Читать книгу Ich habe Angst - ist das gut oder schlecht? - Edna Westmeier / Jasper Vogt - Страница 11
ОглавлениеKapitel 3: Lust an der Angst
Ach wenn’s mich doch mal gruselte,
so richtig kitzlig gruselte, das wäre grus’lig nett.
Wenn ich mich bloß mal fürchtete,
ein ganz klein bisschen fürchtete
des nachts in meinem Bett.
Doch nein, nein, nein, ich kann es nicht,
nein, nein, nein, ich lern es nicht,
Mir war bislang - nie bang.
„Das Gespenstermusical“ (nach dem Märchen „Voneinem, der auszog …“)
Heinz Wunderlich (1907–1990) Arzt und Schriftsteller
Jasper Vogt: Es gibt diese merkwürdige Erscheinung, dass wir uns freiwillig in Angstsituationen begeben und daraus noch irgendwie Lust ziehen, Beispiele: Geisterbahn, Horrorfilme schauen, Horrorgeschichten lesen. Das ist doch eigentlich ein merkwürdiger Widerspruch.
Edna Westmeier: Einmal ist es so, dass wir es ein bisschen mögen, wenn wir aufgeregt sind. Dann geht der Adrenalinpegel hoch, und das ist etwas, wonach man im Extremfall sogar süchtig werden kann. Es gibt Menschen, die gar nicht mehr runterschalten können, und sie finden das klasse – bis sie zusammenbrechen. Das fühlt sich bei denen gut an, weil sie vielleicht Konzepte haben von „wenn ich immer in action bin, wenn immer was passiert, dann bin ich lebendig“. Es gibt einem also auch ein Gefühl von lebendig sein. Wenn man sich entscheidet, Geisterbahn zu fahren oder sich einen Horrorfilm anzuschauen, kommt natürlich dazu, dass man vorher weiß: Ich kann zwar jetzt in einen Angstzustand versetzt werden …
JV: … aber mir passiert nichts.
EW: Wenn wirklich etwas passiert (und dafür ist unsere Angst ein Warnsignal, dass wir uns schützen im Leben), dann ist das ja nicht lustvoll, dann habe ich Angst, und die will ich nicht haben. Es gibt aber Beispiele, dass Menschen, die in grausamen Kriegsgebieten waren und daraus zurückkommen, denen hinterher das auch fehlt, das Abschlachten von Menschen, all die Grausamkeiten. Das gibt es, dieses Phänomen, das ist dann so eine Mischung von „ich habe Angst“ und „ich brauche das“. Das ist dieser Adrenalinspiegel, der im Grunde genommen zu etwas ganz Grausamem bewegt. Aber das ist die Ausnahme.
JV: Darf ich denn keine Horrorfilme mehr anschauen? Das kann doch wunderbar sein. Da kann ich mich richtig fürchten und richtig Angst haben, sitze aber ganz gemütlich im Kinosessel oder zu Hause auf dem Sofa und esse Chips.
EW: Natürlich darfst du dir das gönnen, das Gefühl „oh, so etwas Schreckliches kann alles passieren, aber mir passiert zum Glück nichts“. Wenn man sich da reinfühlt, gibt das eine wunderbare Aufregung, das ist ein wenig wie mit Märchen bei Kindern. Da passiert etwas ganz Schlimmes: Der Wolf frisst die Großmutter, die Hexe wird verbrannt! Das kommt ja auch aus einer moralischen Vorstellung: Die hat was Böses gemacht und dann passiert etwas im Grunde genommen Schreckliches. Und dann fürchten sich die Kinder. So ist es zwar oft in den Märchen, aber vielleicht auch nur beim ersten Mal; denn dann wissen die Kinder, dass es gut ausgeht, und dann wollen sie das Märchen immer wieder hören, weil sie wissen, dass sie ohne Gefahr ein bisschen Angst haben können.
JV: Es gab ja eine Zeit, da hieß es, Kindern darf man solche Grausamkeiten nicht zumuten.
EW: Das kam aus der Historie der schwarzen Pädagogik, als man Kindern Angst gemacht hat mit Märchen: „Wenn du nicht brav bist, dann passiert dir dasselbe wie der bösen Hexe oder dem bösen Wolf“. Daraus entstand die Bewegung, Kinder sollten ja nicht mit solchen Grausamkeiten in Berührung kommen – wobei die Wirklichkeit im Leben oft viel grausamer ist. Und insofern ist es Augenwischerei, wenn man sagt, Kinder dürfen gar nicht wissen, was Schreckliches passiert; denn dann leben sie in einer Scheinwelt. Natürlich sollten Kinder nicht extra darauf hingewiesen werden, was es alles an Grausamkeiten im Leben gibt. Aber Gefahren müssen sie kennen, es ist wichtig, dafür zu trainieren, wo es richtig ist, Angst zu haben – Beispiel: die vielen Missbrauchsgeschichten. Wenn der nette Onkel mich anfasst, muss ich nein sagen oder sofort Bescheid geben. Was ist richtig, was ist falsch? Bei Rotkäppchen ist es ja gerade der „Mitschnacker“, der sagt „ach, alles wunderbar, schau dir doch die schönen Blumen an“. Und nachher frisst er alle auf.
JV: Wo ist denn der Übergangspunkt von diesem Adrenalinpegel, der mir Spaß macht, zu dem, wo es gefährlich wird?
EW: Das kann man nicht allgemein beantworten. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand gerne Horrorfilme oder Krimis anschaut, dann ist es ja erst einmal so, dass er das ansieht, dann hat er sich ordentlich gefürchtet, und dann blendet er das auch wieder aus und sagt: Okay, meine Realität ist anders. Wenn ich aber ständig Horrorfilme gucke, dann verschiebt sich meine Wahrnehmung; denn je mehr ich davon beeinflusst werde (und das kann ich gar nicht verhindern, dass mich das beeinflusst), desto mehr habe ich im Kopf, was alles passieren könnte. Genauso ist es, wenn ich nur die Nachrichten lese, wie viele Einbrüche es gibt und dass andere Menschen erschossen oder erschlagen werden, was auch immer: Je mehr ich das mache, desto mehr denke ich „aha, so ist die Welt!“ Dafür ist das Gehirn auch ausgelegt, dass wir schnell alles verallgemeinern, damit wir uns zurechtfinden.
JV: Wenn ich zum Beispiel einen Tisch sehe, dann weiß ich automatisch, was das ist.
EW: Genau: Wenn ich jedes Mal erfassen muss „ach, das ist ein Tisch!“, dann dauert das viel zu lange im Alltag, da kommt das Gehirn nicht mit bei den vielen Sachen, die man überall sieht. Insofern verallgemeinern wir auch ganz schnell. Das heißt: Wenn ich mich ständig mit Horrorgeschichten bombardieren lasse …
JV: Man beachte den Ausdruck „bombardieren”!
EW: Ja, Horrorgeschichten sind so etwas wie Bomben, egal jetzt, ob das Nachrichten sind oder Filme. Dann verändern sich meine inneren Gedanken, wie die Welt ist, dann denke ich vielleicht immer daran, jetzt könnte gleich jemand einbrechen. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch diese Katastrophenfilme. Ich habe oft daran gedacht, als das mit Corona losging, als sich die Leute eingedeckt haben mit Toilettenpapier und Nudeln und Reis und Wasser. Ein Teil davon kam sicher aus solchen Filmen, das Wissen, wie man sich zu verhalten hat – hamstern! Woher sollten sie es auch sonst wissen? Der letzte Krieg ist schon lange vorbei, den haben die meisten nicht mehr erlebt.
JV: Das war jetzt alles sehr allgemein, zurück zur individuellen Situation. Wenn ich im Auto sitze, kann ich sie nicht vermeiden, die Angst, dass mir ein Mensch vors Auto läuft und ich ihn totfahre. Das muss gar nicht meine Schuld sein, das kann passieren. Aber dann habe ich ein Menschenleben ausgelöscht, und Menschen darf man nicht töten, das ist eine Grenze, eine Schranke, die wir haben. Und dass ich irgendwann mal in die Situation komme, dass diese Grenze überschritten wird, davor habe ich Angst. Und diese Grenze ist schnell überschritten, Beispiel Kriegsspiele mit echten Waffen. Da ist dann plötzlich jemand tot. Und diesen schmalen Grat meine ich, wo aus der Phantasie plötzlich Realität wird. Wie kann ich verhindern, dass ich nicht irgendwann aufwache und denke: Oh Gott, was ist denn da mit mir passiert?
EW: Das war das, was ich bei diesen Horrorfilmen beschrieben habe, und das gilt auch für Videospiele. Wenn das meine Realität wird, wenn ich in Videospielen Leute abknalle, dann passiert das ja nicht wirklich, also ist das erst mal nicht meine normale Realität. Aber wenn ich das ständig mache, dann wird meine Realität geradezu wie die meines Spiels: Ich empfinde nichts mehr. Um jemanden töten zu können, brauche ich im Spiel wahrscheinlich nur einen Knopf zu drücken, dann fällt der um. Und irgendwann ist das Spiel beendet und ich kann ein neues Spiel machen. Das löst ja nicht wirklich Emotionen in mir aus nach dem Motto: Jetzt habe ich jemandem das Leben genommen. Wenn ich aber ständig in diesen Spielen bin, dann ist es ja beinahe so, als würde ich nur noch schauen und auf Knöpfe drücken und registrieren: oh, umgefallen, ist aber nicht schlimm.
JV: Dann funktioniert also die Angst als Korrektiv nicht mehr.
EW: Angst sollte eigentlich funktionieren, um uns vor Gefahren zu schützen. Was du jetzt meinst, das ist Empathie: Kann ich mich einfühlen, wie das wohl ist, wenn der andere stirbt? Und wie ist das vielleicht für mich? Daraus entsteht ja auch eine gewisse moralische Komponente.
JV: Hängt das nicht alles irgendwie zusammen?
EW: Erst einmal zurück zur Angst als Korrektiv. Sie dient dazu, dass ich mich schütze und vielleicht auch meine Gemeinschaft schütze. Es geht ja darum, dass ich Angst habe, wenn Leben bedroht wird. Wenn ich eine Gefahr sehe, bekomme ich Angst, dann muss ich angreifen oder fliehen. Und das ist nicht die Angst, wenn wir sagen, es gibt Menschen, bei denen ist eigentlich alles in Ordnung, aber sie sind ständig in ängstlichen Gedanken, was alles passieren könnte: Jemand könnte einbrechen, ich könnte überfallen werden oder krank werden oder sonst was.
JV: Kann es nicht auch positive Auswirkungen haben, wenn ich spielerisch ganz bestimmte Gefühle einfach mal rauslassen kann?
EW: Da werden die Gefühle ja nicht rausgelassen. Ich drücke einen Knopf und sehe etwas – was fühle ich da? Fühle ich wirklich Angst? Ist mir das klar, was ich da mache? Was ist das denn für ein Spiel, wenn ich sage: Ich spiele, jemanden zu töten. Das kommt noch daher, dass man eine Zeit lang gesagt hat, Gefühle müssen raus. Das glaube ich aber nicht. Das war mal so eine „Mode“ in der Psychotherapie, dass man gesagt hat: Ja, festgehaltene Gefühle müssen raus! Und damit hat man dann gemeint, man schreit oder schlägt auf ein Kissen ein oder sonst was, während man den vermeintlichen Verursacher dieses Gefühls im imaginären Blick hatte. Festgehaltene Gefühle müssen ins Fließen kommen, das stimmt, das heißt aber, ich muss oder kann oder sollte meine Gefühle wahrnehmen, spüren, empfinden. Also: Ich bin wütend und merke das.
JV: Und warum soll ich das nicht sofort in eine Handlung bringen?
EW: Ganz einfach: Das ist wie mit den Gedanken – je mehr ich überlege, warum ich wütend bin und weswegen ich wütend bin, desto mehr füttere ich damit die Wut. Normal erlebt man, dass Gefühle hochploppen, das nennt man ein Primärgefühl. Dagegen kann man nichts tun, dafür sind wir Menschen, und das ist auch wunderbar, das macht uns lebendig. Wenn wir jetzt über Wut reden: Wut kommt hoch, ich merke sie, und wenn ich die jetzt füttere und mir erzähle, ich bin wütend, der hat das und das gemacht, das war eine Unverschämtheit, dann kann es irgendwann zur Explosion kommen; denn damit füttere ich die Wut. Eigentlich ist es so: Ich nehme die Wut wahr, Hitzeschwall, meine Muskeln ziehen sich zusammen, auch andere Körperreaktionen sind möglich, und wenn ich dann sage: „das ist okay, das nehme ich jetzt wahr“ – dann geht es auch wieder weg.
JV: Und in der Geisterbahn wird die Angst nicht gefüttert?
EW: Eigentlich nicht. Natürlich habe ich für die bestimmte Zeit, in der ich in der Geisterbahn sitze, oft Angst. Andererseits habe ich mir ein Ticket geholt, ich habe was dafür bezahlt, damit ich mich mal ordentlich fürchte, und dann weiß ich ziemlich genau, dass das nach ein paar Minuten vorbei ist. Dann gibt es ja auch immer Strecken, wo es nicht so schlimm ist, und dann kommt plötzlich irgendetwas, wo man erschrocken ist, und dann lacht man, hahaha, war ja gar nicht wirklich was. So viel Realitätssinn haben die meisten Menschen, dass sie zwischendurch immer mal wieder runterkommen. Bei einem kleinen Kind läuft das natürlich anders ab, das ist klar.
JV: Das ging jetzt durcheinander. Es ging einmal darum, was macht mir Angst, und dann darum, wie es ist, wenn ich jemanden totfahre.
EW: Im Auto ist das mehr der Bereich Aufmerksamkeit und Wachheit. Bei diesen Videospielen ist Einfühlungsvermögen weggebrochen. Das hat immer etwas damit zu tun, dass die Menschen nicht mehr fühlen, und da glaube ich, dass diese Spiele was verflachen, weil ich nur gucke und reagiere. Du registrierst und agierst, nichts liegt dazwischen. Wir sind aber nicht nur visuell bestückt, sondern wir hören ja auch noch – und vor allem wir tasten, und das innere Tasten, das ist das innere Fühlen, die Empfindung. Und wenn ich jemanden sehe, wie er stirbt, dann berührt mich das, das ist eine Empfindung. Wenn ich das nicht mehr habe, weil ich ganz schnell nur alle möglichen Leute abknallen muss und das ständig mache, was ist das dann?
JV: Zunächst mal Realitätsverlust.
EW: Genau, dann habe ich ein Stück Realitätsverlust – und Allmachtsphantasien und was noch alles dazu kommt. In Wahrheit fühlen sich Kinder oder Jugendliche vielleicht total hilflos und abhängig von Lehrern, von Mitschülern, und sie haben nicht gelernt, mit ihrer Hilflosigkeit, mit ihren Gefühlen umzugehen. Und gerade Gefühle sind etwas ganz Wichtiges, weil wir Gefühle nicht abschalten können: Man kann es versuchen, und das machen ja auch viele, aber dann sind die Gefühle nur verdrängt. Unterschwellig sind sie natürlich immer noch da.
JV: Besonders die Ängste.
EW: Leben ist gefährlich, man sollte vorsichtig sein. Leben kann immer schnell bedroht sein. Und so kann man sich immer wieder wundern, wie wunderbar Leben trotzdem funktioniert und wieviel Freude und Lust es am Leben gibt – bei aller Gefahr.
JV: Aber so eine Geisterbahn ist nicht gefährlich, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
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„Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet.“
Anthony de Mello