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Auf der Reeperbahn von Rotterdam

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Ge­schubst, ge­sto­ßen, ge­rem­pelt wird man zu nächt­li­cher Stun­de auf dem Schie­dam­sche dijk, so wahr mir Gott hel­fe, viel mehr als zu Ham­burg auf der Ree­per­bahn und in der zu­ge­hö­ri­gen Klei­nen Frei­heit. Das kommt zum Teil da­von, dass sich die Schrit­te der fest­landent­wöhn­ten und auch sonst ziem­lich be­feuch­te­ten Män­ner in Rot­ter­dam auf be­deu­tend schmä­le­rem Bür­ger­steig be­we­gen müs­sen.

Je­des Haus eine Schank­stu­be, nein, je­des die­ser eng­brüs­ti­gen Hol­land­häu­ser zwei oder gar drei Schank­stu­ben und über­dies ein Gast­hof. Die Hä­fen der Ozea­ne ge­ben ihre Na­men zu Wirts­haus­schil­dern her: Co­ney Is­land-Bar, Trat­to­ria di Tries­te, Re­stau­rant de Mar­seil­le, Ta­ver­ne Le Ha­vre, Pro­e­f­lo­kal Ams­ter­dam, Lon­don Boar­ding­hou­se, Tee­haus Re­val, Café Kjö­ben­havn; »The Sta­tue of Li­ber­ty« und Kris­tall-Bar lo­cken in­ter­na­tio­nal, und die Tanz­lo­ka­le wah­ren eben­falls eine echt nie­der­län­di­sche Neu­tra­li­tät.

In­nen die Auf­schrif­ten bloß hol­län­disch und eng­lisch: »Gent­le­men are kind­ly re­ques­ted to take off their hat whi­le dan­cing.« (»Die Her­ren wer­den freund­lich er­sucht, ih­ren Hut wäh­rend des Tan­zes ab­zu­neh­men.«) Aber kei­ner der so kind­ly an­ge­spro­che­nen Gent­le­men ist so kind­ly, Fol­ge zu leis­ten, und Tanz­meis­ter, Wirt, Kell­ner wa­gen es nicht, auf die­sen Toi­let­te­feh­ler auf­merk­sam zu ma­chen, die Gäs­te tan­zen mit dem Hut, der Ma­tro­sen­kap­pe, in der Uni­form­müt­ze auf dem Kopf, ob­schon kei­ne Bri­se weht von der Maas oder we­nigs­tens vom Salm­ha­fen in die von Kau- und Rauch­ta­bak ge­sät­tig­te Luft des Dan­spa­leis El­do­ra­do. Den Charle­ston kann der See­fah­rer nicht mit­ma­chen: Mit hoch­ge­schraub­ten Au­gen, vor­ge­beugt, als stün­de er an der Re­ling, sieht er dem Wun­der zu, das ihm ei­nes ist, wäh­rend ihm die Tro­pen­bäu­me auf dem Pik von Te­ne­rif­fa oder die blau­en Af­fen von Gua­te­ma­la nichts Wun­der­ba­res sind.

»Ho­tel Elim« (das scheint ein Ko­sen­a­men für Elo­him oder sonst je­mand aus dem Al­ten Te­sta­ment zu sein) ist eine Un­ter­neh­mung der Heils­ar­mee, eine »Toev­lucht voor Man­nen, Frou­wen en Kin­de­ren«, sechs Gul­den kos­tet ein Zim­mer wö­chent­lich mit Früh­stück, fünf­und­sieb­zig Cents ein Din­ner. Ein re­gel­rech­tes Ho­tel – die Sal­va­ti­on army1 soll­te dem In­ter­na­tio­na­len Ho­te­lier-Ver­band an­ge­schlos­sen sein. Ihr ei­gent­li­ches »Nacht­la­ger des Heils«, das Asyl im Nach­bar­häus­chen, ent­rät der Re­kla­me und je­der Be­leuch­tung.

Ge­schäf­te, ihr Da­sein zwi­schen den Gast­lo­ka­len ist ein ziem­lich ge­drück­tes, sind nachts­über ge­öff­net, was bei Fischlä­den und Ta­bak­tra­fi­ken ver­ständ­lich er­scheint, aber un­er­find­lich bei ei­nem Pa­pier­ge­schäft: Rech­net der Ver­käu­fer auf Men­schen, die zu nacht­schla­fen­der Zeit das Be­dürf­nis ver­spü­ren, sich so­fort Zau­ber­spiel­kar­ten, einen Lie­bes­brief­stel­ler oder die letz­ten Num­mern der por­no­gra­fi­schen Witz­blät­ter »Pan« und »Die zwar­te Kat« an­zu­schaf­fen?

Apro­pos: Wei­ber ma­chen das Trot­toir. Sie spre­chen alle Spra­chen oder spre­chen we­nigs­tens in al­len Spra­chen an, sie ha­ben eine lan­ge Ver­gan­gen­heit, und so schwer vor­stell­bar es ist, sie müs­sen ein­mal jung ge­we­sen sein und vie­le Stre­cken zu­rück­ge­legt ha­ben, sol­che des Auf­stiegs und sol­che des Ab­stiegs. Vor­letz­te Sta­ti­on: auf dem Schie­dam­schen dijk zu Rot­ter­dam zu lun­gern. Sie könn­ten er­zäh­len, wenn sie zu er­zäh­len ver­stün­den, sie könn­ten Na­men ih­rer Lieb­ha­ber nen­nen, wenn sie de­ren Na­men je ge­kannt hät­ten, sie könn­ten sich an schö­ne Er­leb­nis­se er­in­nern, wenn sie Erin­ne­rungs­fä­hig­keit und Er­leb­nis­fä­hig­keit be­sä­ßen.

Des jun­gen Fran­zo­sen na­mens Ar­thur Rim­baud ent­sinnt sich wohl nie­mand, ob­wohl er in die­ser Stra­ße ge­wohnt hat, tags­über Heu­er2 su­chend, nachts den Lärm, die Be­we­gung und den Ge­ruch trin­kend, mit dem die auf lan­gen See­fahr­ten auf­ge­sta­pel­te Gier der Ma­tro­sen hier bran­de­te, in den Schif­fer­schen­ken und Ha­fen­hu­ren vom Schie­dam­schen dijk.

Das war die hol­län­di­sche Land­schaft, die dem jun­gen Fran­zo­sen Ar­thur Rim­baud bes­ser zu­sag­te als Him­mel, Him­mel, die ewig zart­kon­tu­rier­ten Wei­de­plät­ze mit den ewig sil­ber­hel­len flüs­si­gen Rai­nen und der ewig gleich­för­mi­gen Ro­ta­ti­on der Wind­müh­len und dem ewig ru­hi­gen Hin­ter­grund im Blau des Delf­ter Por­zel­lans, Him­mel, Him­mel.

Aber was hal­f’s ihm, sich im Cha­os da­von zu er­ho­len; er la­bo­rier­te an der glei­chen Krank­heit, an der auch die Poe­ten der Idyl­lik lei­den, Geld­man­gel, Hun­ger.

Ar­beit fand er nicht, muss­te schließ­lich in der Re­kru­tie­rungs­kanz­lei von Har­der­wi­jk Hand­geld für die Ko­lo­ni­al­trup­pen neh­men und auf dem Deck des Pa­ket­boo­tes »Prins van Oran­je«, das nach Bom­bay, Co­lom­bia, Ba­ta­via und Java se­gel­te, Ex­er­zier­übun­gen ma­chen, bis ihn das große Kot­zen vor dem Mi­li­ta­ris­mus an­kam. Aus den Ba­ra­cken von Sala­ti­ga, sechs­hun­dert Me­ter hoch, auf dem Hang des Mer­ba­boc, weit im In­nern von Java, de­ser­tier­te ein Mant­je na­mens Ar­thur Rim­baud; man fahn­de­te nach ihm, um ihm kur­z­en Pro­zess zu ma­chen, er irr­te um­her, und als der eng­li­sche Kar­go­damp­fer ihn auf­nahm und An­ker lich­te­te, mag er glück­se­lig die­sen Koh­len­kahn als trun­ke­nes Schiff emp­fun­den ha­ben.

Ko­lo­ni­al­sol­da­ten, de­nen die Flucht nicht glück­te, schlen­dern durch den Nacht­be­trieb und be­ab­sich­ti­gen, sich schad­los zu hal­ten für Ex­er­zier­übun­gen auf dem Pa­ket­boot »Prins van Oran­je« und den Be­reit­schafts­dienst in den Ba­ra­cken von Sala­ti­ga, sechs­hun­dert Me­ter hoch auf dem Hang des Mer­ba­boc weit im In­nern von Java … Sie sind ma­ger und geil, und auf den Är­meln der Uni­form tra­gen sie einen gel­ben Strei­fen.

Und uni­form, trotz ih­rer so ver­schie­den­fa­chen No­men­kla­tur, sind die Wirt­schaf­ten. Bar auf Bar, Pro­e­f­lo­kal auf Pro­e­f­lo­kal, Tap­pe­rij auf Tap­pe­rij, Sli­jte­rij auf Sli­jte­rij, auch der Gros­sist ver­kauft »per maat en per glas«, und auf je­dem Fens­ter ist an­ge­schrie­ben, dass der Aus­schank von Al­ko­hol be­hörd­li­cher­seits »ver­goe­nnt« und »star­ke dran­ken« zu kau­fen sind. Ams­tel Bie­ren, Hei­ne­kens Bie­ren und Pils­ner Ur­quell wer­den an­ge­prie­sen, die gu­ten hol­län­di­schen Schnäp­se ver­ste­hen sich von selbst.

Die Bunt­heit von Sankt Pau­li fehlt, das rhyth­mi­sche Geras­sel der Or­che­stri­ons,3 die grel­le Stuk­ka­tur der Schau­bu­den, die Hip­po­dro­me, das Herr­mann­sche Pan­op­ti­kum, die Tin­gel­tan­gel. Noch et­was ver­misst man: die gel­be Ras­se. Es gibt frei­lich Mon­go­len ge­nug in der Ha­fen­stadt des Lan­des, von des­sen sechs­und­vier­zig Mil­lio­nen Men­schen reich­lich vier­zig Mil­lio­nen in Su­ma­tra, Bor­neo und Ce­le­bes, in den Mo­luk­ken und in West­in­di­en ein­ge­bo­ren sind. In­des, die­se recht­lo­sen und aus­ge­press­ten Un­ter­ta­nen, die als Hei­zer und Schau­er­män­ner recht­los und aus­ge­presst ins Mut­ter­land kom­men, dür­fen un­ter den Wei­ßen nicht woh­nen; sie hau­sen in ei­nem an­de­ren Stadt­teil Rot­ter­dams auf dem an­de­ren Ufer der Maas, in Ka­tend­recht.

Dort schwär­men Chi­ne­sen, Ne­ger, In­der und Malai­en aus, dort ist kein »Ver­gun­ning« auf das Fens­ter der Ka­schem­men ge­malt, und hin­ter je­dem Ein­tre­ten­den schließt sich die Mat­te, auf dass der eu­ro­päi­sche Passant nicht sehe, was sich im In­nern voll­zieht, ob Ko­kain ge­schnupft wird, Opi­um ge­ges­sen, Ha­schisch ge­raucht, Lot­te­rie ge­spielt oder ha­sar­diert mit Do­mi­no­stei­nen und Wür­feln und schma­len Spiel­kar­ten­strei­fen.

An den Spei­chern der Nie­der­län­disch-Ame­ri­ka­ni­schen Dampf­schiff­fahrts­ge­sell­schaft ha­ben Asi­ens Völ­ker ihr Kar­ree: At­jeh­straat, Lom­bokstraat, Su­ma­tra­weg und Veer­len, und die­ses Get­to der Asia­ten ist ein un­heim­li­cher Fleck, be­son­ders in den ers­ten Stun­den des Abends, da aus Zwie­licht, Däm­me­rung und Ne­bel jen­sei­ti­ge Ge­sich­ter em­por­schau­keln wie Ma­te­ria­li­sa­ti­onsphä­no­me­ne.

Nie­mals kom­men sie aus den Ko­lo­ni­en her­über auf den Schie­dam­schen dijk. Was aber hat die­se Rad­au­stra­ße an der Mün­dung der Maas und des Rheins vor ih­rer Kol­le­gin an der El­be­mün­dung vor­aus? Sie hat vor ihr vor­aus, dass das deut­sche Ele­ment über­wiegt. Auf der Ree­per­bahn zu Ham­burg wird nicht so viel Deutsch ge­spro­chen wie auf dem Schie­dam­schen dijk zu Rot­ter­dam; Re­pa­ra­ti­ons­koh­le und Streik­bre­cher­koh­le schwimmt rhein­ab­wärts bis Rot­ter­dam, im Waal­ha­fen an­kert täg­lich eine Flot­te von Rhein­käh­nen, gi­gan­ti­sche Brücken­kra­ne der DEMAG (ihre Aus­le­ger rei­chen fünf­zig Me­ter über Kai­kan­te hin­aus) lö­schen sie, schwim­men­de Ele­va­tor-Trans­por­teu­re bun­kern die Stein­koh­le in die See­schif­fe.

Ver­stummt am Abend das Klir­ren der Kran­ket­ten, das Stür­zen der schwar­zen Stei­ne, das Sur­ren der An­triebs­mo­to­ren, hört man in den Ha­fen­stra­ßen deut­sches Schif­fer­platt, und hun­dert Wirts­häu­ser lo­cken mit hei­mi­schen Na­men: »Düs­sel­dorf«, »Köln«, »Mainz«, »Duis­burg«, »We­sel« oder we­nigs­tens mit der Ver­si­che­rung: »Man sp­rigt Deutsch« – denn man sp­rigt Deutsch, wenn man’s auch nicht schrei­ben kann, »g« wird wie »ch« aus­ge­spro­chen –; der Krieg en­de­te, deut­sche Koh­le geht über Rot­ter­dam nach Eng­land, wo die Berg­ar­bei­ter hun­gernd strei­ken, und der deut­sche Schif­fer trinkt da­für auf dem Schie­dam­schen dijk stei­fen hol­län­di­schen Grog.

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