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Marborne schaute seinen Begleiter düster an.

»Na, Sie sind mir ein feiner Dieb«, brummte er. »Haben Sie denn nicht etwas anderes nehmen können?«

Lieber machte ein dummes Gesicht: »Genügt das nicht? Sie sagten mir doch ausdrücklich, ich solle einen Brief bringen –«

Marborne stopfte das Schreiben in die Tasche und ließ den verdutzten Mann stehen.

Die Entdeckung, daß diese Jane Smith von seiner Verbindung mit Hamon wußte, machte ihm großes Kopfzerbrechen. Sie bedrückte ihn um so mehr, als er sich jetzt schon zu weit in die Sache eingelassen hatte, um sich noch zurückzuziehen. Der Plan mußte nun unbedingt durchgeführt werden. Aber zuerst mußte er seine Vorsichtsmaßregeln treffen. Er rief ein Taxi an und fuhr trotz der späten Stunde noch zum Grosvenor Place. Der Butler kannte ihn und ließ ihn ein, teilte ihm aber mit, daß Mr. Hamon nicht zu Hause sei.

»Wollen Sie vielleicht Miss Hamon sprechen?« fragte er dann.

»Miss Hamon? Ich wußte gar nicht, daß es überhaupt eine solche Dame gibt«, sagte der Inspektor erstaunt.

»O ja, Mr. Hamon hat eine Schwester, für gewöhnlich lebt sie allerdings in Paris.«

Der Butler ließ Marborne in der Diele zurück und ging ins Wohnzimmer.

Gleich darauf erschien er wieder und lud ihn durch eine Handbewegung ein, näher zu treten.

Lydia Hamon war schlank und schön. Reiche, rotblonde Locken umrahmten ihr zartes Gesicht. An den nackten Armen trug sie kostbare Reife, die im Licht der elektrischen Lampen aufsprühten. Langsam schaute sie zu dem Polizeibeamten auf, als er eintrat, machte aber keine Anstalten, ihn zu begrüßen.

Marborne, der sich an weiblicher Schönheit begeistern konnte, betrachtete sie fasziniert und war von ihrem Charme entzückt. Sie trug ein grünes Abendkleid und prachtvolle, goldene Schuhe. Die schmale, feine Hand hatte sie an die Augen gelegt, als ob Marbornes Erscheinung sie blendete.

»Sie wollten meinen Bruder besuchen?« fragte sie.

»Ja, ich muß ihn in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen.«

»Ich hoffe, daß er bald zurückkommt. Von seinen Geschäften weiß ich wenig und kann Ihnen daher leider nicht dienen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Mr. Marlow.«

»Marborne«, verbesserte der Detektiv leise und setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Stuhls. »Ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miss Hamon.«

»Ich lebe meistens in Paris. London mit seinem Geschäftsgeist ist ohne Seele und fällt mir auf die Nerven.«

Inspektor Marborne, der nicht viel zu reden wußte, hätte beinahe gesagt, die Londoner Polizei arbeite so gut, daß sich niemand hier fürchten müsse, aber zu seinem Glück erschien Hamon und verhinderte diese Bloßstellung.

»Hallo, Marborne – stimmt etwas nicht? Haben Sie mit meiner Schwester Bekanntschaft geschlossen? Lydia, Mr. Marborne ist einer meiner Freunde, ein Beamter von Scotland Yard. Aber wir wollen nach oben gehen.« Hamon ging mit dem Detektiv aus dem Zimmer, bevor dieser sich von seiner Schwester verabschieden konnte.

Als sie allein waren, erzählte der Inspektor, was sich ereignet hatte.

»Zeigen Sie mir den Brief.«

Hamon las ihn beim Licht der Tischlampe. Seine Lippen zogen sich zusammen, und seine Stirn legte sich in Falten.

»Jane Smith? Wer zum Teufel kann das sein?« brummte er.

»Weiß denn jemand etwas von – unserer Angelegenheit?« fragte Marborne.

»Niemand – ich habe nur meiner Schwester davon erzählt.«

»Das hätten Sie nicht tun sollen.«

»Ich habe ihr doch nur gesagt, daß ich einen bestimmten Plan habe, um einmal mit Morlake abzurechnen«, entgegnete Hamon ungeduldig. »Aber ich kann Ihnen schwören, daß die Schrift auf dem Kuvert nicht von Lydia ist – sie kennt Morlake auch nicht. Und selbst wenn sie ihn kennen würde, schriebe sie niemals an ihn. Ist das alles, was Sie von ihm bekommen konnten?«

»Mehr brauche ich nicht«, sagte Marborne leichthin. »Mein Plan ist jetzt so gut durchgearbeitet, daß es nicht einmal notwendig wäre, überhaupt etwas von Morlake zu besitzen.«

Marborne berichtete nichts von seinem Besuch bei Morlake, denn er fühlte, daß er seinen Misserfolg nicht eingestehen sollte.

»Wann werden Sie ihn ausführen?«

»Das hängt ganz davon ab. Hoffentlich geht es noch diese Woche. Sie haben nichts zu befürchten, ich kann genug Beweise beibringen, um ihn zu überführen. Und wenn wir ihn erst einmal verhaftet haben, können wir seine Stadtwohnung und sein Haus in Sussex durchsuchen.«

Nachdem sich der Detektiv verabschiedet hatte, ging Hamon wieder zu seiner Schwester hinunter.

»Wer war das?« fragte Lydia. »Es verkehren merkwürdige Leute bei dir.«

»Warum bist du eigentlich hergekommen?«

»Weil ich Geld brauche. Ich habe eine wundervolle kleine Statuette gekauft – eine wirklich prachtvolle Arbeit von Demetri. Und dann habe ich ziemlich viel beim Spiel verloren. Ohne Geld kann man eben nicht leben, Ralph.«

Er schaute sie an, ohne etwas zu sagen.

»Außerdem habe ich Lady Darlew versprochen, ein Wochenende mit ihr zu verbringen ...«

»Lydia, hör einmal zu«, unterbrach Hamon seine Schwester. »Als ich anfing, Geld zu verdienen, hattest du eine Stellung in einer Bar im Westen und verdientest gerade genug, um leben zu können. Bitte, vergiß das nicht. Meine Mittel sind nicht unerschöpflich, ich kann unter keinen Umständen dein Monatsgeld erhöhen. Am besten schlägst du dir alle Freundinnen aus dem Kopf, die so reich sind, daß sie ihre Kinder in Eton erziehen lassen können.«

Sie blitzte ihn wütend an.

»Es kann leicht sein, daß du dir deinen Unterhalt bald wieder selbst verdienen mußt«, fuhr er unbeirrt fort.

»Was soll das heißen?«

Sie spielte nun nicht länger die große Dame, sondern stemmte die Hände in die Hüften und schrie ihn rau und böse an.

»Willst du vielleicht sagen, daß ich wieder eine Stellung in einer Bar annehmen soll, während du hier das Geld nach Zehntausenden verdienst? Ich habe dir früher geholfen, Ralph, vergiß das nicht! Besinnst du dich noch auf Jonny Cornford, und wie ich dich damals unterstützte?«

Er wurde bleich.

»Du brauchst hier nicht über Jonny Cornford oder sonst jemanden zu sprechen«, erwiderte er grob. »Es ist auch nicht notwendig, gleich in die Luft zu gehen, wenn ich einmal zu deinem eigenen Besten mit dir rede. Ich brauche deine Hilfe wieder, das weißt du doch. Marborne hat einen großen Plan ausgearbeitet, wie wir Morlake unschädlich machen können. Und wenn wir ihn nicht auf die eine Weise fangen können, müssen wir es eben auf eine andere versuchen... und das sollst du besorgen.«

»Ach so. Und was bekomme ich dafür? Wahrscheinlich dasselbe wie bei der Geschichte mit Cornford – nichts!«

»Ich habe wirklich nichts daran verdient, ich sagte es dir doch! Es war die größte Enttäuschung, die ich jemals erlebte. Ich habe nie einen Cent von Cornfords Geld gesehen.«

Ein kurzes, unheimliches Schweigen folgte.

»Was soll ich denn mit Mr. Morlake anfangen?« fragte sie schließlich. »Soll ich ihn irgendwohin locken – hat er denn so viel Geld?«

»Haufenweise. Aber sein Geld will ich gar nicht.«

»Du mußt sehr gut daran sein, wenn du dich nicht einmal um sein Geld kümmerst. Was soll ich also dabei tun?«

»Das hängt ganz davon ab, ob Marbornes Plan gelingt. Wir brauchen uns vorläufig noch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen.«

»Wie sieht er denn eigentlich aus?«

Hamon verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit einer Fotografie zurück, die er ihr reichte. Sie betrachtete das Bild prüfend.

»Netter Kerl«, meinte Lydia. »Was ist er?«

»Ich würde viel darum geben, wenn ich es wüßte. Stelle keine langweiligen Fragen. Ich wollte nur wissen, ob er der Typ ist, der dir liegt – vorausgesetzt, daß du dabei genügend verdienst.«

Sie sah von dem Bild zu ihrem Bruder auf.

»Auf sein Aussehen kommt es dabei gar nicht an.«

Der Mann von Marokko

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