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Man kennt in Prag das Duschnitzsche Haus. Das große, rote Firmenschild des Selchers, der heute im Duschnitzschen Hause in der Rittergasse Laden und Werkstätte innehat, mag die prunkvolle Würde der Fassade stören, die durch Ruß, Staub und Witterung fast beinschwarz geworden ist – es bleibt doch eines der schönsten Gebäude der Stadt. Es hat nicht die höhnenden und einschüchternden Karyatiden mit Sklavengestalten, die die Balkone der Kleinseitner Adelspaläste auf ihren Nacken halten müssen, vielmehr ist hier der Torbogen von zwei unpersönlichen Eckpilastern flankiert, die durch ein Gesimse in der Mitte unterteilt sind und sich am oberen Ende in ein kapitälartiges Schneckengewinde einrollen. Portal, Fenster und Fassade sind überströmt von figuralen Zieraten und von architektonischen und Pflanzen-Ornamenten, die, in ausdrucksvollem, flachem, aber kräftig eingeschnittenem Relief behandelt, auf beiden Seiten der Fassade, an jedem Fenster und an jeder Hälfte des Tores ganz verschieden sind. Ein aus dem vollen schöpfender Steinmetz hat sich hier, zur Zeit, als niederländische Kupferstiche ihren Einfluß auf die Frührenaissance mächtig geltend zu machen begannen, im Auftrage eines reichen Bauherrn künstlerisch auszuleben versucht, während die Kunst des Architekten vornehmlich aus dem majestätischen Giebel und aus den Arkaden spricht, die im Hofe das erste Stockwerk mit kurzen, von Rustikabändern umwundenen Säulen einschließen.

Auch die erbeingesessenen Prager, die tausendmal an dem Duschnitzschen Hause vorübergegangen sind und der herrlichen Barockhäuser mehr kennen, pflegen nie vorbeizueilen, ohne mit einem Blick den Skulpturen an der schwarzen Front ihre Reverenz zu beweisen.

Alte Deutschprager, denen sich die in jeder kleineren Stadt wuchernde Anteilnahme, Neugierde und Tratschsucht im Laufe der Jahre schon zur Lust am Reminiszenzenerzählen gewandelt hat, wissen, wenn sie am Duschnitzschen Hause vorbeikommen, ihren jüngeren Begleitern vielerlei Historien. Sie berichten von einem der reichen Duschnitze, der einmal vor hundert Jahren in der Nacht durch Läuten an seiner Wohnungstür aus dem Schlafe geweckt wurde und sich, als er öffnete, dem Kaiser Franz gegenübersah, der eigens in der Postkutsche aus Wien nach Prag gekommen war, um ihn zur Bewilligung einer Staatsanleihe zu bewegen, sie erzählen von zwei Brüdern Duschnitz, die einander einmal auf dem Postamt begegnet waren, da ihnen beiden gleichzeitig – unabhängig voneinander – der Einfall gekommen war, einen auswärtigen Kommittenten dringend mit dem Abschluß eines Auftrages zu betrauen. Auch von dem letzten Sprossen dieses Altprager deutschen Patriziergeschlechts wissen sie, der schon bei Lebzeiten seiner Eltern durch und durch dekadent und sentimentalisch und ein romantischer Nichtstuer gewesen sei, so daß sein Vater, Roderich Duschnitz, die Hoffnung aufgeben mußte, jemals in Karl einen Chef des Bankhauses »D. Duschnitz« zu sehen, und sich zum Verkauf des Geschäftes an eine Bank genötigt sah; kurz nach dieser Transaktion sei der alte Roderich gestorben. Der aus der Art geschlagene Karl Duschnitz bewohne jetzt das Haus in der Rittergasse, ohne irgendeiner nützlichen Beschäftigung zu obliegen.

Die jungen Leute, ehemalige Mitschüler und Studiengenossen des Karl Duschnitz, die dessen Vater in das Haus gezogen hatte, um dem melancholischen, grüblerischen Karl fröhliche Gesellschaft zu sein, hatten sich dieser Aufgabe nach allen Kräften zu entledigen gesucht, indem sie im gastfreundlichen Duschnitzschen Hause allnachmittäglich und allabendlich zu allerhand Spielen und Späßen und zum Abenteueraustausch zusammengekommen waren und sich selbst famos unterhalten hatten. Nach dem Tode des alten Roderich Duschnitz hatten sie allmählich sogar eine fröhliche Selbstherrschaft in dem Hause installiert, ohne sich irgendwie dadurch abschrecken zu lassen, daß alle Ausstrahlungen ihrer übermütigen Jugendkraft in ihrem jungen, von ihnen allen geliebten Gastfreund keinen Widerschein fanden, daß dieser seines ihm selbst verhaßten Hanges zur zermarternden Schwermut durchaus nicht ledig zu werden vermochte.

Karl Duschnitz war gegen alle liebenswürdig, nett und gefällig gewesen, hatte ihr Bestreben voll anerkannt und sich auch, als er sich überzeugt hatte, daß dieses seinen Freunden kein Opfer sei, keinerlei Sorge mehr darüber gemacht, daß er ihnen Mühe bereite. Er hatte sich von keinem Spaß ausgeschlossen, zu dem sie ihn aufforderten, aber jeder im Freundeskreis hatte es selbst gefühlt, daß Karl allen diesen Vergnügungen innerlich fremd sei, ja sogar manchmal Abscheu davor empfinde.

Nur bei Aktionen, bei denen Frauen im Spiele waren, hatte Karl Duschnitz mit seinem sanften, aber unüberwindbaren Widerstand jede Beteiligung abgelehnt. Gerade zu Unterhaltungen mit Frauen hatten ihn seine Freunde anfänglich, bevor sie die Unerschütterlichkeit dieser Weigerung erkannt hatten, besonders lebhaft zu überreden versucht, weil sie in ihm ein heftiges Interesse zu lesen vermeint hatten, wenn sie von ihren Abenteuern mit Damen und Dämchen erzählten. Dieses Interesse war auch wirklich vorhanden gewesen, aber eben die kritischen, parodierenden und im letzten Grund renommistischen Liebesmemoiren der Freunde stießen ihn selbst von der Betätigung in solchen Abenteuern ab und nährten seine aus Romanen und par-distance-Beobachtungen gewonnene Einsicht, daß alle diese Vergnügungen bei den Männern nur einem Sport des Erlangens und einem vergeblichen Mühen, den Sinnen Befriedigung zu schaffen, entsprangen, während bei den »besiegten« Frauen gleichfalls berechnende Gewinnsucht, vermengt mit Sinnlichkeit, das Motiv der Unterwerfung war – Ursachen, die in verlogener Weise dadurch kaschiert wurden, daß die Männer pro forma Zusicherungen dauernder Liebe äußern mußten, während die Frauen unaufgefordert ewige Treue schworen, Ehrbarkeit und gedankliche Tiefe heuchelten, nach dem Gewähren und beim Abschied schluchzten.

Seine schlaflosen Nächte und seine würgenden Träume hatten dem Weibe gehört. Er hatte sich versprochen, daß seine vielbespöttelte, fast unnatürliche Unberührtheit durch ein Wunder gelohnt werden müsse, durch irgendein Wunder seelischer Hingabe, ungeheuchelter Liebe und vollster Unschuld, durch irgendein funkelnd weißes Wunder von blütenumkränzter Nacktheit, das alle Martern, alle Fesseln und alle Düsterkeit seines Gemütes von ihm nehmen, ihn befreien und zum Herrn über viele Frauen machen werde, was er lodernd ersehnte. Dafür hätte er mehr als allen seinen Reichtum gegeben, für den er sich ohnedies nichts kaufen konnte. Dieser wirre Glaube an das Wunder, das ihn von seiner fast psychopathischen Skepsis und Schüchternheit retten werde, war die einzige Hoffnung gewesen, die er sich nicht selbst zu zerstören gewagt hatte, um nicht in Verzweiflung seiner sonst für ihn wertlosen Existenz ein Ende zu machen.

In dieser monomanen Hoffnung war Karl Duschnitz siebenundzwanzig Jahre alt geworden, als er mit seinen Freunden den Dampfer »Caput regni« bestieg, um den Pfingstsonntag irgendwo in einem Walde oberhalb Prags zu verbringen. Bevor noch die Landungsbrücke des dichtbesetzten Schiffes eingezogen worden war, hatte sich die gräßliche Katastrophe ereignet, die unsagbares Leid über die Stadt brachte und auch den Freundeskreis zerstörte. Außer Karl Duschnitz war niemand aus seinem Kreise davongekommen.

Aus der Flößerwohnung war Karl Duschnitz im Wagen in sein Haus in der Rittergasse gefahren. Allein. Er hatte jede Begleitung abgelehnt. Zu Hause hatte er sich unwohl gefühlt. Dann hütete er drei Wochen, leicht fiebernd, das Bett. Das Schicksal seiner Fahrtgenossen wollte man ihm verheimlichen. Aber er ließ keine Ruhe. Was mit Fritz Fritz geworden sei, mit Mathias Blecha, mit Naak, Dirnböck und den anderen, wollte er wissen. So brachte man ihm nach und nach schonend bei, daß sie alle tot seien. Als man Naak als Leiche aus der Moldaumündung fischte, wollte man es ihm schon nicht mehr mitteilen. Er hatte sich bei jeder der vielen Todesmeldungen zu sehr aufgeregt. Aber schließlich bekam es Karl durch seine Fragen doch heraus, daß man auch das Geschick Engelbert Naaks kenne. Und nun nahm er die Botschaft vom Tode des letzten der Tafelrunde apathisch auf.

Nach Karls Heilung war sein Weg, das Haus seines Retters zu suchen. Das war leicht, denn am Ufer der Kampa, die eigentlich keine Insel, sondern eine Halbinsel ist, stehen wenige kleine Häuser. Es sind nur große, dreistöckige Mietshäuser dort, und wenn der Gesuchte in einem von diesen gewohnt hätte, dann wäre es nicht leicht gewesen, es herauszufinden. Denn diese Häuser sind alle gleich in ihrer Seltsamkeit. Da die eine Front nach vorne auf die mit großen Linden bewachsene und ungepflasterte Hauptstraße blickt, auf der die Kinder mit Kugeln »Labeda« spielen und die Töpfer ihre Märkte abhalten, und die andere Front gegen die Moldau gerichtet und von der Karlsbrücke aus sichtbar ist, so wußten die Erbauer dieser billigen Häuser nicht, welchen Teil sie als Rückseite, welchen als Vorderseite deklarieren sollten. Der Ausweg aus diesem Dilemma war durch die Erwägung gegeben, daß Mörtelanwurf und Friesverzierung teure Dinge seien. So machte man denn überhaupt keine Vorderfront.

Inmitten dieser Gebäude war das würfelförmige Häuschen Chrapots nicht zu verfehlen, und Duschnitz konnte sich die peinlichen Fragen nach der Wohnung des ihm dem Namen nach unbekannten Flößers ersparen. Schräg gegenüber der Schenke »Zur Hölle«, in der König Wenzel in der Todesnacht seines Vaters, des vierten Kaisers Karl, mit der Dirne Božka Vesna gezecht und um ihretwillen blutig gerauft hatte, war es gelegen. Frau Chrapot war allein zu Hause. Ihr Mann sei fort, auf dem Floß nach Hamburg. Wann er zurückkomme? Nun, so fünf Wochen werde es noch dauern. Und wieder der ermutigende Blick von damals. Ohne Wirkung heute. Karl Duschnitz nannte seinen Namen und seine Adresse. Er verreise jetzt nach dem Süden und werde nach der Rückkunft seinem Retter ein Geldgeschenk überbringen. Das Geld hatte er bei sich; aber er wollte es dem Weibe nicht überantworten, das solche Blicke schickte. Er ging.

Auf einer der dalmatinischen Inseln nahm er Aufenthalt. »Im Süden, am Meer werden Sie sich von Ihrer Aufregung erholen«, so hatte der ärztliche Rat gelautet. Aber die Wellen des Quarnero waren nicht hellblau, sondern von grünem Dunkel, fast schwarz. Karl Duschnitz sah dort kein sanftes Gestade, das die Wasser umspült hätten, sondern nur zerklüftete, zerrissene Klippen und steile Felsabhänge, an welche die flüssigen Massen mit Getöse wild heranstürmten, sich geifernd aufbäumten, von denen sie dröhnend zurückfielen. So weit seine Sehkraft reichte, verzehrte sich das Meer in fortwährendem Kampfe mit sich selbst, in steter Unruhe, in stetem Gewoge. Das Element, das da wieder und wieder gegen den steilen Strand tobte, auf dem er stand, war dasselbe, das erst vor kurzem den Tod seiner Freunde geheischt, seinen eigenen Tod verschmäht hatte. Warum hatten gerade ihn diese gräßlichen Fänge losgelassen, die noch jetzt zu ihm auf die Klippen heraufgriffen, Haß, Geifer, Drohungen und Macht verspritzend, wieder zurückschlugen und sich immer höher emporreckten, als wollten sie ihm zeigen, daß sie auch jetzt noch ihr Opfer umkrallen könnten, wenn sie es wollten? Sie wollten es nicht. Den lebenshungrigen Freunden hatten sie gierig das Leben genommen. Aber ihn, der nicht am Leben hing, hatten sie in derselben Stunde heimtückisch seines einzigen Besitzes beraubt: des Glaubens an das Wunder.

Heißkalte Schauer durchzuckten ihn, wenn er sich vergegenwärtigte, wie er sich in wirrem Denken das Wunder seiner ersten, befreienden Hingabe erträumt hatte, und wie er in der gleichen Stunde, da ihn ein Mann vom Tode gerettet, ihm das Weiterleben für die Erwartung des Wunders geschenkt hatte, Lebensrettung und Gastfreundschaft noch halb bewußtlos, dumpf mit Ehebruch gelohnt. Ein dralles, unbefriedigtes, ehebrecherisches Flößerweib – das sollte der Lohn für seine Entsagung sein, dafür hatte er seine Unberührtheit hingegeben, das war seine erste »Liebe«, von der die Befreiung kommen sollte.

Karl Duschnitz begann das Temperament seiner toten Freunde zu ersehnen. Wie hätten die mit behaglichem Lachen ein solches Abenteuer zum besten zu geben vermocht! Wie hätten sie ihn beglückwünscht, seine Vorwürfe spießbürgerlich und skrupulös gescholten!

Es half ihm nichts, daß er sich tausendmal sagte, daß sein Glauben an das befreiende Wunder ein unerfüllbarer Irrwahn, ein mystisch unklarer Gedanke und daß jene Stunde in der Flößerwohnung eine reale Belanglosigkeit gewesen sei – es half ihm nichts, daß er sich tausendmal wiederholte: nur dadurch, daß ihm seine Krankhaftigkeit als solche bewußt sei, unterscheide er sich von vollends Geisteskranken – immer wieder kehrten Verzweiflung, Enttäuschung und Selbstvorwürfe mit der grausen Beharrlichkeit zurück, mit der die Wogen schreiend an das Ufer klatschten. Wie glühende Schrauben lagen die Adern in seinen Schläfen.

Drei Monate verbrachte Karl Duschnitz so sich selbst zerwühlend am zerwühlenden Meer. Dann kehrte er zurück. Man konnte nicht finden, daß er sich im Süden erholt habe. Aber er vermochte sich zu Gesprächen mit den Verwandten zu zwingen, die ihn aufsuchten. Nur den Fragen nach der Katastrophe wich er aus. »Lassen wir das Thema, das erregt mich zu sehr.« Und sprach von etwas anderem.

Als er wieder in das Haus kam, in dem der Flößer Johann Chrapot wohnte, begegnete ihm dessen Gattin auf der Pawlatsche.

»Ich habe meinem Mann alles gesagt.« Und als Duschnitz sie groß anschaute, fügte sie noch hinzu: »Er hätte es bald auch selbst bemerkt.«

Erblaßt drückte Karl Duschnitz seine Hände an das Geländer, als er das erfuhr.

»Was – was – hat – Euer Mann – erwidert?«

»Na, er hat sich halt geärgert. Aber er hat sich doch selbst immer ein Kind gewünscht. Übrigens«, das Weib schlägt trotzig den Kopf zurück, »hab ich zu Hause zu reden.« Und dann: »Kommen S’ herein, er ist drinnen im Zimmer.«

Johann Chrapot liegt ohne Rock auf einem sofaähnlichen Möbelstück.

»Steh auf, der Herr Duschnitz ist da.«

»Herr Chrapot, ich komme, um Ihnen tausendmal zu danken – und Sie um Vergebung zu bitten.«

»No jo«, brummt der Flößer, der beim Eintritt des Fremden aufgestanden ist, mit ernstem Gesicht und denkt nach, was sich da so erwidern ließe.

Aber Karl Duschnitz kommt ihm zuvor. Er zieht die Brieftasche und reicht dem Chrapot zwei Banknoten. Der nimmt sie und dreht sich mit sehr großen Augen nach seinem Weibe um. Sein Gesicht glüht jetzt vor freudiger Aufregung.

»Tausend Gulden.« Der Gedanke, daß er jetzt tausend Gulden habe, ist ihm über die Lippen gehuscht. Dann bemüht er sich, ein würdiges Lächeln zu zeigen. »No jo«, sagt er laut und trägt das Geld zum Schrank.

Der Mädchenhirt – Ein Milieuroman

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