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Höhenflüge und Abgründe – Erfahrungen bei Seniorbook
ОглавлениеObwohl ich einen Beruf hatte, der mich täglich mit Menschen aus aller Welt zusammenbrachte, obwohl ich viele Reisen gemacht und lange Zeit in fremden Ländern verbracht habe, obwohl ich einmal den Menschen für das interessanteste Studienobjekt gehalten habe, muss ich nach anderthalb Jahren bei Seniorbook feststellen, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht so weit her ist.
Aber bei einem so harten Urteil mir selbst gegenüber möchte ich nicht stehenbleiben.
Ich suche nach Gründen, warum ich plötzlich so viele Feinde habe. Vielleicht liegt es daran, dass man im realen Leben eine Auslese trifft: Man hat eine Familie, Freunde, Bekannte, die ähnliche Interessen und eine ähnliche Lebenseinstellung haben. Natürlich begegnet man auch Fremden, im Urlaub, bei öffentlichen Veranstaltungen, auf Reisen, aber diese Kontakte sind meist zeitbegrenzt. Gab es denn nicht schon früher böse Überraschungen, Betrug oder Diebstahl?
Ja, da fällt mir eine Begegnung in einer indischen Bank ein, Ich kannte Herrn A. Seine Tochter wollte gerade heiraten, und oft verschulden sich die Brauteltern bis zum Ende ihres Lebens. Herr A. bat mich um ein Darlehen. Irgendwie tat er mir leid. Das Geld, 3000 DM, sah ich nie wieder, denn kurz darauf verschwand die Familie aus der kleinen Stadt und ging in dem riesigen Ameisenstaat Indien unter.
Aber solche negativen Erfahrungen waren doch recht selten.
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Seniorbook, ein auf eine Altersgruppe eingeschränktes soziales Netzwerk, war Neuland für mich. Zwar hatte ich schon ein paar Erfahrungen in speziellen Foren, aber meine Beteiligung dort löste nie Verleumdungen, Hasstiraden, Stalking oder bissigen Spott aus.
Dabei hatte ich mir bei Seniorbook eigentlich nur Anregungen, Inspirationen, interessante, durchaus kontrovers geführte Diskussionen und Erweiterung des eigenen Horizonts gewünscht.
Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit fand ich meinen ganz speziellen Platz in der Themenwelt und schrieb viele Beiträge in der Rubrik ‘Philosophie und Religion’.
Hier glaubte ich, Erfahrungen und Erkenntnisse eines langen Lebens weitergeben zu können, und genau das war schon ein großes Ärgernis.
Jeder, der eine christliche Orientierung hat und sich daneben nicht mit der Züchtung von Kaninchen, sondern z.B. mit Astrologie beschäftigt und offen und unbekümmert darauf Bezug nimmt, läuft Gefahr, verspottet und als psychisch gestört an den Pranger gestellt zu werden.
Es genügt, dass einer zum Marsch bläst, und schon eilen andere herbei, um die Hetzjagd effizienter zu machen.
Das Dilemma ergibt sich daraus, dass die eine Gruppe Waffen einsetzt und die andere eigentlich darauf verzichten möchte, weil es ihrer Vorstellung vom Umgang miteinander nicht entspricht.
So ist von allem Anfang an die Ungleichheit der eingesetzten Mittel vorhanden.
Eine der farbigsten, interessantesten Persönlichkeiten hat vor Kurzem wortlos Seniorbook verlassen. Ein großer Kreis hat das bedauert, andere haben ihren Triumph gefeiert. Es war ein Pfarrer.
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William Somerset Maugham, dessen Hauptwerk Of Human Bondage (Von menschlicher Sklaverei) ich vor Jahren mit großem Interesse gelesen habe, sagt darin, der Mensch sei „a hotchpotch of greatness and littleness“ – eine kuriose Mischung aus Größe und Trivialität.
Damals fand ich das recht originell. Heute – nach meinen Erfahrungen bei Seniorbook – sehe ich darin eher einen Euphemismus, eine literarische Beschönigung der Tatsache, dass Menschen häufig genug auf die Stufe von Un-Menschen herabsinken können.
Hier muss man sich wegen seiner individuellen Einzigartigkeit verteidigen. Hier muss man mit dem Platzhirsch übereinstimmen, wenn man nicht auf die Hörner genommen werden will. Eine Frau darf natürlich ihre körperlichen Reize zur Schau stellen, aber eine eigene Meinung sollte sie nicht vertreten.
Auch am Schwarzen Brett finden täglich Massaker statt, und wenn man sich verspätet einklinkt, haben schon Löschorgien stattgefunden.
‘Dreiecken’ ist nicht etwa eine neue Rechenart, sondern entweder ein böses Verleumdungsmodell oder ein Rettungsring für die andere Seite.
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Vielleicht ist Seniorbook eine Art Online-Gefängnis, wo alle eine Strafe verbüßen müssen. Man trifft sich dauernd, kettet sich aneinander, ist frustriert, dass man von dem oder jenem nicht das bekommt, was man will, was immer das auch sein könnte, und am Ende möchte man nur weg – kann aber nicht, weil man gefangen, d.h. süchtig ist.
Schade, dass die gleißende Barriere den Online-Gefangenen nicht erlaubt, sich einmal in die Augen zu schauen und sich die Hand zu geben. Sich zu versöhnen. Sich als ganzen Menschen zu erleben.