Esteban fürchtete sich gleichfalls und war der Meinung, dass in der Tiefe der einsamen Dschungel die Gesellschaft dieses kleinen Negermädchens immer noch besser sei als gar keine. Vielleicht würde er sie beim Morgengrauen zu ihrem Stamm zurückkehren lassen; aber heute Nacht... ihn schauderte bei dem Gedanken, die Dschungel ohne menschlichen Gefährten zu betreten. Uhha suchte sich seinem Griff zu entreißen. Sie kämpfte wie eine kleine Löwin und wollte zuletzt laut um Hilfe rufen, da presste ihr Miranda die Hand auf den Mund, hob sie vom Boden auf und eilte mit ihr über die Lichtung in die Dschungel.

Die Krieger des Kannibalen Odebe schliefen derweil friedlich, ohne etwas von der plötzlichen Tragödie zu ahnen, die sich jetzt im Leben der kleinen Uhha abspielte.

Fern draußen im Dschungel erscholl das donnernde Brüllen eines Löwen.

TARZAN UND DIE AMEISENMENSCHEN

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