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Gewöhnlich verließ Leslie Ranger das Büro um fünf Uhr nachmittags. Decadon war aber den ganzen Tag sehr nervös und deprimiert gewesen, und als er sie bat, noch zu bleiben, kam sie seinem Wunsch aus Mitleid nach. Außerdem gab es auch noch allerhand für sie zu tun.


Ed Tanner begegnete ihr, als sie vom Tee zurückkam, und war überrascht, daß sie noch nicht nach Hause gegangen war. »Warum bleiben Sie denn heute so lange, Miss Ranger? Hat der alte Herr so viel zu tun?«


Sie gab eine Erklärung, die aber sehr unwahrscheinlich klang. Der alte Decadon hatte ihr streng untersagt, seinem Neffen etwas mitzuteilen, und sie richtete sich selbstverständlich danach.


Ungefähr um sieben Uhr abends hörte sie Tanners Stimme in der Bibliothek. Ob sein Onkel ihm jetzt von dem Brief erzählte? Die Unterredung zwischen den beiden dauerte ziemlich lange. Später hörte Leslie das Geräusch des Lifts, der zu Tanners Wohnung hinauffuhr. Kurz darauf klingelte es, und sie ging in die Bibliothek.


Der alte Herr schrieb eifrig. Er benutzte stets große Bögen, und seine Handschrift war trotz seines Alters sehr sauber und gut leserlich. Sie sah bei ihrem Eintritt, daß er den Bogen halb vollgeschrieben hatte. »Holen Sie Danes!« sagte er, ohne aufzusehen. »Klingeln Sie doch!« rief er dann ungeduldig, als sie zur Tür gehen wollte.


Sie drückte auf den Knopf, und gleich darauf erschien der Diener Danes im Zimmer.


»Schreiben Sie Ihren Namen, Ihren Stand und Ihre Adresse hierher!« Decadon zeigte auf eine Stelle am unteren Rand des Aktenbogens, und Danes nahm den Federhalter, um zu unterzeichnen.


»Sie wissen doch, was das bedeutet, wenn Sie hier unterschreiben, dummer Kerl? Sie sollen meine Unterschrift bestätigen, und die steht doch noch gar nicht da!« brauste der alte Herr nervös auf. »Sehen Sie auch her, Miss Ranger!«


Er unterschrieb; dann unterzeichnete der Diener.


»So – das genügt, Danes!«


Der Mann wollte das Zimmer wieder verlassen.


»Wenn dies ein Testament ist«, meinte Leslie ruhig, »so müssen die Unterschriften beider Zeugen zu gleicher Zeit geleistet werden, damit sie sich gegenseitig bestätigen.«


Der alte Herr starrte sie an. »Woher wissen Sie, daß das ein Testament ist?« Er hatte die Schrift dauernd mit der einen Hand verdeckt.


»Das vermute ich nur«, entgegnete sie lächelnd. »Ich kann mir nicht vorstellen, welches andere Dokument durch zwei Zeugenunterschriften bestätigt werden müßte.«


»Schon gut!« brummte Decadon. »Setzen Sie Ihren Namen hierher!« Er beobachtete sie genau, während sie schrieb. »Ich danke Ihnen.« Er löschte die noch feuchte Schrift ab, entließ den Diener durch eine Handbewegung und schob das Dokument in eine Schublade seines Schreibtisches. Dann sah er Leslie nachdenklich an. »Ich habe Ihnen tausend Pfund vermacht«, sagte er ernst. »Zum Teufel! Warum lachen Sie denn?«


»Ach, ich lache nur, weil ich diese tausend Pfund doch niemals bekomme. Meine Unterschrift als Zeugin annulliert das Legat.«


Er sah sie unsicher von der Seite an »Ich mag Leute nicht leiden, die so viel von Gesetz und Recht verstehen.«


Als er Leslie wieder in ihr Büro geschickt hatte, klingelte er und ließ Danes und die Köchin kommen. Leslie erfuhr davon nichts. Um halb neun war sie damit beschäftigt, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Plötzlich hörte sie ein schwaches Knacken und schaute auf. Es kam ihr fast vor, als ob das Geräusch in ihrem Zimmer gewesen wäre. Sie hatte gerade den Hut aufgesetzt, als es sich wiederholte. Gleichzeitig hörte sie Decadons ärgerliche Stimme. Er stritt sich mit jemand; sie konnte aber nicht hören, wer der andere war. Dann vernahm sie einen gellenden Angstschrei, und gleich darauf wurden kurz hintereinander zwei Schüsse abgefeuert.


Einen Augenblick stand sie gelähmt vor Entsetzen; dann eilte sie zu der Tür, die in die Bibliothek führte, fand sie aber verschlossen. Sie wollte nun vom Gang aus hineingehen, aber auch ihre Bürotür zum Korridor war verschlossen. Sie klingelte heftig und hörte Schritte.


Danes hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür.


»Was ist los?« fragte er.


»Die Tür ist verschlossen!« rief sie zurück. »Der Schlüssel steckt außen!«


Im nächsten Augenblick drehte sich der Schlüssel.


»Gehn Sie in die Bibliothek und schauen Sie nach, was geschehen ist!«


Danes und der zweite Diener eilten fort, kamen aber gleich wieder und berichteten, daß auch die andere Bibliothekstür verschlossen war. Der Schlüssel fehlte. Decadon hatte die merkwürdige Angewohnheit, die Schlüssel an den Türen stets auf der Außenseite steckenzulassen. Mit zitternden Händen nahm sie den Schlüssel von ihrer Tür und steckte ihn in das Schloß der Bibliothekstür. Glücklicherweise paßte er, und sie öffnete.


Aufgeregt trat sie in den Raum, ging drei Schritte vorwärts und blieb dann entsetzt stehen. Decadon lag in einer Blutlache über seinem Schreibtisch, und schon bevor sie ihn berührte, wußte sie, daß er tot war.

Gangster in London

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