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AUFBRÜCHE

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Zwölf Tage später

Noch ahnte Sabrina Brendle nichts vom Ausgang des Abends und von so ungewohnten Gefühlen wie Unbehagen oder gar Angst. Sie war ohnehin nicht nah am Wasser gebaut, Tränen gab es bei ihr höchstens im Zorn oder wenn sich Enttäuschung in Ärger oder Groll verwandelte. Wie hätte sie auch jetzt, als sie den Blick über den dunkel schimmernden Atlantik schweifen ließ und ihre Gedanken sich auf den nächsten wundervollen Tag am Kap der Guten Hoffnung konzentrierten, voraussehen können, dass sich alles nur durch ihre Unvorsichtigkeit und Neugier ändern würde.

Wie gewohnt hatte sich die Köchin am späten Abend zunächst einen kühlen Schluck gegönnt, nachdem die letzten Gäste im Restaurant des schicken Boutique-Hotels gegessen hatten. Sabrina genoss den erfrischenden Gin Tonic und dachte an Richie. »Gin ist bei uns kein Alkohol«, hatte er mal gesagt, »Gin ist Medizin. Im Busch trinken wir es gegen Malaria.« Sie schmunzelte, und ihre tiefbraunen Augen blickten hinunter auf den endlosen Sandstrand zu ihren Füßen, während der leichte Wind vom Kap sanft mit ihren dunklen, kinnlangen Haaren spielte.

Das Ouplaas Cape Town Boutique Hotel lag malerisch auf einer Klippe am Fuß des Tafelbergs mit einer herrlichen Sicht auf die Bucht und den endlosen Sandstrand von Camps Bay. Ou Plaas, wer immer diesen alten Platz einst entdeckt und dort das kleine, trendige Hotel gebaut hatte, muss ein Träumer gewesen sein, denn hier oben war ein Ort für Träume, und das nicht nur während der traumhaften Sonnenuntergänge.

»Bisschen spät für einen Sundowner«, dachte Sabrina, doch früher am Abend hatte sie einfach keine Zeit dafür. Die Sterneköchin hatte noch einen letzten Blick ins Restaurant geworfen, um sicher zu sein, dass niemand mehr die Küchenchefin persönlich sprechen wollte. Dies kam in den letzten Monaten, seit sie in Kapstadt zur Trendköchin des Jahres gekürt worden war, immer häufiger vor.

Sabrina hatte es geschafft, sie hatte erreicht, was sie wollte, und man wusste ihr Können in gewissen gesellschaftlichen Kreisen zu schätzen. Es war chic geworden, sie für Firmenevents und private Veranstaltungen in Capetown selbst, aber auch in den Cape Winelands von Stellenbosch bis Paarl zu buchen, um für die Gäste kulinarische Delikatessen zu zaubern.

Doch Sabrina war keine Frau, die sich gerne auf ihren Erfolgen ausruhte. In ihrem Metier war es unüblich, für lange Zeit am selben Ort zu bleiben, und es war ihr bewusst, dass es irgendwann eine neue Herausforderung in einer der namhaften Küchen dieser Welt für sie geben würde. Dies würde gleichbedeutend sein mit einem Abschied von Südafrika. Es war nur eine Frage der Zeit, gestand sie sich ein und verdrängte die in ihr aufkeimende Wehmut mit Gedanken, bei denen sie gleich dreifachen Grund zur Freude empfand:

»Nur wenige Tage noch, dann kochst du auf Hoopengeluk!«

Das Weingut der Familie van Wynsberghe lag in Constantia Valley, in den Weinbaugebieten südlich des Tafelbergs, direkt neben Volstruis Willow, Richies kleiner Straußenfarm, und sie würden sich mehr als einmal in der Woche sehen können. Zudem würde sie auf der Gala Chakalaka einmal wieder die Gerichte ihrer Heimat kochen können, denn der Gutsherr von Hoopengeluk hatte sich eine Begegnung von südafrikanischer und schwäbischer Küche, die er bei einem Aufenthalt in Deutschland kennen- und lieben gelernt hatte, gewünscht. Und Maultaschen in Südafrika zu kochen, war selbst für Sabrina eine kleine Herausforderung. Drittens aber gab es mit großer Wahrscheinlichkeit ein Wiedersehen mit Isabel. Ihre beste Freundin aus dem Schwarzwald hatte gute Chancen, den Kochwettbewerb zu gewinnen und als ersten Preis an ihrer Seite bei der Gala auf Hoopengeluk zu kochen. Was für eine traumhafte Vorstellung!

Sabrina wurde von den Stimmen der Gäste, die jetzt mit ihren Drinks auf die Aussichtsplattform kamen, aus ihren Gedanken gerissen und zog sich langsam zurück. Der Wind trieb die feuchte Luft des Atlantiks gegen den Tafelberg, und schon bald würde des Teufels Tischtuch über die zerklüfteten Flanken des Massivs gleiten, und die Sterne würden sich hinter den Wolken verstecken.

Sabrina suchte den Hinterhof des Hotels auf, wie sie es jeden Tag nach Feierabend tat. Der Ort war zwar alles andere als romantisch zwischen den mannshohen Müllcontainern, doch hier war sie allein und wurde von niemandem gestört, ein idealer Platz, um nach der Hektik in der Küche zur Ruhe zu kommen, den letzten Schluck Gin Tonic zu trinken und ihren Gedanken nachzuhängen. Meistens dachte sie in diesen Augenblicken an Richie.

Sie hatten sich hier im Ouplaas kennengelernt, wo er nach einer Besprechung mit einem Geschäftspartner noch einen Drink an der Bar nahm.

An seiner sonnengebräunten Haut und dem durchtrainierten Body, der sich unter der eng anliegenden Jeans und dem oben offenen Hemd abzeichnete, hatte sie erkannt, dass er körperlich arbeitete. Darin unterschied er sich von den meisten anderen Hotelgästen, die ihre Tage im Anzug bei Meetings in einem der vielen klimatisierten Geschäftshäuser in Kapstadt verbrachten.

Wäre sie einen anderen beruflichen Weg gegangen, wäre auch sie vielleicht heute als Betriebswirtin in diesen Kreisen aktiv, sinnierte Sabrina. Aber vielleicht bescherte ihr die erfolgreiche Karriere als Köchin doch die größere Vielfalt und vor allem mehr Genuss.

Sie grinste. Verzichten musste sie auf nichts. Die Männer in ihren gut sitzenden Anzügen übten eine besondere Anziehungskraft auf sie aus, dessen war sie sich bewusst, doch sie stand neben gutem Aussehen auch vor allem auf gutes Benehmen. Hotelgäste waren zwar im Allgemeinen tabu, aber die lockere und dennoch charmante Art des Typs an der Bar, der sie optisch an den jungen Clint Eastwood erinnerte, hatte sie neugierig gemacht. Er hatte genau das markante Gesicht, mit ein paar Fältchen unter den Augen, das ihr bei Männern so gefiel.

Sabrina schätzte ihn ungefähr zehn Jahre älter als sie selbst, und sie ertappte sich schon beim ersten Drink, den er ihr ausgab, wie sie mit einer gewissen Freude seinen nackten rechten Ringfinger erblickte. Drei Drinks später, als die letzten Gäste längst die Bar verlassen hatten, fielen jene Worte, die sie bis heute nicht vergessen hatte:

»Bitte begleiten Sie mich auf meine Farm.«

Sein Blick hatte etwas Betörendes, und die Wärme seiner Stimme hatte kein »Nein« zugelassen. Noch am selben Abend waren sie auf seine Farm gefahren.

Erneut waren es Stimmen, die Sabrina jetzt aus ihren Gedanken rissen. Eine davon, männlich, zwar leise, aber direkt, die andere verzerrt aus einem Telefon. Als sie die ersten Worte des auf Englisch geführten Telefonats wahrnahm, wollte sie sich diskret zurückziehen, doch beim Wort Chakalaka blieb sie abrupt stehen. War damit die Gala auf dem Weingut gemeint, für die sie in wenigen Tagen kochen sollte? Als ihr dann noch die Wortfetzen »how to destroy« zu Ohren kamen, erstarrte sie in ihrer Bewegung. »Zerstören? Ruinieren!« Was sollte hier ruiniert werden?

Sabrina duckte sich zwischen die Container und lauschte angestrengt. Jetzt redete der andere, zwar laut genug, um das Kratzen der Silben und die Satzmelodie bis zu ihr zu tragen, jedoch konnte sie kein Wort verstehen. Sie entdeckte die füllige Silhouette des telefonierenden Mannes bei den Mülltonnen, die rechts von ihr standen. Er lehnte seitwärts an einen der größeren Container und atmete schwer. Ein seltsames Knacken irritierte sie. Sie schob sich vorsichtig auf die Zehen und erkannte die kantige Bewegung seiner Hände, während er das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte. Er schien äußerst nervös zu sein. Da der Übergewichtige nicht Afrikaans, sondern Englisch redete, schien zumindest er kein Südafrikaner zu sein.

Sie hatte die Augen geschlossen, um sich auf seine Worte zu konzentrieren, doch es war ihr weder möglich, mehr als einzelne Silben oder etwas lauter gesprochene Satzfragmente herauszuhören, noch die Stimme zu identifizieren, die aufgeregt und dann wieder geheimnisvoll klang.

Noch einmal hörte sie Chakalaka und dann einige zusammenhanglose englische Wortfetzen, von denen ihr effective, poisonous und secretly einen Schauder über den Rücken jagten.

Wirkungsvoll? Giftig? Geheim? Was, verdammt, ging hier ab? Während sie noch darüber nachdachte, vernahm sie deutlich »flight to Frankfurt«, und wie er Frankfurt aussprach – das war eindeutig Deutsch!

Sabrina versuchte, aus dem bisher Gehörten einen Zusammenhang herzustellen. Als jetzt noch die Worte »Black Forest« fielen, entwich ihr ein leiser Schrei, und sie erstarrte. Black Forest – der Schwarzwald! Ihre Heimat! Was hatte das alles zu bedeuten? Noch während sie darüber nachdachte, war die Stimme plötzlich verstummt. Sie spähte aus ihrem Versteck, der Korpulente war verschwunden.

Sabrina hatte genug gehört. Nach Spaß und Jux hatten die abgehackten Satzfetzen und die Heimlichtuerei des Wortführers nicht geklungen. Schon wollte sie sich zurückziehen, als sie ein laut schepperndes Geräusch herumfahren ließ. Sie erkannte die korpulente Silhouette, sah noch das Handy in seiner Hand aufblitzen, und was dann passierte, geschah so schnell, dass sie keine Chance hatte, sich dagegen zu wehren.

Ein zweiter Mann tauchte auf, und ein Sack wurde ihr von hinten über den Kopf gestülpt. Sabrina war es nicht gewohnt, sich widerstandslos zu ergeben, und sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Angreifer. Ihre Schreie erstickten unter der Hülle, die mit ein paar Stricken festgezogen wurde. Die junge Frau schlug um sich, doch ihre Arme wurden von starken Händen gepackt und auf dem Rücken verschnürt. Sie versuchte, mit ihren Füßen gegen die Schienbeine der Männer zu treten und ihnen ein Knie in den Unterleib zu stoßen, doch sie hatte gegen die starken Körper keine Chance. Ihre strampelnden Beine wurden gepackt und mit Klebeband umwickelt, sie wurde hochgehoben wie ein Stück Kleinvieh, das zur Schlachtbank getragen wurde, und auf eine kalte, kahle Fläche geworfen. Dann war es nur noch dunkel und – bis auf ihren eigenen, keuchenden Atem – still.

Sabrina hörte in sich hinein, doch bei aller Angst, die sie in dieser Situation haben sollte, überwog die Wut. Selbst schuld! Wer seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen, muss auch mit den Konsequenzen klarkommen! Aber gingen sie diese Dinge wirklich nichts an? Ging es nicht um ihre Gala? Was sie gehört hatte, klang wahrlich nicht nach einer gelungenen Überraschung für die Gala Chakalaka, im Gegenteil. Warum sonst hätte man sie aus dem Verkehr ziehen sollen? Wer waren die beiden Männer, die sie überwältigt hatten, und mit wem hatte der Korpulente telefoniert? Welchen dunklen Machenschaften war sie auf die Schliche gekommen? Und was hatten sie mit ihr vor?

Als sich der Wagen gefühlt Stunden später holpernd in Bewegung setzte, befürchtete sie, dass man sie jetzt als unliebsame Zeugin ausschalten würde. Mit einem Mal verspürte sie ein seltsames Unbehagen in sich aufkeimen. Es war ein Gefühl, das sie weder kannte noch mochte, und dazu flüsterte ihre innere Stimme wieder und wieder: »Wie ruinieren wir Chakalaka …?«


Isabel Conrad saß vor dem kleinen Café auf dem größten Marktplatz Deutschlands in der Sonne und genoss ihren Cappuccino. Es war ihr Lieblingscafé, das sie regelmäßig aufsuchte, wenn sie sich einen ihrer seltenen »Genusstage« – wie sie es immer nannte – gönnte und zum Bummeln ins nahe Freudenstadt oder über die Schwarzwaldhochstraße nach Baden-Baden fuhr.

Jetzt waren Betriebsferien im Conradshof, und sie hatte den ersten wirklich freien Tag seit Wochen. Der ehemalige Bauernhof hatte sich seit 1912 von einer Hofschänke und Dorfwirtschaft zum Hotel mit 18 Zimmern entwickelt. Als ihre Großeltern es von deren Eltern übernommen hatten, war es eine Goldgrube gewesen, und sie hatten es zu einem der führenden Häuser zwischen Murg- und Nagoldtal gemacht. Hätte es damals diesen Begriff schon gegeben, wäre es sicherlich ein sogenannter »Place to be« gewesen. Genau das wünschte sich Isabel für den Conradshof heute.

Isabel hatte sich entschlossen, ihren ersten freien Tag ganz den Dingen zu widmen, die in der letzten Zeit deutlich zu kurz gekommen waren – neuen Klamotten, ihrem Äußeren und vor allem sich selbst. Vom Besuch im Kosmetiksalon ihrer Freundin hatte sie sich auf ihren Fingernägeln ein schönes aufgestempeltes Hirschgeweih mitgebracht, das sie, jetzt, im Schein der langsam schwindenden Nachmittagssonne, mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete.

»Stilecht, und doch mal wieder etwas Ausgefallenes«, dachte sie.

Diese Kombination war typisch für Isabel. Ja, sie war das, was man sich unter einem Schwarzwälder Mädel vorstellte, geboren, aufgewachsen und verwurzelt in ihrem Heimatort im nördlichen Schwarzwald. Wenn es aber etwas gab, das neu und ungewöhnlich war, konnte sie sich dafür begeistern und musste es haben.

In zwei Stunden würde sie sich mit Nina, die sie noch aus ihrer Schulzeit kannte und die inzwischen mit Mann, Kind und Hund in Baiersbronn zu Hause war, in der trendigen Pizzeria Da Angelo treffen; sie würden gemütlich essen und über alte Zeiten philosophieren, an die sie sich beide meist mit ganz viel Lachen erinnerten.

Isabel dachte gerne an ihre unbeschwerte Kindheit und ihre Jugendzeit zurück. Gemeinsam mit ihren beiden älteren Brüdern war sie zwischen Schule, Hotel und Natur aufgewachsen. Ihr Großvater hatte ihr beigebracht, was sie vom Wald und seinen Bewohnern wissen musste, und sie sogar mit auf die Jagd genommen. Bald war sie die beste Pilzkennerin im Tal, wusste die Namen von Heil- und Giftpflanzen und konnte die Eichhörnchen, denen sie Namen gab, voneinander unterscheiden. Der Wald und seine Täler, das war der Abenteuerspielplatz ihrer Kindertage, die drei Stockwerke im Hotel und der weitläufige Keller mit seinen zahlreichen Räumen bildeten die Kulisse für Versteckspiele und Fangen an Regentagen.

Isabels Großeltern hatten den Conradshof an ihren einzigen Sohn übergeben, als klar war, dass die Frau an seiner Seite für den Hotelbetrieb wie geschaffen war und sich das Paar für eine Zukunft und eine Familie im Ort entschieden hatte. Ihr Vater hatte Isabels Mutter auf seiner Rückreise von einem kurzen Italientrip in der Schweiz kennengelernt. Vier Wochen später war die quirlige und moderne Schweizerin im Schwarzwald geblieben und hatte in der Küche und an der Rezeption mitgeholfen. In Isabels Augen war der Conradshof ein Haus, das bei aller Tradition den Anschluss an die moderne Zeit nicht verpassen durfte, doch die Schritte mussten behutsam gewählt werden. In manchem abgelegenem Tal oder ehemals stark frequentiertem Ort mit der Vorsilbe »Bad«, wo die Zeit stehen geblieben war, hielten sich Touristen fern, wurden Hotels geschlossen und standen als »Lost Places« am Straßenrand.

Für Isabel stand fest, dass sie ihr Hotel davor bewahren würde. Für den Conradshof sollte es weitergehen, und wenn es nach ihr ginge, mehr als ein paar Jahre, zumal der Trend ja immer mehr zu Regionalität und Heimat ging.

Nie wäre sie wie Sabrina, ihre Freundin und Kollegin aus der Küche, ins Ausland, ja auf einen anderen Kontinent gegangen, um dort ihren Beruf auszuüben. Zu sehr liebte sie ihren Schwarzwald, ihre Familie, und zu sehr hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, dem Conradshof etwas mehr Frische zu verleihen und ihn vom angestaubten Image der alten Tage zu befreien.

Jetzt, als sie in Freudenstadt in dem kleinen Café auf dem Marktplatz den letzten Schaum ihres Cappuccino aus der Tasse löffelte, dachte sie an den Anruf aus Südafrika vor gut zehn Tagen und Sabrinas Vorschlag, an diesem Kochwettbewerb auf der Gourmet Voyage, der bekannten Genuss-Messe in Stuttgart, teilzunehmen.

»›Schwäbische Küche für die Welt – raffiniert serviert‹ heißt der Wettbewerb«, hatte Sabrina euphorisch gesagt. »Das ist doch genau dein Ding!« Und Sabrina hatte recht.

»Zudem hätten wir dadurch eine reale Chance, uns endlich mal wiederzusehen«, hatte sie noch angefügt, »immerhin erwartet den Sieger eine Reise nach Südafrika. Und du würdest an meiner Seite für eine Gala auf einem Weingut am Kap ein schwäbisch-südafrikanisches Menü kreieren und zaubern. Was hältst du davon?«

»Ich bin dabei!«, hatte Isabel spontan gesagt, denn die Idee, an einem Kochwettbewerb mit realen Siegeschancen teilzunehmen und sich dazu wie in alten Zeiten mit Sabrina die Kochschürze umzuhängen, gefiel ihr mehr als gut. Sie würden todsicher eine tolle gemeinsame Zeit miteinander haben, wie immer, wenn sie sich nach all den Jahren, die sie sich nun kannten, trafen.

So hatte Isabel keine zwei Stunden nach Sabrinas Anruf eine Teilnahmebestätigung in der Hand gehalten. Jetzt musste sie ihre Freundin in Südafrika unbedingt erreichen und war doch etwas beunruhigt, weil Sabrina auf keine WhatsApp reagierte und schon seit zwei Tagen nicht mehr online war.


»Vollmondnacht«, dachte Belinda Sommer, während sie die letzten fünf Packungen antiallergische Augentropfen in das Glasregal stellte, »heute ist eine laue Vollmondnacht vorhergesagt, und du hast später noch Notdienst in der Apotheke!«

Sie stieg von dem Klapptritt und strich den weißen Kasack glatt, den sie und ihre Kolleginnen auf Wunsch des Chefs zu tragen hatten. Wenigstens war die Jacke figurbetont geschnitten, hatte kurze Ärmel und einen V-Ausschnitt, der ihr Luft zum Atmen ließ. Und die brauchte sie mehr denn je in diesen Tagen.

Wie lange hielt ihre Pechsträhne jetzt schon an? Drei Wochen? Vier? Wenn sie ehrlich zu sich war, schon viel länger. Der Stress mit ihren Eltern währte schon, seit sie die Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin gemacht hatte, statt im elterlichen Weinlokal im Herzen der Altstadt von Rottenburg zu bedienen.

Und das mit Alex? Hatte sich – wenn sie ehrlich war – auch schon seit Monaten angebahnt. Doch was für sie am schlimmsten war: Selbst Oma, bei der sie jederzeit Schutz und guten Rat gefunden hatte, war nicht mehr ansprechbar, seit Opa sich auf Mallorca mit diesem Traum vom eigenen Weingut selbst verwirklichen wollte.

Belindas offene Art war, zusammen mit ihrem oft dunklen Humor und dem frechen Grinsen, ein Erbstück ihrer Oma, mit der sie ihre halbe Kindheit und Jugend in der Küche des großelterlichen Weinlokals verbracht hatte. »Das hast du von deiner Großmutter« – wie oft bekam sie das bis heute von ihren Eltern zu hören, wobei Opa oft lachend hinzufügte: »Das kann nicht sein, die hat das noch!«

Die PTA, wie man ihren Beruf abkürzte, nahm die Päckchen mit Vitamin-D3-Tabletten und füllte das nächste Regal auf. Sie trug ihr schulterlanges dunkles Haar zu einem sportlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, was nicht nur im Dienst praktisch war und morgens schnell ging, sondern auch ihre Sommersprossen im leicht gebräunten Gesicht, ihre Stupsnase und ihre strahlend weißen Zähne noch mehr zum Ausdruck brachte.

Belinda, die sowohl unter ihren Freunden als auch bei ihren Kolleginnen und den Kunden in der Apotheke hinterm Rottenburger Dom als Frohnatur bekannt war, hatte bei ihrer Körpergröße von 1,75 Meter vielleicht nicht ganz die Traummaße eines Models, war aber dennoch beim täglichen Blick in den Spiegel mit ihrem Aussehen und ihrer Figur sehr zufrieden. Die Endzwanzigerin konnte sich nicht wirklich über mangelndes Interesse der Männerwelt an ihrer Person beschweren, jedoch war unter den Typen, die ihr in den letzten Wochen teils mühevoll ihre Telefonnummer entlocken konnten, keiner dabei gewesen, von dem sie nach einem ersten Treffen ein Wiedersehen herbeigesehnt hatte.

»Gut, vielleicht ist es sogar besser, dass du heute Nacht Notdienst hast«, sinnierte sie weiter, »sonst würdest du noch frustriert zu Hause sitzen und in deiner Einsamkeit deinen Weinvorrat plündern. Oder womöglich aus Langeweile bei deinen Eltern im Lokal bedienen? Oder dich fragen, wieso du nicht, wie die anderen in deinem Alter, verliebt den Vollmond anschmachten kannst oder zumindest ein Date mit einem interessanten Typen hast.«

Dabei wusste sie nur zu gut, dass die meisten ihrer Freundinnen weder verliebt zu Hause saßen noch diesen doofen Mond anschmachteten – vielleicht allein, aber definitiv nicht zu zweit! Allesamt waren sie gelangweilt und höchstens damit beschäftigt, über das Benehmen ihrer Männer und deren mangelnde Aufmerksamkeit ihnen gegenüber zu schimpfen. Belinda seufzte.

»Selbst schuld«, dachte sie. »Du hättest diesen blöden Streit ja nicht provozieren müssen! Dann wäre Alex jetzt nicht dein Ex!«

Hatte sie deswegen jetzt ein schlechtes Gewissen? Nein, ganz gewiss nicht! Nicht wegen Alex! Ein schlechtes Gewissen hatte sie eigentlich nie.

»Streiche eigentlich. Das Wort braucht kein Mensch.«

Ein schlechtes Gewissen hatte sie nie. Punkt. Dafür hatte sie schon als Kind gesorgt. Immer, wenn sich ein schlechtes Gewissen angeschlichen hatte, war ihr Tinker zu Hilfe gekommen, hatte sie getröstet und ihr eingeredet, dass die anderen schuld waren.

Tinker war ihr Gewissen. Aber nur ihr gutes. Sie hatte ihr gutes Gewissen Tinker genannt, frei nach der guten Fee »Tinkerbell« aus »Peter Pan«, ihrer Lieblingsgeschichte als Kind, die Oma immer vorgelesen hatte. In ihrer Vorstellung saß Tinker wie ein kleiner Falter auf ihrer Schulter und flüsterte ihr ins Ohr, sorgte für ein gutes Gewissen und für gute Laune. Und das war bis heute so geblieben.

Alex war die erste ernsthafte Beziehung für Belinda gewesen. Die große Liebe, wenigstens am Anfang – so viel wusste sie heute. Sie hatten sich gerade mal drei Monate gekannt, als er bei ihr eingezogen war. Sie hatten eine tolle Zeit gehabt, zumindest im ersten Jahr. Doch mit der Zeit hatte sie in ihm das verwöhnte Muttersöhnchen erkannt, das sich zu Hause gerne bedienen ließ, durch gnadenlose Selbstüberschätzung oftmals übers Ziel hinausschoss und dadurch für so manche peinliche Situation in ihrem Beisein sorgte.

Ihre Oma mochte ihn deshalb nie wirklich, und spätestens, als sie sie einmal fragte, ob sie denn tatsächlich vorhabe, ihre besten Jahre mit diesem »Großkotz« zu vergeuden, dachte Belinda immer wieder darüber nach, ihm den Laufpass zu geben.

Einen Anlass bot er ihr aber nie, so war es nur dem Zufall zu verdanken, dass sie ihn eines Abends, als sie nach dem Dienst in der Apotheke wieder einmal im Lokal ihrer Eltern bedient und früher Schluss gemacht hatte, in trauter Zweisamkeit in einer Kneipe erspähte.

Der Tag war sowieso nicht auf ihrer Seite gewesen, der Chef hatte seine Laune mal wieder an seinen Angestellten ausgelassen, und jetzt auch noch diese Begegnung! Belinda hatte sich beherrscht und war zügig nach Hause gegangen. Sie beschloss, auf den Scheißtag mit einem ordentlichen Schluck Chardonnay anzustoßen. Drei Stunden später saß sie immer noch in ihrer Lieblingsecke in der Küche ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung, und ihre Wut über das, was der Tag ihr beschert hatte, steigerte sich mit jedem Schluck. Als Alex schließlich nach Hause kam, erkannte sie an seinem »Hallo Träubchen« und seinem süffisanten Blick sofort, dass das Bier, das sie auf dem Tisch der beiden erkannt hatte, nicht alkoholfrei gewesen sein konnte. Die Steilvorlage an diesem Abend war ihre Chance!

Wenn Alex getrunken hatte, war sie ihm verbal überlegen, und das nützte sie aus. Sie fackelte nicht lange, sprach ihn auf sein Date an und fragte ihn – ohne Vorwurf in der Stimme –, warum er sich denn ohne ihr Wissen mit anderen Frauen amüsieren müsse. Und da machte Alex den entscheidenden Fehler: Er schob die Schuld für sein Verhalten Belinda zu, weil sie ja lieber in der verstaubten Gaststube – wie er das gemütliche Lokal ihrer Eltern zu nennen pflegte – herumhänge, als etwas mit ihm zu unternehmen.

Als er dann wieder einmal in seiner überheblichen Art ihre geliebte Oma als »teigige Maultaschenstute« bezeichnete, vergaß sie sich und teilte ihm in entschlossenem Ton mit:

»Du kannst ausziehen!«

Bevor sie selbst kapiert hatte, was ihr da über die Lippen gekommen war, hatte er mitsamt seinem verletzten Stolz die Tür von außen zugeschlagen. Sie war ihm nachgerannt und hatte aus dem Treppenhaus nur noch seine laute Stimme gehört: »Du wirst schon sehen, wie weit du in deiner verstaubten Maultaschenfabrik noch kommst!«

DAS war ein Angriff auf ihre Familie und – noch schlimmer – ihre Oma gewesen und entlockte ihr ein schrilles, aber entschlossenes »Verschwinde bloß!«

Und als er zurückschrie, brüllte sie: »Es ist aus!« Und ihr »Für immer!« hallte grell durchs leere Treppenhaus.

So begrub sie an einem Abend auf einen Schlag drei Jahre auf einmal.

Trotzdem fluchte sie innerlich, weil Alex ihr nicht aus dem Kopf ging.

Denk nicht an ihn, vor dieser bescheuerten Vollmondnacht, flüsterte Tinker.

»Das sagst du so einfach«, antwortete Belinda und dachte an Uschi, die in zwei Wochen heiraten würde, und an ihre geschiedene Freundin Gaby aus dem »Du-kannst-so-gut-wie-alles-schaffen!«-Kurs, die gerade einer anderen den Lover ausgespannt hatte und wieder frisch verliebt war, wie sie ihr selbst im letzten Kurs noch stolz anvertraut hatte.

»Und wo bleibt mein Traummann?«, fragte Belinda halblaut.

Da kommt er!, flüsterte Tinker, und sie drehte sich um, als die Türglocke ausgelöst wurde und ein Mann die Apotheke betrat. Eins neunzig, Mitte 30, sportlich, schoss es ihr durch den Kopf, Marke Robert Redford aus »Jenseits von Afrika«. Ein Typ wie gemacht für einen Urlaubsflirt.

»Es wird Zeit, wieder zu verreisen«, überlegte Belinda. »Aber wohin?«, fragte sie sich im selben Atemzug, mit Blick auf Robert Redford.

Wie wär’s mit einer Safari?, schlug Tinker vor.


Er hatte seinen Wagen auf einem bewachten Parkplatz an der Victoria- & Alfred-Waterfront abgestellt und folgte dem Weg über die Schwenkbrücke zu den Docks der alten Hafenanlage vor der Kulisse des Tafelbergs. Er beobachtete, wie zwei Kähne von einem Schlepper über den Kanal in das hintere Hafenbecken gezogen wurden, als sein Handy schepperte. Er las den Namen auf dem Display und ahnte, dass etwas schiefgegangen war.

»Wie – sie ist entwischt?«, fragte er so laut, dass die Köpfe einiger Menschen auf der schmalen Brücke herumfuhren, und fühlte Wut in sich aufsteigen. »Verflucht! Wie konnte das geschehen?«, fauchte er.

Der andere erzählte, doch er unterbrach ihn schon nach wenigen Worten.

»Nach Deutschland?« Er überlegte. »Ich bin in ein paar Tagen auch dort. Find du heraus, welchen Flug sie nimmt! Wir kümmern uns dann dort um sie.«

Wieder lauschte er den Informationen, die der andere für ihn hatte.

»Eine Freundin, die für sie einspringen soll? Dieses Biest!«, zischte er. »Diese Frau ist mit allen Wassern gewaschen! Aber gut … aus Deutschland, sagst du …?«

Ein hämisches Lächeln umspielte seine Lippen.

»Das ist vielleicht gar nicht so schlecht …«, murmelte er. »Nein, das ist sogar gut! Solange eine Deutsche kocht, spielt uns das wunderbar in die Karten. Die wird sich freuen, wenn wir ihr ein paar Kräuter aus der Heimat liefern. Einer meiner Mitarbeiter organisiert das.«

Er hörte mit einem Ohr vier Musikern zu, die mit Saxophon, Akkordeon, Kontrabass und Cajon vor dem hellblauen zweigiebeligen Port Captain’s Building Killing me softly spielten, ein fünfter Mann ließ dazu eine Puppe an Fäden tanzen.

»Sie wird unsere Marionette! Nehmt sie unter eure Fittiche, sobald sie da ist, schüchtert sie ein, lasst ihr Handy verschwinden und sorgt dafür, dass sie keinen Kontakt nach außen bekommt.«

Er machte eine Pause, und in seinem Kopf tanzte der Text des Songs. Strumming my pain with his fingers …

»Und sagt ihr, wenn sie nicht in der Spur läuft, tut sie ihrer Freundin keinen Gefallen.«

Ein schönes Bild, dachte er … den Schmerz mit den Fingern klimpern

Und er drückte seine Fingergelenke durch, bis sie laut knackten.

Maultaschen in Love.

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