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1.3 Die Grenzen der Autarkie

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Kann nun jedermann bei Bedarf die nötige Umformung selbst vornehmen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir diese Operation genauer betrachten. Weiter oben wurde bereits erwähnt, dass eine unverständliche Information in den uns interessierenden Fällen aus wohlbekannten Zeichen aufgebaut ist, deren Zusammenwirken von unserem Gehirn nicht mehr automatisch überblickt werden kann. Dieses Zusammenwirken, das die Mitteilung konstituiert, muss in solchen Fällen nun bewusst und schrittweise unter Beachtung der Verwendungsregeln der Einzelzeichen aufgebaut werden, solange bis die Information verständlich wird. Dabei ist, wie schon angedeutet, wohl klar, wie mit den Zeichen umgegangen werden muß, aber woher weiß man, was man tun soll? Ein einfaches Beispiel möge diesen Sachverhalt etwas veranschaulichen.

Es wird mit Zündhölzern folgende „Gleichung" auf den Tisch gelegt: VII = I. Diese falsche Behauptung soll nun durch Umlegen eines Streichholzes in eine wahre Aussage verwandelt werden. Man weiß genau, wie man mit einem Streichholz hier umzugehen hat (man nimmt es an einer Stelle fort und legt es an anderer Stelle wieder nieder), aber man weiß durchaus nicht, was man zu tun hat, soll heißen: Welches Streichholz soll wohin gelegt werden? Welche Methoden wendet man nun in einem solchen Fall an?

bis der Erfolg erreicht ist, also zu probieren. Natürlich kann ich mir das jeweilige Umlegen eines Hölzchens auch nur vorstellen. Rationeller wird dieser Lösungsweg dadurch, dass man durch vorhergehende Überlegung, welche Figuren hier überhaupt in Frage kommen, das Probieren, sei es nun nur gedacht oder auch tatsächlich ausgeführt, einschränkt und leitet. Schließlich und endlich gibt es auch die Möglichkeit, dass man jenen Teil der Struktur der Lösung, der schon vorliegt, ohne Überlegung (= „inneres" Probieren) als solchen erkennt und die Lösung plötzlich angeben kann: VT= I (Wurzel aus eins ist gleich eins). Kehren wir nun zur Frage zurück, ob jedermann bei Bedarf die nötigen Umformungen vornehmen könne.

Wie unser Beispiel zeigt, gibt es da einmal das triviale Hindernis des Zeitmangels, hinter dem allerdings oft genug eine bedrohliche und unwürdige Lebenssituation steht. Noch zwei weitere Schwierigkeiten treten oft auf, nämlich allzu grosse Komplikation der Regeln zur Verwendung der Einzelzeichen und dann der Mangel einer Idee (des plötzlichen Erkennens einer Struktur). Diese Hürden vermag, wenn überhaupt, nur ein Mensch zu nehmen, der viel Übung in solchen Dingen und einen dazu besonders geeigneten Verstand hat. Wie man hier deutlich sieht, kann also erst eine arbeitsteilige Gesellschaft an die Umformung schwierigerer Informationen gehen.

Es liegt nun in der Natur des menschlichen Lebens, dass sich bestimmte Probleme in ähnlicher Form immer wieder stellen. Hier eröffnet sich dem, der so ein Problem zu bewältigen vermochte, eine große Möglichkeit. Wenn es ihm nämlich gelingt, sich selbst den Ablauf der Problemlösung verständlich und bewusst zu machen, so kann er einen Algorithmus entwickeln.

Unter Algorithmus versteht man ein mitteilbares (lehrbares) Verfahren zur Problemlösung.

Ein derartiges Verfahren beseitigt die Notwendigkeit des planlosen Probierens oder des oft vergeblichen Wartens auf eine Idee. Ein einfaches Beispiel für einen Algorithmus ist das übliche Divisionsverfahren.

Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, dass es einfach sei, aus einer speziellen Problemlösung den allgemeinen Algorithmus abzulesen, oder dass heute alle bekannten Problemlösungen bereits als Teile von Algorithmen erkannt worden wären. Bei vielen Problemen bedarf es noch immer der in jedem Spezialfall neuen Idee, die man nicht erzwingen kann. Algorithmen sind ihrer Natur gemäß in ihrer Struktur so durchsichtig, dass es möglich ist, Maschinen zu bauen, die nach bestimmten Algorithmen ablaufen. Das heißt natürlich nicht, dass die Maschine den Algorithmus versteht, so wie ja auch ein fallender Mensch auch ohne Kenntnis der Fallgesetze diese befolgt.

Wir sind in unserer Betrachtung nun so weit vorgeschritten, dass wir versuchen können festzulegen, was man unter Mathematik verstehen soll.

Wie Wittgenstein bemerkt hat, ist die Definition der Mathematik deswegen so schwierig, wenn nicht unmöglich, weil zwar immer ein Teilgebiet mit einem anderen Ähnlichkeit hat, ohne dass man aber deswegen sagen könnte, ob es überhaupt etwas gibt, was alle Teilgebiete gemeinsam haben (2).

Ich habe daher versucht, jene Wurzeln zu bestimmen, aus der die Disziplinen der Mathematik hervorwachsen. Entfernen sich manche Zweige auch sehr von ihrem Ursprung, so bleibt doch der Zusammenhang und damit die Berechtigung dieser Charakterisierung gewahrt. Weiter oben wurde gezeigt, dass besonders Informationen, die quantitative Begriffe enthalten, einerseits wegen ihrer Wichtigkeit, andererseits wegen ihrer Schwierigkeit der Umformung bedürfen. Um anzudeuten, dass bei der Aufbereitung der Information an ihrem Inhalt nichts verändert wird, sprechen wir von Äquivalenzumformungen.

Jenen Bereich menschlichen Handelns, der derartige Äquivalenzumformungen zum Ziel hat, sowie jenes Gebiet menschlichen Wissens, das die rechten Anleitungen zu solchen Umformungen und den Überblick über bereits vorgenommene Transformationen beinhaltet, nennen wir die Wurzeln der Mathematik.

Es wurde auch gezeigt, dass dieser Bereich notwendigerweise von Spezialisten betreut wird, die für ihre Mitmenschen teils Algorithmen, teils fertige Problemlösungen produzieren.

Mensch und Mathematik

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