Читать книгу Mami Staffel 11 – Familienroman - Edna Meare - Страница 6

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Annalena Ossiander stand in ihrem Ankleidezimmer und schob ungeduldig einen Bügel nach dem anderen von links nach rechts und wieder zurück. Was sollte sie nur anziehen? Das vanillefarbene Leinenkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt, das ihre leicht gebräunte Haut gut zur Geltung brachte und das Fabian gern an ihr sah?

Mit wehmütigem Lächeln hob sie die Schultern. Fabian war ihr Ehemann, aber sah er sie überhaupt noch richtig an? Ging es ihm nicht nur um die Rolle, die sie als seine perfekte Frau spielte? Fabian war ein begnadeter Dirigent. Er liebte den Ruhm und die Bewunderung seiner Verehrer und brauchte auch die verzückten Schreie seiner Verehrerinnen. Aber brauchte er sie, Annalena, noch?

Sie nahm ein Kleid aus violettem Chiffon hervor und sofort war sie mit allen ihren Gedanken bei Wolfgang. In diesem Modell, eines duftigen Hauchs von Kleid hatte sie ihm zum ersten Mal gegenübergestanden. Seitdem, so kam es ihr vor, war eine süße Ewigkeit vergangen, in der sie sogar ihren Ehemann ertrug. Seitdem sie Wolfgang kannte und liebte, gab es nichts, was Fabian ihr noch an Demütigungen und Schmerzen antun konnte. Ob sie dieses Kleid heute anziehen sollte?

Trug sie es, umflatterte es ihre Oberschenkel kokett und erlaubte sogar einen Durchblick auf die Silhouette ihres Körpers. Wolfgang behauptete, in diesem Kleid machte sie ihn vor Verlangen verrückt. Dann wußte sie jedesmal, daß es sich von einer Zukunft mit ihm zu träumen, ja, sie sogar zu planen lohnte.

Ihr Atem ging schneller. Sollte sie dieses Kleid heute tragen oder nicht? Sie mußte sich vorstellen, was Claudia dazu sagte. Würde ihre Tochter sie nicht überrascht ansehen und dann vielleicht zu kichern beginnen? Ein Mädchen von elf Jahren macht sich eben schon Gedanken. Aber war sie nicht stolz auf ihr aufgewecktes Töchterchen?

Annalena entschied sich für ein dunkelgrünes Kleid. Es reichte bis zu den Fesseln. Ein dezentes Ornament betonte den tiefen Ausschnitt, es war sommerlich, verführerisch, aber doch dezent. Nur paßte es nicht zu der Stimmung, die sie jedesmal in Wolfgangs Nähe überkam. Wenn sie nur einen Blick von ihm erhaschte, wurde sie sorglos, kapriziös und leichtsinnig.

Kurz entschlossen streifte sie das Kleid vom Bügel, hielt es sich vor den Körper und trat damit vor den Spiegel.

Sie war schön wie kaum eine andere Frau von knapp über dreißig. Wer sah ihr schon an, daß sie eine elfjährige Tochter hatte? Gutgelaunt schlüpfte sie hinein und trällerte dabei die einfache Melodie, die Claudia unten im Haus am Flügel übte. War das Mozart? Oder begann die Klavierlehrerin das arme Kind bereits mit Beethoven oder Brahms zu traktieren? Fabian wollte es natürlich so. Manchmal ergriff sie eine rasende Wut auf ihren Ehemann. Warum zwang er das unbekümmerte Kind dazu, sich diesen Qualen auszusetzen? Aus Claudia wurde nie ein musikalisches Genie.

Als Annalena am Schminktisch saß und ihr Haar ordnete, klopfte es zaghaft an die Tür. Sekunden später trat Claudia zögernd ein. Schritt für Schritt näherte sie sich ihrer Mutter.

»Ich dachte, du schläfst, Mama. Du wolltest dich doch hinlegen, damit du heute abend bei Papas Sommerkonzert ausgeruht bist.« Nun lächelte die Kleine. »Wie gut, daß ich dich nicht geweckt habe. Aber weißt du, das Wetter ist so schön. Darf ich nicht…?«

Annalena wandte sich um.

»Ja, du darfst mit dem Klavierüben Schluß machen. Ich hätte dich sowieso gleich gebeten, mich in die Stadt zu begleiten. Was hältst du von einem kleinen Stadtbummel und einem anschließenden Café-Besuch?«

Hoffentlich war Claudia einverstanden. Es sollte doch wie ein Zufall aussehen, wenn Wolfgang im Café zu ihnen trat.

Claudia ähnelte ihrer Mutter. Nur die ausdrucksvollen Brauen, die sich so elegant über ihre grünen, schmal geschnittenen Augen schwangen, hatte sie von ihrem Vater geerbt. Und diese Brauen zogen sich jetzt zusammen.

»Ich wollte aber zu Silke. Du weißt doch, sie hat ein Trampolin im Garten.«

»Ach, Claudia! Das Trampolin kann warten. Darauf wirst du noch in Jahren herumhüpfen. Aber so ein Einkaufsbummel, bei dem wir beiden hübschen uns für die Ferien in Italien eindecken, ergibt sich nicht alle Tage.«

»Ich habe genug zum Geburtstag bekommen.«

Claudia trug ihr wunderschönes, dunkelblondes Haar von einem Band aus der Stirn gehalten. Jetzt nahm sie es ab und schüttelte ihre Mähne. »Ich brauch’ nichts, Mama. Ist doch jedes Jahr dasselbe mit den Schulferien im Haus an der Adria. Papa kommt nur zum Wochenende, und wir beide fahren jeden Tag an den Strand oder auch mal was angucken in Bologna oder Venedig. Aber sonst?«

»Daß du so denkst, wußte ich allerdings nicht, mein Schatz«, hauchte Annalena mit erstauntem Lächeln.

Dabei hoffte sie im stillen, auch Claudia könne den langen Ferienwochen im wunderschönen Haus in Italien längst nichts mehr abgewinnen. Fabian tauchte dort ja nur noch auf, wenn ihm seine Verehrerinnen zu dicht auf den Pelz rückten oder er dringend ein wenig Abstand von einer seiner Liebesaffären brauchte.

»Tu ich aber«, erwiderte Claudia trotzig.

»Dein armer Vater«, meinte Annalena und bemerkte, wie Claudia gleichgültig mit den Schultern zuckte. Sagte das nicht alles? Ahnte ihre Tochter vielleicht schon, wie schlecht es um die Ehe ihrer Eltern stand?

Ihr Mann betrog sie, wo er nur konnte. Er, der begnadete Dirigent, nahm sich alle Freiheiten. Seine letzte Geliebte hatte er vor zwei Jahren geheiratet, und noch war keine ebenbürtige Nachfolgerin aufgetaucht. Aber Annalena wußte schon, welche Damen inzwischen ihrer großen Chance bei Fabian entgegenfieberten.

»Du bist gewachsen, Claudia«, wechselte sie das Thema. »Neue Jeans und zwei oder drei Bikinis brauchst du bestimmt. Komm, zieh’ keine Schnute, mein Liebling. So ein Bummel hat uns bist jetzt doch immer viel Spaß gemacht.«

»Ja, aber…«, Claudia stöhnte leise. »Müssen wir eigentlich wieder die ganze Ferienzeit in Italien verbringen? Kann ich nicht wenigstens zwei Wochen früher zurück nach München? Silke und Agnes sind dann auch hier.«

Das Gesicht ihrer Mutter verschloß sich. Aber genau so unvermittelt hellte ein schelmisches Lächeln es wieder auf.

»Wissen wir beide, was die Zukunft uns bringt?« fragte sie leichthin. »Hauptsache, wir beide amüsieren uns heute. Also, was ist? Wollen wir nicht versuchen, zwei richtig schicke Bikinis für dich zu finden?«

Das war verlockend, Claudia mußte es zugeben. Und so saßen die beiden eine Viertelstunde später in Annalenas Cabriolet, glitten an den Villen des Vororts vorbei und fuhren bei strahlendstem Sommerwetter in die City.

Claudia genoß es, an der Seite ihrer schönen Mutter von Geschäft zu Geschäft zu schlendern. Sie bemerkte die bewundernden Blicke der Passanten und freute sich, wenn sie als Frau und Tochter des Dirigenten Ossiander erkannt und dementsprechend hofiert wurden.

Nach fast zwei Stunden steuerten die beiden, vollbepackt mit Einkaufstüten auf ein stadtbekanntes Café zu.

Claudia bemerkte, daß ihre Mutter zur Uhr sah.

»Das wird spät für dich, wie?« erriet sie. »Heute abend gehst du doch zu Papas Konzert, nicht? Wenn’s knapp wird, verzichte ich aufs Eis. In Italien gibt’s ja genug davon?«

»Nein, nein, die Zeit muß sein. Ich hab’s dir versprochen.«

»Fein«, freute Claudia sich. »Aber ich muß Silke anrufen. Die wartet sonst.«

»Das machst du im Café«, entschied Annalena und schritt eilig auf einen freien Tisch zu.

Claudia bekam ein Eis serviert, Annalena bat um einen Fruchtdrink. Um sie herum versammelten sich vergnügte Gäste, man rief sich Grüße und Wünsche für die Ferienzeit oder das nächste Wochenende zu und sowie ein Platz frei wurde, stand schon der nächste Anwärter bereit.

Claudia war mit ihrer Schleckerei so beschäftigt, daß sie den lässig gekleideten Herr, der sich ihrem Tisch mit erwartungsvollem Lächeln näherte, gar nicht bemerkte.

Erst als er überrascht ausrief: »Hallo, Annalena, was für ein wunderbarer Zufall, dich hier anzutreffen!« sah sie auf.

Ein freundliches Männergesicht wandte sich ihr neugierig zu. Das offene Lächeln war gewinnend, der Blick verriet verschmitzte Lebensfreude und herzliche Aufmerksamkeit.

»Ja, ein netter Zufall!« hörte sie ihre Mutter zustimmen.

»Claudia, das ist Wolfgang. Wolfgang Bosch, ein Freund von Bekannten. Wir kennen uns schon länger. Willst du dich nicht setzen, Wolfgang?« bot sie ihm dann gleich an.

Wolfgang Bosch setzte sich, dann reichte er Claudia die Hand. Mit einem verlegenen Gesicht griff sie danach. Er war ihr nicht unsympathisch, aber es war ihr irgendwie unangenehm, daß ihre Mutter einen Mann, den sie noch nie gesehen hatte, einfach duzte.

»Einkäufe für den Urlaub, wie?« erriet er. »Oder verspätete Geburtstagsgeschenke? Und? Freut sich eine junge Dame von gerade elf Jahren auf die Ferien, wie ich es als Schüler tat?«

»Klar!« sagte Claudia schnell, obwohl es doch gar nicht so war.

»Claudia«, verriet ihre Mutter mit besonders weicher Stimme, »langweilt sich manchmal in unserem Haus an der Adriaküste.«

»Das kann ich verstehen.«

Claudia sah ihn an. Er hatte wache Augen von undefinierbarer Farbe. »Das glaub’ ich nicht. Sie sind doch schon… na ja… also…«

»Alt, nicht wahr?« lachte er. »Du meinst, ich bin zu alt, um verstehen zu können, wie ein Einzelkind sich im Urlaub ohne Spielkameraden langweilt?«

»Genau.«

»Claudia!« schalt Annalena sie. »Wie taktlos von dir!«

Claudia blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Aber Wolfgang Bosch war kein Spielverderber. Er blinzelte ihr voller Verständnis zu, bis sie lachen mußte.

»Sind Sie jünger als mein Vater?« fragte sie.

Er nickte amüsiert, aber nicht ohne Stolz. »Ich denke, ja.«

Annalena schüttelte den Kopf. »Was du nur für Fragen stellst, Claudia!«

»Na und? Ich kenn’ den doch gar nicht. Und was ist? Darf ich jetzt aufstehen und telefonieren? Oder ist das auch taktlos?«

»Natürlich nicht.« Annalenas schöngeschwungene Lippen wurden plötzlich ganz schmal.

Claudia verschwand. Wolfgang Bosch wandte sich sofort ihrer schönen Mutter zu.

»Sie ist im schwierigen Alter, Liebling. Sei nicht so streng.«

»So, dann gefällt dir meine Tochter wohl?«

»Natürlich! Sie ist genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe. Ganz ihre Mutter, nur noch nicht so hinreißend weiblich.« Er nahm ihre Hand, und sein Blick erfaßte sie voller Ungeduld. »Du hast ihr also noch nicht verraten, was uns verbindet und was du vorhast?«

»Unmöglich! Das kann ich doch nicht, Wolfgang! Ein falsches Wort von mir, und sie vertraut sich Fabian an!«

»Wie du es planst, wird es richtig sein«, meinte er, nahm ihre andere Hand und hauchte auf beide einen Kuß.

*

Fabian Ossiander zog mit seinem Taktstock eine scharfe Linie durch die Luft, dieser Bewegung folgte eine kurze Geste, die in ein Verbeugen seines Oberkörpers überging. Der letzte Akkord verhallte.

Er legte den Taktstock beiseite und griff in seine Hosentasche, um ein blaugepunktetes Tuch hervorzuziehen. Damit wischte er sich über den Nacken, so daß die leicht gekräuselten, dunklen Haare ganz durcheinander gerieten.

Es störte ihn nicht. Mit gefälligem Lächeln blickte er auf die Musiker des Staatsorchesters, bis die mit ihren Instrumenten den Lärm machten, die Bewunderung und Dankbarkeit für seine Führungsqualitäten zum Ausdruck brachte. Natürlich, alle respektieren seine Geduld, sein Feingefühl und vor allem seine Genialität.

Es war heiß an diesem Nachmittag. Abends würde es hoffentlich kühler sein. Aufatmend bewegte er sich vom Pult herunter und wandte sich nur kurz dem riesigen Oval voller Sitzreihen zu. Wie immer bei seinen Proben ließ er nur auserwählte Persönlichkeiten als Zuhörer zu. Weiter hinten allerdings drängten sich Neugierige. Unter denen befanden sich viele seiner Fans, die sich die teuren Abendkarten nicht leisten konnten.

Bevor Fabian im Gang verschwand, der in die unterirdischen Räume führte, winkte er einmal huldvoll hinüber. Gleich danach, in der dürftig eingerichteten Garderobe, würde er endlich für wenige Minuten er selbst sein.

»Fabian!« Eine weibliche Stimme erreichte ihn gerade noch, bevor er wegtauchen konnte. Er sah sich um.

»Fabian!« wiederholte die Stimme. Es klang wie ein hingebungsvoller Seufzer.

Mit wenigen Schritten hatte Wiebke Lohmer ihn eingeholt. Die Anwältin war anfang vierzig und eine sehr selbstbewußte und energische Frau, die ihren knabenhaften Typ elegant zu betonen wußte.

»Du warst mal wieder phänomenal, Fabian! Hast du mich nicht bemerkt? Ich saß links in der dritten Reihe. Natürlich habe ich dir nicht mal zugezwinkert«, meinte sie kokett. »Ich weiß doch, daß du von Frauen Diskretion erwartest.«

Mit seinen vierzig Jahren war Fabian kein junger Mann mehr, aber immer, wenn eine Frau Verständnis für ihn bewies, schwellte sich seine Brust wie die eines Jünglings. Er war für jede Art von Bewunderung empfänglich und genoß es, wenn Frauenblicke ihn verschlangen.

Die Anzeichen seiner Erschöpfung verflogen im Nu. Wiebke Lohmer stand ihm seit einigen Jahren als Juristin mit Rat und Tat zur Seite. Als Anwalt hatte sie ihm allerdings einen tüchtigen Kollegen empfohlen, denn sie wußte, eine zu enge berufliche Zusammenarbeit würde ihre persönliche Beziehung zu Fabian nur belasten.

So beschied sie sich mit andern Hilfeleistungen und hatte schon einige Male dafür gesorgt, daß Fabian ganz unbehelligt von seiner Familie und Managern ein stilles Wochenende abseits des Trubels verbringen konnte. Ob er dann über Nacht allein blieb war ihr nach außenhin gleichgültig geblieben. Viel wichtiger war ihr, daß Fabian ihr immer zu Dank verpflichtet war.

»Was machst du heute abend nach dem Konzert?« fragte sie jetzt. Dabei stellte sie sich in Positur, damit er ihre perfekt gestylte Erscheinung beachten konnte.

Fabian lächelte gequält. »Annalena kommt zum Konzert. Danach wird sie mich bald nach Hause schleppen. Du weißt doch, sie beschwert sich in letzter Zeit oft, daß ich kaum Zeit für Claudia habe.«

»Claudia, deine Tochter? Mein Gott, die ist doch ein Kind. Hat sie keine Freunde?«

Er stutzte. Über so was machte er sich nie Gedanken. »Ich nehme es doch an«, wich er lächelnd aus und tupfte sich einige Schweißtropfen von der Stirn.

»Beginnen nicht bald die Ferien? Wirst du dann nicht einige Zeit in deinem Haus in Italien mit der Familie verbringen?«

»Ja, aber nur einige Tage.« Er strich ihr flüchtig über den Ärmel. »Heute abend werde ich trotzdem mein Wort halten müssen. Sonst fühlt Annalena sich von mir zu sehr vernachlässigt.«

Wiebke atmete mit fest geschlossenen Lippen durch die Nase ein. »Ich dachte, deine Frau fühlt kaum noch etwas. So nennst du es doch.«

»Dennoch… sie ist meine Frau und die Mutter meiner Tochter.«

»Ja, ja, ja, ja.« Es klang gereizt, denn seine Antwort gefiel ihr einfach nicht. Ahnte er wirklich nicht, daß sie seit langem zu allem bereit war, um ihn über die Gefühlskälte seiner Frau hinwegzutrösten? Leicht verärgert wandte sie sich ab.

»Also dann bis bald, Fabian. Wenn du dich während der Ferienzeit als Strohwitwer einsam fühlst, du weißt ja, wo du mich erreichen kannst.«

Sofort war er bei ihr und umarmte sie schnell. »Du bist eine wunderbare Freundin, Wiebke. Vergiß das nie.«

Einige Minuten später war er endlich allein. Als er gerade sein Hemd wechseln wollte, klopfte es an die Tür.

»Ja, bitte!« rief Fabian. Daß der oberste Violinist oder ein anderes Orchestermitglied noch etwas zu besprechen hatte, war er gewohnt. So ein Freiluftkonzert verlangte nach hervorragender Organisation. Die Veranstaltung war seit Wochen ausverkauft.

Fabian sah auf, als er die Knöpfe an seinem Hemd schloß. Und sofort erstrahlte sein Gesicht vor Freude.

»Bella!« rief er begeistert aus. »Meine entzückende Bella!« Dann reichte er ihr seine Wangen, um sich von ihr küssen zu lassen.

Bella Crusius war eine junge Sängerin, die erst am Anfang ihrer Karriere stand. Mit ihrem schulterlangen, dich gelockten fast schwarzen Haaren und den leidenschaftlichen, dunklen Augen entsprach sie genau dem Frauentyp, den er bevorzugte. Er legte die Hände auf ihre schmalen Schultern und sah ihr tief in die Augen.

»Heute nach dem Konzert begleite ich meine Frau nach Hause, Bella. Aber du weißt, Annalena wird meist schon um Mitternacht müde. Ich werde behaupten, noch mal ins Tonstudio zu müssen, um mir die letzten Aufnahmen in aller Ruhe anhören zu können.«

»Und sie glaubt es dir wirklich?« schmunzelte Bella.

»Sicher! Sie weiß doch, ich brauche diese Stunden, um den Erfolg eines Konzertes in mir aushallen, den Stress in mir abebben zu lassen.« Lachend zog er die zauberhafte Bella an sich. »Und… willst du heute nacht wieder bei mir sein?«

Sie zögerte, und ihr Blick glitt an ihm vorbei.

»Versprichst du mir dann auch, mich im August mit dem Intendanten des Londoner Opernhauses bekannt zu machen?«

»Natürlich, mein Liebling. Ich telefoniere schon morgen mit ihm. Und du weißt, ich halte immer Wort. Im August gebe ich selbst zwei Konzerte in London. Dann habe ich sogar ein wenig Zeit für alles das, wozu mein Beruf sonst kaum Raum läßt.« Er küßte sie.

Bella schloß hingebungsvoll die Augen.

»Ich fiebere jeder Stunde mit dir entgegen, du wunderbarer Mann.«

Sie wußte, sie hatte bei ihm die besseren Karten als Wiebke Lohmer. Diese Anwältin hatte ja keinen blassen Schimmer von klassischer Musik. So eine Frau konnte einen Mann wie Fabian niemals dauerhaft fesseln und schon gar nicht faszinieren!

*

Am ersten Tag der Ferien war strahlendes Wetter gewesen. Heute aber regnete es in Strömen. Als Fabian Ossiander seine Frau und sein Töchterchen zur Limousine brachte, blickte er besorgt zum Himmel.

»Du fährst doch vorsichtig, Annalena?«

»Das tut Mama immer, Papa!« spielte Claudia die Empörte, schlüpfte unter seinen Regenschirm und hängte sich noch einmal an seinen Hals. »Wo sollen wir dich anrufen, wenn wir angekommen sind? In Nürnberg oder Stuttgart?«

Fabians Blick ruhte liebevoll auf dem Gesicht seiner Tochter. »Stuttgart. Übermorgen bin ich in Nürnberg. Und in einer Woche nach dem Konzert in Verona, gehöre ich euch, meine Lieben. Ihr kommt doch nach Verona? Ich habe Hotelzimmer reservieren lassen.«

»Ja, Papa«, seufzte Claudia gequält, was ihn lächeln ließ.

»Keine Lust, wie? Aber die Noten mit den Etüden von Chopin hast du eingepackt? Ich möchte hören, was du gelernt hast, wenn ich in den Urlaub komme, mein Kind.«

»Ja, ja, Papa«, seufzte sie.

»Du hoffst, daß der Flügel in unserem italienischen Haus inzwischen richtig verstimmt ist, wie?«

Da lachte Claudia. »Super getippt, Papa. Ja, das hoffe ich.«

Fabian zwinkerte ihr zu. Manchmal hatte er Verständnis für sein Kind, auch wenn das selten vorkam. Dann verabschiedete er sich von seiner Frau. Er zog sie in die Arme und wollte sie küssen, ohne dabei zu bemerken, wie widerstrebend sie diese Sekunden über sich ergehen ließ.

Eine halbe Stunde später preschte Annalena in hoher Geschwindigkeit über die Autobahn Richtung Österreich. Der Regen war stärker geworden, aber der Verkehr rauschte an diesem Wochentag noch mäßig dahin.

»Nächstes Jahr bin ich zwölf, Mama. Dann darf ich vorn bei dir sitzen«, meldete Claudia von hinten. Sie setzte die Kopfhörer auf und schaltete ihren Recorder ein. Nach dem Rhythmus einer Melodie auf- und abwippend zupfte sie an ihrer Bluse herum. Die war im gleichen Muster geblümt wie die ihrer Mutter. Sie hatten beide auf dem Einkaufsbummel vor zwei Wochen erstanden und trugen sie heute, um wie fröhliche Schwestern in den Urlaub zu starten.

Annalena überholte zwei Laster und dann in noch rasender Fahrt einen dahinsausenden Bus. Bald darauf tauchten vor ihnen die undeutlichen Umrisse der ersten Alpenhöhen auf. Es goß jetzt wie aus Eimern, so daß die Wischer kaum das Wasser von der Scheibe verdrängen konnten. Nach einer Weile stöhnte Annalena auf und schaltete das Radio ein. Ein flotter Sound übertönte das Geräusch des Scheibenwischers, machte das Fahren angenehmer aber nicht ungefährlicher.

»Mama!« Claudia tippte ihr auf die Schulter. »Ich hab’ keine Lust nach Verona zu fahren!« brüllte sie. »Ist schon schlimm genug, daß Papa mir den Chopin aufgehalst hat. Kannst du ihn nächste Woche nicht anrufen und sagen, ich bin krank?«

Sofort stellte Annalena das Radio leiser und bedeutete ihrer Tochter, die Stöpsel aus den Ohren zu nehmen. Dann warf sie ihr über den Innenspiegel einen ernsten Blick zu.

»Hör zu, mein Kleines. Ich muß dir etwas sagen.«

»Nee! Nicht schon wieder vom Klavierüben anfangen!« entgegnete Claudia trotzig. »Wenn Papa das macht reicht’s schon.«

Sie bemerkte, daß im Blick der Mutter ein Lächeln entstand.

»Du wirst es in Zukunft leichter haben, Claudia. Nur wenn du Lust dazu hast, sollst du Klavier spielen.«

Claudia verdrehte die Augen. »Das sagst du! Aber Papa?

»Papa wird uns in Zukunft kaum noch besuchen.«

»Das tut er doch jetzt schon.«

Annalena überlegte. Sollte sie warten, bis sie Italien erreicht hatten? Nein, dann blieb ihr kaum noch Zeit für eine längere Erklärung. Sie mußte Claudia schon jetzt die ganze Wahrheit offenbaren.

»Hör zu, mein Kleines. Wir fahren nicht an die Adria in unser Haus, Claudia. Wolfgang erwartet uns im Haus seiner Familie am Gardasee.«

»Warum? Übernachten wir dort? Was heißt Familie? Hat er Kinder?«

»Nein, nein. Aber seine Schwester hält sich dort gerade auf. Sie hat zwei kleine Jungens. Seine Mutter ist auch anwesend. Du wirst Spaß haben, Claudia. Uns stehen herrliche Zeiten bevor.«

»Aber Papa hat nichts davon gesagt«, wunderte Claudia sich.

Ihre Mutter holte tief Luft und trat noch stärker aufs Gas. Sie rast nun auf eine kurvige Strecke zu. Die Straßen wurden von Seitenplanken begrenzt und da sie eine sichere Fahrerin war, erhöhte sie unbekümmert das Tempo.

»Er weiß es noch nicht, Claudia«, erklärte sie mit erhobener Stimme. »Aber ich werde zu seinem Konzert nach Verona fahren und ihn danach um die Scheidung bitten.«

»… um was?« Claudia, die sich schon wieder die Stöpsel in die Ohren stecken wollte, versteinerte.

»Um die Scheidung!« wiederholte Annalena lauter. »Wolfgang und ich lieben uns. Du hast ihn doch kennengelernt und sympathisch gefunden. Darum werden wir die ganzen Ferien bei ihm verbringen. Nach den Ferien ziehen wir dann in eine gemeinsame Wohnung. Du bist doch dabei?«

Claudia begriff immer noch nicht. »Und… und Papa?«

»Dein Vater liebt mich lange nicht mehr, Claudia. Unsere Ehe besteht nur noch auf dem Papier. Er braucht die Bewunderung anderer Frauen. Und ich liebe Wolfgang. Wolfgang versteht und braucht mich.«

Die Elfjährige starrte mit offenem Mund nach vorn in den Regen. Was sie da unerwartet zu hören bekam, verwirrte sie so, daß sie nicht mal weitere Fragen stellen konnte.

»Findest du ihn nicht nett?« wollte Annalena wissen.

»Nein!« schrie Claudia. »Überhaupt nicht!«

Annalena trat noch heftiger aufs Gas.

»Aber ich liebe ihn doch! Und du wirst ihn schon liebgewinnen. Er ist ein wunderbarer Mann. Ganz anders als dein Papa!«

»Nein! Nein!! Ich will nicht, Mama! Ich will nicht an den Gardasee. Ich will in unser Haus am Strand!« Claudia ballte die Fäuste. Sie liebte ihre Eltern, und deshalb ertrug sie diesen Zwiespalt nicht, den ihre Mutter ihr plötzlich aufbürdete.

»Es ist auch mein Leben, Claudia. Ja, ich will leben und lieben! Und dazu brauche ich Wolfgang.«

In einer Rechtskurve setzte Annalena zum Überholen eines Lasters an. Da Claudia sie von hinten an der Schulter rüttelte, verlor sie für Sekunden die Gewalt über den Wagen. Er schrammte gegen die Planke, geriet ins Schleudern, prallte gegen den Laster, wurde mitgeschleift und kam erst nach einer Ewigkeit zum Stehen.

»Mama!« schrie Claudia verzweifelt, löste ihren Gurt und öffnete die Tür, um ihrer Mutter, die vornübergebeugt über dem Steuer lag, schneller zur Hilfe zu kommen. Sie konnte nicht erkennen, daß von hinten ein Sportwagen in rasendem Tempo auf sie zukam. Sie spürte nur noch einen heftigen Stoß, dann einen stechenden Schmerz und verlor das Bewußtsein.

*

Daß Dr. Kurt Wittek an diesem Tag eine halbe Stunde früher zum Dienst in der Klinik antrat, war auf einen Zufall zurückzuführen. Eigentlich hatte er sich mit seiner Frau am späten Nachmittag noch zu einer Tasse Kaffee treffen wollen, aber Valerie hatte im letzten Moment abgesagt, weil sie mal wieder länger in der Apotheke stehen mußte.

Kurt kannte das schon. Er hatte einen kleinen Spaziergang gemacht, um die frische Luft nach dem langen Regen an diesem Tag zu genießen und kam nun wie immer in recht guter Stimmung und fast eine Stunde zu früh ins Krankenhaus.

»Dr. Wittek!« rief ihm die Pförtnerin entgegen. »Gut, daß Sie endlich da sind! Sie müssen sofort zu Dr. Hoffmann. Beeilen Sie sich bitte!«

»Zu Astrid? Was ist los?« Astrid Hoffmann war ihm mehr als eine Kollegin. Sie, seine Frau und er waren seit langem dicke Freunde.

»Exitus! Ein Unfallopfer von der Autobahn. Innere Verletzungen. Dr. Hoffmann und das OP-Team haben stundenlang um ihr Leben gekämpft. Vergeblich. Damit wird Dr. Hoffmann nicht fertig. Sie sitzt völlig apathisch im Ärztezimmer. Sie müssen jetzt gleich ihren Dienst übernehmen.«

Kurt Wittek riß sich im Weitergehen das Jackett von den Schultern, schlüpfte in den Raum neben dem Ärztezimmer, holte einen frischen Kittel aus dem Regal und zog ihn hastig über.

Als er das Ärztezimmer betrat, standen drei junge Kollegen um einen der drei Schreibtische. Kurt sah nur das rotblonde Haar Astrids. Sie hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und die Arme schützend darüber verschränkt.

»Sie können gehen«, raunte er den Ärzten zu.

Dann war er mit Astrid allein. Kurt Wittek gehörte zu den Menschen, die sich, wann immer es ging, bei allem viel Zeit lassen. Es dauerte Sekunden, bis er sie tröstend berührte. Wie schwer die Verantwortung für das zweite Team im OP gerade auf Astrid lastete, hatte er immer geahnt.

Sie galt als befähigte Chirurgin mit ihren gerade mal dreiunddreißig Jahren, aber wenn es um Leben und Tod ging, fragte keiner, ob ihrer Seele nicht vielleicht einige Jahre fehlten, um die Last der Verantwortung zu ertragen.

Hatte er ihr nicht deshalb schon häufig geraten, sich nicht für die privaten Angelegenheiten der Unfallverletzten zu interessieren? Daran konnte jeder Arzt scheitern. Und was war er dann noch als Mediziner wert?

Er strich ihr zärtlich übers Haar. »Du bist nicht die einzige, die vor Gevatter Tod kapitulieren muß. Du weißt doch, wie oft wir es alle erleben müssen.«

Sie rührte sich nicht. Nur ein leises Schluchzen war zu hören. Da stand er auf und füllte eine Tasse mit dem Kaffee aus der Maschine. Er fügte Zucker und Sahne hinzu und trat wieder zu ihr.

»Hier, trink einen Schluck. Seit wann hast du heute Dienst? Seit sieben Uhr früh, nicht? Es ist gleich fünf Uhr nachmittags, Astrid. Du gehörst nach Hause ins Bett. Und morgen sieht alles schon wieder anders aus.«

Mehr fiel ihm nicht ein. Wenn ihm ihr Kummer nicht so nahgegangen wäre, hätte er vielleicht klügere Worte gefunden. Er stellte die Tasse ab und sah sich suchend nach dem Krankenblatt um. Annalena Ossiander, geborene Achtmann, dreiunddreißig Jahre, stand da. Innere Verletzungen. Quetschungen der Milz und Leber… Da wußte er alles.

»Ich habe jämmerlich versagt«, hörte er Astrid flüstern. »Eine junge, schöne Frau, Mutter einer Tochter, voller Leben, Liebe und Hoffnung.« Sie schluckte. »Sie starb mir unter den Händen weg.«

»Ich weiß, daß ihr nichts unversucht gelassen habt, Astrid. Das Tages-Team im OP leistet genauso Unmenschliches wie wir im Nachtdienst.«

»Aber wir hätten… aber es ging nicht. Glaube mir, ich habe nichts unversucht gelassen. Es war zu spät.«

Sie hob den Kopf. Ihr herzförmiges Gesicht mit dem rosigen, von niedlichen Sommersprossen übersäten Teint sah ihm tränenüberströmt entgegen. Die hellblauen Augen verrieten Müdigkeit, Niedergeschlagenheit und grenzenlose Verzweiflung.

»Ihre Uhr war abgelaufen, Astrid. Du weißt, wie oft ich mir damit selbst helfen mußte.«

»Ach, Kurt! Gut, daß du da bist!« aufschluchzend hob sie die Arme und lehnte sich gegen ihn.

Dr. Wittek reichte ihr die Tasse, und sie trank.

»Sind die Angehörigen schon benachrichtigt?« fragte er vorsichtig, als er bemerkte, daß sie ruhiger wurde.

Astrid nickte.

»Fabian Ossiander ist heute mittag zu einem Konzert nach Stuttgart geflogen. Er wird erst morgen eintreffen.«

»Ach du Schreck. Der Dirigent Ossiander? Und die Tochter?«

»Die Tochter?« Sie sah ihn an, als erwache sie aus einem Traum. »Sie liegt noch im Beobachtungsraum. Irgendwann wird sie aus der Narkose erwachen.«

Kurt verstand nicht gleich. »War sie auch in den Unfall verwickelt?«

»Ja, Quetschung des Knies, Fraktur des Oberschenkels, ein fast zertrümmerter Beckenteil. Aber die vom ersten Team haben sie wieder zusammengeflickt.«

Astrid sprach jetzt wie eine erfahrene und abgebrühte Medizinerin. Aber ein Blick, und er sah wieder ihre andere Seite. Die ihrer verletzlichen Seele, die von der Teilnahme an Patientenschicksalen immer wieder verwundet wurde und danach so schwer heilte.

»Es wird Monate dauern, bis sie wieder laufen kann, Kurt.«

Er nickte. »Weiß sie vom Tod ihrer Mutter?«

»Nein! Das kann ich nicht. Das muß ihr doch der Vater sagen.«

Nach längerem Nachdenken nahm er ihre Hand. »Astrid, ich bin mehr als dein Kollege. Wir sind Freunde. Du weißt, wie gern ich dich habe. Aber ich denke, du solltest zu dem Mädchen gehen, wenn es aufwacht. Während der nächsten zwei Wochen hast du immer Tagesdienst. Du wirst sie betreuen. Ist es nicht besser, du versuchst gleich, ihr Vertrauen zu gewinnen?«

»Unmöglich, Kurt. Wie soll ich ihr begegnen? Ich habe ihre Mutter auf dem Gewissen!«

»Nein, das hast du nicht. Keinen von uns trifft die Schuld, wenn ein Unfallopfer sein Leben verliert.«

»Soll ich dem Kind mit diesen Worten die Wahrheit sagen? Bist du verrückt?« Sie kämpfte gegen ein Aufschluchzen.

»Du mußt es ihr noch nicht sagen, Astrid. Aber sie wird… wie heißt das Mädchen?«

»Ich glaube… Claudia. Ja, Claudia Ossiander.«

Astrid trank den Kaffee aus. Die Hand, die den Becher hielt, zitterte. Ihm wurde ganz flau im Magen.

»Wir können gemeinsam gehen. Ich bin bei dir, Astrid. Daß du, wenn es drauf ankommt, immer wieder eine ungeheuerliche Kraft entwickeln kannst, wissen wir doch. Nicht wahr?«

Sie sah ihn lange an. Dann nickte sie. Kurz darauf erhob sie sich, trat ans Waschbecken im Raum, sah sich im Spiegel an und ordnete flüchtig ihr Haar.

»Ich bin bereit, Kurt. Bitte, laß mich nicht allein.«

Der untere Teil von Claudias Körper war fest einbandagiert. Eine der beiden Kanülen führte bis zu ihrer Nase, eine andere endete an ihrem Handgelenk. So lag sie unbeweglich und mit geschlossenen Augen im großen Klinikbett, umgeben von mehreren Geräten, die die kalte Zweckmäßigkeit des Raums nur noch verstärkten.

Astrid trat leise näher und beugte sich über die kleine Patientin. Auf dem Kissen um den schmalen Kopf herum hatte man ihr Haar ausgebreitet. Wie sanfte Wogen umgab es das zarte Gesicht mit den noch geschlossenen Augen.

Dieser Anblick schnürte Astrids Kehle zusammen. So fürchtete sie sich vor dem Augenblick, an dem die kleine Claudia die Augen aufschlagen und nach ihren Eltern fragen würde. Aber Kurt war bei ihr, und mit jeder weiteren Sekunde in der Nähe des Mädchens verlor sich ihre krampfhafte Anspannung. Von den Zügen des Kindes ging Friede aus. Das Gefühl, helfen und trösten zu können, ließ tatsächlich wieder ungeahnte Kräfte in ihr entstehen.

»Sie ist eine kleine Schönheit«, hörte sie Kurt flüstern und blickte ihn an. Er lächelte flüchtig. »Das meinst du auch, nicht wahr, Astrid? Ein so schönes Kind hat einen guten Charakter. Sie wird dir für jede Sekunde deiner Gegenwart danken.«

»Soll das heißen, du läßt mich mit ihr allein?«

Gerade wollte er den Kopf schütteln, als ein kaum merkliches Geräusch seinen Blick zur Patientin zwang. Das Mädchen hatte die Augen geöffnet und begann sofort, ihre Lippen mit der Zunge zu benetzen. Dann sah es die beiden Gestalten im weißen Kittel.

»Wo… wo bin ich?«

Astrid war sofort an ihrer Seite. »Landesklinik München. Du heißt Claudia, nicht wahr? Ich bin Astrid, deine Ärztin.«

Claudias Blick sog sich an ihrem Gesicht fest. »Und… Mama? Ist sie zu… zu ihm gefahren?«

Sofort glaubte Astrid zu wissen, was dem Kind jetzt am wichtigsten war. »Du meinst, deine Mutter ist bei deinem Vater? Nein, das war nicht möglich. Ihr habt einen schweren Unfall gehabt. Deshalb wird dein Vater herkommen. Schon morgen.«

»Aber wo ist meine Mama denn?«

Kurt sah, wie hilflos diese Frage Astrid machte. »Deine Mutter schläft noch. Sie ist auch verletzt.«

»Schlimm?«

»Ja«, gab Kurt dann zu. »Ihre Verletzungen waren schwerer als deine, aber glaub mir, sie ist in guten Händen.«

»Dann… dann ist sie hier? Nicht am Gardasee?«

»Ja, sie ist hier, Claudia.«

Astrid strich über ihre Hand. »Ich werde bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist, Claudia. Keine Angst, ich lasse dich nicht allein.«

»Danke«, hauchte die kaum hörbar, und schon senkten sich ihre Lider über ihre großen Augen.

Kurt beugte sich über sie. »Und in meiner Kollegin Astrid wirst du eine richtige Freundin finden. Das weiß ich schon jetzt.«

Er sah zur Uhr. »Ihr beide werdet es schon schaffen«, flüsterte er Astrid zu und verließ den Raum.

*

Fabian Ossiander zögerte seine Rückkehr aus Stuttgart um einen Tag hinaus. Unfähig, über seinen ersten Schmerz hinauszudenken und sich an seine Pflichten als Vater zu erinnern, gab er vor, zunächst an seine beruflichen Termine gebunden zu sein. Dabei ereilte ihn eine Krise, die ihn in ein abgrundtiefes schwarzes Loch aus Schuldgefühlen, Lebensangst und Verzweiflung stürzte.

Ohne seine Ehefrau Annalena fühlte er sich plötzlich um alles, was er zum Leben brauchte, betrogen. Was wurde aus dem Gefühl des Geborgenseins, aus seiner häuslichen Ruhe, kurzum, aus allem, was das Fundament seines Alltags bildete? Womit hatte er dieses schreckliche Los verdient?

Und weil er sich selbst bemitleidete, ertrug er die Wahrheit schon gar nicht. Er konnte sich nicht eingestehen, daß er Annalena lange nicht mehr geliebt hatte. Nun ja, sie hatte ihn nicht so bewundert wie andere Frauen, aber als treu ergebene Ehegattin war sie ihm immer zur Seite gestanden. Und das hatte er ihr gedankt. War das nicht Liebe genug?

Und jetzt, so plötzlich aus der Ordnung seines Lebens gerissen, fürchtete er um seine geniale Musikalität und seine einmalige Schaffenskraft. Wankte nicht alles, was seinen Ruhm untermauerte?

Aber da war ja noch Claudia, seine Tochter. Ihr zuliebe mußte er zurück, um ihren Schmerz zu teilen, um ihr beizustehen und ihr Mut zu machen.

Als er in die Klinik eilte, warteten einige Reporter vor dem Eingang. Im ersten Schreck wollte er umkehren und die Flucht ergreifen. Schon der Gedanke, in der Presse könnte ein Foto von ihm erscheinen, das sein Gesicht älter und grauer als sonst zeigte, ließ ihn fast in Panik geraten.

Zufällig beobachteten zwei Assistenzärzte die peinliche Szene. Sie eilten hinaus, jagten die Presseleute davon, nahmen Fabian in ihre Mitte und halfen ihm, sein Gesicht zu verhüllen.

Minuten später blieb Fabian Ossiander nichts anderes übrig, als endlich vor Claudias Bett zu treten. Ihr Anblick und das Lächeln, mit dem sie ihn begrüßte, verlieh ihm tatsächlich etwas Kraft.

Sein Töchterchen lebte, auch wenn sie für Wochen in der Obhut der Ärzte bleiben mußte. Und sie schenkte ihm ein glückliches Lächeln als Willkommen, weil sie ihn sehnlichst erwartet hatte. Noch wußte sie ja nicht, welch furchtbare Nachricht er ihr überbringen mußte.

Man hatte Fabian den Mantel abgenommen und ihn in einen grünen Kittel gesteckt. Er mochte die Farbe nicht. Grün stand ihm einfach nicht. Darum nahm er sich den Kittel wieder ab. Damit gewann er kostbare Zeit, um sich Worte zurechtzulegen, die Claudias Schmerz mildern konnten.

Dann kauerte er sich neben sie, umschloß ihren Kopf und ihre Schultern mit seinen Armen und flüsterte ihr Satz für Satz zu, bis sie die ganze, bittere Wahrheit erfahren hatte.

Claudia konnte sich kaum bewegen. Trotz der Mittel, die sie bekam, spürte sie bei jeder noch so geringen Regung einen dumpfen oder ziehenden Schmerz, der sich von der Hüfte bis zum Fuß ihres linken Beines zog. Wie alle sehr jungen Menschen hatte sie schnell gelernt, mit ihrem jämmerlichen Zustand umzugehen. Aber jetzt, als sie wußte, daß ihre Mutter gestorben war, bäumte sich ihr Inneres auf. Ihr Atem ging schneller und wollte sich beim Stöhnen Erleichterung verschaffen. Und das Stöhnen verursachte eine schneidende Qual.

Claudia reagierte darauf. Sie machte sich steif wie ein Brett. Nur ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Lippen bebten. Sie sah ihren Vater an und wollte schreien. Aber der Atem, den sie dazu brauchte, weitete ihre Lunge und die Dehnung ihres Brustkorbs war bis zur Hüfte zu spüren. So glich der körperliche Schmerz dem Leiden ihres kleinen Herzens. Sie hielt den Atem an, hob ihre Arme und bedeckte damit ihre Augen.

Sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr fühlen. Die Trauer im Gesicht ihres Vaters stieß sie ab. Sie kannte ihn doch nur strahlend vor Selbstbewußtsein. Ganz instinktiv fürchtete sie, ihn nie mehr lächeln sehen zu können. Wie sollte sie weiterleben, wenn nicht mal ihre geliebte Mama da war, um ihr über die schockierende Veränderung ihres Vaters hinwegzuhelfen?

So vergingen für beide qualvolle Minuten. Fabian fehlte die Kraft zum Trösten. Er hatte ja nur immer Bewunderung und Liebe, nie selbst Trost gebraucht. Woher sollte er wissen, was ein Mensch in der schwersten Stunde seines Lebens brauchte? Er sah immer nur sich selbst. Wäre Annalena in der Nähe gewesen, hätte er ihr sogar Vorwürfe gemacht. Warum hatte sie ihn in diese Situation gebracht, die ihn doch völlig überforderte?

Claudias Atem bebte. Sie konnte ihn nicht länger anhalten. Und dann nahm sie die Arme vom Gesicht und sah ihn mit einem leeren Blick an.

Fabian erschrak. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß dieser Blick nie wieder von kindlicher Unbekümmertheit und schalkhafter Lebensfreude erfüllt sein würde. Das brachte ihn zur Besinnung.

»Papa«, flüsterte Claudia in diesem Moment mit tränenerstickter Stimme. »Ist Mama jetzt im Himmel?«

Er zuckte zusammen. Was war denn das für eine Frage? Wie konnte Claudia daran zweifeln?

»Ja, selbstverständlich ist sie im Himmel. Ganz gewiß.«

»Und wenn nicht, wo ist sie dann?«

Er räusperte sich. Eine schluchzende Claudia hätte er an sich ziehen könne, bist sie sich beruhigte. Aber wie sollte er ihre Fragen beantworten? Was ging nur in ihr vor?

»Unsere Mama war die beste Frau und Mutter der Welt. Der liebe Gott wird sie mit offenen Armen in sein Reich aufgenommen haben.«

Es vergingen einige Sekunden, in denen Claudia seine Worte auf sich wirken ließ. Sie erkannte, daß ihr Vater nichts wußte und nichts begriff. Unwillkürlich atmete sie auf, was ihr wieder Schmerzen bereitete, so daß sie ihr Gesicht verzog. Das deutete Fabian falsch.

»Deine Mama war ja nicht nur bildschön, mein Liebling. Sie hatte ein großes Herz und eine Seele voller Liebe. Ihre ganze Liebe galt dir und mir. Durch ihre Zärtlichkeit und ihr Mitgefühl brachte sie Sonne in unser Leben. Ja, mehr noch. Sie war unser Leben. Ohne sie hätte ich nicht die Kraft für meine Arbeit gefunden, und du wärst nicht ein so glückliches Kind.«

Claudia war kein glückliches Kind. In diesen Minuten konnte sie sich nicht mal daran erinnern, jemals glücklich gewesen zu sein. Das Wissen um Annalenas Pläne bedrückte sie viel zu sehr. Sie schloß die Augen und sah Wolfgang Bosch vor sich. Und damit holte sie die jüngere Vergangenheit mit überwältigender Macht ein.

»Papa, Mama hat…«

Sie keuchte, so strengte sie jedes Wort an.

»Sprich nicht, mein Liebling. Ich weiß doch, Mama hat uns ihre ganze Liebe gegeben. Sie hat sich so auf die Zeit im Haus an der Adria gefreut. Uns beide um sich zu haben, war ihr größtes Glück. Seit Wochen malte sie uns doch aus, wie wunderbar es sein würde, wenn ich euch besuche.«

Claudias Rechte zitterte, als sie sie erhob, um das Gesicht ihres Vaters zu berühren. Seine Wange kratzte, er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert. Und doch fühlte sie die Wärme seiner Haut. Aber seltsam – er saß hier an ihrem Bett wie ein kleiner Junge, der die Welt noch gar nicht verstehen wollte.

»Papa, Mama wollte…« Es mußte aus ihr heraus. Die Wahrheit erdrückte sie sonst.

»Ja, unsere Mama wollte immer nur das Beste für uns beide, wollte uns immer nur glücklich sehen. Sie wollte schnell unten in unserem Haus sein. Weißt du auch, warum?«

Claudia sah ihn stumm an.

»Sie wollte dafür sorgen, daß der Flügel im Haus gestimmt wird, bevor du mit den Etüden von Chopin beginnst. Sie kannte dein feines Gehör, denn das hast du von mir.«

Da schloß Claudia die Augen.

»Laß mich allein, Papa«, flüsterte sie. »Bitte laß mich allein. Frau Doktor soll kommen.«

Sie drehte den Kopf leicht zur Seite. Wie sollte sie mit der Last, die ihre Mama ihr im letzten Moment aufs Herz gelegt hatte, in der Gegenwart ihres Vaters fertig werden? Wie sollte sie es ihm jemals anvertrauen? Denn nichts von allem, was sie ihr aufgeladen hatte, konnte ohne klärende Worte jemals aus der Welt geschaffen werden.

»Du wirst bald wieder gesund werden«, sagte Fabian noch. »Denke nicht, daß ich dich hier lange allein lasse. Ich werde einige Konzerte absagen, damit ich dich häufig besuchen kann. Und ich will alles tun, um ein wenig Glück in unsere Zukunft zu zaubern.«

Er war ein großer Zauberer auf dem Dirigentenpult. Aber jetzt wirkte der Zauber nicht. Das Wort Glück grub sich schmerzhaft in ihr Inneres, und ein schluchzender Laut entrang sich ihr.

»Frau Doktor soll kommen. Sie heißt Hoffmann, Papa. Astrid Hoffmann.«

»Die Ärzte und Schwestern hier tun alles, damit es dir bald bessergeht. Wie heißt die Ärztin? Hoffmann?« Er seufzte. »Gut, gut, mein Liebling. Ja, ich hole sie gleich.«

Aber er blieb sitzen und überlegte, wem er nun sein Leid klagen konnte. Ob Wiebke Lohmer und Bella Crusius ihm über die innere Leere hinweghelfen konnten? Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Beide würden sich Hoffnungen auf eine Zukunft an seiner Seite machen. Jetzt, da er Witwer war, lauerten einige Frauen auf ihre Chance. Wie viele unangenehme Frage- und Antwort-Spiele kamen da auf ihn zu!

Die Tür öffnete sich und eine junge Ärztin trat ein. Fabian war trotz allem galant genug, sich sofort zu erheben. Sie reichte ihm die Hand.

»Hoffmann, Astrid Hoffmann.«

Obwohl es überflüssig war, nannte Fabian nun auch seinen Namen und nickte dankend, als Annalena ihm ihr Mitgefühl über den Tod seiner Frau aussprach. Aber sie sah ihm kaum in die Augen. Ob sie an seinen väterlichen Eigenschaften zweifelte und fürchtete, er habe Claudia keinen Trost zusprechen können?

Gleich darauf schaute sie zu Claudia hinüber. »Ihre Tochter wird jetzt schlafen. Ich habe Dienstschluß, bleibe aber hier.«

»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Sie hat schon nach Ihnen gefragt.«

So geräuschlos wie möglich wollte er sich aus dem Staub machen. Er sehnte sich nach der frischen Luft. Die brauchte er jetzt, um Energien für die Aufgaben zu tanken, die auf ihn warteten. Das Begräbnis für Annalena, die Fragen der Presse und seines Managers, die lästigen Anrufe seiner Verehrerinnen. Und das alles in der Leere seines Hauses!

»Ich bin am Ende«, flüsterte er der Ärztin noch zu, als müsse er damit seine Eile entschuldigen. »Meine Frau war mir alles. Mein Glück, mein Schicksal, mein Leben.«

Astrid nickte. »Ich weiß. Was ich für Claudia tun kann, werde ich versuchen. Ich verspreche es Ihnen, Herr Ossiander.«

»Aber… aber Claudia wird doch wieder gehen können?«

»Sicher. Es wird nur eine gewisse Zeit vergehen.«

Er nickte, dann bedeckte er Claudias Gesicht mit zärtlichen Küssen und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.

Astrid griff nach ihrer Hand. Und als ob sich dadurch Schleusen öffneten, ergoß sich ein Strom von Tränen über Claudias Gesichtchen. Und Astrid schmiegte ihre Wange an die ihrer kleinen Patientin und begann ebenfalls zu weinen, als könnte sie damit ihr Gewissen erleichtern.

*

Drei Tage später, an einem trüben, aber sommerlich warmen Sommertag verließ Astrid Hoffmann nachmittags die Klinik, um sich eine Stunde später inmitten einer unübersehbaren Menge von Trauergästen zur letzten Ruhestätte von Annalena Ossiander zu begeben. Es war eine würdige Feier und der Pfarrer schloß die kleine Claudia in sein Gebet ein, in dem er Gott um gütige Menschen bat, die der Halbwaise auf ihrem Weg ins Leben voller Liebe zur Seite stehen konnten.

Astrid sah zu Fabian Ossiander hinüber. Umgeben von Menschen, die sie nicht kannte, und gestützt von zwei schlanken und in elegante schwarze Kostüme gehüllte Frauen, schien sein Gesicht grau und erstarrt. Nichts an ihm erinnerte an den verehrten und vergötterten Meister, der mit seiner genialen Kraft Millionen Menschen in der Welt verzauberte, wie sie es einige Male selbst erlebt hatten.

Als sie das große Rosenbukett auf den Sarg hinunterließ, schaute sie noch einmal zu ihm. Ihre Blicke kreuzten sich. Und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte die junge Ärztin in den Augen des trauernden Witwers ein kleines Licht der Zuversicht entdecken zu können. Sein markantes Gesicht straffte sich, und in diesem Moment begriff sie, welche Macht die Ausstrahlung dieses Mannes auf Frauen ausüben konnte. War der Anflug eines dankbaren Lächelns in seinem Blick gewesen?

Ob er ahnte, wie gern sie sich um Claudia kümmerte? Ob er wußte, daß sie sich auch um Claudias Vertrauen bemühte, um die Last ihres Gewissens loszuwerden? Astrid schlug die Augen nieder. Immer noch kämpften schmerzliche Empfindungen in ihr.

Die Trauergemeinde verstreute sich. Der Dirigent wurde von Menschen umringt, die ihm jetzt bestimmt einen Halt bedeuteten. Langsam machte Astrid sich auf den Rückweg zur Klinik. Da hörte sie plötzlich eilige Schritte hinter sich über den Kiesweg knirschen.

»Frau Doktor!«

Es war Fabian Ossiander, er mußte sich aus dem Pulk seiner nächsten Freunde gelöst und hinter ihr hergeeilt sein. Er stand vor ihr, und wieder stellte sie fest, was für ein gutaussehender Mann er war. Nein, der Leidensdruck der letzten Stunde schien seiner Ausstrahlung nichts anhaben zu können. Sie schämte sich fast, weil sein Anblick ihr Herz etwas schneller schlagen ließ.

»Gehen Sie jetzt zu Claudia zurück?«

»Ja, selbstverständlich.«

Das tiefe Schwarz seines leichten Sommeranzugs verlieh ihm die gleiche Würde wie der Frack, den er am Dirigentenpult trug.

»Ihre Tochter erwartet Sie voller Sehnsucht, Herr Ossiander. Schon gestern hat sie immer wieder nach Ihnen gefragt. Sie haben ihr ein Foto Ihrer Frau versprochen.«

Er nickte. »In einer Stunde werde ich dort sein. Ich bitte Sie, mir dann ein wenig Ihrer kostbaren Zeit zu gönnen.«

»Meine Zeit ist nicht kostbar«, erwiderte sie bescheiden. »Eigentlich habe ich heute keinen Dienst. Ich will nur bei Claudia sein, weil ich nicht wußte, ob Sie sie heute besuchen. Sie darf sich doch nicht alleingelassen fühlen.«

»Halten Sie mich für einen Rabenvater?« fragte er verstört.

Sie erschrak. Sollte sie mit einer unbedachten Bemerkung noch mehr Schuld auf sich laden?

»Nein, nein, Herr Ossiander, keinesfalls. Sie haben Verpflichtungen und Termine einzuhalten. Und wenn Sie in Ihrem Schmerz einige Stunden für sich allein brauchen, so verstehe ich Sie sehr gut.«

»Sie verstehen mich? Das ist gut. Danke, Frau Doktor.« Er schien ehrlich berührt. »Aber ist mein Platz nicht bei meiner Tochter? Ich werde ihr das Foto ihrer wunderbaren Mutter bringen. Ja, heute noch. Ganz gewiß.« Er ergriff ihre Hand. »Ich muß Ihnen danken, Frau Doktor. Claudia schätzt Sie, das weiß ich. Bitte, enttäuschen Sie mein unglückliches Kind nicht.«

»Nein, das werde ich nicht, Herr Ossiander.« Ein Schluchzen stieg in ihr auf, aber sie besiegte es, bevor er es bemerken konnte und wandte sich mit einem schwachen Lächeln ab.

Während der Autofahrt zurück zur Klinik ließen sie die Gedanken an diesen Mann nicht mehr los. Was mochte in ihm vorgehen? Würde er sich nicht lieber, um seinen Schmerz zu betäuben, in die Arbeit stürzen? Mußte er sich nicht dazu zwingen, in Claudias Gesicht zu schauen? Und dann von der Ähnlichkeit mit ihrer Mutter in noch größerem Schmerz oder sogar in Apathie zu versinken?

Sie hatte Mitleid mit ihm. Er war ein großer Dirigent, ein genialer Künstler. Wie konnte er nur die Kraft für seine nächsten Konzerte mit der Kraft, die Claudias bemitleidenswerter Zustand ihm jetzt abverlangte, in sich vereinen? Er war doch auch nur ein Mensch. Und sogar ein großartiger, der sich nicht gescheut hatte, ihr auf dem Friedhof im Laufschritt zu folgen, nur, um ihr ehrlich zu danken. Und zu dem Mitgefühl für Annalenas Witwer regte sich nun mitfühlende und tiefe Sympathie für Fabian Ossiander in ihr.

Ihr Kollege und Freund Kurt Wittek hatte die letzten Stunden in Claudias Zimmer verbracht. Als Astrid, wieder im weißen Kittel, eintrat, schlief ihre kleine Patientin.

Kurt verließ den Raum auf Zehenspitzen. Sie setzte sich auf den Stuhl am Fenster und sah in den Garten hinaus. Ob sie dort einmal mit Fabian plaudernd spazierengehen würde? Wie würde es sein, wenn sich zum erstenmal nach Wochen ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigte? Würde es ihr als Frau oder nur der Ärztin gelten, die sein Kind betreute?

»Hast du Mami einen Gruß von mir in den Himmel mitgegeben?«

Claudias brüchige Stimme schreckte sie aus ihren Träumen auf. Sie war sofort bei ihr.

»Ja, das habe ich. Mit der ganzen Kraft unserer beiden Herzen, Claudia.« Astrid nahm das Glas mit Saft und führte es an ihre Lippen. »Dein Vater wird bald hiersein. Er hat es mir fest zugesagt.«

Claudia trank zu ihrer Freude das halbe Glas aus. Dann fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und seufzte.

»Weißt du, Astrid, mein Papa hat immer viel zu tun. Er muß in Verona ein Konzert geben. Ich glaube sogar, schon morgen…«

»Wenn es so ist, so kommt er trotzdem noch.«

Claudia lehnte sich zurück. »Hast du einen Mann auf dem Friedhof gesehen?«

»Einen Mann? Wen meinst du? Es waren hunderte von Menschen dort.«

In dem Blick, den Claudia zu ihr hochsandte, lag ein seltsamer Ausdruck, der Astrid im ersten Moment irritierte. Hatte sie was falsches gesagt?

»Ob meine Mami will, daß Papas Gedanken bei ihr im Himmel sind?« fragte die Elfjährige da schon.

Es war nicht das erste Gespräch, das Astrid mit trauernden Hinterbliebenen von Unfallopfern führte. Aber noch nie kam sie sich so unwissend und dumm vor wie jetzt. Da Claudia sie immer noch ansah, suchte sie verzweifelt nach einer Antwort, die dem Kind gerecht wurde, Trost erwirkte und doch ohne Heuchelei ausgesprochen werden konnte.

»Ich glaube«, hörte sie sich sagen, »daß jeder Mensch, der diese Erde verlassen muß, gern von der Liebe seiner Angehörigen in den Himmel getragen wird.«

»Auch, wenn er die Angehörigen gar nicht lieb hatte?« kam es prompt zurück. Diesmal stutzte Astrid wirklich.

»Aber deine Mama hat dich doch bestimmt sehr liebgehabt!«

Claudia atmete schwer. »Wir hatten doch noch Streit, Astrid.«

»Streit? Im Auto?«

»Ja«, kam es kläglich zurück.

Astrid erhob sich, um Claudias Kopfkissen auszuschütteln.

»Ich habe auch manchmal mit meiner Mutter Streit«, gab sie sich heiterer, als ihr zumute war. »Aber die Liebe einer Mutter wird davon nicht geringer. Glaub’s mir.« Sie setzte sich wieder. »Worüber habt ihr denn gestritten?«

Die Frage klang munter, weil sie Claudia von einer Last befreien sollte. Diesmal erhielt sie keine Antwort. Vergeblich wartete sie auf die Schilderung einer nichtssagenden Auseinandersetzung, wie sie zu tausenden zwischen Eltern und aufsässigen Kinder geführt wurde.

Nach einer Weile wurde das Abendessen gebracht. Fast gleichzeitig trat Fabian Ossiander ins Zimmer.

Nachdem er Claudia mit einem Kuß und Astrid mit einem flüchtigen Nicken begrüßt hatte, entnahm er seiner Ledertasche einen in ein seidenes Tuch gehüllten Gegenstand. Mit dramatischer Geste zog er das Tuch fort.

Mit angehaltenem Atem beobachtete Astrid, wie er den breiten Silberrahmen mit dem Foto Annalenas so auf den Tisch neben Claudia stellte, daß sie ihre Mutter immer ansehen konnte.

Annalenas schmales, von dunklen Haaren umgebenes Gesicht war so schön, daß es Astrids Erinnerung an das wächserne Antlitz der Sterbenden im OP auslöschte. Ihr stockte fast der Atem, weil sie erst jetzt begriff, welcher Zauber von dieser Frau ausgegangen war.

Leise verließ sie das Zimmer. Einmal mehr und so schmerzhaft wie nie zuvor war ihr bewußt geworden, welchen Verlust Claudia und ihr Vater erlitten haben mußten.

*

»Es war unklug von dir, zu mir ins Hilton in London zu ziehen, Bella«, sagte Fabian Ossiander einige Wochen später zu der jungen Sängerin, die sich bei ihrem Rundgang durch den Hyde Park ungeniert an seinen Arm gehängt hatte.

»Ach, Fabian!« sagte sie leise. »Du fürchtest doch nur, daß die Presse davon erfährt. Dabei weiß alle Welt, daß wir Freunde sind.«

»Trotzdem, es kam für mich überraschend. Und in letzter Zeit mag ich keine Überraschungen mehr.«

»Du sprichst von furchtbaren Überraschungen. Nicht von dem angenehmen Gefühl, das ein unerwarteter Freundschaftsdienst auslöst.«

Fabian schwieg. Die Berührung ihres Armes, das zarte Parfüm, das sie umgab, empfand er als belebend und angenehm. Aber Bella trat so selbstsicher neben ihm auf, genauso selbstsicher hatte sie ihn am Morgen beim Frühstück überrascht und ihm vorwurfsvoll zu verstehen gegeben, wie vergeßlich er in letzter Zeit war.

Sie hatte ja recht. Es war ihm völlig entfallen, daß sie sich zur gleichen Zeit in London aufhielten. Er gab hier drei Konzerte, sie war, dank seiner Empfehlung als zweiter Sopran für die Proben an der Oper engagiert worden. Aber mußte sie deshalb das Hotel wechseln? Wenn er sich nach ihrer Nähe sehnte, hätte er sie bestimmt von selbst aufgesucht.

»Annalenas Tod liegt erst vier Wochen zurück, Bella. Versteh es doch, als Gesellschafter und fröhlicher Begleiter eigne ich mich nicht.«

Sie lächelte und sah entzückend aus. »Auch nicht als Liebhaber? Aber du gehst mit mir in aller Öffentlichkeit untergehakt spazieren. Das ist ein neuer Anfang.«

»Was für ein Anfang? Wir sind seit Jahren gute Freunde.«

»Annalena hat dir lange nichts mehr bedeutet. Jetzt, da sie nicht mehr lebt, können wir uns zu unserer Liebe bekennen. Das meine ich mit dem neuen Anfang.«

Das klang so selbstverständlich und selbstbewußt, daß er unwillkürlich zusammenzuckte.

»Liebe?« wiederholte er, als höre er das Wort zum ersten Mal.

»Na, hör mal? Was verband uns denn sonst in den vielen Nächten?«

Fabian empfand nichts als Abscheu vor seiner Vergangenheit. Sollte er sich ihr wie ein Schwächling ausliefern, nur, um sie mit einer attraktiven Frau an seiner Seite zu zeigen?

»Du irrst, Bella. Annalena hat mir viel, sie hat mir alles bedeutet. Ich gebe zu, daß ich sie in vielen Dingen nicht immer verstand. Sie verstand mich ja auch nicht. Sie forderte ständig Aufmerksamkeit von mir.« Er blieb stehen. Seine Züge spannten sich an. »Sie hätte bedeutend mehr meiner Aufmerksamkeit verdient. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber sie war eine wunderbare, unvergeßlich schöne Frau und eine liebevolle, vorbildliche Mutter. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals vergessen kann.«

Bella zog ihren Arm zurück, um nervös an dem Kragen ihres hübschen Sommerkostüms zu nesteln. Dabei hob und senkte sich ihre Brust, als müsse sie mit einem Schock fertig werden.

»Das alles… also wirklich, das fällt dir reichlich spät ein.«

Ohne ihren Arm zu nehmen, ging er einige Schritte weiter. Sie holte ihn ein und stellte sich ihm in den Weg.

»Du hast Annalena seit langem nicht mehr geliebt, Fabian. Und wenn du jetzt um sie trauerst, dann tust du es nur, um deiner Tochter dadurch einen Halt zu geben. Das verstehe ich ja. Aber mach dir doch nichts vor. Du und ich… wir sind füreinander bestimmt. Du betrügst deine Frau ja nicht mehr, wenn du mich umarmst. Du betrügst nur dich… ja, und sogar deine Tochter. Denn auch Claudia braucht bald eine neue Mutter.«

»Es gibt keine Frau, die Annalena ersetzen kann. Claudia weiß das so gut wie ich. Und wir bestärken unsere Herzen in diesem Wissen und sind uns nah wie nie.«

»Sie liegt noch immer im Krankenhaus, nicht wahr?«

Er schluckte. »Ihr steht eine zweite Operation bevor.«

»Gut, ich werde sie, sowie ich wieder in München bin, besuchen.«

Da funkelte er sie an. »Das verbiete ich dir! Begreifst du es nicht? Claudia braucht mich, nur mich ganz allein, wenn sie jemals den Schmerz über den Verlust ihrer Mutter überwinden soll.«

»Ach! Und warum bist du dann nicht bei ihr? Warum hast du in den letzten Wochen nur drei Konzerte abgesagt?«

»Weil in der Kunst die Kraft liegt, die mir hilft, mit dem Schmerz fertig zu werden.«

Ihre dunklen Augen wurden kalt.

»Es ist nicht der Schmerz der Trauer, mit dem du fertig werden mußt, Fabian. Es ist der Schmerz der Reue, weil deine Frau ungeliebt und von dir betrogen starb. Aber du bereust zu spät und zerstörst damit unser Glück. Schlimmer noch, du flüchtest dich in Selbstbetrug. Das wird auch Claudia eines Tages bemerken.« Sie machte eine erregte Bewegung. »Sie tut mir leid, deine Tochter. Ja, ich habe Mitleid mit ihr, weil du sie in deine Welt voller Falschheit und Lügen zwingst.«

Sie sah ihn an, ihr Blick nahm Abschied. Erst, als sie sich langsam abwandte und davonging, hatte er das Bedürfnis, sie zurückzurufen. Aber sein Stolz hielt ihn davon ab, denn tief in seinem Herzen wußte er – Bella hatte ihn durchschaut. Und ein zweites Mal durfte ihm das nicht passieren, sonst zweifelte er eines Tages wirklich noch an sich selbst.

*

»Wie geht es meinem Kind?« fragte Fabian eine Woche später. Er war im Ärztezimmer erschienen und sah die beiden Kollegen mit seinen grünen, dunkel umschatteten Augen an. Zweifellos war er erregt. Aber dazu gab es gar keinen Grund.

Astrid, die am Schreibtisch über einem Krankenbericht saß, erhob sich. Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Guten Abend, Herr Ossiander.«

Er sah sie verwirrt an. Diese Frau lächelte ja. Ihr weiches, freundliches Gesicht drückte sogar Freude aus. Freute sie sich, ihn endlich mal wieder in der Klinik zu sehen oder hielt sie Claudias Zustand für erstaunlich zufriedenstellend? Es vergingen Sekunden, in denen sie sich stumm anblickten.

»Es geht ihr den Umständen entsprechend überraschend gut, Herr Ossiander«, begann Astrid tatsächlich.

Wenn Fabian Ossiander trotzdem stumm blieb, so war es wohl die Furcht vor der Wahrheit. Aber die Wahrheit konnte sich doch hören lassen!

»Die Operation verlief komplikationslos. Claudia geht es wirklich gut. Sie erwartete Sie schon gestern.«

Fabian zögerte, als käme er von weit her. Er hatte in ihren Augen etwas bemerkt, das ihn festzuhalten schien. Von dieser Frau ging eine verführerische und doch klare Wärme aus.

»Danke, Frau Doktor.« Dann nach einem Räuspern, setzte er hinzu. »Sie wird also wieder gehen können?« Daß sein Blick dabei recht streng geriet, beabsichtigte er wirklich nicht. Er wollte sich nur nicht in dieses angenehme Gefühl verlieren, das ihn in ihrer Nähe ergriff.

»Ja. Aber wir müssen Geduld haben«, erwiderte sie ruhig. »Bis Claudia sich wieder wie ein Mädchen ihres Alters bewegen und herumspringen kann, werden noch Monate vergehen. Ich möchte sie noch mindestens acht Wochen hierbehalten, dann wird sie in eine Klinik verlegt, wo sie eine besondere Behandlung erfährt. Aber im nächsten Frühjahr…«

»Was? Im nächsten Frühjahr?«

»Ja, ein gutes halbes Jahr wird vergehen.«

»Das ist ja… denken Sie nicht daran, wie furchtbar viel sie schon erlitten hat?«

»Die zweite Operation war nötig, Herr Ossiander. Ohne diesen Eingriff hätte Claudia auch gehen können, aber ihr Bewegungsablauf hätte dem angegriffenen Hüftgelenk zuviel zugemutet. Bereits nach Wochen wären Beschwerden aufgetreten, die ihre Motorik beeinflußt und ein chronisches Hinken verursacht hätten. Jetzt wird das nicht eintreten, auch, wenn er Heilungsprozess Monate ins Anspruch nimmt.«

Er schluckte. »Ich brauche mein Kind, Frau Doktor. Ich bin ständig unterwegs, kehre ich von meinen Tourneen oder Konzerten heim, komme ich in ein verwaistes Haus zurück. Dieser Zustand ist unerträglich.«

»Tut mir leid. Aber meinen Kollegen und mir geht es um Claudia.«

Sein Blick wurde scharf. Klang in ihrer Stimme eine leise Kritik mit? Von einer Frau wie ihr ertrug er das nicht. Sie blieb dabei auch ganz ruhig, ganz anders als Bella Crusius, die ihn in ihrer Erregung sträflich beleidigt hatte.

Fabian wandte sich ab. Er wollte zu Claudia. Sie war der einzige Mensch der ihm Geduld entgegenbrachte und ihn so nahm, wie er eben war. Ja, Claudia liebte ihn.

»Ich komme nach«, meinte Astrid freundlich, als er die Türklinke schon in der Hand hielt.

Er hörte kaum hin. Warum hatte hier keiner Verständnis für ihn? Warum begriff keiner, daß er sich mit aller Kraft in die Arbeit stürzen mußte, um nicht immer von den Gedanken an Annalena in die Tiefe gezogen zu werden?

Sie war ja immer für ihn dagewesen. Daran hatte er sich gewöhnt. Und auch an das Schweigen, mit dem sie seine Affären ertrug. Ja, Annalena hatte alles ertragen, wenn es nur seinem Wohlbefinden diente. In letzter Zeit hatte sie ihn sogar kaum noch gebeten, auch einmal für sie dazusein. War sie nicht bewundernswert bescheiden gewesen?

Nun ja, sie hatte alles, was sie wollte. Sie konnte im Luxus schwelgen und sogar gewisse Freiheiten genießen. Aber sie hatte ihn eben zu sehr geliebt, um überhaupt einen anderen Menschen an sich heranzulassen. Nur Claudia war ihr immer ganz nah gewesen.

Diese Gedanken flatterten durch seinen Kopf, als er durch die Korridore zu Claudias Zimmer eilte. Er öffnete die Tür und bemerkte zunächst die vielen Blumen, die er ihr aus allen Städten, in denen er aufgetreten war, geschickt hatte. Mit einem Aufatmen näherte er sich dann ihrem Bett.

Zum erstenmal seit dem Tod ihrer Mutter lächelte sein Kind ihn richtig an. »Papa!« Sie hob ihm die Arme entgegen und die seltsame Verpackung, die von der linken Hüfte bis hinunter zum Fuß reichte, schien sie kaum zu behindern. »Mein Papa…!«

Fabian fühlte sich von diesem Eindruck überwältigt. Er hatte sich auf ein leidendes, vergrämtes Kindergesicht eingestellt und mit Klagen und Tränen gerechnet. Hatte sie keine Schmerzen? Und brauchte sie schon wieder diesen kleinen Recorder, über dessen schlechte Klang-Qualität er sich ärgerte? Oder wozu führte das Kabel zu dem Knopf in ihrem Ohr?

»Es ist englisch, Papa«, half sie ihm auf die Sprünge. »Astrid hat so ein Programm besorgt. Kinderbücher auf englisch und mit Kassetten, auf denen der Text erklärt wird. Weißt du, ich darf doch nicht so viel versäumen, ich kann lange nicht in die Schule.«

»Astrid?«

»So heißt Frau Dr. Hoffmann. Ich darf sie so nennen.«

»So.« Er zog ein Päckchen aus seiner Jackentasche. Auch das war eine Kassette mit seiner letzten Aufnahme der fünften Sinfonie von Gustav Mahler.

»Danke«, sagte Claudia nur und hob wieder die Arme, um ihn an sich zu ziehen. »Die höre ich dann später. Ist hoffentlich nicht Chopin«, fügte sie grinsend hinzu.

Von ihr ging eine so fröhliche Kraft aus. Fabian konnte es nicht fassen. Dachte sie nicht mehr an ihre Mutter? Annalenas Foto stand doch immer noch da. Woher nahm sein Kind diese Lebensfreude trotz des Verbands, trotz der Schmerzen, die sie erlitten haben mußte? Nein, so schnell durfte sie ihre Trauer doch nicht überwinden.

Er ließ sich von ihr umarmen und schmiegte sein Gesicht an seinen Hals.

»Du darfst deine Mutter nicht so schnell vergessen, Claudia.«

Claudia zuckte zur Seite.

»Du bist der einzige Mensch in meinem Leben«, fuhr er erregt fort. »Nur du weißt, wie alleine ich jetzt bin, mein Kind.«

Sie schluckte, und ihr Nacken wurde ganz steif.

»Du mußt schnell gesund werden, mein Töchterchen, damit du mir Mamas Liebe ersetzen kannst. Nicht wahr, das willst du doch? Sie fehlt mir so, unsere Mama. Ohne sie ist alles sinnlos. Und du weißt, wie sehr sie mich immer unterstützt hat… bei meiner Arbeit und sogar, wenn wir getrennt waren. Immer spürte ich ihre Liebe. Sie war mir alles, mein Seelenheil, mein Halt.«

»Ja, Papa.« Claudia hatte die Augen geschlossen. Sie spürte ihr Herz heftig schlagen, als ob es sie ermahnen wollte, doch endlich die Wahrheit zu sagen. Wie oft hatte sie sich in den letzten Wochen immer wieder vorgenommen, endlich über die letzten quälenden Minuten mit ihren Mutter zu sprechen, um sich dadurch von einer Lüge zu befreien!

Sie mußte ihrem Papa doch von Wolfgang Bosch und seinem Haus am Gardasee erzählen! Aber sie konnte es nicht.

Woher sollte sie die Kraft nehmen, ihre Mutter anzuschwärzen? Wie den Mut aufbringen, ihrem unglücklichen Vater noch den Glauben an die Liebe seiner Frau zu nehmen?

»Du wirst unsere Mama doch nie vergessen?« fragte Fabian und sah sie an. Seine Augen schimmerten feucht. Der Anblick traf Claudia bis ins Innerste. Sofort schüttelte sie den Kopf.

»Du hast sie doch auch sehr, sehr geliebt und gebraucht?«

»Klar«, kam es aufrichtig von ihren Lippen.

Sollte sie ihm gestehen, wie oft sie nachts das Licht anknipste, Annalenas Foto vom Tischchen nahm und mit ihr stumme Zwiesprache hielt? Wie oft ihre Mama ihr im Traum erschien und ihr am Tag trotzdem so furchtbar fehlte?

Nein, sie konnte es nicht, denn da war dieses Geheimnis, das sie bedrückte, und ihr zugleich eisern die Lippen verschloß. Wie lange sollte sie es noch mit sich herumtragen?

»Aber weißt du, Papa…«, Sie wollte es loswerden. Jetzt sofort, um endlich Ruhe zu finden.

»Ich weiß, natürlich«, unterbrach er sie. »Du hast mich vermißt. Aber ich war eine Woche in London und dann in Kopenhagen. Nächste Woche bin ich in New York, ich nehme Beethovens

Neunte erneut auf. Mit den Bostoner Symphonikern. Weißt du doch, sie waren dreimal hier in München. Und beim zweiten Konzert hast du mit Mama in der ersten Reihe gesessen. Weißt du noch? Sie hatte dir extra ein grünes Samtkleid gekauft. Und immer, wenn ich mich umwandte, sah ich meine beiden Hübschen, meine liebsten Menschen auf der Welt. Wieviel Kraft mir das schenkte. Sowie du wieder gesund bist, mußt du jedes meiner Konzerte besuchen! Versprichst du es mir?«

Sie lehnte sich zurück. Es war zwecklos! Ihr Vater würde die Wahrheit nicht ertragen. Und mit dem feinen Gespür eines Kindes, das seit Wochen ans Bett gefesselt ist, erkannte sie, daß sie ihm nur beistehen konnte, wenn sie sein Lügengebäude stützen half.

»Astrid sagt, ich muß im Winter in eine Klinik am Chiemsee. Und danach noch viel im Rollstuhl sitzen. Mein Hüftgelenk war ganz kaputt, Papa.« Sie lächelte dabei mutig.

»Das weiß ich doch, mein Liebling. Aber wir werden es schaffen. Wenn du erstmal wieder bei mir bist…«

»Dann brauche ich Hilfe, sagt Astrid.«

Sofort nickte er lebhaft. »Sicher. Wir brauchen eine richtige Haushaltshilfe. Ich werde mich rechtzeitig darum kümmern.« Er seufzte. »Leicht wird es nicht. Nur Mama konnte Menschen richtig einschätzen. Ihre Urteilskraft täuschte sie nie.«

Endlich lächelte Claudia. »Am liebsten wär mir Astrid.«

Er krauste die Stirn. »Die Frau Doktor? Aber, Claudia!«

»Sie ist so nett, Papa. Ich darf du zu ihr sagen wie zu einer richtigen Freundin. Ich hab’ sie schrecklich gern.«

So, Astrid, dachte Fabian Ossiander. Diese sympathische Frau im weißen Kittel, deren Blick auch etwas in mir berührt hat.

»Findest du sie auch nett?« Claudia lächelte voller Hoffnung.

»Was für eine Frage, Claudia!« erwiderte er mit belegter Stimme, weil er sich wieder ertappt fühlte. »Mein ganzes Denken und Fühlen ist bei unserer Mama. Wenn Frau Dr. Hoffmann nett zu dir ist, bin ich ihr dankbar. Ja, sehr sogar. Aber mehr empfinde ich nicht.«

»Aber sie ist echt super, Papa.«

»Super? So, und war deine Mama das nicht? War sie nicht immer für dich da? Hörte sich deine kleinen Sorgen an, empfing deine Freundinnen und verwöhnte dich mit tausend Kleinigkeiten?«

»Ja, wie Astrid es auch versucht.«

»Wie kannst du Mama nur so schnell vergessen?«

»Aber, Papa, ich vergesse sie doch gar nicht!« wehrte Claudia sich. Plötzlich umschlang sie ihn, schluchzte auf und drückte ihren bebenden Oberkörper an seinen. Sie wollte ihm doch nicht weh tun.

»Herr Ossiander?« Astrid Hoffmann war ins Zimmer getreten. Sie hatte die letzten Sätze der Unterhaltung gehört. Nun stand sie dort und wartete, bis Claudia ihn losließ und er sich nach ihr umwandte. »Entschuldigen Sie, Herr Ossiander. Würden Sir mir bitte nach draußen folgen? Wir müssen etwas besprechen.«

Er folgte ihr sofort. Im Halbdunkel des kargen Flurs wirkten die Konturen seines Gesichts nicht ganz so markant. Dafür traten die grauen Strähnen in seinem üppigen, leicht gekrausten Haar stärker hervor. War dieser Mann in den letzten Wochen gealtert? Astrid wollte sich diese Frage nicht beantworten. Nur kein Mitleid mit diesem Vater, der sein krankes Kind auch noch mit Vorwürfen quälte!

»Ich bitte Sie, Claudias kleine Seele nicht zu sehr zu belasten, Herr Ossiander. Ich freue mich über jedes Lächeln von ihr. Und jedes Anzeichen ihrer kindlichen Unbekümmertheit ist ein Fortschritt. Laden Sie ihr keine Schuldgefühle auf, nur weil es so wirkt, als fände sie sich mit dem Tod ihrer Mutter ab. Claudia braucht ein wenig Heiterkeit und Hoffnung für die Zukunft. Kein Mensch wird sich zwischen sie und die Erinnerung an ihre Mutter drängen.«

Er sah sie verstört an. »Sie sind streng mit mir, Frau Doktor.«

»Kann sein. Aber ich habe Claudia in mein Herz geschlossen und bin für ihr Vertrauen sehr dankbar.«

»Ach, und ich? Wissen Sie, wie es in mir aussieht? Ahnen Sie überhaupt, was für ein wunderbarer Mensch meine Frau war?«

Sollte sie ihm eingestehen, wie schwer sie selbst am Tod Annalenas trug? Würde das überhaupt zu ihm durchdringen?

Astrid schluckte. »Claudia zuliebe nüssen auch Sie eines Tages diesen Verlust verschmerzen. Ihr Kind braucht Sie doch.«

»Ich brauche auch Hilfe, Frau Doktor!« schnaufte er, hob die breiten Schultern und stürmte durch den Korridor auf den Ausgang zu.

*

»Drei Dutzend sind es, Astrid«, grinste Kurt Wittek zwei Tage später, als die Kollegin zum Spätdienst ins Arztzimmer gekommen war und erstaunt vor dem üppigen Bukett aus weißen und rosa Rosen stand. »Der Herr Dirigent läßt sich nicht lumpen. Er weiß, was er seinem Ruf schuldig ist.«

»Mein Gott!« schmunzelte Astrid. »Wie nett von ihm! Bist du sicher, die sind von Ossiander?«

Kurt trat hinzu, holte einen Umschlag aus dem Bukett und reichte ihn ihr. »Hinten steht’s drauf: Büro Philharmie. Da hat er jemanden mit dem Aussuchen der Blumen beauftragt. Hoffentlich sind die Zeilen im Umschlag wenigstens von ihm selbst.«

Eine zarte Röte stieg in ihr Gesicht. »Spiel dich nicht zum Richter auf, Kurt. Ossiander ist kein Durchschnittsmann.«

»Das ist mir nicht neu. Er ist nur leider unterdurchschnittlich mit väterlichen Eigenschaften versorgt worden. Arme Claudia.«

»Er kann den Tod seiner Frau nicht verschmerzen. Das ist alles. Ich trage ja selbst noch schwer an meinem Versagen.«

»Nein, nein! Es war kein Versagen, Astrid. Was du für Claudia tust und empfindest, darf doch nicht auf Schuldgefühlen beruhen. Willst du ihr das auch noch zumuten?«

Astrid zog nachdenklich ein Schreiben aus dem Umschlag. Sie sah Kurt an und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Claudia wirklich sehr gern. Am liebsten würde ich sie gar nicht in die Reha-Klinik fortlassen.«

»Das verstehe ich. Wenn Claudia nicht mehr bei uns liegt, wirst du ihren Vater auch nicht mehr sehen«, neckte er sie.

»Dann glaubst du also, er gefällt mir?« Es klang kokett, aber in ihrer Stimme klang ein Beben mit. Und dann, als sie die Zeilen auf feinstem Bütten überflog, legte sich ein Lächeln der Gewißheit auf ihre fraulichen Züge.

Kurt beobachtete sie. Oder glich ihr Lächeln nicht sogar dem eines Kindes, das vor dem Kerzenschein des Tannenbaums steht und darunter das lange ersehnte Geschenk entdeckt und doch abwarten muß, bis es beherzt danach greifen darf?

Gott sei Dank war Annalena kein Kind mehr. Sie war eine tüchtige Ärztin, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Sollte sie dieser Brief in wenigen Sekunden auf eine Wolke aus Illusionen und Wünschen heben, mußte er sie eben wieder auf die Erde zurückholen.

»Ossiander bittet mich, ihn am dritten Oktober zum Abendessen zu begleiten«, flüsterte sie beeindruckt. »Vorher hat er keinen Termin frei, aber er besteht auf dieser Verabredung. Weil er mir für alles, was ich für Claudia tue, danken will.«

Kurt ächzte komisch. »Dann nimm es auch als Dankeschön und nicht mehr, Astrid. Fabian Ossiander ist kein Witwer wie viele andere. Erlaube ihm nicht, daß er sich mit seinem Dankbarkeitsgetue von seiner Verantwortung als Vater freikauft.«

»So?« lachte sie amüsiert. »Du mußt ja eine gute Meinung von den Männern haben. Als ob Dankbarkeit nicht ein wunderbarer Anfang sein könnte!«

Um nicht herablassend an seine Stirn zu tippen, verließ er vorher lieber das Zimmer. An der Tür stieß er mit Schwester Gudrun zusammen.

»Frau Doktor?«

Noch immer lächelnd blickte Astrid sie an. »Was ist?«

»Da steht ein Mädchen auf dem Korridor. Sie heißt Silke Schilling und behauptet, Claudia Ossianders beste Freundin zu sein. Darf sie zu ihr?«

»Silke Schilling? Na, endlich. Natürlich darf sie zu Claudia.«

»Aber Claudia hat gerade die Physio-Therapeutin bei sich.«

»Das macht nichts. Schicken Sie Silke nur herein. Claudia hat schon so oft nach ihr gefragt.« Sie schob den Brief in ihre Rocktasche und stand auf, um sich den Kittel anzuziehen.

Claudia haßte es, wenn die Physio-Therapeutin sich mit ihr beschäftigte. Dabei wußte sie, daß jede Übung nur einem, ihrem einzigen Ziel galt. Wollte sie sich nicht endlich wieder ohne Hilfe bewegen? Warum nur war das alles anstrengend und mühsam?

Es klopfte. Sofort schüttelte die Therapeutin Karin Kramer den Kopf. »Keine Störung, bitte!«

Schwester Gudrun öffnete trotzdem die Tür und schob dann ein hochaufgeschossenes Mädchen hinein.

»Silke!« jubelte Claudia und atmete völlig falsch. »Silke!«

»So hat das keinen Zweck, Claudia. Schluß für heute«, entschied Karin Kramer. »Dafür morgen zehn Minuten mehr. Sonst wird das ja nie was mit uns!«

Silke blieb eingeschüchtert an der Tür stehen. Aber kaum war Karin Kramer draußen, da stürmte sie mit ihrem Strauß bunter Dahlien auf Claudia zu. Der Strauß plumpste zu Boden und die beiden Mädchen lagen sich in den Armen.

»Mensch, Silke. Ich dachte, du hast mich vergessen.«

»Blödsinn!« Silke hatte eine neue freche Frisur und bunte Stecker in den Ohren. Sie setzte sich und blickte Claudia lange schweigend an, um die richtigen Worte zu finden.

»Ich bin schon seit zwei Wochen wieder hier. Aber ich fand nicht den Mut, zu dir zu kommen. Bitte, verzeih mir, Claudia.« Da Claudia nur zur Seite sah, setzte sie eifrig hinzu: »Meine Mutter hat schon mit mir geschimpft. Aber wenigstens sind wir zusammen zum Grab gegangen und haben Blumen hingelegt.«

»Zum Grab meiner Mama? Und? War da… ein Mann am Grab? Hast du nichts gesehen?«

»Ein Mann? Wen meinst du? Doch nicht etwa deinen Vater?«

»Nein.« Es war zwecklos. Claudia begriff es einmal mehr. Wie sollte sie Wolfgang Bosch beschreiben, ohne hinzuzufügen, woher und warum sie ihn kannte?

Silke überspielte ihre Verwirrung, in dem sie den Strauß Dahlien aufhob, ihn auf die Fensterbank legte und dann ein kleines Päckchen aus ihrer Tasche nahm. Das legte sie Claudia in die Hände. »Wir haben in der Klasse für dich gesammelt. Damit du die Stunden zählst, bis du wieder bei uns bist.«

Claudia öffnete das Etui. Eine lustige, bunte Armbanduhr lag darin.

»Dann haben wir abgestimmt und uns für die Uhr entschieden.«

Claudia preßte die Lippen zusammen, um nicht aufzuschluchzen, aber dann siegte die Freude über diese Überraschung und ihre Züge entspannten sich.

»Danke. Sag es allen. Vielen Dank.«

»Bestimmt bekommst du schönere Geschenke von deinem Vater.«

»Nein. Er schickt Blumen, läßt Obst liefern oder bringt mir Kassetten mit seinem Bla-Bla-Tsching-Derassa-Bum!«

»Mensch, Claudia!« ermahnte die Freundin sie. »Dein Vater und dann Bla-Bla!« Empört schüttelte sie den Kopf.

»Macht doch nichts, Silke. Er kann ohne Mama nichts Nettes für mich tun. So ist er eben. Astrid sagt, Väter können ihre Liebe nicht immer so zeigen. Und sie sagt, er ist eben ein besonderer Mann und hat mich bestimmt schrecklich lieb. Sie meint auch, es dauert noch eine Zeit, bis er wieder einen Blick hat für mich und andere Menschen, die ihn brauchen.«

Silke nickte. Was wußte sie schon vom Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen. Claudia tat ihr unendlich leid.

»Wer ist… denn diese Astrid? Auch eine Kranke?« fragte sie, weil sie wie alle Mädchen schrecklich neugierig war.

»Astrid ist Ärztin und meine beste Freundin.«

»Eine Ärztin? Oh, Gott! Ist sie nicht schrecklich alt?«

»Klar, so alt wie meine Mama… war.«

Silke neigte den Kopf, denn sie konnte nicht mit ansehen, wie Claudia sofort wieder tapfer gegen ein aufsteigendes Schluchzen kämpfte. Sie blickte zu dem Foto hinüber. Claudias Mama war eine so schöne Frau gewesen! Sie hatte sie als immer heiter und freundlich in Erinnerung. Warum nur konnte sie jetzt nicht die richtigen Trostworte für die arme Claudia finden?

»Dein Vater hat deine Mama doch auch wahnsinnig geliebt. Wenn du wieder zu Hause bist, wird er bestimmt nicht mehr so viele Konzerte geben und viel Zeit für dich haben.«

Claudia seufzte. »Das denkt Astrid auch. Aber nur, weil sie ihn echt toll findet, denkt sie auch nur Tolles von ihm.« Und dabei lächelte Claudia sogar unter ihren Tränen.

»Ist die etwa in deinen Vater verknallt? Das wär ja übel, wo hier das Foto deiner Mama steht. Dann mußt du ihr sagen, daß das keinen Sinn hat, weil du doch bestimmt keine andere Mutter haben willst.«

»Verknallt?« wiederholte Claudia, als habe sie nur die Hälfte mitbekommen. »Astrid in Papa…?« Ihr Gesicht veränderte sich. In ihren Augen schimmerten immer noch einige Tränen, aber sie leuchteten dabei auf, wie bei einem ganz gesunden Mädchen, das zum ersten Mal spürt, daß eine Liebe die Tür zu einer besseren Zukunft öffnen kann. Aber da schaute Schwester Gudrun herein.

»Dr. Hoffmann läßt anfragen, ob wir für deinen Gast auch Kuchen und Kakao bringen sollen?«

»Ja, ja, sollt ihr!« lachte Claudia auf und war wieder ganz die alte. »Silke, du bleibst doch?« Dann fügte sie tuschelnd hinzu. »Weißt du, Dr. Hoffmann… das ist meine Freundin Astrid.«

»Was? Wahnsinn! Na, ist ja nett, wenn sie uns beiden Kuchen bringt.«

»Ja, sie ist echt prima. Vielleicht guckt sie noch zu uns rein.«

Zu Silkes Überraschung beugte Claudia sich blitzschnell zur Seite, nahm das Foto ihrer Mutter und schob es in die Lade des Tischchens. Als sie Silkes befremdeten Blick bemerkte, lächelte sie entschuldigend.

»Dann haben wir mehr Platz für unseren Kuchen, Silke.«

Und dann stellte Claudia eine Frage, die die Verwirrung der Freundin noch vergrößerte:

»Versprichst du mir, ganz nett zu Astrid zu sein, wenn sie zu uns reinkommt?«

»Ja«, hauchte Silke, aber seitdem das Foto in der Lade verschwunden war, fühlte sie sich unbehaglich. Sie nahm den Strauß und behauptete, eine Vase holen zu müssen. Dann stand sie eine Zeitlang auf dem Korridor und wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Hatte Claudia ihre Mama denn nicht richtig liebgehabt? Aber das konnte sie doch nicht fragen!

Ihr würde es ja schon schwer genug werden, ganz nett zu dieser Astrid zu sein. Sie kannte sie doch gar nicht. Und wie kam Claudia dazu, eine Ärztin ihre Freundin zu nennen?

Silke hoffte, die Ärztin würde keine Zeit für eine Stipvisite in Claudias Zimmer finden. Oder wenigstens erst später, nachdem die Kuchenteller abgeräumt und das Foto von Claudias Mutter wieder aus der Schublade aufgetaucht war. Sonst bildete sich diese Astrid tatsächlich noch was ein!

*

Es war Oktober geworden. Und Astrid wußte schon weit vor Mitternacht, daß sie diesen Abend mit Fabian Ossiander nie vergessen würde. Sie erinnerte sich auch nicht, die Nähe eines Mannes jemals zuvor in ihrem Leben als so wohltuend empfunden zu haben. Dieses festliche, gemeinsame Essen, davon war sie überzeugt, war der Anfang einer wunderbaren Freundschaft, aus der eine große Liebe und für Claudia ein neues Glück entstehen mußte.

Sie trug ein rostfarbenes Kostüm aus changierendem Stoff, und das Kerzenlicht auf dem Tisch umgab sie mit einem warmen Licht, so daß ihre hellen Augen ungewöhnlich leuchteten. Aber es war ja nicht nur das Licht und die Atmosphäre in diesem teuren Restaurant, der alles in einen märchenhaften Zauber hüllte.

Es war Fabians Stimme, die tief und zärtlich klang, wenn er sie bat, aus ihrem Leben zu erzählen. Und es war der Blick seiner Augen, der ganz ohne Zweifel seinen geheimen Wunsch nach zärtlichen Berührungen verriet.

Astrid verließ sich ja nicht nur auf ihr Gefühl, sie vertraute auch ihren fünf Sinnen. Und raunte ihr nicht alles, was sie sah, hörte, was sie schmeckte und roch, etwas zu? Und wurde dieses Raunen nicht zu einem Rausch, der sie für alles, was Fabians Blick verhieß, empfänglich machte?

Schon Sekunden später nahm er ihre Hand. »Astrid, entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich habe da hinten eine Bekannte entdeckt, die uns beide bereits gesehen hat. Ich möchte sie nur schnell begrüßen.«

Sie stimmte mit einem Lächeln zu. Ein Mann wie er brauchte seine kleinen Freiheiten. Warum sollte sie sie ihm nicht gönnen? So ähnlich hätte sich Annalena gewiß auch verhalten.

Fabian Ossiander entfernte sich an einigen Tischen vorbei. Ihre Blicke folgten ihm. Und sie bemerkte, wie man sich nach ihm umwandte. Es war ein seltsames Gefühl, wenn sie sich vorstellte, daß sie eines Tages zu ihm gehören würde und alle seine Fans sich für sie, seine zweite Frau, interessieren würden.

»Hallo, Fabian«, begrüßte Wiebke Lohmer ihn, als er an ihren Tisch trat. Sie stellte ihm ihren Begleiter, einen Kollegen, vor und deutete dann mit einem Blick an ihm vorbei zu seinem Tisch.

»Du ißt nicht allein? Soso, eine neue Flamme? Sehr hübsch, alle Achtung!«

»Dr. Hoffmann ist die Ärztin von Claudia«, erwiderte er spröde. »Ich verdanke ihr unheimlich viel.«

»Ich verstehe. Sie hilft deiner Tochter über den Verlust ihrer Mutter hinweg. Man sagt ja, Annalena sei eine vorbildliche Mutter gewesen. Du hast es leider nie erwähnt.«

Sie deutete auf einen freien Stuhl, damit er sich zu ihnen setzte, aber Fabian schüttelte den Kopf. Wiebkes Bemerkung verdarb ihm gehörig die Stimmung.

»Ich habe es nie erwähnt, weil ich erst jetzt begreife, was Annalena mir bedeutete, Wiebke. Vielen, die einen geliebten Menschen so plötzlich verlieren, geht es so.«

»O nein, Fabian. Du bist nicht wie viele andere.« Sie hob den Blick und schaute ihn lange prüfend an. »Weiß diese Ärztin auch, was Annalena dir bedeutete? Sie sieht so jung und unbekümmert aus, als ob sie den Abend mit dir in vollen Zügen genießt.«

Er zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Deshalb möchte ich Frau Dr. Hoffmann auch nicht lange warten lassen. Entschuldige mich, bitte. Ich wünsche einen schönen Abend.«

Astrid sah ihm erwartungsvoll lächelnd entgegen, begriff aber sofort, daß er verstimmt war.

»Frau Lohmer ist Juristin. Ich verdanke ihr viel. Sie hat sich ausgiebig nach Claudia erkundigt«, nuschelte er, als er sich wieder setzte.

»Ja, und dabei haben wir heute abend noch gar nicht über Claudia gesprochen«, gab Astrid verlegen zu. »Das war nicht richtig. Haben Sie Ihrer Bekannten denn auch erzählt, daß Claudia den Winter über in einer Klinik verbringen wird?«

Fabian schüttelte den Kopf. So etwas interessierte Wiebke doch nicht. Er griff nun ein zweites Mal nach Astrids Hand.

»Das wird eine lange, schwere Zeit für mein Kind, Astrid. Warum wechseln Sie nicht als Ärztin in diese Reha-Klinik?«

Sie senkte den Blick. »Das wird leider nicht möglich sein.«

»Ich könnte meine Beziehungen ins Spiel bringen. Sie werden sehen, so ein Arbeitsvertrag ist schnell geändert.«

»Darum geht es doch nicht, Herr Ossiander…«

»Bitte, nennen Sie mich Fabian.«

»Wenn… wenn Sie es wünschen, gern.« Sie seufzte. Was hatte sie ihm gerade zu erklären versucht? »So gern ich Claudia habe, aber einmal müssen wir beiden ja Abschied voneinander nehmen. Wenn ich sie in die Reha-Klinik begleite, wird sie sich wohler fühlen, ich weiß. Aber dort wird sie nicht immer bleiben. Ein Abschied, der hinausgezögert wird, muß davon nicht leichter werden. Früher oder später werden sich unsere Wege trennen, dann, wenn Claudia wieder ganz hergestellt ist, muß sie ja ihren eigenen Weg gehen.«

Fabian konnte seinen Blick nicht von ihr fortreißen. Der Gedanke, diese wundervolle, kluge Frau nach Claudias Genesung ebenfalls aus den Augen zu verlieren, war ihm unerträglich.

»Claudia braucht eine Frau, die ihr hilft, ohne ihre Mutter zu leben.«

»Ha«, flüsterte Astrid und sah ihm tief in die Augen. »Und wer dieser Mensch auch ist, er soll ihr helfen, die Erinnerung an Annalena zu bewahren. Sie wissen selbst, welch ungeheure Leere mit ihrem Tod in Claudias und Ihr Leben getreten ist.«

Ihr Blick erfaßte ihn voller Mitgefühl und Sanftmut und ließ ihn spüren, daß er jetzt den Mut aufbringen mußte, ihr von der Lüge, in die er sich seit Monaten immer tiefer verstrickte, zu erzählen.

Aber mußte er ihr dann nicht auch gestehen, mit welcher Gleichgültigkeit er Annalena behandelt hatte? War sie nicht der einzige Mensch, vor dem er sich zu seinem Unvermögen bekennen konnte?

»Sie muß Ihnen furchtbar fehlen«, sagte Astrid und erlöste ihn damit aus seiner feigen Unentschlossenheit. »Eine so schöne Frau und mit einem Herzen voller Liebe für Sie…«

»Ja, so war Annalena«, hörte er sich hastig sagen, weil er nicht auch noch als miserabler Egoist vor ihr stehen wollte. »Ja sie war mein Halt, meine Luft zum Atmen.«

»Keine Frau wird so schnell ihren Platz einnehmen können«, wußte Astrid seinen Gedanken weiterzuführen, obwohl es ihr schwerfiel, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Claudia selbst will ja immer Abschied von ihr nehmen. Neulich hat sie ihr Foto sogar für einige Stunden weggeräumt.«

»Sie hat was?«

»Ja, sie verbarg es in der Lade ihres Tischchens. Ich habe dann mit ihr gesprochen.« Astrid lächelte verlegen. »Nun steht es wieder so, daß sie es betrachten kann. Ich weiß doch, daß Claudia ihre Gefühle gar nicht betrügen kann.«

Ihre Worte taten ihm gut. Ja, wenigstens Claudia hatte Annalena von ganzem Herzen geliebt. Seine Tochter bewahrte ihr Angedenken so rein und klar, wie er es auch tun sollte.

Annalena konnte soviel Heiterkeit verbreiten. Sie war uns wie ein Frühlingswind, wie ein immer wärmender Sonnenstrahl, ja, sie war von einem unvergänglichen Zauber.«

Astrid blickte auf ihre Hände. Für einen Moment lang ergriff sie eine tiefe Verzweiflung. Was hatte sie sich nur von diesem Abend erhofft? Glaubte sie wirklich, ein Mann wie Fabian könnte ihr mehr als Dankbarkeit entgegenbringen? Was nahm sie sich nur heraus?

Mehr als Claudia zu umsorgen blieb ihr nicht. Und auch dafür ging die Zeit bald zu Ende.

Als sie ihn wieder ansah, hatte Fabian sich abgewandt. Er winke der Frau, die er schon begrüßt hatte, voller Heiterkeit zu. So, als hätte ihr Dialog über seine innige Liebe zu seiner Frau nie stattgefunden. Astrid spürte eine maßlose Bitterkeit in sich.

»Es ist spät geworden«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich habe morgen Frühdienst. Bitte, Fabian, bringen Sie mich nach Hause.«

»Jetzt schon?« fragte er leichthin. »Ich dachte, wir beide bummeln noch in eine Bar.«

Astrid erstarrte. Noch vor Minuten hatte er voller Erschütterung von seiner verstorbenen Frau gesprochen, und nun dachte er an einen Barbummel?

»Danke, nein, Herr Ossiander«, antwortete sie kühl. »Ich gehöre nicht zu Ihren Verehrerinnen, denen es nur darum geht, mit Ihnen gesehen zu werden.«

»Ich weiß«, gab er mürrisch zu, weil er es nicht gewohnt war, einen Korb zu bekommen. Aber diesmal log er nicht. Denn er hatte ja schon längst begriffen, daß diese Frau etwas Besonderes war. Sie war nicht nur eine aparte Schönheit, sondern auch eine Frau von Charakter. Und das bedeutete wohl, daß sie ihm tatsächlich kaum Bewunderung entgegenbrachte.

*

»Du solltest hier für ein wenig mehr Ordnung sorgen, Claudia«, schlug Joschi, der junge Pfleger in der Reha-Klinik vor, als er sie von ihrer Therapie im Schwimmbad zurück in ihr Zimmer schob. »Hier sieht’s aus wie bei Hempels unterm Sofa. Wenn eine vom Personal kommt und Ordnung macht und die einen der Romane findet, die ich dir immer aus der Bibliothek hereinschmuggle, krieg ich noch Ärger.«

»Ach, Joschi«, seufzte Claudia amüsiert, denn so gefährlich

konnte es es ja wohl nicht sein, statt der Jugendbücher, richtige Romane für große Leute herbeizuschaffen.

»Nix – ach Joschi! Fang bloß nicht an und sag, jede Bewegung strengt dich noch an. Das ist Mumpitz!«

Er nahm sie aus dem Rollstuhl und stellte sie behutsam mitten in den Raum, dann reichte er ihr die Gehhilfen, stupste sie leicht gegen den Oberarm und deutete zum Fenster hinaus.

»Herrlicher Schnee! Nächsten Winter kannste Skilaufen oder Rodeln wie deine Freundinnen. Und wenn’s morgen nicht zu kalt ist, schieb ich dich für ’ne Schneeballschlacht raus. Aber vorher aufräumen!«

Claudia lächelte verschmitzt. Von allen Betreuern und Ärzten hatte sie Joschi am liebsten, auch, wenn er viel zu selten Rücksicht auf ihre Launen nahm.

»Was soll deine schöne Mama denn von dir denken?« Er nahm Annalenas Foto von Claudias Betttischchen, betrachtete es, stellte es kopfschüttelnd zurück und blieb vor dem niedrigen Tisch am Fenster stehen. Auf dem stapelten sich Comic-Hefte, Bücher, Fernsehzeitschriften und Dutzende von CDs zu einem bunten Sammelsurium.

»Oder war sie nie streng? Überlegst du manchmal, ob deine Mutter ein schönes Leben geführt hat?« fragte er in den Raum, als finde er endlich Worte für seine Gedanken.

»Wieso? Was weißt du denn von meiner Mutter?« Vor Schrecken klang ihre Stimme ganz kalt.

Joschi stöhnte. »Nun mal halblang, Claudia. Spiel bloß nicht wieder die beleidigte Leberwurst, Mensch. Ich hab doch nur gefragt. Weil… also, dein Vater ist seit Weihnachten nicht mehr hiergewesen, und da denke ich manchmal, du brauchst jemanden zum Reden.«

»Und wenn schon! Nachher kommt meine Freundin Astrid.«

»Gut. Und mit der kannst du über deine Mutter reden? Oder doch lieber mit deinem Vater?«

Claudia konnte mit allen über ihre Mutter reden, nur mußte sie dabei auf der Hut sein, damit sie die Wahrheit auch klug verschwieg. Und das war oft schwerer, als mit dem Schmerz über deren Tod fertigzuwerden.

»Mein Vater ist für drei Wochen in Japan.«

»Ich weiß. Hab’ ihn im Fernsehen gesehen.«

Claudia schob das Bündel mit ihren Badesachen von dem Hocker, auf den sie sich setzen mußte, wenn sie sich ankleidete. Dann bückte sie sich, um es vom Boden zu heben. Dabei stöhnte sie mehr als sonst. Mit so einem Stöhnen gelang es ihr immer wieder, Mitleid zu erregen und sogar jedes unangenehme Gespräch zu beenden.

»Wenn die Wassergymnastik dich angestrengt hat, sollst du dich hinlegen, sagt der Physiotherapeut.«

»Ich weiß, ich bin ja nicht taub.«

Sie ließ sich stützen, bist sie aufs Bett sinken konnte. Joschi zog ihr die Schuhe aus und wickelte eine leichte Decke um sie.

»Aber nicht mehr als ’ne halbe Stunde Ruhe, Claudia. Du bist schon wieder ganz fit, mach mir nichts vor. Und aufräumen mußt auch noch, bevor deine Freundin Astrid kommt.«

»Die ist nicht so penibel«, widersprach Claudia.

»Klar. Die ist ja auch nicht deine Mutter. Der kann’s ja wurscht sein, wie du in deinem Zimmer haust und wie du durch Leben kommst.«

In Claudias Augen entstand ein harter Ausdruck. Joschi wurde sofort klar, daß er schon wieder etwas Falsches gesagt hatte.

»Tschuldigung, hab’s nicht so gemeint, Claudia.«

Er war froh, daß die nette Münchner Ärztin so oft zu Besuch kam. Wenn Claudia diesen Stunden entgegenfieberte, war sie nicht ganz so zickig wie sonst.

Nach einer Weile, nachdem sie sich wieder entspannt hatte, redete er einfühlsam weiter.

»Aber du wirst doch mit ihr über die Sache mit deiner Schule sprechen, wie? Ich weiß doch, wie dich das bedrückt.«

Sie seufzte vor Wut. »Die Lehrer sind gemein, nicht, Joschi?«

»Na ja, das war doch vorauszusehen, daß sie dich ein Schuljahr nachholen lassen. Hier im Unterricht bist du ja die beste. Aber das bedeutet nicht viel, weil du ’ne Menge nachzuholen hast.«

»Ich will aber nicht in ’ne andere Klasse, wenn ich wieder ganz gesund bin. Ich kenne da doch keinen der Schüler.«

»Hier hast du auch schnell Freunde gefunden. Das wird schon, Claudia.«

»Glaub’ ich aber nicht.« Sie drehte sich und tat so, als wollte sie schlafen. Grinsend, weil er das schon kannte, verließ Joschi das Zimmer.

Ohne es wirklich zu wollen, war Claudia tatsächlich eingeschlummert. Die Wassergymnastik kostete sie immer noch viel Kraft. Und selbst, wenn sie es nicht wahrhaben wollte, versank sie auch gern in diesem Dunkel, das jeden ihrer traurigen Gedanken auffing und zunichte machte.

Das dunkle Geheimnis, das sie mit sich herumtrug, war ja nicht leichter geworden. Und wenn dann so eine Nachricht von der Schule kam und sie daran erinnerte, wie brutal sich ihr Leben verändert hatte, flüchtete sie sich noch lieber ins Traumland.

»Claudia! Hallo, Claudia!« weckte sie eine zärtliche, ihr so ans Herz gewachsene Stimme.

Sie wußte sofort, wer zu ihr getreten war und hob schlaftrunken lächelnd die Arme, um sich liebevoll von Astrid umfangen zu lassen.

»He, Claudia, mein Kleines«, schmunzelte Astrid, »was ist los? Hast du hier ’ne Party gefeiert? Sieht ja ganz so aus. Wo soll ich meine Mitbringsel überhaupt noch hinlegen?«

»Ist mir wurscht!« nuschelte Claudia und verbarg ihr Gesicht an dem wolligen Stoff von Astrids Winterjacke.

»Dir geht es doch nicht schlecht? Die Kollegen hier haben mir gerade eben versichert, daß du enorme Fortschritte machst!« Dabei erlebte die Ärztin es nicht zum ersten Mal, daß Claudia unvermittelt in Weltuntergangsstimmung verfiel.

Sie fürchtete dann immer, hier in der großen Reha-Klinik genüge der Beistand der Ärzte und Lehrer nicht, um der Elfjährigen bei der Bewältigung ihres Schicksals zu helfen. Deshalb wiegte sie Claudia liebevoll in ihren Armen.

»Ich kann mir denken, was in dem Brief von deiner Schule stand, Claudia. Silkes Mutter hat schon gleich nach Weihnachten auf dem Elternabend davon erfahren und mich angerufen. Aber das ist doch kein Unglück. Silke wird immer deine beste Freundin bleiben. Das weiß ich. Und mit deinen neuen Klassenkameraden wirst du dich bestimmt bald gut verstehen.«

»Werde ich nicht!« stieß Claudia bockig aus. »Ich geh’ nicht wieder in meine alte Münchner Schule. Die werden schon sehen, was sie davon haben. Ich bleib hier. Ja, ich bleib einfach hier.«

»Aber das kannst du doch deinem Vater nicht antun, mein Engel. Er freut sich schon so darauf dich wieder bei sich zu haben.«

Claudia nagte an der Unterlippe. »Das stimmt nicht! Woher willst du das denn wissen? Der hat mich doch gar nicht lieb. Er war erst dreimal hier, mehr nicht.«

»Er ist viel auf Reisen, Claudia.«

»So oft war er früher aber nicht unterwegs.«

»Das mag so sein. Aber jetzt stürzt er sich in die Arbeit. Sie hilft ihm, mit der privaten Einsamkeit fertig zu werden. Er hat deine Mutter über alles geliebt.«

Claudias Blick verdunkelte sich. Astrid nahm sie schnell wieder in die Arme und fügte liebevoll hinzu: »Auch dir fehlt deine Mutter, ich weiß. Das weiß dein Vater auch. Darum wird er sein Leben ändern, wenn du erst wieder bei ihm bist.«

»Woher weißt du das? Warst du wieder mit ihm aus? Toll, Astrid. War’s schön?«

Astrid Hoffmann lächelte nur schwach. Dabei hätte sie am liebsten laut gejubelt. Selbst, wenn Fabian ihr seit Monaten aus dem Weg ging, seine Tochter hätte die beiden gern zusammen gesehen. War es nicht wunderbar? Auch wenn es ihre zerbrochenen Träume gar nicht mehr berührte?

»Nein, wir sehen uns nicht mehr«, sagte sie beherrscht. »Ich weiß auch so, ihr werdet einander eine große Hilfe sein. Du erinnerst ihn an Annalena. In dir sieht er ein Ebenbild der geliebten Frau. Deshalb wirst du ihm eine Stütze sein, so wie deine Mutter es war.«

Claudias Mund verkniff sich. »Das glaubst du doch selbst nicht!« stieß sie voller Wut aus.

Der zornige Ton ließ Astrid zusammenzucken. Was hatte er zu bedeuten? Noch nie hatte Claudia sich so erregt, wenn es um ihre Eltern ging.

»Doch, ich weiß es«, behauptete sie, ohne zu ahnen, wie sehr sie irrte. »Er sagt es mir selbst. Deine Mama war ihm alles – Liebe, Vertrauen, Zuversicht. Und weil es nie eine Frau geben wird, die ihren Platz einnehmen kann, bist du jetzt der einzige Mensch, dem er seine Zuneigung ohne Vorbehalte schenken kann. Darum braucht er dich.«

Claudia machte sich steif. »Du meinst, er braucht mich? Niemals! Da hinten«, sie deutete auf die Unordnung, »liegen zwei Zeitschriften. In einer ist ein neues Foto von meinem Vater. Er hat in jedem Arm eine andere Frau. Schau’s dir doch an!«

Astrid kämpfte mit sich. Warum sollte sie sich das antun und ihn zwischen tollen Frauen glücklich sehen? Aber dann siegte ihre Neugier. Sie schlug die Zeitung auf und blickte auf einen strahlenden Fabian. Nun ja, in den letzten Monaten schienen seine Haare ein wenig grauer geworden und daß sich einige Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln schärfer abzeichneten, war auch nicht zu übersehen. Aber er zeigte sich in bester Stimmung, so Arm in Arm mit den beiden Schönen. Wie weh das tat!

»Bella Crusius, seit kurzem erster Mezzosopran an der Londoner Oper, und Laura Steecken, eine Schauspielerin aus Amsterdam gehörten zu den prominentesten Fans, die Fabian Ossiander nach seinem Wohltätigkeitskonzert in Tokio begrüßten«, las sie die Zeilen unter dem Foto. »Kennst du eine von ihnen, Claudia?«

»Quatsch. Wozu? Solche Tussis sind doch immer um ihn rum.«

»Und? Hat es deiner Mutter nichts ausgemacht, wenn dein Vater sich mit ihnen fotografieren ließ?«

Claudias Blick irrte durch den Raum. Was sollte sie antworten? Nein, ihrer Mama habe es nichts ausgemacht, weil sie längst einen anderen liebte? Das konnte sie doch nicht sagen. War es nicht Verrat an ihrer Mutter, obwohl es der Wahrheit entsprach? Es war schon bitter genug, daß auch Wolfgang Bosch ihre Mutter verriet. Wenn er zu seiner Liebe stehen könnte, mußte er sich doch auch an sie, die Tochter der geliebten Frau erinnern und sie wenigstens mal besuchen.

Claudia wünschte es sich so, mit einem Menschen über die letzten gemeinsamen Minuten mit ihrer Mutter sprechen zu können!

Aber mit sich und ihren Grübeleien allein gelassen, drängte sich ihr doch immer häufiger der quälende Verdacht auf, ihre geliebte Mama sei auf der Fahrt in ein falsches Glück in den Tod gerast. Sie stöhnte kaum merklich auf. Astrid hatte es trotzdem bemerkt, deutete es aber falsch. Sie strich ihr übers Haar.

»Deine Mutter war sehr klug. Sie wußte eben, wie sehr dein Vater sie liebte. Und dieses Wissen ließ keine kleinliche Eifersucht zu. Ist es nicht so?«

In Claudia bäumte sich alles auf. ›Nein, so war es nicht‹! hätte sie schreien mögen.

»Ich verspreche dir«, fuhr Astrid fort, »dich mehrmals in der Woche zu besuchen, wenn du wieder in München bei deinem Vater bist. Wirst du dann zu ihm zurückgehen?«

Claudia hob den Kopf und sah sie an. Nach einer Weile nickte sie. »Ja, aber nur deshalb.«

»Das muß aber unser kleines Geheimnis bleiben.« Astrid schmunzelte.

»Ich hasse Geheimnisse!«

»Ich auch, Claudia. Aber nur noch wenige Monate, und du wirst wieder fest und ganz ohne fremde Hilfe auf beiden Beinen stehen. Damit beginnt ein neues Leben für dich. Und alle kleinen und großen Geheimnisse sind dann bedeutungslos. Glaubst du mir?«

»Überhaupt nicht!« platzte es aus Claudia heraus.

»Gut, gut«, beruhigte Astrid sie. »Trotzdem, meine Gedanken werden immer bei dir sein. Das glaubt du mir doch?«

»Ja«, flüsterte Claudia und schmiegte sich in ihre Arme, um schnell die Augen zu schließen, als könnte sie wieder ins Dunkel abtauchen.

*

Den langen Wintermonaten folgte ein herrlicher Frühling. Als sich die Osterferien näherten, konnte Fabian Ossiander tatsächlich sein fast gesundes Töchterchen zu sich holen. Daß er das auch der Überredungskunst von Astrid Hoffmann verdankte, sollte er nie erfahren.

Er hatte von sich aus alles getan, um Claudia die Heimkehr und den Anfang eines neuen Lebens zu versüßen. Die große Villa war renoviert und teilweise neu möbliert worden. Der große Flügel stand jetzt in einem Raum, den Ossiander ganz für sich beanspruchte, so daß er nicht gleich ins Auge fiel und Claudia an die ungeliebten Klavierstunden erinnerte.

Zu dem kleinen Salon neben Claudias Zimmer, den Annalena immer als ihr Reich bezeichnet hatte, war eine Öffnung geschlagen worden. So verfügte Claudia nun über einen eigenen Wohnraum, in dem sie schalten und walten konnte, wie sie wollte. Damit sie mit ihren neuen Mitschülern bald Freundschaft schließen und sie oft um sich haben konnte, ohne sich allzuviel Gastgeberpflichten aufzuladen, hatte Fabian eine neue Hausangestellte engagiert, die oben unter dem Dach wohnte und Claudia rund um die Uhr betreuen sollte.

Lisa war für alle ein Glücksfall. Jung und unbekümmert, stürzte sie sich voller Eifer auf ihre neue Aufgabe. Das fiel ihr besonders leicht, weil sie Annalena Ossiander nie kennengelernt hatte und nicht von der Erinnerung an sie verunsichert wurde. Nach einigen Wochen, die Claudia brauchte, um sich an die Veränderungen zu gewöhnen, begann für sie der Ernst des Lebens in der neuen Klasse. Fabian, der sein Versprechen hielt und sich nicht mehr so viele Termine wie sonst auflud, brachte sie persönlich in die Schule.

Das war ein kluger Schachzug von ihm. Denn Claudias neuer Klassenlehrer bat den Dirigenten gleich, die Schüler zu einem Lied zu überreden. So stand Fabian vor der Klasse und dirigierte die Schar fröhlicher Kinder mit dem Zeigestock von der Tafel. So ungeschickt, wie er sich absichtlich anstellte, sorgte das für allgemeine Heiterkeit. Das Eis war gebrochen, Claudia, als seine Tochter, fand sich schnell in der neuen Gemeinschaft zurecht, obwohl sie doch als »Sitzengeblieben« galt.

Schon Tage später lud sie einige ihrer neuen Freundinnen zu sich. Silke und Nora, ihre engsten Vertrauten, kamen auch dazu. Lisa servierte auf der Terrasse Eiskaffee und Kartoffelsalat mit Würstchen. Claudia, die die junge Frau recht gern hatte, half gegen Abend sogar mit, das Geschirr wegzuräumen. Nur Tanja, ein besonders nettes Mädchen aus ihrer Klasse, wollte sie davon abhalten.

Claudia drohte ihr mit dem Stock, den sie manchmal noch benutzen mußte, und brachte damit alle zum Lachen.

Eine halbe Stunde später, es war noch hell, ging aber schon auf halb acht, komplimentierte Lisa die junge Schar hinaus. Sie hatte Claudias Vater versprochen, immer darauf zu achten, daß sich die Elfjährige nicht überanstrengte.

Nur Silke durfte noch bleiben. So saßen die beiden Mädchen in der ersten Dämmerung auf der Terrasse und hatten sich viel zu erzählen. Wieder mußte Lisa einschreiten. Aber Claudia bestand darauf, ihre Freundin zu Gartentor bringen zu dürfen. Dagegen wagte Lise nichts einzuwenden. Sie wußte schon, daß ihr kleiner Schützling sich vehement gegen allzuviel Fürsorge zu wehren wußte.

»Bald kommst du wieder zu mir und wir springen auf dem Trampolin herum, nicht?« schlug Silke vor und hakte ihre Freundin unter, als sie die Stufen hinuntergingen.

»Das kann ich noch nicht.«

»Aber bestimmt bald. Hat deine Freundin Astrid es dir nicht versprochen?«

»Weiß ich nicht«, erwiderte Claudia gleichgültig. Silke sah sie an. War die Freundschaft mit der jungen Ärztin etwa eingeschlafen?

»Aber sie kommt doch zu dir?«

»Klar. Wenn Papa auf Reisen ist. Aber der ist ja oft hier.«

»Ich denke, heute ist er in Leipzig.«

»Ja, kommt aber morgen schon wieder.«

»Freust du dich denn nicht, wenn er viel Zeit für dich hat?«

»Ach, Mensch, Silke«, murrte Claudia. »Wenn er da ist, kommt Astrid nie. Warum ist er dann so oft da, wenn ich sie deswegen nicht sehen kann?«

»Mußt eben mal mit denen reden.«

»Quatsch!«

Silke schwieg. Wie alle Altersgenossen behandelte sie Claudia wie ein rohes Ei. Zu schmerzhaft hatte sie ihr Schicksal in das Bewußtsein der Freunde eingegraben.

»Bis morgen auf dem Schulhof«, verabschiedete sie sich, umarmte Claudia und stieg auf ihr Fahrrad, das neben der Gartentür lehnte. »Geh bloß rein zu Lisa, damit du dich nicht erkältest.«

Claudia entgegnete nichts, sie lächelte nur geistesabwesend und blieb am Tor stehen, bis Silke winkend um die nächste Straßenecke entschwunden war.

Und dann, als sie sich unbeobachtet fühlte, packte sie den Stock fester und entfernte sich, so schnell es ihr gelang, in die entgegengesetzte Richtung. Dabei sah sie sich mehrmals um, bis sie in eine nächste Straße einbog und nun gemächlicher auf die kleine Kirche des Vororts zuging.

Seit Tagen hatte sie sich gewünscht, endlich einmal ohne ihren Vater am Grab ihrer Mutter zu stehen. Sie brannte darauf, dem geliebten Menschen in einem Zwiegespräch nahe zu sein und ihrer Mama zu versichern, daß ihr gemeinsames Geheimnis gut bei ihr aufgehoben sei. Sie wollte ihr auch aufrichtig versichern, daß sie ihrem Vater zur Seite stehen und ihn trösten konnte, weil er sich jetzt doch manchmal Zeit für sie nahm.

Claudia bemühte sich tatsächlich, Verständnis für Fabian aufzubringen, wie Astrid es ihr geraten hatte. Und weil sie so leichter in ihr neues Leben gefunden hatte, fiel ihr das nicht mal schwer.

Die ersten warmen Tage hatte alles mit frischem Grün beschenkt. Stare und Drosseln sangen um diese Zeit um die Wette, und weil sie auch ohne Stock recht schnell vorankam, lächelte sie verschmitzt.

Sie näherte sich dem Grab ihrer Mutter, versuchte aber, den Steinen auf dem Weg auszuweichen. Vor nichts fürchtete sie sich mehr, als mit dem linken Fuß gegen einen Gegenstand zu stoßen. Dann geriet sie oft in einen stockenden Bewegungsablauf, und prompt zog es wieder bis in ihre Hüfte.

Nach einigen Metern wurde der Weg wieder eben. Sie sah voraus und bemerkte eine hohe Gestalt vor dem Grab. Es war ein Mann, der ihr den Rücken zuwandte, aber sie erkannte ihn sofort.

»Wolfgang!«

Wolfgang Bosch fuhr herum. Er hielt einen Strauß aus rosefarbenen Rosen in der Hand. Claudia sah den Strauß und blieb erschüttert stehen. Wolfgang brachte ihrer Mutter Rosen! Hieß das nicht, daß er ihre wunderbare Mama auch nicht vergessen konnte und sie immer noch liebte? Dann war das Schicksal nicht ganz so sinnlos mit ihnen verfahren!

»Claudia…«, das klang gepreßt aus seinem Mund. Er hatte nicht damit gerechnet, Annalenas Tochter zu begegnen. Und der Stock in ihrer Hand machte ihm auf erschreckende Weise bewußt, was sie durchgemacht haben mußte.

Er ging auf sie zu und griff nach ihrer freien Hand.

»Verzeih mir, wenn ich dich nie besuchte, Claudia. Ich habe immer an dich gedacht, aber ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich durfte es nicht. Dein Vater…«

»Ich hab’ aber auf dich gewartet«, seufzte sie vorwurfsvoll. Aber in ihren Augen stand ein Lächeln, weil sie sah, wie gut ihm das vertraute Du gefiel. »Jetzt geht es mir ja auch wieder gut.«

»Das sieht aber nicht so aus«, zweifelte er.

Claudia lachte. Mit einer spontanen Bewegung hängte sie ihm den Griff des Stocks an den Arm.

»Siehst du! Ich brauche ihn nur, wenn ich schlapp werde.«

Wolfgang rührten ihre Worte. Er deutete auf den Strauß.

»Magst du ihn halten? Ich hole eine Vase von da hinten.«

Mit den Rosen im Arm wartete sie, bis er zurückkam. Was sie ihrer Mama anvertrauen wollte, war plötzlich vergessen. Wenn Wolfgang ihr Rosen ans Grab brachte, war doch alles gut. Zeigte er damit nicht, wie sehr er sie immer noch liebte? Und gehörte seine Liebe nicht zu dem Geheimnis, das sie tief in ihrem Herzen bewahren mußte?

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Zu oft war sie in Gedanken bei diesem Mann gewesen und hatte sich gefragt, ob er wohl auch so unter dem Schmerz litt wie sie. Jetzt wußte sie es. Und ein Gefühl stiller Zusammengehörigkeit bemächtigte sich ihrer.

Aber trotz ihres schweren Schicksals war sie doch noch ein Kind und neigte dazu, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Natürlich war Wolfgang schuld an allem, aber trug er nicht schwerer an seiner Strafe als sie? Sie hatte ihren Vater und eine Freundin wie Astrid. Er aber war allein zurückgeblieben und würde bestimmt nie wieder eine Frau wie ihre Mama finden.

Voller Mitgefühl sah sie zu, wie er die Rosen in die Vase ordnete und sie aufs Grab stellte. Dann stand er neben ihr und legte den Arm um sie.

»Ich habe deine Mama über alles geliebt, Claudia. Das weißt du doch?«

Sie nickte. »Sie hat dich auch liebgehabt, Wolfgang«, flüsterte sie. »Sie hat es mir gesagt, als wir im Auto saßen und sie zu dir wollte.«

»Sie… sie hat es dir gesagt?«

»Ja.«

Er sah sie entsetzt an. »Du hast gewußt, daß sie mit dir zu mir an den Gardasee kommen wollte?«

Claudia schluckte. Tränen stiegen in ihr auf. »Ja, hab’ ich. Aber ich wollte es nicht. Wir haben furchtbar gestritten. Und dann passierte der Unfall…« Sie wischte sich übers Gesicht.

»Du hast doch hoffentlich keinem davon erzählt?«

Claudias Stimme versagte fast. »Nein, keinem.«

»Wirklich nicht? Auch nicht deinem Vater?«

Claudia schüttelte den Kopf. Sie fühlte seine warme Hand auf ihrer. Wolfgang Bosch drückte mit einem zarten Streicheln seine Dankbarkeit und Erleichterung aus. Er sah die Tränen auf ihrem Gesicht und zog sie an sich.

»Es tut mir alles so leid, Claudia. Ist es dir schwergefallen, über deine Mama und mich zu schweigen?«

»Ja, furchtbar«, schluchzte sie und lehnte sich gegen ihn. Da nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und sah ihr in die Augen.

»Du bist ein wunderschönes, kluges Mädchen, Claudia. Deine Mama wäre stolz auf dich… so wie ich.« Sein Blick tastete über ihr Gesicht. »Wir wollen das Geheimnis bewahren, nicht wahr? Über unsere Lippen kommt kein Wort über das, was dich und mich jetzt so eng verbindet. Versprichst du es?«

Sie sah ihn an. Wozu noch etwas versprechen, was sie seit Monaten eisern hielt?

»Für deinen Vater und dich ist es besser so, glaube mir. Ich werde deine Mama nie vergessen. Aber nur wenn dein Vater nie davon erfährt, wird er dich so von Herzen liebhaben, wie du es jetzt brauchst. Darum mußt du schweigen, Claudia.«

Sie wich seinem Blick aus. Alles, was er sagte und von ihr verlangte, war vernünftig. Das begriff sie. Es würde ihr von nun an leichterfallen, das Geheimnis zu bewahren, denn ihre Mutter hatte sich nicht in Wolfgang geirrt. Warum sollte sie sich in diesem netten, einfühlsamen Mann täuschen?

Ihre Brust hob und senkte sich, als werfe sie eine schwere Last ab.

»Dein Vater ist doch für dich da?« erkundigte Wolfgang Bosch sich. Es klang besorgt und liebevoll.

»Ja, er versucht’s.«

»Dein Vater ist ein großartiger Mensch.«

Sie nickte. Wolfgang schien erleichtert. Dann fragte er plötzlich: »Hast du Zeit?«

»Zeit? Wozu?«

»Ich möchte dich zu einer Tasse Kakao oder einer Limo in ein Café einladen. Dort sind wir ungestört. Weißt du, wie oft ich mich danach sehne, mit einem vertrauten Menschen über deine Mutter zu sprechen… In dir lebt sie weiter, Claudia. Du und ich, wir waren die Menschen, die sie am meisten liebte. Wollen wir nicht Freunde sein?«

Sie nickte wieder. Nur zu gern wollte sie in ihm einen Freund sehen, der ihr half, das Geheimnis zu bewahren. War eine geteilte Last nicht viel leichter zu tragen?

Wolfgang Bosch zog sein Jackett aus und legte es ihr um.

»Nicht, daß dir kalt wird, Claudia. Es wird jetzt schon schnell kühl. Deine Mama würde es mir nicht verzeihen, wenn du dir einen Schnupfen holst.«

»Das stimmt.«

Seine Worte machten sie glücklich. Solche Gesten voller Zärtlichkeit gelangen ihrem Vater in letzter Zeit auch, aber leider noch viel zu selten. Darum lächelte sie dankbar, als Wolfgang schützend den Arm um sie legte und sie gemeinsam den kleinen verwunschenen Friedhof verließen.

*

Seit diesem Tag ging eine Veränderung mit Claudia vor sich. Die Menschen um sie herum überraschte das kaum. Wenn sie jetzt so fröhlich war wie früher, hielten es alle für ein Zeichen ihrer vollständigen Genesung. Nur Fabian Ossiander kam kaum aus dem Staunen heraus.

Seine Tochter brachte ihn neuerdings oft zum Lachen. Sowie sich eine Gelegenheit fand, hängte sie sich bei ihm ein oder ließ ihn abends erst ins Haus, nachderm er sie mit einer liebevollen Umarmung begrüßt hatte. Er erinnerte sich nicht, daß ihm das früher passiert war. Claudia hatte sich immer enger an Annalena angeschlossen als an ihn.

Manchmal bettelte sie jetzt so lange, bis er mit ihr ins Kino und danach zum Essen bei einem Chinesen einkehrte. Dort gab er sich sogar mit einer Frühlingsrolle im Papier zufrieden und aß die auf der Straße. Dann konnte es geschehen, daß Claudia ihm mitten im Menschengewühl um den Hals fiel und ihn abküßte. Es hatte ihn erst verlegen gemacht, aber inzwischen fand er richtig Gefallen daran. Ein wenig Liebe, so meinte er, brauchte er ja schließlich.

Als die Pfingstferien begannen, setzten sich beide ins Auto und fuhren allein in das Haus an der italienischen Adria. Und damit begann für ihn eine Zeit des uneingeschränkten Vaterglücks.

Einen halben Monat später saß Claudia wieder in der Schule. Der erste Tag voller Pflichten und Aufgaben schmeckte ihr überhaupt nicht. Zweimal mußte sie von der Lehrerin ermahnt werden, endlich das ständige Getuschel mit Tanja zu unterlassen.

Darüber kicherten die beiden noch, als sie gegen Mittag hinaus auf den Schulhof und in die Freiheit stürmten. Plötzlich stutzte Claudia. Sie hatte Astrid am Tor des Schulhofs entdeckt.

»Astrid! Astrid!« Sie rannte so flink und geschmeidig auf die Ärztin zu, daß die ihren Augen kaum traute.

»Meine Güte, du bist ja gewachsen!« stellte sie auch fest, als Claudia sie zur Begrüßung umarmt hatte und nun atemholend und mit strahlendem Gesicht vor ihr stand. »Und braun geworden bist du! Schau an, vierzehn Tage Urlaub mit deinem Vater in Italien und aus dir ist eine richtige Schönheit geworden!«

Claudia krümmte sich vor Lachen. »Unsinn. Das machen nur meine neuen Klemmer im Haar. Wie find’st du die, schön bunt, wie?«

Astrid nickte, obwohl sie wußte, daß die kleinen bunten Klemmern über Claudias Stirn nichts mit deren Verwandlung zu tun hatten.

»Wir haben uns eben seit einem ganzen Monat nicht gesehen!« fuhr Claudia fort und schob ihren Arm unter Astrids. »Du hast selbst Urlaub gemacht, wie? Ja, und dann hatten wir schon Pfingstferien. Ich sag’ dir, an der Adria war es richtig heiß. Papa und ich waren jeden Tag schwimmen. Übrigens… ich bin schneller als er!«

»Toll!« freute Astrid sich, obwohl ihr jedes Wort einen Stich in die Herzgegend versetzte. Aber so Arm in Arm mit Claudia und auf dem Weg zu ihrem Wagen, der etwas abseits stand, ließen sich diese Stiche ertragen.

»Tschüß, Tanja!« Fröhlich winkte Claudia ihrer neuen Freundin nach. »Bis morgen. Komm heute nicht. Weißt du, ich habe heute den ganzen Tag Besuch.«

Astrid schluckte. »Meinst du mich mit dem Besuch?« Sie schloß die Autotür auf.

»Klar. Wenn du nur so selten kommst, bist du eben Besuch. Aber mein allerliebster. Früher«, fügte sie frech hinzu, »als wir uns häufiger sahen, warst du mein Schutzengel.«

Claudia setzte sich hinter sie und schnallte sich an. Annalena starrte einige Sekunden wie benommen auf die Straße. Was hatte Claudia nur so verändert? War es ihre hundertprozentige Genesung? Die die neuen Freunde in der Klasse? Oder hatten ihr die Ferienwochen mit Fabian so gut getan?

Sie fuhr an. »Erzähl mir von Italien, Claudia.«

»Na, toll war es. Leider ist Papa heute und morgen in Berlin. Oder hast du das schon in der Zeitung gelesen und bist deshalb gekommen – weil er nicht da ist?«

»Ich bitte dich, Claudia! Was du dir ausdenkst!«

»Na, könnte ja sein. Also, wäre er heute zu Hause, würde er dir auch von unserem Urlaub vorschwärmen. Du kannst es dir nicht vorstellen, Astrid, der war ja echt super drauf.«

»Hat er nicht Besuch bekommen?«

»Nee, von wem denn? Von einer seiner Damen?« Sie lachte schallend. »Bella Crusius, die blöde, lebt in London. Und Wiebke Lohmer, die Schreckschraube, heiratet demnächst. Ich hätte es aber so oder so nicht erlaubt, daß eine von denen oder ’ne andere Tussi angetanzt wäre. Nur ich, ich ganz allein, war seine einzige Dame. Und ich mußte nicht mal Klavier spielen. Dafür haben wir lange Ausflüge gemacht. Überall hin, bis abends spät unterm Sternenhimmel. Und dann Pizza und Coca. Nicht so ’n ewiges Fisch- und Gräten-Gefummel, wie er es sonst mag. Es war toll, Astrid.« Sie blickte still lächelnd zur Seite. »Nur dreimal ist er in ein Loch gefallen. Aber Gott sei Dank nur dreimal!«

»In was denn für ein Loch?«

»Na, so ein tiefes, schwarzes Loch, weil Mama nicht mehr bei uns war. Er hat sich einsam gefühlt. Männer sind so, sagt er. Aber ich habe ihm immer prima geholfen.«

»Du hast ihm geholfen?«

»Ja, konnte ich prima. Weil ich doch jetzt weiß, daß Mama keinem Traum nachgerast ist, als es zum Unfall kam. Sie wurde geliebt, verstehst du? Richtig geliebt!«

Von der Schule bis zur Villa von Fabian Ossiander waren es nur wenige Autominuten. Astrid kam es sehr gelegen, als sie jetzt vor seinem Grundstück halten konnte. Claudias Worte erschienen ihr so seltsam, als habe sie in den letzten Wochen völlig das Verständnis für sie verloren. Was war denn nur geschehen?

War ihr tatsächlich etwas aus dem Leben ihrer geliebten Claudia entgangen. Hatte sie etwas nicht wahrgenommen oder gar vergessen?

»Daß du und dein Vater sie sehr geliebt habt – daran bestand doch nie ein Zweifel«, sagte sie tonlos vor Verwirrung. »Warum sprichst du von einem Traum, dem sie nachgerast ist?«

Im Innenspiegel sah sie, wie Claudias Gesicht sich jäh verschloß. So, als hätte sie kurz entschlossen die Tür zu ihrem Herzen zugeschlagen.

»Was habe ich gesagt?« fragte sie dann ganz ernst.

»Na, hör mal, Claudia!«

Claudia stöhnte leise auf, dann neigte sie sich plötzlich zur Seite, öffnete die Autotür und sprang heraus. »Mußt nicht alles auf die Goldwaage legen. Hab’ nur so gequasselt«, meinte sie fröhlich und hakte Astrid, als die neben ihr stand, gleich wieder ein.

Trotzdem ergriff Astrid ein seltsames Gefühl. Sie gingen auf das Gartentor zu.

»Ich muß dir auch etwas erzählen, Claudia. Darum habe ich heute früh bei Lisa angerufen. Ich wollte wissen, wann deine Schule aus ist. Sie hat mich dann gleich zum Mittagessen eingeladen.«

»Klasse. Lisa ist super, wie? Und was mußt du mir erzählen?«

Sie standen jetzt im Garten. Der Jasmin blühte, am Haus rankten sich die ersten Rosen hoch. Die Stare und Drosseln sangen, und der kleine Springbrunnen vor der Terrasse plätscherte lustig vor sich hin.

»Ich gehe fort, Claudia. Man hat mir die Stelle einer Oberärztin in der Chirurgischen Abteilung angeboten.«

»Was? Wo?«

»In Hannover.«

Claudia blickte sie an. »Wieso? In Hannover? Das ist doch weit weg.«

Astrid wußte nicht, was sie sagen wollte. Sie sollte sie Claudia ihren Entschluß erklären? Aber da prasselten schon deren Fragen auf sie herab.

»Warum gehst du weg? Etwa, weil ich wieder gesund bin? Das ist doch gemein. Ich dachte, du bist meine Freundin… fast so etwas wie eine Mutter!«

In Astrids Herz war nur noch Schmerz. »Wir bleiben doch Freunde. Wenn du willst, sehen wir uns oft. Außerdem weiß ich noch nicht, wann ich dort anfangen will«, versuchte sie sich zu verstellen.

Claudia ließ dieser Einwand unbeeindruckt. Sie schüttelte den Kopf. »Oder willst du weg, weil Papa nie wieder mit dir ausgegangen ist? Das finde ich echt bescheuert.«

»Es hat nichts mit deinem Vater zu tun«, schwindelte Astrid.

»Und wie soll ich ihn trösten, wenn er wieder in so ein Loch fällt?« fuhr Claudia sie an.

Da schwieg Astrid bestürzt. Weil sich oben die Haustür öffnete und Lisa freundlich rief, das Essen stehe schon bereit, nahm sie Claudia einfach in den Arm. So waren keine weiteren Worte nötig. Zeigte sie nicht, wie schwer ihr der Gedanke an den Abschied schon jetzt fiel?

Nur noch wenige Schritte trennten die beiden von Lisa. Und die hielt Claudia einen Brief hin.

»Du hast Post bekommen, Claudia. Schau mal, so ein dicker Brief.«

Claudia war abgelenkt. Nur die heftige Bewegung, mit dem sie Lisa den Brief entriß, verriet ihre anhaltende Erregung.

»Wer ist das denn?« murmelte sie, riß den Umschlag auf und murmelte: »Steht ja hinten nichts drauf…«

Aus dem Umschlag fiel eine bunte Postkarte.

»Ein Urlaubsgruß«, vermutete Lisa und hob sie auf. »Sieh nur, vom Gardasee.«

»Vom… was?« Schon wanderte die Karte in Claudias Hand. Mit der anderen hielt sie einen längeren Brief. Noch zwischen Tür und Angel überflog sie ihn. Lisa, die schon reingegangen war, beachtete sie nicht mehr.

Astrid aber beobachtete ihre kleine Freundin, die den Brief jetzt überflog. Es waren Sekunden voller Harmonie, die die junge Ärztin hoffen ließen, daß Claudia sich schon wieder beruhigte. Aber sie täuschte sich gewaltig. Im gleichen Augenblick begriff sie, daß die Zeilen, die Claudia überflog wie eine Katastrophe auf das Mädchen wirkten.

»Claudia!« rief sie. »Was hast du? Ist es eine schlechte Nachricht? Wer schreibt dir denn?«

Claudia sah sie an. Alles Leben schien aus ihr gewichen. Sie suchte nach Worten, aber das fiel ihr schwer. Das Blatt Papier in ihrer Hand flatterte im leichten Sommerwind.

»Geh doch!« stieß sie hervor. »Geh doch ruhig in die Klinik in Hannover. Dir ist ja egal, wie es mir geht. Dir und allen anderen ist es egal!«

Sie drehte sich um und rannte ins Haus. Eine Tür knallte zu.

Behutsam, als müsse sie Scherben eines kostbaren Gegenstands aufheben, bückte Astrid sich nach der bunten Postkarte, die wieder zu Boden gefallen war. Ihr Herz klopfte, als sie sie betrachtete. Aber sie entdeckte nichts, das Claudias Ausbruch erklärte. Es war wirklich der Gardasee. Das Blau des Wasser mit den Zedern und Zypressen davor, zeigte nur ein friedliches, wunderschönes Panorama.

Was hatte diese unbeschriebene Karte mit dem Brief zu tun, der Claudia binnen Sekunden in so zornige Verzweiflung gestürzt hatte?

Wie lange sie ratlos vor Benommenheit auf der Terrasse gestanden hatte, wußte sie nicht. Als sie Lisas Stimme hörte, kam es ihr vor, als erwache sie aus einem Alptraum.

»Frau Doktor«, begann Lisa verlegen. »Claudia hat sich eingeschlossen. Sie will nichts essen. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist.«

Astrid nickte. Nein, sie konnte nicht einfach in Fabians Haus gehen und so wie früher als Ärztin auf Claudia einwirken. Es war ja nichts zwischen ihr und Fabian geschehen. Aber gerade dieses Nichts hatte sie mehr getrennt als jeder böse Streit.

»Ich denke, es ist besser, Sie kommen ein anderes Mal wieder. Herr Ossiander achtet ja sehr darauf, daß Claudia während seiner Abwesenheit ihre ganz normale Ordnung einhält.«

»Damit ist es für heute vorbei, Lisa«, seufzte Astrid. »Richten Sie ihr einen schönen Gruß aus. Sie soll mich bitte anrufen.«

Sie legte die Karte auf den nächsten Stuhlsitz und wandte sich ab. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Diesen Brief und die Karte hatte vielleicht eine neue Geliebte von Fabian an Claudia gesandt. War Claudia so wütend, weil sie diese Dame als Rivalin oder nur als aufdringliche Tussi empfand? Aber wie es auch war, Astrid ahnte, daß sie dieses Haus nie wieder betreten würde.

*

An einem der ersten wirklich heißen Tage dieses Sommers, trat Frau Kuhnert, die Sekretärin des Immobilienhändlers Wolfgang Bosch ganz unvermittelt in das Zimmer ihres Chefs. Wolfgang hatte sich seine Krawatte abgenommen und saß über der Kalkulation einer Architektur-Firma. Unwillig sah er auf.

»Was ist denn schon wieder, Frau Kuhnert?«

»Ja, also, da ist eine sehr junge Dame. Sie wünscht Sie sofort zu sprechen und läßt sich auch nicht abweisen.«

»Eine sehr junge Dame? Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun ja, sie sagt, sie heißt Claudia Ossiander.«

Er richtete sich zur vollen Größe auf. »Claudia?«

Frau Kuhnert nickte. »Ist das die Tochter des Dirigenten Ossiander, Herr Bosch?«

»Ja, natürlich. Sie soll hereinkommen. Nein, warten Sie, ich gehe selbst.«

Er kam ungewöhnlich schnell aus seinem Sessel hoch und um den Schreibtisch herum, eilte an ihr vorbei und hinaus in den Vorraum. Dann stand er vor dem kleinen Mädchen und erschrak.

Claudia war ziemlich blaß und ihr Blick viel zu streng für ihr zartes Alter. Wie alt war sie jetzt? Jährte sich nicht ihr Geburtstag in diesem Monat? Er versuchte sich zu erinnern, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht machte es ihm schwer.

»Hast du meinen Brief erhalten, Claudia?«

Sie nickte.

»Bist du krank, Claudia?« fragte er behutsam.

»Quatsch. Nur wütend.« Mit einer Bewegung ihrer Schulter schob sich ein kleiner Rucksack in sein Blickfeld. Der Rucksack bestand aus einem flauschigen Teddy. Wolfgang zuckte zusammen. Vor mehr als einem Jahr hatten Annalena und er dieses Geschenk gemeinsam für ihren Geburtstag ausgesucht. Vorher hatte er mit der geliebten Frau eine leidenschaftliche Stunde in seiner Wohnung verbracht. Plötzlich kam es ihm vor, als sei das alles eine Ewigkeit her.

»Weil ich ehrlich war und dir schrieb, daß ich seit Wochen verheiratet bin?«

»Du… du…!« Tränen des Zorns in ihren Augen.

»Bitte, komm herein, Claudia. Möchtest du etwas trinken? Eine Limo, eine Cola?« bat er schnell, weil Frau Kuhnert zu ihnen trat.

»Nein, nichts!«

Frau Kuhnert zuckte mit den Schultern, dann schloß sich die Tür hinter den beiden. Claudia und Wolfgang waren allein.

»Hier, die kriegst du zurück!« Sie hielt ihm die Ansichtspostkarte vom Gardasee hin. Deren Ränder waren abgegriffen und das bunte Bild vom vielen Herumschleppen und Verstecken schon leicht verblaßt.

»Zurück? Ich verstehe nicht. Warum? Hast du meinen Brief denn nicht ganz gelesen?«

Er bot ihr einen Platz auf einem weichen Ledersessel an, aber Claudia rührte sich nicht von der Stelle.

»Und wie ich ihn gelesen hab! Nur eine Woche, nachdem wir uns an Mamas Grab getroffen haben, hast du diese Nina geheiratet! Das schreibst du mir so einfach! Du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Und dann bist du mit ihr nach Madrid, nach Venedig, nach Siena und zum Schluß eurer Hochzeitsreise in das Haus am Gardasee gefahren.«

»Ja, das stimmt. Ich habe es dir genau geschrieben. Weil ich dir erklären wollte, warum soviel Zeit verging, bis ich die Kraft fand, Nina von deiner Mutter und dir zu erzählen. Nina hat mich verstanden. Sie begriff, wie gern ich dich immer noch habe. Und deshalb haben wir oft am Gardasee von dir gesprochen, weil ich erwähnte, daß dein Vater wenig Zeit für dich hat.«

Claudia sah ihn richtig haßerfüllt an.

»Und dann hat deine neue Nina gemeint, ich könnte ja mal zu euch an den Gardasee kommen? Die spinnt wohl auch! Aber du noch mehr. Ich kann doch nicht zu dir, genau dorthin, wo Mama damals hinwollte!«

»Aber Claudia! Nina ist eine wunderbare Frau. Sie hat viel Herz. Ich konnte ihr alles sagen.«

Claudias zarten Hände umkrampften die Postkarte. Ihre Knöchel wurden weiß, ihr Kinn schob sich vor Wut vor und aus ihren Augen schossen Blicke voller Schmerz und Verachtung.

»Der… dieser Nina konntest du alles sagen? So lieb hast du sie? So schnell?«

»Ich habe sie im letzten Winter in Sankt Moritz beim Skilaufen kennengelernt. Dann, drei Wochen nach Ostern haben wir geheiratet. Als wir uns am Grab trafen, nahm ich von deiner Mama Abschied, Claudia. Ich brachte es nicht über mich, es dir zu sagen. Mein Gott, du mit deinem Stock! Bin ich aus Eisen? Und dann die Freude, dich überhaupt noch einmal lächeln zu sehen.«

Claudia verstand ihn nicht. Und so fuhr er fort: »Damals brachte ich die für dich schmerzliche Wahrheit nicht über die Lippen. Aber ich habe Annalena und dich nicht vergessen. Nina weiß das. Und sie bat mich, dir zu schreiben.«

Nur langsam wurde es ihm klar. Mit seinem Brief vom Gardasee mußte für Claudia eine Welt zusammengebrochen sein. Das hatte er nicht beabsichtigt. Was wußte er schon von einem elfjährigen Mädchen und ihrer rosaroten Welt aus romantischen Vorstellungen?

Claudia weinte leise. Ihre Schultern bebten, und zwischen ihren Händen wurde die bunte Postkarte zu einem unansehnlichen Klumpen.

»Ist sie das?« hörte er sie flüstern und merkte erst jetzt, daß sie hinüber zu dem Foto seiner jungen Frau sah.

Da trat er auf sie zu und umarmte sie. »Ja, Claudia. Das ist meine Frau Nina.«

»Schrecklich! Sie sieht aus wie unsere Sportlehrerin! Und der sagst du alles!« keuchte sie. Dann stieß sie mit dem Fuß auf und schluchzte laut. »Ich sage keinem etwas. Keinem! Ich halte mein Versprechen. Und du…«

Sekunden später kniete er neben ihr, umfing sie mit seinen Händen und sah bittend zu ihr auf.

»Das ist doch etwas ganz anderes. Zwischen Nina und mir gibt es kein Geheimnis. Wir sind verheiratet…«

»Na und? Papa und ich auch. Und dem kann ich nichts sagen, Wolfgang. Kein Wort hab ich gesagt, weil ich es versprochen habe und es unser Geheimnis war.«

»Aber das ist doch richtig, Claudia«, verteidigte er sich. »Dein Vater darf nicht wissen, daß deine Mama und ich uns liebten. Er würde verzweifeln, dich vielleicht nicht mehr so liebhaben können und nicht mehr nett zu dir sein.«

Sie wich seinem Blick nicht aus. Wolfgang überlegte, was sich wohl hinter ihrer vorwurfsvoll gekrausten Stirn abspielen mochte. Ob sie ihm das Glück mit Nina mißgönnte? Ob sie ihm grollte, weil er sie gedrängt hatte, ihr gemeinsames Geheimnis zu bewahren?

»Du… du mußt es ihm sagen, Wolfgang.«

Er verstand nicht. »Was muß ich sagen? Wem?«

»Du mußt zu meinem Papa gehen und ihm erzählen, daß Mama dich liebgehabt hat. Ich… ich kann es doch nicht.«

»Aber warum soll er es erfahren?«

»Sie senkte den Kopf. »Damit er wieder glücklich wird. Er denkt doch, Mama hat ihn schrecklich liebgehabt. Darum will er keine andere Frau. Aber ich möchte so gern eine neue Mutter. Verstehst du das etwa nicht?«

Er zog sie an sich. »Das verstehe ich. Ja, Claudia. Aber warum?« Wolfgang sprach nicht weiter. Er wußte plötzlich, warum Claudia ihrem Vater nicht die Wahrheit sagen konnte.

Es war ihr einfach unmöglich, ihre Mutter zu verraten. Die unverbrüchliche Liebe zu ihr erlaubte es einfach nicht.

Auf Fabian Ossiander zuzugehen, das war Wolfgang klar, würde ihm schwerfallen. Aber mußte er dieses dornigen Weg nicht beschreiten, weil auch Claudia das Recht auf ein neues Glück zustand?

»Kennst du eine Frau, die dir Annalena ein wenig ersetzen kann?« flüsterte er.

»Ja. Aber sie will fort, weil sie nicht glauben kann, daß Papa sie ebenso gern mag wie ich.«

Ihre Worte waren kaum zu hören, aber er begriff, welche zarte Hoffnung darin lag. Und plötzlich wußte er, es gab kein zurück mehr.

»Ich werde mit deinem Vater sprechen, Claudia. Ja, ich verspreche es. Du mußt mir nur ein wenig Zeit lassen. Ich muß mich darauf vorbereiten und meine Frau um Rat fragen. Es kommt alles so plötzlich und… soviel Schweres auf mich zu.«

»Für mich ist alles noch schwerer, Wolfgang.«

Sie sagte es klar und deutlich. Und ihre Schultern hoben sich mit jedem Atemzug. Claudia begann zu begreifen, daß sie den Kampf, den sie gegen den unmenschlichen Druck ihres Gewissens begonnen hatte, nicht allein gewinnen konnte. Ein Teil des Geheimnisses würde ihr bleiben, auch wenn es eines Tages ganz im Dunkel des Vergessens versank.

Wolfgang sah sie eindringlich an.

»Du und ich, Claudia, wir beide wissen, daß wir einen Teil unserer Geheimnisse trotzdem bewahren müssen. Dein Vater darf nie erfahren, daß du bei mir warst.«

Ja, das wußte sie. Sie hatte mit diesem Einwand gerechnet. Sie war ja nicht auf den Kopf gefallen.

»Nein, das darf er nicht. Du mußt so tun, als kämst du ganz von allein zu ihm, denn ich will nicht, daß mein Papa noch mal traurig wird, Wolfgang.« Und dann fiel ihre Starre wie ein Panzer von ihr ab, und sie sank aufschluchzend in seine Arme. »Bitte, geh bald, Wolfgang. Sonst ist sie fort, meine Astrid.«

»Ja, so bald ich die Kraft dazu aufbringe«, versprach er. Und sie wollte und mußte ihm wieder glauben. Genauso wie vor Monaten am Grab ihrer heißgeliebten Mama.

*

Einige Tage später stand Fabian Ossiander auf einer sonnenbeschienenen Straße Münchens und sah geistesabwesend über die Menschen hinweg, die in ihm den berühmten Dirigenten erkannten und ihn neugierig musterten. Er erwiderte die Blicke nicht wie sonst mit einem stolzen und dankbaren Lächeln oder Nicken. Er stand nur da und ließ das Leben wie einen wüsten Strom an sich vorbeirauschen.

Die vergangene Stunde, dieses quälende Gespräch mit Wolfgang Bosch hatte etwas in ihm zerbrochen. Aber er begann zu ahnen, daß er aus den Scherben seines Schuldbetruges etwas Neues schaffen mußte. Claudia brauchte ihn ja. Seit einiger Zeit wirkte sie in sich gekehrt und niedergeschlagen. Zu seinem Kummer fand er immer noch nicht den Mut, ihre traurige Stimmung mit behutsamen Fragen zu ergründen. Jetzt, nachdem er sich die Geschichte von Wolfgang Bosch angehört hatte, konnte er es erst recht nicht. Sollte seine geliebte Tochter erfahren, wie sie von ihrer Mutter hintergangen worden war?

Noch in Gedanken, zog er einen kleinen Zettel aus seiner Hosentasche. Darauf stand die Zahl sechsunddreißig. Er hatte sich Claudias Schuhgröße notiert, weil Lisa behauptete, sie wünsche sich Reitstiefel zum Geburtstag.

Aber ob das stimmte? Was ging wirklich in seiner Tochter vor, womit konnte er ihr eine Freude machen, damit sie wieder so unbekümmert und heiter mit ihm umging wie in den Pfingstferien.

Fabian dachte an diese Wochen voller Dankbarkeit zurück. Jeder Tag hatte ihm bewiesen, wie leicht es doch war, sich zu der Verantwortung und der Liebe zu seinem Kind zu bekennen. Und Claudia hatte ihre Mutter nicht mehr vermißt, weil sie begriff, wie viel ihm ihre Gegenwart bedeutete.

Annalena lebte in ihrer beider Herzen fort, aber während ihrer Gespräche hatte Astrid Hoffmann eine viel größere Rolle gespielt. So, als vermißten sie sie beide, wollten es aber nicht zugeben. Fabian ging nachdenklich weiter.

Seit einiger Zeit ließ sich die Ärztin nicht mehr bei ihnen sehen. Jetzt mitten auf der Straße auf dem Weg zu einem Sportgeschäft, wo er ein paar Reitstiefel für seine Tochter kaufen wollte, fiel ihm plötzlich ein, was Lisa ihm erzählt hatte. Claudia habe die junge Ärztin in einem Wutanfall aus dem Haus gejagt.

Das war Wochen her. Aber nun entstand in seinem aufgewühlten Inneren ein Mosaik aus offenen Fragen und bösen Verdächtigungen. Wenn Claudia sich wirklich so schlimm verhalten hatte, dann doch nur, weil Astrid sie enttäuscht hatte. Womit konnte die wunderbare Ärztin seine Tochter enttäuschen?

Dafür ergab sich für ihn nur ein Grund: Astrid Hoffmann wandte sich, nachdem Claudia wieder ganz hergestellt war, wieder ihrem eigenen Leben zu. Wahrscheinlich hatte sie den Wunsch nach einer eigenen Familie geäußert und sogar schon den passenden Mann dafür gefunden.

Er blieb vor einem Schaufenster stehen und starrte auf die ausgestellten Kunstwerke aus Nymphenburger Porzellan. Der Gedanke, daß Astrid einen Mann fürs Leben gefunden und deshalb Pläne für ihre Zukunft schmiedete, durchfuhr ihn voller Entsetzen. Der Schrecken entlud sich in dem jähen Verlangen, das Schaufenster einzuschlagen und Stück für Stück des wunderbaren Porzellans auf der Straße zu zerschmettern.

»Herr Ossiander!« sprach ihn eine weibliche Stimme an. Er fuhr herum und sah in das faltige, sorgfältig geschminkte Gesicht einer alten Dame.

»Ja, bitte?«

»Kennen Sie mich denn nicht mehr? Ich bin Frau Prof. Odenburg. Wir wurden einander letzte Woche auf der Hochzeit von Wiebke Lohmer vorgestellt!«

»Ah, ja. Pardon, gnädige Frau. Tut mir leid!«

»Ihr letztes Konzert, die Pariser Symphonien von Haydn – ein Traum! Nein, mehr noch – eine Offenbarung.«

»Danke«, erwiderte er kurz angebunden. Noch vor Tagen hätte er im Glanz seines Erfolges gebadet.

»Wenn Ihnen die Zeit nicht zu schade ist, Herr Ossiander – darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Ich würde so gern mit Ihnen über Ihre Auffassung dieses Werkes sprechen.«

Das hatte ihm heute noch gefehlt! Er schüttelte den Kopf.

»Leider habe ich wirklich keine Zeit.«

»Ach, Sie proben schon etwas Neues?«

Fabian wußte gar nicht, ob er jemals in seinem Leben etwas Neues proben konnte. Er war ein gebrochener Mann! Warum sah ihm die Frau Professorin es nicht an?

Plötzlich überwältigte ihn eine so schmerzliche Verzweiflung, daß ihm bewußt wurde, wo er Hilfe erwarten konnte.

»Nein«, hörte er sich sagen. »Ich muß dringend ins Krankenhaus. Wissen Sie, meine Tochter hat nächste Woche Geburtstag«, fügte er verwirrt hinzu.

Das sorgsam hergerichtete Gesicht der alten Dame wurde noch faltiger. Sie nickte mehrmals lebhaft. »Ja, ja. Ich habe von dem Unfall gehört. Ihre Tochter liegt immer noch in der Klinik? Das arme Kind.«

Er erstarrte. Was für ein Unsinn! Claudia war kerngesund. Sie wollte reiten lernen und wünschte sich Stiefel. Aber weil er von der Klinik gesprochen hatte, war ihm wohl eingefallen, was Claudia sich wirklich und ganz heimlich, wenn auch aus vollem Herzen, wünschte.

»Ja, mein armes Kind!« entfuhr ihm, während er ein Taxi heranwinkte. »Sie verstehen hoffentlich? Auf Wiedersehen, Frau Prof. Odenburg!«

Im Taxi nannte er das Ziel. Dann lehnte er sich zurück. Schon wieder hatte er gelogen. Er haßte sich dafür. Damit mußte Schluß sein. Er wollte endlich wieder frei atmen, wenn er an seine Zukunft als Vater dachte.

In der Landesklinik schickte man ihn in die chirurgische Abteilung. »Ob Dr. Hoffmann noch Dienst hat«, rief ihm die Frau in der Pförtnerglocke nach, »weiß ich aber nicht!«

Er beachtete es nicht. Er mußte zu Astrid, sie zur Rede stellen und sie bitten, ihn anzuhören. Sie hatte doch immer darauf gedrängt, Annalenas Andenken hochzuhalten wie ein Heiligenbild. Sie hatte ihm sogar einmal voller Sorge erzählt, daß Claudia das Foto ihrer Mutter in der Schublade versteckte.

Er entdeckte Astrid im Ärztezimmer. Sie saß da mit zwei Kollegen und trank Kaffee aus Pappbechern. Als sie ihn sah, stellte sie den Pappbecher sofort ab und erhob sich.

»Ist etwas mit Claudia?«

Er sah sich flüchtig um. Dann packte er sie an ihrem weißen Kittelarm und zog sie einfach mit sich, bis in den Innenhof, von dem ein Durchgang in den Park führte.

»Fabian!« rief Astrid empört. »Was tun Sie denn? So reden Sie doch!«

Im Park ließ er sie los. Astrid holte Atem.

»Sind Sie verrückt geworden, Fabian?«

Er nickte. Es war ihm gleichgültig, was sie von ihm hielt. Hier, von Angesicht zu Angesicht mit ihr, quoll es aus ihm heraus.

»Heute morgen bat mich ein gewisser Wolfgang Bosch telefonisch um ein Gespräch. Ich habe mich mit ihm in der Kantine der Philharmonie getroffen. Wissen Sie, was dieser Mann von mir wollte?«

Astrid schüttelte den Kopf.

»Haben Sie den Namen nie gehört?«

»Nein!« entgegnete sie ungeduldig.

»Claudia hat ihn nie erwähnt?«

»Nein!«

»Nun gut, dieser Mann war monatelang der Liebhaber meiner Frau.«

Er beobachtete die Wirkung seiner Worte. Astrids Lippen öffnete sich, um einen langen Atem freizulassen. Das war alles.

»Haben Sie nichts dazu zu sagen?« fuhr er sie an.

»Es tut mir leid. Ja, es tut mir für Sie leid, Fabian. Aber vielleicht stimmt es gar nicht. Ihre Frau…«

»Meine Frau hat mich nicht mehr geliebt. Genausowenig wie ich sie. Wir waren uns schon lange fremd geworden. Er hat mir einen Brief von ihr gezeigt und mir die Augen geöffnet. Ja, Annalena war damals verzweifelt, weil sie von meiner Affäre mit Bella Crusius erfahren hatte. Wochen später hat sie sich ihm hingegeben und sich von da an mehrmals wöchentlich mit ihm getroffen. Was sagen Sie nun?«

»Annalena lebt nicht mehr, Fabian. Lassen Sie sie in Frieden ruhen.«

»Mehr fällt Ihnen dazu nicht ein? Fragen Sie sich nicht, wie es um meinen Seelenfrieden steht? Seit fast einem Jahr klammere ich mich an die Vorstellung, mit Annalena eine glückliche Ehe geführt zu haben.«

»Das stimmt doch nicht, wenn diese Bella…«

»Natürlich stimmt es nicht. Aber sollte ich Claudia, meinem armen mutterlosen Kind eingestehen, was für ein jämmerlicher Versager ich war? Sollte ich ihr sagen, du mußt jetzt ohne deine Mutter leben und mit mir, dem untreuen Mann deiner Mutter vorliebnehmen? Ich habe deine Mutter betrogen und belogen, aber du sollst sie als meine geliebte und liebende Ehefrau in Erinnerung behalten?«

Sein fordernder, durchdringender Blick stürzte Astrid in Verwirrung. Sie begann die Knöpfe ihres Kittels zu öffnen. Seit einer halben Stunde war ihr Dienst zu Ende.

In ihrem schlichten Sommerkleid wirkte sie hier im Park wie andere Besucher. Es fiel nicht so auf, wenn dieser Mann wie ein Wildgewordener auf sie einredete.

»Sie haben nichts Falsches getan, Fabian. Claudia weiß ja nichts von dem Liebhaber ihrer Mutter. Ihre Trauer um Ihre geliebte Ehefrau hat ihr gewiß ein wenig geholfen, über den Schmerz hinwegzukommen. Und außerdem…, der Kummer über den Verlust Annalenas hat Sie mit Ihrer Tochter verbunden. Claudia lernte Sie allmählich als liebenden Vater kennen. Ich weiß es doch. Als wir uns das letzte Mal sahen, erzählte sie mir begeistert von dem Urlaub mit Ihnen.«

»Da wußte ich ja auch noch nicht, was Annalena mir angetan hat. Sie wollte mich verlassen und mit Claudia zu Wolfgang Bosch in das Sommerhaus seiner Familie am Gardasee. Kapieren Sie doch! Sie wollte mit Claudia fort von mir!«

»Aber davon weiß Claudia doch nichts. Und dazu kam es nicht mehr, Fabian. Der Unfall machte allen diesen Plänen ein Ende.«

»So? So sehen Sie das?«

»Ja, denn es hat auch Claudia einen furchtbaren Zwiespalt erspart. Sie wußte wirklich nichts von den Plänen ihrer Mutter?«

Er überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Wolfgang Bosch meint, Annalena habe bis zuletzt – auch Claudia gegenüber – über ihr Vorhaben geschwiegen.«

»Das ist verständlich. Weil Claudia sich Ihnen anvertraut und alles verraten hätte.«

Er fuhr sich durchs Haar. Astrids Blick ruhte auf ihm. Sie seufzte. »Sie haben Ihre Frau in den Himmel gehoben, Fabian. Mehr noch, Sie haben von ihr wie von einem Heiligen gesprochen, ja von ihr geschwärmt wie ein verliebter Jüngling. Das ist Ihnen perfekt gelungen. Daß Sie diesen Selbstbetrug brauchten, um allmählich zu Ihrer Verantwortung als Vater zurückzufinden, wußte ich nicht.«

Da lächelte er wehmütig. »Sie denken schon wieder viel zu gut von mir, Astrid. Ich wollte mich mit diesem Selbstbetrug auch schützen. Vor den Frauen, die mich mehr oder weniger deutlich bedrängten und mir einredeten, ich brauche eine neue Mutter für Claudia.«

»Ich habe Sie nicht bedrängt!« entgegnete sie prompt, weil sie sich angesprochen fühlte.

»Nein, das haben Sie wirklich nicht. Leider nicht, Astrid. Sonst hätten wir uns beide nicht so gequält.«

Langsam wandten sie sich dem Torbogen zu, der in den Innenhof führte. Beide schwiegen. Astrid hörte ihr Herz laut hämmern. Fabian so nah zu wissen und doch zu ahnen, daß das Glück dieses flüchtigen Moments zu spät kam, war kaum zu ertragen.

Seit drei Tagen lag der Vertrag aus Hannover auf ihrem Tisch. Nur weil sie diese Woche täglich Dienst hatte, war er noch nicht unterschrieben. Ob Claudia ihrem Vater nichts von ihren beruflichen Plänen erzählt hatte? Warum fragte er sie nicht danach?

»Glauben Sie, Claudia freut sich über Reitstiefel zum Geburtstag?« fragte er da unvermittelt.

Das brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie nickte.

»Ich habe ihr ja vor Monaten selbst geraten, Reitunterricht zu nehmen. Oder zwingen Sie sie wieder ans Klavier?«

»So, Sie waren das.«

»Ja, das war ich. Aber wenn Sie ihr die Stiefel schenken, muß ich mir etwas anderes ausdenken. Claudia hat ja nicht vier Beine.« Sie seufzte komisch. »Ich werde ihr ein Souvenir schicken, damit sie mich nicht ganz vergißt. Vielleicht eine Friedenspfeife?« fügte sie mit leiser Ironie hinzu.

»Friedenspfeife? Was soll das denn? Claudia ist ein Mädchen, die spielt nicht Indianer. Haben Sie das vergessen?«

»Natürlich nicht. Aber ich habe auch nicht vergessen, wie sie mich vor Wochen fortschickte. Sie jagte mich nahezu davon.«

»Ich weiß. Es tut ihr bestimmt schon leid.«

»Das glaube ich nicht. Sie wird ihre Unverschämtheit auf den Brief schieben, der sie so erzürnte.«

Er lachte leise. »Ja, das war ein frecher Brief von einem Jungen aus der Schule. Claudia weiß eben noch nicht, wie man mit aufdringlichen Burschen umgeht.«

Sie hatten den Innenhof durchquert, so daß er ihr jetzt die Tür zum Krankenhausgebäude aufhielt. Sie führte in einige Räume, die nur fürs Personal zugänglich waren.

»Bitte, sagen Sie mir, was inzwischen mit Ihnen geschehen ist, Astrid.« Er stellte sich ihr in den Weg.

Eingeklemmt zwischen seine Arme, die die Tür offenhielt, erzählte sie ihm von dem Tag, an dem sie Claudia von der Schule abholte, um ihr schonend beizubringen, daß sie vielleicht als Oberärztin nach Hannover übersiedeln wollte.

»Durch diesen Brief, kam ich nicht mehr dazu, ihr Einzelheiten und meine Beweggründe aufzuzählen. Was sie von mir erfahren hatte, reichte ihr. Sie warf mich sozusagen im hohen Bogen hinaus. Hat sie es Ihnen nicht erzählt?«

»Nicht in allen Einzelheiten. Seltsam, dabei dachte ich doch, ich bin jetzt ihr Vertrauter, ihr einzig geliebter Musterpapa.«

Astrid lächelte. »Wir alle können uns täuschen, nicht wahr? Aber seitdem habe ich nichts mehr von Claudia gehört.«

Seine Arme sanken hinab. Er ergriff ihre Hände.

»Also dann doch die Friedenspfeife. Sie könnten sie selbst vorbeibringen. Und dann unternehmen wir an Claudias Geburtstag einen Ausflug an den Starnberger See. Zu dritt. Da behalte ich die Übersicht, wenn ihr beide dann auf dem Dampfer die Friedenspfeife raucht.«

»Ich… ich weiß nicht, Fabian.«

Er zog ihre Hände an seine Brust. »Aber ich weiß es. Du und ich, Astrid, wären uns längst viel nähergekommen, wenn ich den Mut gefunden hätte, dir von mir als schlechtem Ehemann zu erzählen.«

»Du meinst«, schmunzelte sie, »das hätte mich nicht abgeschreckt?«

»Das hat ja noch keine abgeschreckt. Alle Frauen denken doch, ihre Liebe würde mich zu einem Mustergatten bekehren.«

Sie sah zu ihm auf. »Ja, zu denen gehöre ich auch.«

Da küßte er sie. Es war ein zarter, flüchtiger Kuß.

»Ich weiß seit fast einem Jahr, daß ich viel mehr als Dankbarkeit für dich empfinde. Ich konnte meine Gefühle dahinter nur verbergen, weil ich Claudia und mir nicht eingestehen wollte, daß mein Herz so bald nach Annalenas Tod für eine andere Frau, für dich, schlug. Heute kann ich es sagen. Und ich danke diesem…«

»… Wolfgang.«

»… für seinen Mut und seine Ehrlichkeit. Damit hat er mich von meinem hohen Roß gestürzt. Es hat wehgetan, aber es hat mich befreit.«

Sie schloß die Augen, zog ihre Hände aus seinen und legte sie ihm um den Nacken.

»Ich werde kommen, Fabian. Herzlich gern. Und dir bleibt Zeit, um zu überlegen, ob es für immer sein soll.«

Er küßte sie diesmal leidenschaftlich, und sie erwiderte seinen Kuß, obwohl sie damit rechnen mußte, daß einige Kollegen sie beobachten konnten.

Danach hielt Fabian sie fest an sich gepreßt. »Ja, eine Woche Zeit, Astrid. Mehr nicht. Genau bis zu Claudias Geburtstag.«

*

Ein stürmischer Wind blies über den Starnberger See, denn mal wieder hatte das Wetter nicht mitgespielt, wenn Claudia ihren Geburtstag feierte. Das kannte sie schon. Einmal, da war sie noch recht klein gewesen, hatte es an diesem Tag so gehagelt, daß das Cabriolet ihrer Mama wie eine Badewanne voller Wasser gestanden hatte.

»Weißt du das noch, Papa?« schrie sie gegen den Wind an, weil sie oben an der Reling standen. »Da war ich ein Baby, nicht?«

Fabian grinste Astrid an. »Annalena hat andauernd vergessen, ihr Verdeck zu schließen. Ich habe ihr danach nie wieder ein Cabriolet gekauft.«

»Mama fand das nicht so schlimm«, lachte Claudia. »Sie fuhr sowieso lieber in Autos, die so richtig schnell…«

Sie sprach nicht weiter. Da sie zwischen Astrid und Fabian stand, umarmten die beiden sie gleichzeitig. Ihre Hände berührten sich. Sie tauschten einen Blick.

Annalena würde immer bei ihnen sein. Das war gut so, weil Claudia ihre Mama nie vergessen durfte.

»Was für ein toller Wind!« begann Claudia nach einer Weile unbekümmert. »Was für ein toller Geburtstag, Papa. Was für eine tolle Überraschung, daß Astrid gekommen ist.«

Da beugte Astrid sich vor. Ihre Lippen berührten Claudias Haar und ihr Herz lief über voller Liebe zu diesem Kind.

»Ja, und was ist nun mit der Friedenspfeife?« fragte er.

»Was für eine Friedenspfeife?«

»Die brennt bei diesem Wetter doch gar nicht, Fabian«, schmunzelte Astrid.

»Weil du eine aus Lakritze gekauft hast, du Schwindlerin!« Er lachte. Claudia sah die beiden abwechselnd an.

»Lakritze ist gut. Aber wozu eine Friedenspfeife?«

»Ich wollte mich mit dir versöhnen, weil du mich im Frühsommer einmal so rüde fortgeschickt hast, Claudia.«

»Quatsch! Hab ich nicht!« Claudia schmiegte sich an sie. »Das redest du dir ein. Das kommt vom Sekt, den ihr getrunken habt.«

»O nein. Du hattest damals einen unangenehmen Brief von einem Jungen aus der Schule bekommen und dich furchtbar darüber geärgert, mein Schatz«, beharrte Astrid auf der zurückliegenden Tatsache.

»Mir schreibt kein Junge aus der Schule.«

Astrid blickte Fabian an. Der zuckte mit den Schultern. Seine Stirn legte sich in Falten. Worum ging’s hier? Etwa um ein lächerliches Mißverständnis, um das sich die beiden liebsten Menschen, die er hatte, streiten wollten?

»Eine Postkarte vom Gardasee lag dabei, Claudia«, erinnerte Astrid sie unerbittlich, denn trotz aller verliebten Blicke von Fabian und der Gewißheit, an seiner Seite alles zu finden, was sie seit Jahren ersehnt hatte, ließ sie sich nicht für dumm verkaufen.

»Gardasee?« wiederholte Claudia. Ihr Blick wäre wohl am liebsten hinunter in die gischtigen Wellen getaucht. »Ach, das meinst du. Ja, die hat mir so ein ätzender Typ geschickt. Die lag im Brief. Kann sein, ich hab’ mich geärgert.«

»… und mich deshalb weggeschickt?«

»Nein, nicht deshalb. Du wolltest doch fort, oder?« Sie lehnte sich gegen Astrid und lächelte sie schelmisch an. »Aber Papa hat dich im letzten Moment festgehalten. Ist es so?«

»So ist es, und so bleibt es«, antwortete Fabian, wobei sein Gesicht ein wenig Ungeduld verriet. War der Tag nicht viel zu schön, um in längst vergangenen Nichtigkeiten zu wühlen?

»Diesen ätzenden Jungen, der den Brief geschrieben hat, ist es mit ihm auch zur Versöhnung gekommen?« Astrid ließ nicht locker. Etwas an Claudias Verhalten befremdete sie.

»Nun laß sie doch, Astrid. Vielleicht hat sie ein kleines Geheimnis.«

Es begann zu regnen. Die drei schlüpften unter Deck und suchten sich einen Tisch. Und nun holte Astrid ein kleines Päckchen hervor, um das eine schwarze Lakritzpfeife wie eine Schnur geschlungen war. Kichernd ließ Claudia das seltsame Ding durch die Luft wirbeln und widmete sich erst dann dem richtigen Geschenk. Es war ein Armreif aus ziseliertem Silber, in den Astrid das Datum des Tages hatte eingravieren lassen.

»Ist ja ’ne echte Überraschung! Viel toller als die Reitstiefel, Papa.«

»Ich wußte doch, daß du was zu mäkeln hast«, lachte er.

»Ja, weil es eben keine echte Überraschung war. Die hatte ich mir doch gewünscht. Aber nächstes Jahr…«

»Nein, kein Pferd, bitte nicht!« rief Astrid.

»Nein, zum nächsten Geburtstag wünsch’ ich mir etwas wirklich Tolles.«

»Und?« fragten Astrid und Fabian.

»Eine Hochzeit!«

Fabian drückte Astrids Hand. »Ich werde’s mir merken«, schmunzelte er. »Aber daß diese Idee auf deinem Mist gewachsen ist, Claudia, das muß unser Geheimnis bleiben. Sonst denken alle, ich bin zu blöd, um Astrid einen Heiratsantrag zu machen.«

Mit glänzenden Augen sah sie ihren Vater an, dann schüttelte sie energisch den Kopf. Astrid wußte, warum.

»Claudia haßt Geheimnisse«, sagte sie. »Ich denke, wir sollten es ruhig dabei belassen, daß die Idee mit der Hochzeit von ihr kam. Bis zum nächsten Geburtstag ist ja noch ein Jahr hin. Dir bleibt eine lange Zeit, um dir die richtigen Worte für eine Heiratsantrag zurechtzulegen.«

Claudia sprang auf, wischte um den Tisch und landete auf Fabians Schoß. »Ja, so ist es besser. Bitte kein Geheimnis, Papa.«

Und dann glitt sie aus seiner Umarmung und tänzelte nach vorn, wo es an einer kleinen Bar Getränke zu kaufen gab.

Fabian wandte sich Astrid zu. »Woher weißt du eigentlich, daß Claudia keine Geheimnisse mag?«

»Anfang dieses Jahres hat sie mir es einmal gesagt. Es hat mich sehr berührt, Fabian. Sie ist eben ein außergewöhnliches Mädchen.«

»Klar«, er küßte sie zärtlich. »Was dachtest du denn? Sie ist eben meine Tochter.«

Der Dampfer hatte jetzt die Mitte des Sees erreicht. Der Regenschauer, der die drei unter Deck gezwungen hatte, war vorüber. Im Süden lockerten sich die Wolken auf. Nur der Sturm ließ noch nicht nach. Claudia steckte ihr Näschen dem Wind entgegen. Er kam vom Süden, von dort, wo weit hinter den Alpen der Gardasee lag. Wahrscheinlich würde sie den nie sehen. Noch empfand sie überhaupt keine Lust dazu. Aber das konnte sich ja ändern. Später vielleicht, wenn Astrid ihre neue Mutter und sie selbst noch ein Stück erwachsener geworden war.

Mami Staffel 11 – Familienroman

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