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Mr. Kelver, der Butler von Marks Priory, verbrachte abends gern eine Stunde vor dem Nebeneingang und betrachtete von dort aus die Gegend. Wie schon oft überlegte er gerade wieder, ob es mit seiner Würde vereinbar wäre, jeden Abend schon um neun Uhr von seiner Herrschaft getrennt zu werden. Genau um diese Stunde schloß Lady nebenan nämlich die große Eichentür zu, die den Nordostflügel des Herrenhauses von den anderen Räumen abgrenzte.

Die Quartiere der Dienerschaft waren sehr geräumig und behaglich eingerichtet, und mit Erlaubnis Mr. Kelvers konnten die Angestellten ein- und ausgehen, wann und wie sie wollten. Sie benutzten dann den Fußweg, der am Wald entlang zum Dorf hinunterführte. Aber er empfand es doch als starke Zurücksetzung, fast als Beleidigung, daß er selbst, der in hochadligen Häusern gedient hatte, auch mit den anderen Dienstboten vom Herrenhaus ausgeschlossen wurde.

Die Tür, vor der er stand, lag im Nordostflügel und war in gewisser Weise ein Privateingang für ihn selbst. Die anderen Angestellten gingen wie die Kaufleute und Lieferanten durch die kleine Eingangshalle.

Studd gegenüber sprach er sich manchmal aus, wenn er auch diesem höflichen und erfahrenen Mann niemals sein volles Vertrauen schenkte.

Der Chauffeur war gerade auf dem Weg zur Garage, bog um einen der beiden großen Ecktürme des Schlosses und blieb bei Kelver stehen. Da er etwas erhitzt aussah, dachte Kelver zuerst, Studd hätte zu viel getrunken.

»Ich habe diesem Dr. Amersham endlich einmal die Meinung gesagt«, begann Studd und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Das will nun ein großer Herr und ein Doktor sein! Wenn Mylady wüßte, was ich weiß, bliebe der Kerl keine fünf Minuten länger im Haus! Der war bei der indischen Armee! Na, ich könnte etwas erzählen, wenn man mich fragte!«

»Um was handelt es sich denn?« erkundigte sich Mr. Kelver höflich. Er tat immer so, als ob er Klatsch nicht hören wollte, obwohl er sehr begierig darauf war, das Neueste zu erfahren.

»Es ist merkwürdig. Ich habe im Dorf einen komischen Mann getroffen, der mir erzählte, daß er früher in Indien gewesen wäre. Darauf lud ich ihn zu einem Glas Bier ins Wirtshaus ein. Bei der Unterhaltung habe ich nicht viel gesagt, sondern nur zugehört, aber es ist ganz klar, daß er tatsächlich dort war.«

Kelver hob den ergrauten Kopf und sah den kleinen Chauffeur von oben herab an.

»Hat Dr. Amersham sich über etwas beklagt?« fragte er.

Studd wurde dadurch wieder an seinen Ärger erinnert.

»Es ist etwas an seiner Karre passiert, und ich sollte die Sache in fünf Minuten reparieren. Dazu braucht man aber mindestens zwei Tage. Er meint, er hätte hier alles zu sagen, aber wir wissen doch genau, daß er nicht der Herr im Schloß ist. Was meinen Sie?«

Der Butler lachte geheimnisvoll.

»Es gibt allerhand Leute auf der Welt«, entgegnete er.

»Ich weiß nicht, ob man mit einer so flauen Ansicht durchkommt«, erwiderte der Chauffeur etwas unsicher. »Dieser Herrensitz gehört Lord Lebanon – darüber sind wir uns doch wenigstens einig?« Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab. »Nun hören Sie einmal zu, wer hier etwas zu sagen hat: Zuerst dieser blöde Dr. Amersham, der alles kontrollieren will. Zweitens Lady Lebanon. Drittens« – er zögerte – »nennen wir einmal Miss Crane. Aber gegen die habe ich nicht das mindeste. Und als letzter kommt Lord Lebanon!«

»Mylord ist noch jung«, erklärte Mr. Kelver höflich.

Er hatte dieselbe Meinung wie Studd, aber seine Stellung legte ihm Pflichten auf, an die er sich gebunden fühlte. Mr. Kelver hatte bei dem Herzog von Colbrooke gedient, und schon seit vielen Generationen hatten seine Vorfahren große Herren betreut. Daher wußte er genau, daß es ihm nicht zustand, seine Herrschaft zu kritisieren.

Plötzlich hörten die beiden schnelle Schritte auf dem Kiesweg, und gleich darauf erschien Dr. Amersham.

»Nun, Studd, haben Sie meinen Wagen fertiggemacht?«

Der Doktor hatte eine scharfe, unangenehme Stimme, und sein ganzes Auftreten reizte zum Widerspruch.

»Nein«, entgegnete der Chauffeur heftig. »Und ich mache ihn auch nicht fertig – ich gehe heute Abend aus!«

Amersham wurde bleich vor Ärger.

»Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu gegeben?«

»Der einzige, der mir hier im Haus die Erlaubnis geben kann«, erwiderte Studd laut. »Lord Lebanon selbst.«

»Sie können sich eine andere Stelle suchen«, erklärte der Doktor wild.

»So, ich soll mir eine andere Stelle suchen?« fragte Studd wütend. »Meinen Sie vielleicht, ich würde anderer Leute Namen unter Schecks schreiben?« Dr. Amersham sah plötzlich verstört aus. »Wenn ich mir eine andere Stelle suche, wird es jedenfalls eine ehrliche Beschäftigung sein! Auf keinen Fall bestehle ich einen Kameraden – merken Sie sich das, Doktor! Und was ich auch unternehme, ich werde nicht abgefaßt und verhaftet, ich komme nicht vor Gericht, und mich stößt man auch nicht aus der Armee aus!«

Studd hatte drohend gesprochen, und der Arzt konnte den Blick des Mannes nicht ertragen. Er wollte ihm hart entgegnen, aber was er vorbrachte, war eigentlich keine Erwiderung auf die schweren Anklagen.

»Sie wissen zu viel!«

Amersham wandte sich rasch ab und entfernte sich.

Mr. Kelver hörte die Worte, konnte aber den Zusammenhang nicht verstehen. Er war bestürzt über das Benehmen Studds und fragte sich, ob er nicht hätte vermitteln sollen. Aber fast schien es ihm, als ob Dr. Amersham seine Anwesenheit gar nicht bemerkt hätte.

»So, dem habe ich es ordentlich gegeben«, erklärte Studd triumphierend. »Haben Sie gesehen, wie er sich verfärbte? Dabei behauptet der Kerl, er wird mich entlassen!«

»Ich hätte aber doch nicht in diesem Ton mit ihm geredet, Studd«, sagte der Butler mit leisem Vorwurf.

Aber der Chauffeur war jetzt in Fahrt und achtete nicht auf Kelvers Mahnung.

»Jetzt hat er wenigstens begriffen, daß ich ihn von früher her genau kenne. Ach, ich hätte ihm noch ganz andere Dinge an den Kopf werfen können!«

Am Abend fand im Dorf ein Maskenball zu irgendeinem wohltätigen Zweck statt, und als die Dämmerung hereingebrochen war, fuhr vom Herrenhaus ein Wagen mit einem Pierrot, einer Pierrette, einer Zigeunerin und einem Inder zu dem Fest hinunter. Das farbenprächtige indische Kostüm hatte Studd gewählt, dem Mr. Kelver vor der Abfahrt noch einen väterlichen Rat gab.

»An Ihrer Stelle würde ich morgen früh mit Dr. Amersham sprechen und mich entschuldigen. Wenn Sie im Recht sind, können Sie großzügig sein, und im anderen Fall ist es selbstverständlich, daß Sie sich entschuldigen.«

Dann ging Kelver in die Halle und machte noch einen letzten Rundgang, bevor er sich in den Teil des Hauses zurückzog, den die Angestellten bewohnten. Hier und dort rückte er ein Kissen zurecht; er nahm auch das leere Glas fort, das allem Anschein nach Dr. Amersham auf Myladys Schreibtisch hatte stehenlassen.

Später sah er ihn in einer der großen Fensternischen des Hauptganges bei den amerikanischen Dienern Brooks und Gilder. Sie sprachen leise miteinander und hatten die Köpfe gesenkt. Aber nicht nur Kelver sah sie, sondern auch Lord Lebanon, der in der offenen Tür seines Zimmers lehnte. Er sagte Kelver gute Nacht, als dieser vorbeiging, aber kurz darauf rief er ihn zurück.

»Steht da unten nicht der Doktor?« fragte er, da er ein wenig kurzsichtig war.

»Ja, Mylord. Er unterhält sich mit Gilder und Brooks.«

»Zum Teufel, worüber haben die soviel miteinander zu reden? Kelver, sind Sie nicht auch der Meinung, daß dies ein sonderbares Haus ist?«

Kelver war zu höflich und kannte seine Stellung zu gut, um diese Frage zu bejahen. In Wirklichkeit hielt er den ganzen Haushalt für sonderbar genug, vor allem die beiden amerikanischen Diener. Von Anfang an war ihm klargemacht worden, daß er ihnen nichts zu sagen hätte. Außerdem brauchten die beiden nach neun Uhr nicht die Wohnräume der Herrschaft zu verlassen, sondern konnten sich frei im ganzen Haus bewegen.

»Ich sage ja immer, daß es alle möglichen Leute auf der Welt gibt.«

Willie Lebanon lächelte.

»Das stimmt, Mr. Kelver«, erwiderte er liebenswürdig und klopfte dem alten Mann auf die Schulter.

Der Butler wurde ein wenig verlegen, denn so vertraulich hatte sich der Lord ihm gegenüber noch nie benommen.

Das indische Tuch

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