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Seit Veronika geschieden war, und das war immerhin zwei Jahre und drei Monate her, hatte sie mit keinem Mann mehr geschlafen. Rechnete man noch die dreizehn Monate dazu, die sie davor schon mit Ausnahme eines missglückten Abenteuers enthaltsam gelebt hatte, kam man auf drei Jahre und vier Monate. Obwohl sie erst zweiunddreißig war, fühlte sie sich schon so alt, dass ihr die Vorstellung, mit einem Mann zu schlafen, Angst machte.

Was sie noch mehr ängstigte, waren die anderen Veränderungen, die sie an sich feststellen musste, seit die Affäre ihres Mannes mit ihrer Kollegin Jessica aufgeflogen war: Sie hatte jede Souveränität, auf die sie sich früher allerhand eingebildet hatte, verloren. In ihrem Unterricht am Heinrich-Heine- Gymnasium ging es noch trockener zu als in ihrem Unterleib. Hatte sie früher den Unterricht, besonders in der Oberstufe, mit lockerer Hand geführt, war sie nun mehr und mehr zu einer Zicke geworden, die jede Fehlleistung und jeden Scherz der Schüler als Beleidigung ihrer Person wertete. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal herzlich gelacht hatte.

Ausgehen mochte sie überhaupt nicht mehr. Sie fürchtete, in den Lokalen, die sie früher mit Martin, ihrem Mann, besucht hatte, ihn selbst oder zumindest gemeinsame Freunde aus früherer Zeit zu treffen. Und andere Lokale aufzusuchen, kam erst recht nicht infrage. Was sollte sie da auch? Sollte sie da vielleicht als allein stehende Frau auftauchen, sich volltrinken und von Männern anquatschen lassen, um ihnen dann mit besoffenem Kopf und lallend ihre Geschichte vom unglücklichen Ende einer großen Liebe zu erzählen? Da blieb sie doch lieber zu Hause, wo ihr die Decke auf den Kopf fiel und die zu korrigierenden Hefte sich auf dem Schreibtisch stapelten und nie weniger wurden. Ja, früher, da hatte sie die Korrekturen leichthin erledigt und die Arbeiten ihren Schülern immer schnell zurückgegeben, obwohl sie wenig Zeit zum Korrigieren hatte, weil sie mit Martin viel ausging, Freunde besuchte und empfing und sich dreimal in der Woche im Fitnessstudio abstrampelte. Jetzt, wo sie zu Hause saß und viel Zeit hatte, wurde ihr schlecht, wenn sie den Stapel Hefte vor sich liegen sah.

Wie sie die Zeit totschlug, wusste sie selbst nicht so genau. Sie hätte ja Zeit gehabt, sich all die Filme anzusehen, die sie immer schon mal hatte sehen wollen und die sie nicht hatte sehen können, weil sie und Martin dauernd etwas anderes vorhatten. Früher hatten sie sich manchmal einen Film in der Videothek ausgeliehen, um ihn sich gemeinsam anzusehen, oder hatten den Fernseher eingeschaltet. Mit Mühe zwang sie sich, wenigstens die Tagesschau um acht Uhr anzusehen, um der möglichen Blamage zu entgehen, dass man sie auf die Ermordung des amerikanischen Präsidenten oder des Bundeskanzlers ansprechen würde und sie dann zugeben müsste, dass sie in diesem Moment zum ersten Mal etwas davon höre.

Sie hätte auch die Bücher lesen können, die man ihr bei verschiedenen Anlässen mit den besten Empfehlungen geschenkt hatte oder die sie sich selbst gekauft hatte, weil man sie angeblich unbedingt gelesen haben musste. Sie schaffte aber selten mehr als drei Seiten. Dann verlor sie das Interesse und ihre Gedanken schweiften ab.

Stattdessen warf sie sich nach der Schule aufs Sofa und schaute sich Gerichtsshows an, einerseits weil sie im Gegensatz zu früher nach dem Unterricht völlig erschöpft war, andererseits weil es ihr guttat, dass die Übeltäter nach einer Stunde überführt waren und bestraft wurden. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass diese Shows, auch wenn daran echte Richter und Anwälte beteiligt waren, völlig unrealistisch waren. Nicht nur, dass alle Fälle einschließlich Mord in vierzig Minuten – man musste nämlich noch die Werbepausen abziehen – erledigt waren, es war auch völlig realitätsfern, dass das Gericht die Arbeit der Polizei und Staatsanwaltschaft erledigen und den Sachverhalt ermitteln musste, weil am Anfang der Verhandlung immer unklar war, ob der Angeklagte wirklich schuldig war. Um sich selbst bewusst zu machen, was für einen Schwachsinn sie sich da anschaute, machte sie sich die Prinzipien dieser Unterhaltungsshows klar: In der Hälfte der Fälle war die Anklage falsch, der wahre Täter war dann ein zunächst unverdächtiger Zeuge. Zu erraten war das selten, weil die verwegensten Konstruktionen einen völlig neuern Sachverhalt ergaben. Es wurde immer gelogen, mit der Folge, dass nach Erledigung des anliegenden Falles drei neue Klagen zu erheben waren. Der Richter bzw. die Richterin ließen sich aber nie täuschen. Ausländer – mit Ausnahme von Schlepperbanden – waren aber immer unschuldig, ebenso naive Mädchen. Dagegen wurden arrogante Typen, die großkotzig auftraten, immer überführt und verknackt. Besonders häufig waren Jugendliche, besonders hübsche Mädchen, angeklagt oder als Zeuginnen geladen, um die Shows optisch aufzuwerten und so weiter. Noch schwachsinniger waren die Anwaltsserien, in denen die Anwälte nicht in ihren Büros saßen, sondern erfolgreich die Ermittlungsarbeit der Polizei machten. Es war offenkundig, dass diese Shows für Rentner und Arbeitslose gedacht waren, die ihren Glauben an eine heile Welt nicht verlieren sollten. Wer hatte auch sonst schon Zeit und Lust, sich am frühen Nachmittag vor die Glotze zu legen.

Zu ihrer eigenen Bestrafung schaltete Veronika auch nicht bei den immer gleichen Werbespots ab, obwohl es sie schmerzte, wenn diese noch schwachsinniger waren als die Show, die sie unterbrachen. Da behauptete einer, und das dreimal in einer Sendung, wenn er ein Wärmepflaster auflege, lasse die Verspannung nicht nur nach, sondern komme auch nicht wieder, und eine Oma fragte in einem Medikamentenspot ihren bescheuert aussehenden Mann auf der Fahrt zur Enkelin, ob er auch an alles gedacht habe, ohne dass dieser zurückfragte, warum sie sich nicht selbst darum gekümmert habe, wo sie ihn doch für vergesslich hielt. Besonders nervte sie ein Grammatikfehler im Spot einer Bank, die den Zuschauer direkt ansprach mit dem Satz, weitere Kredite seiner Bank seien abgelehnt worden, als bräuchte die Bank selbst Kredite. Aber Veronika fand, dass sie diesen Schmerz verdient hatte, weil sie nicht die Kraft aufbrachte, sich zur Korrektur der Hefte auf dem Schreibtisch aufzuraffen. Diese Shows lieferten, was sie brauchte: Ablenkung und das Gefühl, dass es doch noch Gerechtigkeit gibt.

Sie hatte keine Lust, mit Freunden und Freundinnen auszugehen oder sich von ihnen einladen zu lassen. Zwar hatte man sie, als Martins Affäre mit Jessica aufflog, demonstrativ eingeladen und ungeheuchelt Solidarität gezeigt, und auch jetzt wurde sie immer noch, wenn auch seltener, gefragt, ob sie nicht einmal vorbeikommen oder ins Kino mitgehen wolle. Sie lehnte aber fast immer ab. Sie wollte nicht mehr über Martins unverständliche Untreue reden und Anderes interessierte sie nicht. Politische Diskussionen, an denen sie sich früher engagiert beteiligt hatte, kamen ihr so abgehoben vor, als ginge es um Probleme auf einem anderen Stern. Sie wollte auch deshalb niemand besuchen, weil von ihr unvermeidlich so viel Traurigkeit ausging, dass sie das Glück der anderen trübte.

Sie hätte ihre Eltern, die unverbrüchlich zu ihr standen und bei denen sie oft das Wochenende verbracht hatte, besuchen können. Aber auch dazu konnte sie sich nicht aufraffen. Es half ja auch nicht. Ihre Eltern litten mit ihr. Und obwohl sie wusste, dass ihre Eltern das auch taten, wenn sie nicht anwesend war, wollte sie deren Mitleiden wenigstens nicht sehen. Sie hoffte, ihre Eltern würden wenigstens ab und zu mal auch an erfreulichere Dinge denken, wenn sie ihre Tochter nicht vor Augen hätten.

Es hätte nur noch gefehlt, dass sie zu Alkohol und Schlaftabletten gegriffen hätte. Das konnte sie sich gerade noch versagen. Lieber lag sie nachts schlaflos im Bett, statt wie einige Kolleginnen und Kollegen wie eine Schlaftablette durch die Schule zu laufen oder eine Alkoholfahne mit sich herumzutragen. Wenn man ihr Unglück schon sah, sollte man es wenigstens nicht auch noch riechen.

Ihr Kollege Wörmer - der Wörmer ist ein örmer, sagten die Schüler – war einer dieser Leidensgenossen. Der liebe Gott bzw. seine Eltern hatten ihn nicht gerade mit Schönheit gesegnet, und er hatte seinen eigenen Beitrag geleistet, um diesen Mangel zu vergrößern, indem er jeder körperlichen Anstrengung aus dem Weg ging, sogar der, sich ab und zu ein neues Hemd aus dem Schrank zu holen. So unwahrscheinlich es war, hatte er doch einmal eine Liebesbeziehung gehabt, der seine Freundin ein Ende gemacht hatte. Danach übte er sich in Sarkasmus und ging allen auf die Nerven mit seinen Lieblingssätzen: Eifersucht ist die Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft, oder: Liebe ist eine Krankheit, die man meiden sollte wie die Blattern. Genau dieser Wörmer hatte einen speziellen Sinn für Unglück. Er roch es geradezu und robbte sich an jeden heran, der davon betroffen war. Auch bei Veronika roch er es, und sie roch den alten Schweiß in seinem Hemd.

Noch lästiger war ihr die Annäherung ihrer Kollegin Helena Dobbertin, Spitzname: die fromme Helene. „Gott wendet sein Auge nicht von dir“, meinte die. „Was macht er mit dem anderen?“, fragte Veronika. Diese Frage konnte die fromme Helene nicht beantworten. Stattdessen tröstete sie Veronika mit dem Versprechen: „Gott ist dein Hirte. Er wird dich weiden auf grüner Au.“ Worauf Veronika nichts anderes einfiel, als darauf hinzuweisen, dass sie weder ein Schaf noch ein Rindvieh sei. Wütend blaffte sie dann los:

„In Wirklichkeit glaubst du doch, dass Gott mich zu Recht bestraft hat.“

„So ein Urteil würde ich mir nie erlauben“, empörte sich die fromme Helene. „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein, sagt Jesus.“

„Was hast du dir denn zuschulden kommen lassen?“

„Wir sind doch alle kleine Sünderlein.“

„Wenn du es sagst.“

Dass sie Martins Untreue so mitnahm, ärgerte Veronika. Dieser Umstand ärgerte sie sogar mehr als Martins Untreue selbst. Dabei war sie, als sie hinter den Betrug kam, entschlossen gewesen, ihm keine Träne nachzuweinen. Sie hatte auch ganz entschlossen Schluss gemacht und ihn aus der Wohnung geschmissen. Zeitweise konnte sie sich sogar dazu aufschwingen, ihn zu verachten. Sie hatte geglaubt, sich auf ihr gesundes Selbstbewusstsein verlassen zu können, das sich in ihrer glücklichen Kindheit entwickelt und durch Erfolge im Studium und Beruf und die zuverlässige Liebe ihres langjährigen Freundes Peter verstärkt hatte. Von all dem war nichts mehr übrig geblieben.

Bis zu der Katastrophe war ihr Leben geradezu unglaubwürdig glücklich verlaufen. Ihre Eltern führten eine glückliche Ehe, die nicht nur Fassade war. Sie liebten sich nach langen Jahren offensichtlich immer noch. Materielle Sorgen kannte ihre Familie nicht. Ihr Vater war Verwaltungschef in der Kleinstadt, in der sie aufwuchs, ihre Mutter hatte eine Apotheke geerbt, in der sie einige Stunden am Tag mitarbeitete, von der sie sich aber auch frei machen konnte, weil sie zuverlässige Mitarbeiterinnen hatte. Ihre Eltern hatten ihren Kindern, Veronikas zwei Jahre älterem Bruder, ihr selbst und dem Nachkömmling, ihrer zwölf Jahre jüngeren Schwester, immer die nötige Freiheit für ihre Entwicklung gelassen, sodass die Kinder sich geborgen, aber nicht eingeengt fühlten. Sir hatten auch keine Einwände vorgebracht, als Veronika nach dem Abitur unbedingt in Hamburg studieren wollte, um sich den Wind der Großstadt um die Nase wehen zu lassen. Das Studium hatte ihr Spaß gemacht und sie hatte die Anforderungen ohne Mühe bewältigt. Französisch und Englisch hatten ihr schon in der Schule gelegen und sie freute sich darauf, ihren künftigen Schülern ihr Interesse an den Sprachen zu vermitteln. Nach zwei Studienhalbjahren in Grenoble und Leicester fühlte sie sich bestens vorbereitet. Ihre freundliche Art verschaffte ihr auch in der Schule schnell die Zuneigung der Schüler und die Wertschätzung ihrer Kolleginnen und Kollegen. Einige Kollegen zeigten auch weitergehende Interessen an ihrer Person, mussten sich aber damit abfinden, dass sie seit der Oberstufenzeit an Peter vergeben war, der jetzt in Hamburg in einer renommierten Anwaltskanzlei arbeitete.

Nach der Trennung von Martin hatte sich Veronika eine Zeit lang Rettung vom Buddhismus erhofft. Ihre Freundin Birgit hatte sie zur Hamburger Gruppe mitgenommen, um sie aus ihrer Erstarrung zu befreien. Sie stand der Sache auch sehr aufgeschlossen gegenüber, versuchte sich in Meditation, Mantrarezitationen und Visualisierungen, hörte Vorträge und befolgte die ethischen Richtlinien der Buddhisten. Es half aber nicht. Es blieb beim rein intellektuellen Erfassen der Lehre Buddhas und der Hochachtung für diese Religion und ihre Anhänger. Eine Befreiung von ihrer erdrückenden Passivität erlebte sie nicht.

Schließlich gab ihr ihre Freundin Sandra den Rat, eine Psychologin aufzusuchen. Veronika lehnte zunächst entschieden ab.

„Ich habe keine Lust, über meine Kindheit zu reden. Meine Kindheit war in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist mein jetziges Leben. Oder meinst du vielleicht, da müsste etwas falsch gewesen sein, wenn mich die Sache mit Martin so aus der Bahn wirft? Habe ich vielleicht einen Elektra-Komplex und will meinen Vater heiraten?“

„Ich meine gar nichts der Art“, sagte Sandra. „Ich sage dir nur, du hast ziemlich festgefahrene Vorstellungen von Psychotherapie. Nicht alle Therapeuten sind Freudianer, und meine Therapeutin hat mir geholfen. Ich habe einfach alles erzählt, was mir auf dem Herzen lag.“

„Die hat also nichts weiter getan, als was jede Freundin auch tun kann“, entgegnete Veronika.

„Ich weiß das nicht so genau“, sagte Sandra, „aber wahrscheinlich ist es doch anders, jedenfalls kam es zu einem anderen Ergebnis. Wahrscheinlich gibt es da einen Unterschied: Eine Freundin leidet mit, eine Therapeutin leitet dich irgendwie.“

Sandra hatte mit vierundzwanzig einen Selbstmordversuch unternommen und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Zum Glück war sie im letzten Moment entdeckt worden. Danach war sie drei Monate in der Psychiatrie und dann eineinhalb Jahre in ambulanter Behandlung. Jetzt lebte sie offenbar glücklich mit Mann und zwei Kindern in Eimsbüttel.

„Ich kann dir meine Therapeutin empfehlen“, meinte Sandra. „Probier´ es einfach aus! Schlechter als jetzt kann es dir ja kaum noch gehen.“

Die Rückseite des Mondes

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