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Veronikas Verhängnis war ihr in Gestalt eines attraktiven Kollegen von 35 Jahren begegnet. „Martin“, stellte er sich vor, „Martin Mommsen, nicht verwandt mit dem berühmten Mommsen, trotzdem Deutsch und Geschichte.“ Er gab ihr die Hand. „Vera“, sagte sie, „Vera Mahler, nicht verwandt mit Gustav Mahler und Malermeister Lohmann, Englisch und Französisch.“ Veronika nannte sich seit der 12. Klasse Vera. Veronika klang ihr zu melodisch und niedlich - Veronika, der Lenz ist da. Vor allem verleitete dieser Name allzu viele dazu, ihn zu Vroni abzukürzen und gleich den Toni mit der Vroni folgen zu lassen. Vera, die Wahre, gefiel ihr viel besser. Der Name klang entschiedener und enthielt eine Verpflichtung, der sie sich gern stellen wollte.

Es war Veronikas erster Tag in ihrer neuen Schule in Hamburg, ihr Referendariat hatte sie in Schleswig-Holstein gemacht. Schon vor der ersten Stunde hatte sie Hoheneder, der Schulleiter, den anwesenden Lehrkräften vorgestellt. In den Pausen wurde sie von den Lehrerinnen und Lehrern einzeln freundlich begrüßt. Das Kollegium bot keinen überraschenden Anblick, das übliche Bild von meist etwas älteren mehr oder weniger gehetzt wirkenden Semestern, mehr Pullover- als Krawattenträgern, einigen schick und einigen lediglich praktisch gekleideten Frauen. Martin aber hatte gleich Eindruck auf sie gemacht: Seine aufrechte Haltung, seine klare Stimme und sein durchdringender Blick, der sie wohl einschüchtern sollte, hoben ihn aus der Masse der Lehrer und Lehrerinnen hervor. Er sah gut aus, auffällig gut. Das musste man ihm lassen. Im Rückblick fand sie, dass sie sich bei der Begrüßung gut gehalten hatte.

Es wurde viel über ihn geredet. Schon nach wenigen Tagen hatte man sie im Vertrauen darüber aufgeklärt, dass Martin ein notorischer Frauenheld sei, bindungsunwillig und -unfähig. Sein Verhältnis zu seinen Schülern und besonders seinen Schülerinnen fanden manche bedenklich, andere sprachen von einem besonderen Geschick, um das man ihn nur beneiden könne. Martin begegnete Veronika stets freundlich und plauderte gelegentlich mit ihr. Bei Gesprächen über Schüler, zu denen es hin und wieder Anlass gab, blieb er stets bei der Sache. Annäherungsversuche machte er nicht, aber man duzte sich bald. Auch bis zu ihm war wohl durchgedrungen, dass Veronika in festen Händen war.

Im Herbst fragte er sie, ob sie ihn auf der Tutandenfahrt nach Paris begleiten möchte. Sein Französisch sei so dürftig, dass er eine Begleitperson, die dieser Sprache mächtig sei, gut brauchen könne. Veronika sagte gern zu, zumal einige ihrer Französisch-Schüler in Martins Tutandengruppe waren. Sie musste sich nicht um die Vorbereitung der Fahrt kümmern, Martin hatte alles bestens organisiert. Man fuhr mit dem Zug, weil man in Paris die Metro nutzen konnte und deshalb keinen Bus brauchte. Im Zug setzte sich Martin neben sie und überließ die Schüler sich selbst, was aber keine Probleme bereitete, da die Schüler sich tadellos benahmen.

Veronika erinnerte sich daran, dass ihre eigenen Lehrer vor Klassenfahrten eine Menge Verhaltensregeln ausgegeben und einen Strafenkatalog für Fehlverhalten heruntergebetet hatten, was sie und ihre Mitschüler aber nie davon abgehalten hatte, allerhand Blödsinn zu machen und die Geduld ihrer Lehrer zu testen. Martin hatte dagegen auf der Informationsveranstaltung vor der Tutandenfahrt zu Veronikas Erstaunen lediglich das Programm vorgestellt und einige Schüler über die Sehenswürdigkeiten referieren lassen, die er mit seiner Gruppe besuchen wollte.

Veronika wunderte sich auch darüber, dass Martin sich von seinen Schülern siezen ließ und sie auch siezte.

„Von einem so fortschrittlichen Lehrer wie dir hätte ich erwartet, dass er mit den Schülern per Du ist“, sagte Veronika.

„Davon halte ich nichts“, sagte Martin. „solange ich die Schüler benoten muss. Wenn sie Abi haben, können sie mich gerne duzen; aber bis dahin gehören wir zwei verschiedenen Lagern an.“

„Einige Lehrer an unserer Schule duzen aber ihre Schüler“, wandte Veronika ein.

„Das sind nicht unbedingt die besten“ sagte Martin. Er nannte aber keine Namen.

„Weißt du, wen ich besonders schätze?“, fuhr Martin fort, „Überlinger und Kunze.“

Veronika war überrascht. Die beiden Genannten waren erzkonservative Knochen. Überlinger war ein kleines, nervöses Männlein, Kunze ein Typ wie Herr Peeperkorn mit wehendem, weißem Haar. Beide galten als besonders streng.

„Die verstehen ihr Handwerk und bringen den Schülern etwas bei, und die Schüler wissen das zu schätzen. Die Duzer überspielen oft nur ihre eigenen Schwächen, genau wie die Typen, die den Schülern die guten Noten hinterherwerfen. Die biedern sich an, weil sie es nötig haben.“

Das Jugendhotel, in dem sie in Paris unterkamen, lag in der Nähe des Stadtzentrums. Der Komfort war gering, aber das Frühstück war annehmbar und die Zimmer waren leidlich sauber. Als einige Mädchen kritische Anmerkungen zur Qualität der Unterkunft machten, legte Martin ihnen nahe, bei ihrem nächsten Aufenthalt in Paris sich in einem Fünf-Sterne-Hotel einzumieten. Martin und Veronika hatten als Betreuer je ein Einzelzimmer, die Schüler mussten mit Vierbettzimmern vorlieb nehmen. Das erste Abendessen nahm die Gruppe in einer Pizzeria ein. Veronikas Sprachkenntnisse wurden dabei nicht benötigt. Ihre Aufgabe bestand darin, am Abend in die Mädchenzimmer zu gehen, nachzusehen, ob alle da wären, und eine gute Nacht zu wünschen.

Das Besuchsprogramm war das Übliche: eine Rundfahrt mit dem Sightseeing-Bus zur räumlichen Orientierung, dann Notre Dame und Eiffelturm, in den nächsten Tagen Louvre und Montmatre, Arc de Triomphe, Place de la Bastille und am dritten Tag Versailles. Bei allen Besichtigungen gab es Führungen in mehr oder weniger gutem Deutsch. Zwei Nachmittage hatten die Schüler zur freien Verfügung, jedoch sollten sie nicht einzeln herumlaufen, sondern in Gruppen von mindestens drei Personen. Man traf sich wieder zum Abendessen. Am vorletzten Abend war der Besuch einer Disco vorgesehen. Martin und Veronika wollten nicht mit. Sie sagten, sie seien zu alt, was ihnen von den Schülern als Fishing-for-compliments ausgelegt wurde, sie aber nicht zum Mitgehen bewegen konnte. Als Zeit der Rückkehr wurde mit Verweis auf die Hausordnung zwölf Uhr festgelegt. Neben den beiden Lehrern blieben auch einige Mädchen im Hotel.

Wie die meisten Abende saßen Veronika und Martin bei einem Rotwein auf der Terrasse. Im Gegensatz zu den anderen Abenden wurden sie aber dieses Mal bei ihrer Unterhaltung nicht dauernd von Schülern umlagert, sodass ihre Gespräche zum ersten Mal persönlicher wurden.

„Du bist also verlobt?“, fragte Martin.

„Verlobt nicht, aber fest liiert.“

„Wie lange schon?“

„Seit der elften Klasse. Bald sind es zehn Jahre.“

„Wow!“, sagte Martin. „So lange halten die meisten Ehen nicht. Beneidenswert! Prosit!“ Er trank ihr zu. Sie ließen die Gläser aneinander klingen.

„Und du?“, fragte Veronika?

„Ich bin weder verlobt noch liiert. Ich habe die Richtige noch nicht gefunden, wie man so sagt.“

„Wie man so sagt, hast du aber schon viel gesucht.“

„Sagt man so?“

„Man sagt so.“

„Ich kann mich schlecht entscheiden. Es gibt so viele schöne Frauen.“

„Du kannst nicht alle Frauen glücklich machen.“

„Ich habe schon viele Frauen unglücklich gemacht. Leider! Es tut mir wirklich immer leid; aber es fällt mir schwer, treu zu bleiben.“

„Wie wäre es mit ein wenig Selbstbeherrschung?“

„Ich beherrsche mich dauernd.“

Veronika bekam Lust, Martin zu provozieren:

„Du bist also eigentlich zu bedauern.“

„So weit muss das Mitgefühl nicht gehen.“

„Ich verschwende mein Mitgefühl gerne an hoffnungslose Fälle.“

„Prost!“, sagte Martin. Veronika prostete zurück.

„Und wer ist der Glückliche?“ Martin nahm den Gesprächsanfang wieder auf.

„Einer aus der zwölften Klasse.“

„Ist er da immer noch?“

„Jetzt arbeitet er bei „Menzel und Wohlfahrt“, in der Anwaltskanzlei.“

„Darf ich dir mal eine indiskrete Frage stellen?“ Martin begann zögerlich. „Die zehn Jahre klingen mir einfach unglaublich. Hast du ihn die ganzen Jahre nie betrogen?“

„Fragen darfst du, aber eine Antwort bekommst du nicht.“

„Schade! Es hätte mich interessiert.“

Er prostete ihr nochmals zu. Dann kamen die ersten Schüler zurück.

Veronika hatte in den zehn Jahren, die sie mit Peter zusammen war, zweimal mit anderen Männern geschlafen. Das erste Mal hatte sie es aus Rache getan, weil Peter sie mit seiner Sekretärin betrogen hatte. Es war nicht schwer für sie gewesen dahinter zu kommen. Peter war so selbstgefällig gewesen, dass er gar nicht daran gedacht hatte, die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Er war des Öfteren abends angeblich länger beschäftigt und roch nach einem fremden Parfum, wenn er nach Hause kam. Sie hatte ihm auf den Kopf zu gesagt, dass er sie betrüge. Seine jämmerlichen Ausflüchte hatte sie beiseite gewischt. Schließlich gestand er und versprach, die Beziehung sofort zu beenden.

Veronikas Rache hatte nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Nach der Nacht mit einem Kollegen von Peter fühlte sie sich beschmutzt. Schlimmer war, dass sie diesen Mann, der ihr schon länger eindeutige Angebote gemacht hatte, nun nicht mehr los wurde.

Der zweite Seitensprung war eine Liebesangelegenheit. Andres war eine Kneipenbekanntschaft, ein Kunststudent, dessen Leidenschaft für die Malerei sie faszinierte. Die Affäre ging über mehrere Wochen. Schließlich entschied sie sich doch wieder für Peter, weil sie die depressiven Anfälle von Andres zu belastend fand.

Nach der Tutandenfahrt, die harmonisch verlaufen war - sogar am Discoabend waren alle Schüler wieder pünktlich im Jugendhotel – sprachen Veronika und Martin öfter miteinander und gingen auch schon mal nach der Schule einen Kaffee trinken. Als Frau Niederbaum, die mit Martin die Theater-AG an der Schule leitete, wegen Schwangerschaft ausfiel, fragte Martin Veronika, ob sie nicht Lust habe, an Frau Niederbaums Stelle zu treten. Veronika, die während ihrer Schulzeit selbst Theater gespielt hatte, sagte sofort zu. Sie hatte schon gehört, dass die Theater-AG unter Martins Leitung ein beachtliches Niveau habe und regelmäßig auf vier ausverkaufte Vorstellungen komme. Am liebsten wäre sie Martin gleich um den Hals gefallen, weil sie sich schon als Schülerin vorgenommen hatte, es einmal besser zu machen als ihre Theaterleiterin. Sie beherrschte sich aber und sagte nur: „Gerne, wenn du meinst, dass ich dir dabei helfen kann.“

Das Stück, das zur Aufführung anstand, hieß „Schöne neue Welt“. Huxleys Roman sollte aber in die Gegenwart versetzt werden. Man wollte nur das Grundthema der kritischen Betrachtung der neuen Welt durch eine außen stehende Person übernehmen. Es gab keinen fertigen Text, sondern nur ein Konzept. Veronika fand das sehr mutig. An ihrer Schule hatte man nur die üblichen fertigen Theaterstücke gespielt: Dürrenmatts Physiker und Romulus der Große, Frischs Andorra und Brechts kaukasischen Kreidekreis. Obwohl die Gruppe schon einige Monate an dem Thema gearbeitet hatte, stand kaum eine Szene. Immerhin hatte man sich auf die Figur des Fremdlings geeinigt: Er sollte durch ein Mädchen dargestellt werden, das bei den Amish in Pensylvania aufgewachsen war und nun bei einer Tante lebte, nachdem seine Eltern früh verstorben waren. In den Proben wurden die Schüler aufgefordert, selbst Szenen zu entwickeln, die für das Leben heutiger Jugendlicher kennzeichnend seien und einem Amish-Mädchen seltsam vorkommen müssten. Veronika staunte darüber, wie kritisch die Schüler ihre eigene Lebensweise betrachteten: den Körperkult, die sexuelle Freizügigkeit und die Unbeständigkeit der Beziehungen, die Konsumorientiertheit und die fehlende religiöse Orientierung. Veronika sah zunächst nur zu, brachte dann aber auch selbst Ideen ein. Sie übernahm es auch, zu Hause einige Szenen schriftlich festzuhalten, die man als gelungen ansah. Huxleys noch recht mechanistische Vorstellungen von der künstlichen Zeugung im Reagenzglas wurden fallen gelassen, das Soma durch moderne Drogen ersetzt und die Schlafschule durch Fernsehreklame. Die Aufführungen waren ein großer Erfolg. Beim Pizza-Essen nach der Premiere nahm Martin Veronika vor allen Mitspielern in die Arme und gab ihr einen Kuss.

Nur wenige Tage nach den Aufführungen schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Martin hatte Veronika zu einem Kaffee eingeladen. Man unterhielt sich über verschiedene Schulprobleme, bis Veronika Martin ins Wort fiel: „Hast du auch ein Schlafzimmer?“ Er hatte eins. Veronika hoffte nur, dass Martin sich nicht zu viel Mühe geben und ihr alle seine Fertigkeiten vorführen würde, die er sich bei seinen Liebschaften sicherlich erworben hatte. Er tat es nicht. Nach Peter hatte er nicht gefragt. Sie war ihm dankbar dafür. Sie wollte sich nicht rechtfertigen. Sie hatte weder Lust zu erklären, dass ihre Liebe zu Peter längst gestorben sei, noch, dass das Schäferstündchen mit ihm, Martin, keine Bedeutung hätte.

In den nächsten Wochen schliefen sie oft miteinander. Meist kochte Martin zuerst etwas für sie beide. Er kochte gerne, was Veronika außerordentlich gefiel. Bald gewöhnte sie sich an, ihre Schulsachen zu erledigen, während er am Herd stand, um nicht am Abend so lange arbeiten zu müssen. Sie war immer rechtzeitig zu Hause. Peter kam meist spät, und wenn er einmal früher da war, hatte sie eben noch etwas in der Schule zu erledigen gehabt. Peter kam in seiner Selbstgefälligkeit auch gar nicht auf die Idee, dass sie ihn betrügen könnte. Sie schlief auch noch mit ihm, teils aus schlechtem Gewissen, teils aus Gewohnheit und teils, um ihre Affäre zu verbergen. Sie hatten getrennte Schlafzimmer; deshalb ließ sich die Sache auch meist vermeiden. Beide hatten ja einen anstrengenden Tag im Beruf hinter sich.

Der Name Peter fiel in diesen Wochen, in denen sie ihre Nachmittage bei Martin verbrachte, kein einziges Mal. Martin machte Veronika aber immer öfter den Vorschlag, zu ihm zu ziehen. Er wollte mit ihr nicht nur den Nachmittag, sondern auch die Nacht und vor allem die Wochenenden verbringen,

„Dann ist es aber mit deiner Freiheit vorbei“, sagte Veronika, „und es gibt doch noch so viele schöne Frauen, die du noch nicht in deinem Bett hattest.“

„Ich brauche keine Freiheit und keine anderen Frauen, wenn du bei mir bist“, antwortete Martin und gab ihr einen Kuss.

„Das ist eine ordentliche Liebeserklärung“, meinte Veronika, „dass du dich da nur ja nicht falsch einschätzt. Außerdem ist die Wohnung zu klein.“

„Wir suchen uns eine passende, wenn du zu mir ziehst.“

Zweigleisigkeit passte nicht zu Veronikas Selbstbild von Vera, der Wahren. Sie wollte aber die Affäre nicht beenden; deshalb suchte sie Rechtfertigungen und stellte Vergleiche an, bei denen Peter durchweg schlechter abschnitt mit Ausnahme der Einkünfte: Peter verdiente entschieden mehr als Martin; aber Geld spielte für Veronika keine Rolle. Ihre Eltern waren wohlhabend und sie selbst verdiente genug, um ordentlich leben zu können. Martin war der bessere Liebhaber und so etwas wie ein Idealist, jedenfalls ein Mann, der etwas darstellte, der etwas konnte und Ziele verfolgte, die sie auch gut fand. Dass der Sex mit Peter nach zehn Jahren ihr nicht mehr so viel bedeutete, konnte sie ihm nicht vorwerfen. Das war eine natürliche Entwicklung, die man zu akzeptieren hatte; aber Peter war auch vor zehn oder fünf Jahren kein so guter Liebhaber gewesen wie Martin. Sicherlich war sie mal in ihn verliebt gewesen, besonders am Anfang, als sie in der Elf und er in der Zwölf war. Damals war Peter so etwas wie ein Rebell gewesen, ein Junge mit wilder Mähne, der die Schule nicht ernst nahm und wilde Partys in der Garage seines Elternhauses veranstaltete. Easy Rider nannte er sich; für die brave Veronika verströmte er den Hauch von Wildem Westen, wenn sie auf dem Sozius seines Motorrads sitzend sich an ihn klammerte und er mit ihr durch die Landschaft brauste oder einfach zur Schule fuhr. Danach hatten sie die ganze Studentenzeit zusammen verbracht und viele Urlaube, mit und ohne ihre Familien.

Die Familien waren auch zu bedenken: Peter war in Veronikas Familie als Schwiegersohn gern gesehen und sie noch mehr als Schwiegertochter bei seinen Eltern. Die Eltern wären sicher enttäuscht, sowohl ihre als auch seine, wenn sie ihnen eröffnen würde, dass sie sich von Peter getrennt habe. Aber es ging um ihr, Veronikas, Leben, und die Eltern würden es verkraften. Für die Fragen nach den Gründen hatte sie schon eine Ausrede parat: Wir haben uns auseinandergelebt. Das hatten sie in der Tat. Peter war bequem geworden, körperlich und auch geistig. Er hatte sich ein Bäuchlein zugelegt und seine wilde Mähne war einem Kurzhaarschnitt gewichen, der die beginnende Glatze unauffällig machen sollte. Was das Geistige anging, war Peter eigentlich schon immer bequem gewesen. Wenn sie es in der Rückschau recht bedachte, war Peter eigentlich kein rebellischer, sondern nur ein fauler Schüler gewesen. Sein Studium hatte er auch nur mit vielen Repetitorien und dann auch nur mit Mühe geschafft. Seine Anstellung in einer angesehenen Kanzlei verdankte er nur den guten Verbindungen seines Vaters. Ihre Unterhaltungen mit Peter beschränkten sich auf Alltägliches und seine Berichte aus der Kanzlei, für Dinge, die darüber hinausgingen, und für ihre Anliegen hatte er keinen Sinn. Peter war ein Spießer. Das war ihr seit langem klar, der Vergleich mit Martin machte es aber augenfällig. Peter hatte auch darauf bestanden, dass sie im teuren Klein- Flottbeck lebten, damit sie eine repräsentative Adresse im Grünen hätten, während sie viel lieber eine Wohnung in Ottensen genommen hätte, wo buntes Leben herrschte und von wo aus sie es viel näher zur Schule gehabt hätte.

Veronika gehörte nicht zu den Frauen, für die nur das Beste und der Beste gut genug ist. Peter war vorzeigbar und ihr treu ergeben. Sie hatte ihn unter Kontrolle, auch wenn er einmal fremdgegangen war. Das hatte er vielleicht gebraucht, um sich von Minderwertigkeitskomplexen zu erholen, und er hatte danach Reue gezeigt wie ein braves Hündchen und die Affäre beendet. Bei Martin konnte sie nicht mit Ergebenheit und Treue rechnen. Trotzdem musste sie sich von Peter trennen. Sie erinnerte sich genau an den Moment, als ihr klar geworden war, dass sie nicht auf die Dauer mit ihm zusammenbleiben konnte. Peter hatte von einem Verfahren berichtet, in dem er eine große Versicherungsgesellschaft gegen einen Versicherungsnehmer vertreten musste. Der Mann war arbeitsunfähig geworden und führte die Erkrankung auf die Staubbelastung am Arbeitsplatz zurück. Die Versicherungsgesellschaft wollte nicht zahlen und hielt dem Mann vor, dass er ein starker Raucher war. Peter regte sich bei seinem Bericht darüber auf, wie systematisch diese Versicherungsgesellschaft sich vor Zahlungen drücke, nachdem sie jahrzehntelang die Beiträge kassiert habe.

„Und warum vertrittst du sie dann?“, hatte Veronika gefragt.

„Weil das mein Job ist“, hatte Peter geantwortet. „Da kommt der Mann mit einem Gutachten, das seine Sicht der Dinge bestätigt; aber wir haben bessere Gutachter, die wir auftreten lassen, und die beweisen, dass das Gutachten der Gegenseite falsch ist oder zumindest nicht beweiskräftig, und ohne Beweis gibt es kein Geld.“

„Und da machst du mit?“, hatte Veronika erneut gefragt.

„So ist das in der Welt“, hatte Peter geantwortet. „Ich bin nur ein kleines Licht in der Kanzlei. So eine Firma darf man als Kunde nicht verlieren. Die Gehälter werden aus dem gemeinsamen Topf der Anwaltsgebühren bezahlt und ich muss auch meinen Beitrag leisten. Sonst fliege ich raus.“

Von diesem Moment an hatte Veronika gewusst, dass sie nicht ihr ganzes Leben mit Peter verbringen wollte. Die Beziehung zu Martin war Anlass für sie, nun endlich die Konsequenzen zu ziehen.

Für Peter kam das Ende der Beziehung völlig überraschend. Als sie ihm sagte, dass sie sich von ihm trennen wolle, kam er gerade mit einem Bier aus der Küche. Er blieb erstarrt stehen.

Veronika hatte schon Angst, dass er das Bier fallen lassen würde. Er tat es nicht, sondern hielt sich daran fest wie ein seekranker Tourist am Mast eines Schiffes, das in aufgewühlter See schwankt.

„Nur weil ich dich einmal betrogen habe?“, stotterte er.

„Setz dich, sonst fällst du noch hin“, sagte Veronika.

„Das meinst du nicht ernst.“ Peter versuchte den Witz zu verstehen, den Veronika gar nicht machte.

„Natürlich meine ich das ernst. Über so etwas mache ich keine Scherze. Aber wegen der kleinen Affäre mit der Sekretärin musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe dich auch betrogen.“

„Mir wem?“

„Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Der Grund, weshalb ich mich von dir trenne, ist einfach, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben.“

„Ja“, sagte Peter reumütig, „ich bin in letzter Zeit vielleicht ein bisschen zu sehr eingespannt gewesen in die Firma; aber das wird auch wieder.“

„Das wird nie wieder“, entgegnete Veronika, „das ist mir in letzter Zeit klar geworden.“

„Hast du einen anderen?“

„Ja, ich habe einen anderen, aber er ist nicht der Grund, er ist nur der Anlass, über unser kaputtes Verhältnis nachzudenken.“

„Und wie willst du das machen?“

„Was?“

„Dich von mir zu trennen.“ Peter wurde laut, weil Veronikas Nachfrage ihn ärgerte.

„Ganz einfach“, sagte Veronika, „Ich ziehe morgen aus. Einige Sachen werde ich zunächst noch hier lassen müssen; aber die hole ich bald nach, wenn ich Platz habe.“

„Willst du dir das nicht nochmal überlegen?“

„Nein“, sagte Veronika kategorisch, „ich habe mir das lange genug überlegt.“ Und dabei blieb sie, obwohl Peter sie an die schönen zehn Jahre erinnerte, die sie gemeinsam verbracht hatten, und an die Enttäuschung ihrer und seiner Eltern, wenn sie von der Trennung erführen.

Veronika informierte ihre Eltern schon am nächsten Wochenende. Sie war für klare Verhältnisse. Ihre Eltern zeigten sich überrascht. Peter sei doch so ein netter, junger Mann und er verdiene doch auch gut. Veronika brachte ihren Standardsatz vor, mit dem man Beziehungen friedlich beendet.

„Ja, wenn ihr Kinder hättet“, sagte ihre Mutter, „dann hättet ihr etwas, was euch zusammengehalten würde.“

„Wir wollten aber zuerst den beruflichen Einstieg schaffen, bevor wir uns Kinder zulegen. Jetzt ginge es; aber jetzt will ich nicht mehr“, sagte Veronika.

„Hast du einen anderen?“, fragte ihr Vater.

„Ja, sagte Veronika, „aber daran liegt es nicht, oder wenigstens nicht in der Hauptsache.“

„Du bist alt genug zu wissen, was du tust“, konstatierte ihr Vater.

Die Rückseite des Mondes

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