Читать книгу Die Abenteuerin - Edgar Wallace, Edgar Wallace - Страница 8
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ОглавлениеDer Direktor der Boxley-Frauenklinik nahm seinen Sitz am Kopfende des langen Tisches ein und nickte seinen Kollegen zu, die sich versammelt hatten. Dann machte er eine respektvolle Verbeugung vor Sir John Denham, dem berühmten Chirurgen, der auf eine besondere Einladung hin an der Sitzung teilnahm.
Dr. Parsons, der Direktor, schob ein kleines Päckchen zur Seite, das vor ihm lag, sah einen Augenblick auf die Adresse und stellte fest, daß es an ihn selbst gerichtet war. Allem Anschein nach war es die neue Serumsendung, die er bestellt hatte. Er ließ seine Blicke zur Rechten und zur Linken schweifen und lächelte bitter, als er die düsteren Gesichter seiner Kollegen sah. »Nun, Gentlemen«, begann er, »es sieht fast so aus, als ob wir die Boxley-Klinik schließen müßten.«
»Steht es so schlecht?« fragte einer der Ärzte bestürzt.
Dr. Parsons nickte, dann fragte er: »Sie hatten wohl auch kein Glück, Sir John?«
Der Chirurg schüttelte den Kopf. »Ich habe alle möglichen Leute in London aufgesucht, die in der Lage wären, uns zu helfen. Es ist furchtbar, daß diese Klinik geschlossen werden muß, aber ich glaube, es gibt keinen anderen Ausweg.«
Der Doktor nickte traurig. »Zwei von den vier Häusern habe ich bereits schließen müssen. Wir Ärzte sind schon vierzehn Tage ohne Gehalt, aber das schlimmste ist, daß eine Menge Aufnahmegesuche vorliegen. Vierundachtzig Patientinnen, deren Namen vornotiert sind, konnten wir nicht aufnehmen.«
Sir John nickte bedrückt. »Es ist eine sehr ernste Lage, in der wir uns befinden. – Kennen Sie eigentlich Mr. Grandman?«
»Ja, oberflächlich. Er ist mir so weit bekannt, daß ich ihn um Hilfe angehen konnte, aber ich hatte keinen Erfolg. Mr. Grandman wollte nichts davon hören, daß er uns mit einer größeren Summe helfen sollte. Dabei hat er früher tatsächlich einmal eine Stiftung gemacht. Aber ich muß soeben an Lord Claythorpe denken; er ist ein guter Freund von Grandman. Er hat für seine Nichte eine Perlenkette im Wert von fünfzigtausend Pfund als Hochzeitsgeschenk gekauft. Es stand in allen Morgenzeitungen.«
»Ich habe es gelesen«, erklärte Sir John.
»Manchmal fühlte ich mich wirklich versucht, Einbrecher zu werden«, erklärte der Direktor müde. »Man möchte sich fast der ›Quadrat-Jane‹ anschließen. Die hat doch das kostbare venezianische Armband gestohlen, das der Eigentümer jetzt durch Zeitungsinserate zurückzubekommen trachtet. Sie ist als Detektivin zu Grandman gegangen und hat dort alles ausgeräumt. Sämtliche Schmuckstücke der Gäste scheinen ihr in die Hände gefallen zu sein; dann hat sie sich während der Nacht davongemacht. Unter ihrer Beute befand sich auch dieses kostbare Armband, das früher einmal einem venezianischen Dogen gehört haben soll. Das Stück allein ist schon ein Vermögen wert.
Auf jeden Fall versucht der Eigentümer, es wieder in seinen Besitz zu bringen. Er schreckt vor keinen Kosten zurück.«
»Wer ist es denn?«
»Lord Claythorpe. Seine Frau hat dieses prachtvolle Stück getragen. Sie war so eitel, es auf der Gesellschaft bei Grandman zeigen zu müssen. Claythorpe selbst ist ein erfahrener Sammler und soll ganz außer sich gewesen sein, als seine Frau ihm den Verlust mitteilte.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Dr. Parsons zog den Apparat näher heran und runzelte die Stirn.
»Ich habe den Leuten im Büro doch gesagt, daß ich während der Sitzung für niemanden zu sprechen bin.« Er nahm den Hörer ab. »Wer ist denn da?« fragte er ärgerlich.
»Ist dort Doktor Parsons?« erwiderte eine Frauenstimme.
»Ja, ich bin selbst am Apparat.«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich heute morgen Ihren Aufruf gelesen habe.«
Dr. Parsons' Züge hellten sich sofort auf. Die Klinik war sein Lebenswerk, und jede Aussicht, daß man ihr helfen wollte, wenn auch in noch so geringem Maße, beglückte ihn.
»Ich freue mich, daß der Aufruf Eindruck auf Sie gemacht hat«, sagte er halb im Scherz und halb im Ernst, »und ich hoffe, daß es nicht nur bei Worten bleiben wird. Habe ich recht mit der Annahme, daß Sie mir eventuell helfen wollen?«
Er hörte ein fröhliches Lachen am anderen Ende der Leitung.
»Sie fordern das Publikum auf, achttausend Pfund zu zeichnen, um damit die Klinik weitere sechs Monate zu unterhalten.«
»Ja, das stimmt.«
»Ich habe Ihnen zehntausend geschickt!«
Dr. Parsons hielt den Atem an.
»Was, Sie haben mir zehntausend Pfund geschickt?« erwiderte er dann verblüfft. »Sie machen sicher nur einen Scherz!«
»Nun, ich habe Ihnen nicht direkt zehntausend Pfund in barem Geld geschickt, sondern etwas, das soviel wert ist. Gestern Abend habe ich ein Päckchen an Sie aufgegeben. Haben Sie es erhalten?«
Parsons sah sich um.
»Ja, hier ist ein Päckchen, das in Clapham zur Post gegeben wurde. Stammt das von Ihnen?«
»Ja, das ist von mir. Ich bin froh, daß es Sie erreicht hat.«
»Was ist denn darin?« fragte der Doktor neugierig.
»Ein sehr wertvolles Armband, das eigentlich Lord Claythorpe gehört.«
»Wie bitte?« fragte Parsons bestürzt.
»Es ist das Armband, das ich dem Lord gestohlen habe«, erklärte die junge Dame offen. »Er hat für seine Wiederbeschaffung eine Belohnung von zehntausend Pfund ausgesetzt. Geben Sie ihm das Armband zurück, und verwenden Sie die zehntausend Pfund Belohnung für die Weiterführung Ihrer Klinik.«
»Mit wem spreche ich denn?«
»Mit der jungen Dame, die die Zeitungen ›Quadrat-Jane‹ getauft haben.«
Nach diesen Worten wurde am anderen Ende aufgelegt.
Mit zitternden Fingern riß Dr. Parsons die Schnur auf, die das Päckchen zusammenhielt.
Als die Wellpappe entfernt war, zeigte sich ein kleiner Holzkasten mit einem Schiebedeckel. Parsons öffnete ihn, und auf einem Polster von Watte sah er das berühmte venezianische Armband.
Die Sache erregte großes Aufsehen. Die Presse, die schon seit Wochen über nichts Aufregendes mehr zu berichten gehabt hatte, stürzte sich mit Begeisterung auf diese Sensation. Es gab keine Zeitung, die die Geschichte nicht in großer Aufmachung gebracht hätte.
Aber die Belohnung war nicht so einfach zu erhalten, wie sich die Presse und Dr. Parsons das gedacht hatten. Lord Claythorpe hatte durch einen Telefonanruf von der Sache gehört; Dr. Parsons selbst brachte das kostbare Stück in das vornehme Stadthaus des Lords am Belgrave Square.
Der Lord war ein verhältnismäßig kleiner, hagerer Mann mit kahlem Kopf und gelbem Gesicht, der sich leicht ärgerte. Er empfing den Arzt in seiner prachtvollen Bibliothek. Die eine Wand war, wie der Besucher sah, mit den Türen kleiner Safes bedeckt, die dort eingelassen waren. Der Lord sammelte kostbare Steine und hatte sich, um sie vor Einbrechern zu schützen, ein besonderes System ausgedacht.
Er hielt es nicht für sicher, seine kostbare Sammlung in einem einzelnen Safe aufzubewahren; er hatte sie in mehreren Stahlschränken untergebracht.
»Jaja«, sagte der Lord und runzelte die Stirn, »das ist das wertvolle Schmuckstück. Es hätte mir furchtbar leid getan, wenn es wirklich verloren gewesen wäre. Hätte mein dummes – äh, meine Frau es nicht auf die Gesellschaft mitgenommen, dann hätte ich nachher nicht derartige Umstände gehabt. Es ist eine der größten Kostbarkeiten in ganz England.«
Dann hielt er Dr. Parsons einen Vortrag über den künstlerischen und historischen Wert dieses Stückes, während der Arzt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Der Lord schien nichts von der Belohnung wissen zu wollen. Schließlich verlor der Arzt die Geduld und machte eine diesbezügliche Andeutung.
»Eine Belohnung?« erwiderte Claythorpe ungemütlich. »Ich weiß wohl, daß ich etwas Ähnliches gesagt habe, aber Sie wollen doch sicher nicht, daß Ihre Klinik auf Kosten eines Bürgers weiterbesteht, der von Verbrechern geschädigt wurde? Sie können doch schon aus moralischen Gründen nicht aus der Hand einer Einbrecherin einen Beitrag zu Ihrem Unterstützungsfonds annehmen!«
»Ich interessiere mich durchaus nicht für den moralischen Wert einer Person, die meiner Klinik eine Schenkung zukommen läßt«, erklärte Parsons kühn. »Das einzige, was mir große Sorge macht, ist der empfindliche Geldmangel, unter dem das Krankenhaus leidet.«
»Vielleicht könnte ich Ihnen eine jährliche Unterstützung von ...«
Der Doktor wartete.
»... sagen wir einmal ... zehn Pfund geben.«
»Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß Sie eine Belohnung von zehntausend Pfund ausgesetzt haben«, entgegnete Parsons ärgerlich. »Entweder zahlen Sie diese Summe, oder Sie zahlen sie nicht. Wenn Sie sich weigern, Ihr Versprechen zu halten, werde ich mich an die Presse wenden.«
»Lieber Freund, die Belohnung war ausgesetzt, damit der Dieb bestraft werden sollte«, parierte der Lord triumphierend. »Das können Sie doch nicht abstreiten. Sie haben mir den Dieb aber nicht gebracht, und Sie haben auch keinerlei Angaben gemacht, die zu seiner Ergreifung führen könnten.«
»In der Zeitung stand, daß derjenige die Belohnung erhalten solle, dessen Angaben zur Wiedererlangung des Schmuckstücks führten«, erklärte der Arzt aufgebracht. »Und ich habe Ihnen nicht nur Nachrichten gebracht, die zur Wiederbeschaffung führten, sondern ich habe Ihnen das kostbare Armband selbst gebracht! Es war wohl noch ein Satz hinzugefügt, in dem etwas von der möglichen Bestrafung des Verbrechers gesagt wurde, aber das war nicht ausschlaggebend. Ich habe mich bereits von verschiedenen Rechtsanwälten über diesen Punkt aufklären lassen.«
Sie verhandelten eine ganze Stunde miteinander. Dr. Parsons war vollkommen verzweifelt, denn er wußte, daß es nicht anging, den Lord zu verklagen. Nach langem Hin und Her nahm er schließlich viertausend Pfund an, die Lord Claythorpe widerwillig zahlte.
Am Abend gab der Lord ein großes Essen zu Ehren seiner Nichte, deren Hochzeit in zwei Tagen stattfinden sollte. Es wurde bei Tisch nur eine Rede gehalten, und zwar von Lord Claythorpe selbst. Er erzählte seinen Gästen nicht nur, wie sehr er sich gefreut habe, das kostbare Armband wiederzuerhalten, sondern er berichtete auch von der etwas dramatischen Szene, die sich bei der Übergabe abgespielt hatte.
»Der Arzt wollte zehntausend Pfund haben. Ich halte das für eine grobe Unverschämtheit. Ich weiß sehr gut, daß die Belohnung, die ich ausgesetzt hatte, viel zu hoch war. Das habe ich auch der Polizei gesagt. Das Armband hat allerdings mindestens den dreifachen Wert, aber das tut ja an und für sich nichts zur Sache. Schließlich gelang es mir, den Arzt herunterzuhandeln!«
»Das habe ich schon gelesen«, bemerkte Mr. Grandman.
»So? Das setzt mich in Erstaunen«, entgegnete der Lord argwöhnisch. »Wo haben Sie das gelesen? Ich dachte, es wäre außer mir und Parsons niemandem bekannt. Hat denn dieser verdammte Doktor etwas ausgeplaudert?«
»Das wird wohl der Fall sein. Ich habe in verschiedenen Zeitungen davon gelesen. Einige haben recht interessante Artikel daraus gemacht. Ich glaube nicht, daß Ihnen das sehr dienlich ist, Claythorpe. Wenn die ›Quadrat-Jane‹ davon hören sollte –«
»Zum Teufel, glauben Sie denn, daß ich mich um dieses Weibsstück kümmere?«
Grandman nickte und lächelte seiner Frau zu. »Ich habe auch so ähnlich gesprochen, bis mich diese Jane selber eines anderen belehrt hat«, erwiderte er mit philosophischer Ruhe. »Als ich ihr Papiersiegel an den Türen meiner Gäste sah, wußte ich, was es geschlagen hatte. Claythorpe, ich warne Sie! Diese junge Dame ist keine gewöhnliche Einbrecherin. Sie hat Ihnen das Armband zurückgeschickt, weil sie der Klinik eine Unterstützung von zehntausend Pfund zukommen lassen wollte. Wenn Sie die Summe nicht freiwillig gezahlt haben, werden Sie schon noch sehen, was Sie erleben.«
»Die soll es nur einmal bei mir versuchen«, entgegnete Lord Claythorpe ärgerlich und schnippte mit den Fingern. »Die berüchtigtsten Geldschrankknacker Europas haben es schon probiert, bei mir einzubrechen, und drei von ihnen sind auch tatsächlich so weit gekommen, daß sie die Safes selbst zu öffnen versuchen konnten. Aber Sie kennen doch mein System: Ich habe zehn Safes, und sieben davon sind immer leer. Unter diesen Umständen ist es natürlich recht schwer, bei mir einzubrechen. Lew Smith ist nach der Meinung von Scotland Yard der gerissenste Spezialist auf diesem Gebiet. Der Mann hat die halbe Nacht bei mir ›gearbeitet‹ und glücklich zwei leere Safes erwischt, die er öffnete.«
»Weiß denn außer Ihnen niemand, welche Safes Sie zur Aufbewahrung Ihrer Kostbarkeiten benützen?«
»Niemand«, entgegnete der Lord prompt. »Es ist nach menschlicher Voraussicht ziemlich ausgeschlossen, daß ein Einbruch bei mir Erfolg haben könnte.«
»Wie machen Sie denn das?« fragte Grandman interessiert. »Wechseln Sie die Safes jeden Abend?«
Lord Claythorpe nickte grinsend. »Tagsüber verwahre ich die meisten meiner Kostbarkeiten in dem großen Safe, der in der Ecke meines Arbeitszimmers steht. Dorthin bringe ich auch regelmäßig das venezianische Armband. Aber abends, bevor sich die Diener zurückziehen, lasse ich alle meine Kostbarkeiten aus dem großen Safe auf den Tisch in der Bibliothek schaffen. Mein Butler und mein Diener stehen draußen vor der Tür der Bibliothek. Dann drehe ich das Licht aus, öffne die Wandsafes in der Dunkelheit, lege die Etuis und Kästen mit den Schmuckstücken hinein, schließe die Safes und stecke die Schlüssel in die Tasche.«
Grandman brummte etwas, aber die anderen Gäste sprachen sich sehr anerkennend über die geniale Art und Weise aus, wie der Lord sein Eigentum schützte.
»Ich halte die Sache für etwas übertrieben«, meinte Grandman, der sehr nüchtern und praktisch dachte und keinen Sinn für theatralische Maßnahmen besaß, »aber schließlich ist das ja Ihre Sache und geht mich nichts an.«
»Der Ansicht bin ich auch«, bemerkte Claythorpe ein wenig unhöflich. Er war nicht gewohnt, daß jemand die Klugheit seiner Anordnungen in Frage stellte.
»Ich kann Sie allerdings nur warnen«, sagte Grandman wieder. »Die ›Quadrat-Jane‹ ist sehr gerissen. Vor der sind Sie nicht sicher, auch wenn Sie fünfzig verschiedene Safes haben und einen Polizisten zum Schutz davor postieren.«
»Ach, sprechen Sie doch nicht immer wieder von dieser ›Quadrat-Jane‹«, erwiderte der Lord unangenehm berührt. »Machen Sie sich wegen der keine Sorgen. Ich habe einen Detektiv in meinem Haus –«
Mr. Grandman lachte bitter. »Haben Sie vielleicht auch – wie ich – eine junge Dame engagiert, wenn ich fragen darf?«
»Nein, die Dummheit habe ich nicht begangen. Ich habe den besten Beamten von Scotland Yard.«
»Haben Sie Verdacht auf irgendeine Dame hier im Hause?« fragte Grandman leise.
»Wie meinen Sie das?«
»Kennen Sie alle Damen, die bei Ihnen zu Gast sind, persönlich? Wie ich sehe, sind über ein Dutzend hier.«
»Selbstverständlich kenne ich sie alle persönlich. Ich würde zu dieser Zeit keine Fremden in meinem Haus dulden. Bedenken Sie doch, daß die Hochzeitsgeschenke für meine Nichte –«
»Daran denke ich ja gerade«, entgegnete Mr. Grandman. »Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mich einmal selbst hier umsähe?«
»Ach, wollen Sie Detektiv werden?« erkundigte sich der Lord etwas ironisch.
»Ich habe meine Erfahrungen gemacht und bitter für meine Nachlässigkeit bezahlt. Und wenn man selbst einen großen Verlust erlitten hat, weiß man, wie das ist.«
So erhielt denn Mr. Grandman die Erlaubnis, alle Räume des großen Hauses am Belgrave Square zu betreten, und er machte auch einige interessante Entdeckungen.
Zunächst konnte er feststellen, daß ›der beste Beamte von Scotland Yard‹ ein Privatdetektiv war, allerdings ein tüchtiger Mann in seinem Fach, den der Lord schon öfter engagiert hatte.
»Es ist keine große Sache«, erklärte ihm der Detektiv. »Ich muß die ganze Nacht vor der Bibliothekstür sitzen und mich mit dem Rücken gegen sie lehnen. Der Lord ist merkwürdig; er will nicht haben, daß jemand in die Bibliothek geht. – Was war denn das?« fragte er plötzlich.
Sie standen ein paar Schritte von der Tür zur Bibliothek entfernt, und der Detektiv hatte ein Geräusch wahrgenommen.
»Ich habe nichts gehört«, erklärte Grandman.
»Ich möchte aber einen Eid darauf leisten, daß sich in dem Zimmer etwas gerührt hat. Würden Sie so liebenswürdig sein und hierbleiben, während ich den Lord rufe?«
»Warum gehen Sie denn nicht einfach hinein?«
»Weil der Lord die Schlüssel zur Bibliothek in der Tasche trägt«, sagte der Detektiv lächelnd. »Ich bin bald wieder hier; Sie brauchen nicht lange zu warten.«
Der Detektiv fand Lord Claythorpe am Bridgetisch, und als er meldete, was sich eben zugetragen hatte, folgte ihm der Hausherr aufgeregt zur Bibliothek. Mit zitternden Händen öffnete er die schwere Tür.
»Gehen Sie voran«, sagte er nervös zu dem Detektiv. »Den Lichtschalter finden Sie gleich neben der Tür.«
Der Raum war hell erleuchtet, aber vollkommen leer. Auf der einen Seite befand sich ein langes, vergittertes Fenster. Der Vorhang war geschlossen, und der Detektiv zog ihn auf. Aber er entdeckte nur, daß das Fenster zu und allem Anschein nach nicht geöffnet worden war.
»Das ist allerdings seltsam. Ich habe bestimmt etwas am Fenster gehört.«
»Aber das kann doch auch der Wind gewesen sein«, meinte Grandman.
»Nein, der Wind war es bestimmt nicht; alle Fenster im Hause sind fest geschlossen.«
»Aber es ist doch ganz unmöglich, daß jemand durch das Fenster ins Haus kommen kann. Der müßte sich ja zwischen den Eisenstangen durchzwängen«, sagte der Lord.
Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Ein ausgewachsener Mann kann das natürlich nicht, aber ein junges Mädchen kann vielleicht ebenso glatt durch die Gitter hindurchschlüpfen wie durch die Tür.«
»Das bilden Sie sich nur ein! Sie werden nervös«, entgegnete der Lord von oben herab. »Sehen Sie sich erst einmal gründlich in dem Raum um.«
Schränke befanden sich nicht in dem Zimmer, und auch sonst gab es keinen Platz, wo sich jemand hätte verstecken können. Die Durchsuchung des Raumes war daher sehr bald durchgeführt.
»Nun, haben Sie sich jetzt überzeugt, daß nichts geschehen ist?«
»Jawohl«, sagte der Detektiv.
Darauf gingen alle wieder hinaus, und Lord Claythorpe schloß die Tür sorgfältig ab.
Um halb zwölf waren alle Gäste mit Ausnahme von Grandman gegangen, der gern miterleben wollte; wie Claythorpe die Juwelen in den Wandsafes unterbrachte. Aber in diesem Punkt wurde er enttäuscht, denn der Lord ging allein in die Bibliothek, schloß die Tür hinter sich ab und drehte das Licht aus, damit niemand sehen konnte, in welche Safes er die Schmuckkästen legte. Es dauerte eine geraume Weile, bis der Lord wieder herauskam.
»Die Sache wäre erledigt«, erklärte er befriedigt, während er die Safe-Schlüssel in die Tasche steckte. »Kommen Sie noch mit ins Rauchzimmer und trinken Sie einen Whisky-Soda mit mir, bevor Sie nach Hause gehen. – Sie treten jetzt Ihre Nachtwache an, Johnson«, wandte er sich an den Detektiv.
»Jawohl, Mylord.«
Als sie auf dem Wege zum Rauchzimmer waren, wo der Butler die Getränke bereitgestellt hatte, erzählte Lord Claythorpe, daß er sich nicht allein auf den Detektiv verlasse, sondern zur Vorsicht auch Scotland Yard benachrichtigt habe.
»Das Haus wird bis einen Tag nach der Hochzeit von allen Seiten dauernd bewacht«, sagte er.
»Das ist eine ganz vernünftige Maßnahme«, bestätigte Mr. Grandman.
Er trank einen starken Whisky-Soda und ging dann, begleitet von seinem Gastgeber, in die Halle, wo ihm ein Diener beim Anziehen seines Mantels half. Er wollte gerade gute Nacht sagen, als an der Haustür plötzlich laut geklopft wurde. Der Butler eilte durch die Halle, und als er geöffnet hatte, sah man draußen zwei Männer, die eine schlanke, jugendliche Person festhielten.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte der eine triumphierend. »Wir haben sie gefaßt. Können wir sie hereinbringen?«
»Was? Sie haben sie schon gefangen?« fragte der Lord atemlos. »Wer ist es denn?«
Das junge Mädchen, das die beiden festhielten, war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Ein dichter, dunkler Schleier, der an ihrem kleinen Filzhut befestigt war, bedeckte ihr Gesicht.
»Wir haben sie unter dem Fenster Ihrer Bibliothek überrascht«, sagte der eine der beiden selbstbewußt und befriedigt.
Johnson brummte ärgerlich etwas vor sich hin.
»Wer sind Sie denn?« fragte der Lord.
»Sergeant Felton von Scotland Yard. Ich vermute, daß Sie der Hausherr selbst sind?«
»Jawohl.«
»Wir hatten den Auftrag, das Haus zu bewachen, und wir sahen diese junge Dame, als sie vom Bibliotheksfenster aus den Weg nach den Ställen entlanglaufen wollte. – Also, mein schönes Kind, nun wollen wir uns einmal Ihr Gesicht ansehen.«
»Nein, nein, nein!« rief sie verzweifelt. »Das ist ausgeschlossen! Aus wichtigen Gründen geht das nicht. Der Chef von Scotland Yard weiß davon.«
Der Kriminalbeamte zögerte und sah auf seinen Kollegen.
»Ich glaube, es ist besser, wir verständigen zunächst den Inspektor von Scotland Yard, der den Fall bearbeitet, und unternehmen im Augenblick nichts weiter, Mylord.«
Er zog ein paar Handschellen aus der Tasche.
»Strecken Sie die Hände aus«, sagte er barsch und ließ dann die glänzenden Stahlringe um ihre Handgelenke einschnappen.
»Haben Sie einen sicheren Raum, Mylord, wo wir sie einschließen können, bis der Inspektor kommt, um sie persönlich zu verhören?«
»Ja, meine Bibliothek.«
»Ist die Tür auch stark genug?«
Lord Claythorpe lächelte, ging selbst voraus und schloß die Tür auf. Dann drehte er das Licht an, und das junge Mädchen in Schwarz wurde hineingeführt und auf einen Stuhl gesetzt.
Der Beamte nahm einen Riemen aus der Tasche und band ihre Fußgelenke zusammen.
»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte er zu ihr. »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber das werden wir ja bald erfahren. – So, und jetzt möchte ich telefonieren. Würden Sie gestatten, daß ich Ihren Apparat benütze?«
»Selbstverständlich. Sie können von der Halle aus sprechen.«
Der Sergeant sah nachdenklich auf die Gefangene, dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.
»Es ist gefährlich, sie allein zu lassen, Robinson«, wandte er sich an seinen Kollegen. »Sie bleiben besser bei ihr und bewachen sie. Lassen Sie sie keinen Augenblick aus den Augen!«
Mit Ausnahme von Robinson gingen alle hinaus, und der Lord verschloß die Tür sorgfältig, während der Sergeant zum Telefon ging.
»Übrigens – können Sie Robinson hören, wenn er rufen sollte?« fragte er noch.
»Nein, das ist ausgeschlossen«, entgegnete Claythorpe prompt. »Die Tür ist so dick und massiv, daß man draußen nichts hört. Aber ein Beamter von Scotland Yard wird doch wohl imstande sein, mit einem gefesselten Mädchen fertig zu werden!«
Grandman hatte alles mit angesehen und bisher geschwiegen; jetzt aber lächelte er, denn er gab sich keinen Täuschungen über die Fähigkeiten der jungen Dame hin. Zu gern wollte er das Ende dieses Abenteuers miterleben.
Inzwischen hielt die Gefangene in der Bibliothek Robinson ihre Handgelenke hin, und im nächsten Augenblick hatte er die Handschellen aufgeschlossen. Sie bückte sich dann und band den Lederriemen auf, der ihre Füße zusammenhielt. Darauf ging sie sofort zu der Wand, in die die zehn Safes eingelassen waren.
Schnell prüfte sie die Stahltüren der einzelnen Tresore.
»Dies sind die drei, Jimmy«, sagte sie.
»Ich möchte nur wissen, woher Sie das erfahren haben.«
»Die Sache war sehr leicht. Sobald ich hereinkam, klebte ich dünne schwarze Seidenfäden über die einzelnen Türen. Diese drei sind zerrissen; daraus geht klar hervor, daß sie geöffnet worden sind. – Zuerst wollen wir einmal diesen hier versuchen. Geben Sie mir die Schlüssel.«
Der ›Kriminalbeamte‹ öffnete ein kleines Lederetui, das er aus der Tasche geholt hatte, und zog einige merkwürdig geformte Instrumente heraus. Dreimal versuchte sie zu öffnen, aber jedesmal zog sie das Werkzeug wieder aus dem Schlüsselloch, um die Spitze ein wenig zu verändern. Beim vierten Mal schnappte das Schloß auf, und die schwere Stahltür öffnete sich.
»Da haben wir ja Glück, daß wir es gleich richtig gemacht haben«, sagte sie triumphierend.
Sie nahm ein großes Etui aus dem Innern des Safes, öffnete es und warf einen Blick auf den Inhalt, dann schob sie es in eine lange Seitentasche ihres Kleides. Dann nickte sie ihrem Begleiter zu.
»Öffnen Sie schnell das Fenster, aber machen Sie vorher das Licht aus. Es wird etwas schwierig für Sie sein, durch die engen Eisengitter zu kommen, Jimmy, aber Sie werden es schon schaffen. Mir hat es nicht die geringste Mühe gemacht.«
Draußen in der Halle hatte der Sergeant Mühe mit dem Telefon. Schließlich legte er den Hörer wieder auf und wandte sich verzweifelt an den Lord.
»Ich kann den Inspektor nicht erreichen. Wenn Sie nichts dagegen haben, fahre ich schnell selbst nach Scotland Yard; ich habe ein Motorrad draußen. Vielleicht gehen Sie so lange in die Bibliothek und leisten meinem Kollegen Gesellschaft.«
»Das werde ich nicht tun«, erwiderte der Lord entrüstet. »Ein Beamter von Scotland Yard kann doch wohl allein mit einem solchen Auftrag fertig werden. Ich bin es nicht gewohnt –« Er mußte Luft holen.
»Sehr wohl, Mylord«, entgegnete der Sergeant respektvoll.
Kurz darauf hörte man ihn auf seinem Motorrad davonfahren.
»Wir wollen doch lieber einmal nachsehen und den Rat des Sergeanten befolgen«, meinte Grandman. »Schaden kann das doch auf keinen Fall.«
»Aber mein lieber Freund«, fuhr der Lord ärgerlich auf, »ein Polizeibeamter wird doch wohl noch so ein schwaches Mädchen bewachen können. – Meinen Sie nicht auch, Johnson?«
Der Privatdetektiv antwortete nicht sofort.
»Gewiß, Mylord. Aber ich möchte doch auch sagen, daß ich mich unbehaglich fühle, wenn diese›Quadrat-Jane‹ sich in dem gleichen Raum aufhält, in dem sich auch die Juwelen befinden.«
»Donnerwetter!« rief der Mylord atemlos. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber es ist ja ein Polizeibeamter bei ihr. Sie kennen den Mann doch, Johnson?«
»Nein, ich kenne ihn nicht«, erklärte der Privatdetektiv. »Ich komme nicht oft mit den Beamten von Scotland Yard zusammen. Es sind so viele, und sie wechseln häufig von einer Abteilung in die andere. Es ist daher schwierig, die einzelnen Beamten im Auge zu behalten.«
Der Lord dachte einige Zeit nach, dann packte ihn eine entsetzliche Angst.
»Vielleicht haben Sie doch recht, Grandman«, sagte er schließlich. »Wir wollen in die Bibliothek gehen und nachsehen.«
Er steckte den Schlüssel in das Schloß der schweren Tür und drehte ihn um. Als er öffnete, war das Zimmer dunkel.
»Sind Sie hier?« schrie der Lord so bestürzt und ängstlich, daß Grandman sich das Lachen verbeißen mußte.
Johnson war inzwischen ins Zimmer getreten und hatte das Licht eingeschaltet. Nun zeigte sich, daß der Raum vollkommen leer war.
Lord Claythorpe sah sofort nach der Wand mit den zehn Safes hinüber. Neun waren geschlossen, aber auf einem, dessen Tür offenstand, klebte ein viereckiges Stück Papier. Grandman war der erste, der es entdeckte, und er wußte auch gleich, was das zu bedeuten hatte.
»Was ist das?« fragte der Lord mit zitternder Stimme und zeigte auf das Papiersiegel.
»Die Visitenkarte der ›Quadrat-Jane‹!«