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John Sands hatte unbegrenztes Vertrauen zu den Sternen, und als gewissenhafter, methodischer Mann wählte er schon frühzeitig Bellatrix zu seinem Schutzstern, den die Gelehrten auch als »Gamma Orionis« bezeichnen.


Aber weder das Sternbild des Orion noch Bellatrix waren am Himmel zu sehen, als John in seinem eleganten Wagen die scharfe, gefährliche Kurve bei Whitecross Hill nahm. Seit drei Tagen regnete es, graue Wolken hingen über ihm, und die Straße war glatt und glitschig. Selbst der beste Gleitschutz hätte ihm nicht geholfen, wenn er auch um nur einige Zentimeter vom Fahrdamm abgewichen wäre.


Aber John Sands vertraute nicht nur seinem Stern, sondern auch seinem eigenen Können – und er war ein äußerst geschickter Fahrer. Mit der einen Hand hielt er das Steuer, mit der anderen die Handbremse. Er war gewarnt worden; man hatte ihm gesagt, daß dieser kurze Weg den Hügel hinunter bei Regen für einen Wagen unpassierbar wäre. Aber lächelnd hatte er den guten Rat der anderen zurückgewiesen, denn sein Glaube an Bellatrix war unerschütterlich.


Er baute gern Luftschlösser und liebte es, von zukünftigen Erfolgen zu träumen. Sogar während dieser gefahrvollen Fahrt hing er seinen sonderbaren Gedanken nach.


Vielleicht würde er sie tatsächlich treffen? Es war allerdings eine phantastische Idee, aber in seinen Träumen ereigneten sich manchmal die unglaublichsten Dinge. Und hatte er nicht, nur um der Frau zu begegnen, diesen kurzen, aber äußerst gefährlichen Weg gewählt? Vielleicht würde sich seine Hoffnung erfüllen, und er würde sie sehen. Dann wollte er auf sie zugehen, sie bei der Hand nehmen und sagen: Ich kenne Sie. Sie müssen mit mir kommen, ich will Sie nach London zurückbringen.


Er wußte nicht, wie sie aussah, und doch träumte er von ihr. Wahrscheinlich würde sie blaß und furchtsam sein und zurückschrecken, wenn er auf sie zukam. Mit weitgeöffneten Augen würde sie ihn anstarren, und Furcht und Hoffnung würden in ihren Gesichtszügen um die Oberhand kämpfen. Aber wer sagte ihm denn, daß seine Träume sich verwirklichen würden? Vielleicht war sie auch klein und korpulent und unglaublich häßlich und gemein. Aber solche Personen hatten natürlich mit Johns Träumen nichts zu tun. Sie hatten kein Recht, seine Phantasie zu beschäftigen. Die Frauen seiner Träume waren alle schön und zeichneten sich durch Haltung und Charakter aus.


Am Fuß des Hügels wurde er etwas unsanft aus seinen Träumen gerissen, denn das Benzin war ausgegangen, und der Wagen stand still. John stieg aus. Bis jetzt hatte er mollig gesessen, aber nun schlugen ihm die Regentropfen ins Gesicht. Er suchte nach einer Kanne Benzin, um den Tank aufzufüllen, setzte sich dann wieder ans Steuer und fuhr nach der Great North Road.


Trotz dieser unangenehmen Unterbrechung sang er vergnügt, während er die nächste Anhöhe nahm. Und wieder träumte er von vielen herrlichen Dingen in der Zukunft. Er war davon überzeugt, daß er die Frau finden würde. Vielleicht lag sie erschöpft am Wege. Dann würde er aus dem Wagen springen, sie in die Arme nehmen und in Sicherheit bringen, in eine warme Wohnung, wo sie nicht zu frieren brauchte und nicht den Unbilden des Wetters ausgesetzt war. Allmählich würde sie wieder zu sich kommen, verwirrt um sich sehen und...


Plötzlich hielt er seinen Wagen an. Sein Herz schlug auf einmal schneller.


Unter einem Baum stand sie, dicht an den Stamm gelehnt, um Schutz vor dem strömenden Regen zu suchen. Vielleicht hätten andere Leute sie nicht gesehen, aber Johns Augen waren scharf, und er entdeckte sie trotz ihres dunklen Kleides, das sich kaum von der Umgebung abhob.


Noch bevor er sie ansprach, sagte ihm sein Gefühl, daß sie es sein müsse. Es lag eine gewisse Schönheit über ihrem bleichen Gesicht, so daß seine Träume tatsächlich in Erfüllung gingen. Sie trug weder Schirm noch Mantel, und ihr schwarzes Kleid war vollkommen durchnäßt. Der Filzhut hatte die Form verloren, und ihre schwarzen Glacéhandschuhe zeigten helle Flecken, als ob sie mit dem Lehmboden in Berührung gekommen wären.


Sie richtete sich auf und warf den Kopf zurück. Offenbar nahm sie alle ihre Energie zusammen. Ihr Blick war haßerfüllt, ihre Lippen zitterten, aber sie brachte zunächst kein Wort heraus.


John Sands hatte den Hut abgenommen. Er war in einer so glücklichen Stimmung über diese unverhoffte Begegnung, daß er all die schönen Worte vergaß, die er sich vorher überlegt hatte.


»Ich glaube, ich kenne Sie. Ich habe dort unten von Ihnen gehört«, begann er und wies mit dem Kopf nach dem Hügel.


Sie sah hilflos und verzweifelt aus und schien krampfhaft zu überlegen, ob es nicht einen Ausweg für sie gäbe.


»Rühren Sie mich nicht an«, sagte sie atemlos und streckte die Hände aus. »Nein, ich will nicht...! Ich gehe unter keinen Umständen zurück – lieber will ich sterben!«


Er legte die Hand auf ihren Arm und klopfte ihr freundlich auf die Schultern.


»Die Leute unten im Gasthaus haben über Sie gesprochen, und ich habe ihre Unterhaltung gehört«, suchte er sie zu beruhigen. »Ich weiß nichts weiter von Ihnen – und ich will auch nichts weiter wissen«, fügte er schnell und unnatürlich laut hinzu. »Sie brauchen mir nichts zu sagen, ich will Sie durchaus nicht mit Fragen quälen.«


Bestürzt sah sie ihn an.


»Was wollen Sie denn?«


»Steigen Sie in den Wagen ein. In fünf Minuten sind wir auf der North Road, und dann bringe ich Sie nach London. Ich habe ein gemütliches Haus in der Charles Street.«


Sie zögerte. »Ja, wissen Sie denn...?«


»Natürlich, ich weiß«, erwiderte er bestimmt. »Wenigstens weiß ich alles, was ich wissen will, und mehr brauche ich nicht zu erfahren. Merken Sie sich das bitte – ich – will – weiter – nichts – wissen!«


Als sie an ihm vorbeiging, sah er, daß ihre leichten Schuhe schmutzig waren von dem weichen Lehm und daß ihr Kleid tropfte.


»Nehmen Sie auf dem hinteren Sitz Platz«, befahl er. »Ich freue mich, daß Sie schön sind«, fügte er dann hinzu.


Unwillkürlich mußte sie lachen. Sie machte auch ein freundlicheres Gesicht und gefiel John Sands nun schon bedeutend besser.


Er hielt nur noch so lange, bis er eine weitere Kanne Benzin in den Tank gefüllt hatte, dann ließ er den Wagen an.


Ohne weiteren Zwischenfall erreichte er die North Road, und nun brauchte er nicht länger ungewissen Träumen nachzuhängen, denn sie waren inzwischen Wirklichkeit geworden. Er fuhr langsamer, als er an einem Geschäft für Damenkleider vorüberkam, und sah sich unentschlossen nach seiner Begleiterin um. Dann murmelte er eine Entschuldigung und setzte die Fahrt fort.


Bei ihrer Ankunft in London war die Dunkelheit bereits hereingebrochen, und er brachte den Wagen vor der Tür seines kleinen Hauses in der Charles Street zum Stehen.


»Steigen Sie noch nicht aus«, sagte John Sands.


Er öffnete die Tür und ging um das Auto herum, dann machte er den Schlag für sie auf und half ihr beim Aussteigen. Vielleicht war diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig, aber John Sands überließ gar nichts dem Zufall. Man konnte nie wissen...


Gleich darauf stand sie in der hell erleuchteten Diele. Er schloß die Tür und machte dann eine andere vor ihr auf. Dann trat sie in einen großen Raum, von dem aus eine schöngeschnitzte Treppe zum oberen Stockwerk führte. Schon in dem Dämmerlicht konnte sie sehen, daß der Raum mit einem gewissen Luxus ausgestattet war. Aber nachdem Sands die schweren Samtvorhänge heruntergelassen und das elektrische Licht eingeschaltet hatte, staunte sie doch über das geschmackvoll eingerichtete, gemütlich wirkende Wohnzimmer.


Er betrachtete sie kritisch und konnte nicht umhin, ihre schönen Züge und ihre fast königliche Haltung zu bewundern.


»Ich glaube kaum, daß es in London viele Damen gibt, die unter solchen Umständen so gut wie Sie aussehen und ihre Fassung bewahren können«, meinte er. »Was machen wir nun aber mit Ihren Kleidern? Auf der Herfahrt hatte ich schon die Absicht, vor einem Geschäft in einer der Vorstädte zu halten, aber ich bin dann doch weitergefahren. Es hat schließlich keinen Zweck, sich unnötig einer Gefahr auszusetzen. Aber wir werden die Schwierigkeit schon überwinden und die Kleiderfrage lösen.«


Er gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und sie stiegen beide die mit weichen Teppichen belegte Treppe hinauf. Die Frau mußte stundenlang dem Regen ausgesetzt gewesen sein, denn das Wasser tropfte von ihren Kleidern.


»Ich werde Ihnen einen Schlafanzug und einen Bademantel von mir geben. Damit müssen Sie sich vorläufig schon begnügen. Morgen besorge ich dann alles, was Sie brauchen.«


Ein neugieriger Blick traf ihn.


»Warum tun Sie das alles?« fragte sie. Es waren die ersten Worte, die sie seit langer Zeit äußerte.


Plötzlich überkam ihn Furcht. Vielleicht hatte er sich doch geirrt, und sie war gar nicht die Frau, die er suchte? Er hatte doch nur angenommen, daß sie es sein mußte, ein Irrtum war nicht ausgeschlossen.


»Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand.«


Langsam streifte sie die schmutzigen Handschuhe ab, und er betrachtete ihre Hände genau. Sie waren rauh und rot wie die einer Arbeiterin. Dann wanderte sein Blick von ihren harten, schwieligen Fingern zu ihrem schönen, feingeschnittenen Gesicht.


»Eben habe ich beinahe einen Schrecken bekommen«, sagte er, »aber es ist alles in Ordnung. Was fragten Sie doch?«


»Ich wollte wissen, was all diese Güte und Freundlichkeit zu bedeuten hat.«


Er zuckte die Schultern.


»Mein liebes Kind, ich habe Ihnen einen sehr großen Dienst erwiesen, ich habe Ihnen gleichsam ein großes Geschenk gemacht, und Sie kennen ja das Sprichwort: ›Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul!‹ Ich weiß nicht viel von Ihnen, aber ich vermute, daß Sie vom Schicksal hart mitgenommen und in diesem Augenblick wahrscheinlich gern bereit sind, alles Mögliche zu tun, um ein ruhiges, sorgenfreies Leben zu führen. Verstehen Sie mich aber bitte nicht falsch. Ich verlange nichts von Ihnen, was Ihre Selbstachtung als Frau beleidigen könnte.« Die letzten Worte hatte er hastig hinzugefügt.


Sie lachte sonderbar.


»Es gibt wenig, was ich nicht tun würde, um wieder ruhig und friedlich leben zu können«, erwiderte sie leise. »Wo kann ich Sie treffen, wenn ich mich umgezogen habe?«


»Ich bin unten im Wohnzimmer. Ich wohne allein hier im Haus. Inzwischen werde ich mit der Garage telefonieren, daß mein Wagen abgeholt wird. Nachher können wir miteinander reden.«


»Kennen Sie meinen Namen?«


»Nein, den weiß ich nicht. Und ich will ihn auch nicht wissen. Sagen Sie mir nur den Vornamen.«


»Margaret.«


»Für mich sind Sie also Margaret Smith«, sagte er bestimmt. »Und Margaret Smith ist doch ein Name, den man leicht behalten kann.«

Die Millionengeschichte

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