Читать книгу Jeder des anderen Feind - Eike Bornemann - Страница 10

Erstes Kapitel
Montag, 23. Juli, Vormittag

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»Morgen geht die Zeitung in Druck, oder es passiert was!«

Ich stand an der Tür der Redaktion und schaute fasziniert zu, wie es mein Chef immer wieder schaffte, den Raum zu durchqueren, ohne dabei über das Antennenkabel des Satellitentelefons zu stolpern, das sich zum Fenster schlängelte. Es war der dritte Tag des Blackouts.

Aus dem Telefonhörer drangen Gesprächsfetzen. Herold unterbrach sie. »Himmel, ich weiß, dass wir einen Notstand haben! Was meinen Sie, was hier erst los ist? Dagegen ist Ihr Kuh-Dorf eine Oase des Friedens. Deshalb brauchen wir dringend die Druckerei! Wir müssen … Hallo? – Ja, ich bin noch dran! – Also hören Sie zu: besorgen Sie sich ein Netzersatzgerät oder gehen Sie meinetwegen ins Heimatmuseum und beschlagnahmen Sie da eine Druckerpresse und … Hallo? Hallo?!«

Entweder hatte der Gesprächspartner aufgelegt oder die Verbindung war zusammengebrochen. Die GPS-Satelliten waren nicht die Einzigen, die in den letzten Tagen was abgekriegt hatten.

»Scheißkerl!«, fluchte mein Chefredakteur. »Scheißzeit! Scheißwelt!«

Für einen Moment sah es aus, als wollte er das Telefon auf den Tisch knallen. Doch dann schien er sich zu besinnen und legte den Apparat so vorsichtig ab, als wäre er aus Glas.

»Was gibt’s Neues?«, fragte er betont friedlich, indem er sich mir zuwandte. »Wieso bist du nicht im PIA?«

»Da war ich schon.«

»Ah. Und was sagen sie?«

»Dass die Serie von Sonneneruptionen zu zeitlich überlappenden Beeinflussungen des Erdmagnetfeldes geführt hat, die sich immer höher geschaukelt haben. Zitat Ende.«

»Das ist allgemein bekannt.« Herold wedelte ungeduldig mit der Hand. »Was sagen sie noch?«

»Dass der geomagnetische Sturm auf die Stärke G5 auf der NOAA-Skala raufgestuft worden ist. G5 bedeutet …«

»… extrem. Die höchste Stufe«, vollendete Herold den Satz.

Während der letzten Tage hatten wir ausreichend Gelegenheit gehabt, uns mit Astrophysik und Weltraumwetter zu befassen. Das Internet war hopsgegangen, die hauseigene Bibliothek gab auch nicht viel her, aber in den Fluren der Machtetagen trieben sich eine Menge Physiker auf dem Weg zu den Krisenstäben herum, die wir ausquetschen konnten. Die meisten von denen waren drollige Nerds, die sich halbwegs Mühe gaben, verständlich zu reden. Sie quatschten von Sonnenzyklen, Fleckengruppen, KMAs, rotierenden Feldern, Schockwellen, Messwerten und dergleichen. Ich verstand nicht mal die Hälfte.

»Erzähl mir irgendwas, was ich noch nicht weiß!«, forderte Herold unwirsch. »Na setz dich erst mal.« Er fuhr sich durch die talgigen Haare, bis sie wie elektrisiert vom Kopf abstanden. »Bist du mit dem Artikel fertig?«

Wortlos drückte ich ihm den Entwurf in die Hand und sah mich nach einer Sitzgelegenheit um. Das Büro gab die derzeitige allgemeine Lage im Land treffend wieder. Auf den Tischen und Stühlen lagen Papiere, Bücher und Broschüren verstreut. Unter den Tischen türmte sich Elektroschrott: Computer, Drucker, Telefone, Faxgerät, Flachbildschirme und eine verkalkte Kaffeemaschine, die wir längst ausmustern wollten. Auf dem Feldbett stand eine nagelneue Brennstoffzelle in Koffergröße, hinter deren Geheimnis wir allerdings noch nicht gekommen waren. Die Bedienungsanleitung lag aufgeschlagen darauf. Auf der Seite prangte ein Kaffeefleck.

Ich fegte ein benutztes Kochgeschirr, eine Blechtasse und eine Packung Entkeimer-Tabletten beiseite und schob meinen Hintern auf das schmale Fensterbrett.

Der Redaktionsraum lag in der Rheinhardstraße und damit so nahe am Olymp, wie es nur ging. Wenn ich den Hals reckte, konnte ich in der Schneise zwischen zwei Bürogebäuden ein Stück von der Kuppel der Bundestags-Kita sehen. »Die kleine Märchenkuppel« hatte ein launiger Stadtführer sie mal vor ein paar Jahren genannt. Das Gewölbe des Reichstages war für ihn »Die große Märchenkuppel«.

Unter dem Fenster verlief ein Viadukt der Eisenbahn. Tagsüber waren die blauen Sankt-Elms-Feuer auf den Oberleitungen nicht zu sehen. Nur der stechende Ozon-Geruch, der ab und zu aufkam, wenn der Wind richtig stand, erinnerte daran, dass über unseren Köpfen seit drei Tagen pausenlos unsichtbare geladene Teilchen auf die Atmosphäre einprasselten.

Herold räusperte sich. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder meinem Redakteur zu.

Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Die Lippen waren schmal wie ein Strich.

»Was soll der Mist hier?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du meintest, ich soll was Motivierendes schreiben. Die Leute aufrütteln und so.«

»Aufrütteln, hmm …« Er sah mich über die Ränder seiner Brille hinweg an, rückte dann das Gestell zurecht und überflog das Blatt Papier vor sich.

»Hier steht was von Tarzan, der von Affen aufgezogen wurde, Robinson Crusoe, der es ganz alleine ohne Strom auf einer einsamen Insel geschafft hat und von Huckleberry Finn, der ein glücklicher kleiner Penner gewesen sei. Hmm … Dieser motivierende und aufrüttelnde Satz hier gefällt mir ganz besonders. Du schreibst, dass wir uns nicht so anstellen sollen, bloß weil wir plötzlich kein fließendes Wasser mehr haben und zum – ich zitiere wörtlich – Kacken in den Park müssten.«

Er sah auf. »Sag mal, willst du mich verarschen?«

»Wenn du willst, kann ich es in Defäkieren abändern, wenn es damit besser klingt.«

»Nichts klingt besser!«, knurrte er. »Legst du es auf deinen Rausschmiss an oder warum lieferst du mir diesen Dreck ab?«

»Lachen ist die beste Medizin«, versuchte ich eine lasche Verteidigung. »Und Medizin muss bitter schmecken. Hab ich mal gelesen.«

»Wer schreibt so was?«

»Die TITANIC.«

»Ah. Wir sind aber kein Satireblatt, Outis, wir sind die ›Bundeswehr aktuell‹. Und das hier ist zynischer Mist! Als nächstes kommst du noch mit unseren Jungs, die es vor Stalingrad ausgehalten haben.«

»Jetzt wirst du geschmacklos.«

Herold zerknüllte meinen Artikel-Entwurf zu einer perfekten Kugel und brachte es fertig, den Papierkorb am anderen Ende des Raumes zu treffen.

»Was ist bloß los mit dir?« Kopfschüttelnd musterte er mich. »Warst mal ein guter Autor. Konntest schreiben. Hab zu Hause sogar eins von deinen Büchern im Regal.«

»Dein Urteil war wenig schmeichelhaft«, erinnerte ich ihn. »Meine Metaphern wären überzogen. Zu literarisch – oder so ähnlich.«

»Zu gut gemeint«, verbesserte er mich. »Nicht zeitgemäß. Wir leben in der Ära der Kurznachrichten. Der Stil muss knapp sein. Und lebensbejahend.« Er zog das Wort in die Länge, indem er jede Silbe einzeln betonte. »Zynismus ist was für Verlierer. Das Magazin schreibt für Macher, nicht für Leute, die sich aufgegeben haben.«

Ich winkte verdrossen ab. »Im Moment schreibt es für Niemanden, wenn die Druckerei nicht bald ein Netzersatzgerät aus dem Hut zaubert. Das einzige Massenmedium, was noch funktioniert, ist der Rundfunk. Besser gesagt die Stationen, die über Notstrom verfügen. Und die senden auch bloß ins Blaue rein, in der Hoffnung, irgendwo sitzen ein paar Leute mit batteriebetriebenen Radios. Hast du dir mal den Mist reingezogen?«

»Ich hör kein Radio«, behauptete er. »Dafür hab ich zum Glück dich. Was sagen sie denn?«

»Denselben Blödsinn, den alle Offiziellen daherquatschen: Die Lage sei kritisch oder ernst, eine Herausforderung – aber nie hoffnungslos. Jeder ist zuversichtlich, allen geht’s den Umständen entsprechend gut. – Ungefähr so muss sich ’ne Therapiegruppe von Krebspatienten anhören.«

»Stimmt wenigstens die Musik?«

»Heute morgen lief REM. ›It’s the end of the world … and I feel fine‹.«

Herold zog die Brauen hoch. »Ernsthaft?«

»War ’n Scherz.«

»Ah.«

»Sie senden Nachrichten, Kochrezepte und Hygienetipps. Das war schon früher schlimm, dieser weichgespülte Mist!« Ich verdrehte die Augen und verstellte meine Stimme zur Parodie einer oberlehrerhaften Belehrung: »Die unsachgemäße Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid ist zu unterlassen.«

»Du redest vom Pressekodex.«

»Ich rede davon, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, um ja nicht irgendwo anzuecken! Wozu gibt’s schließlich ein Synonymwörterbuch? Da findet man hundert verschiedene Umschreibungen für Blut, Kotze und Gewalt. Was zum Teufel soll eine angemessene Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid sein, frage ich dich? Gebt mir für jeden dieser Heuchler lieber einen waschechten Zyniker!«

Herold hatte meinem Ausbruch schweigend zugehört. »Hast du immer noch nichts von Penny gehört?«, forschte er dann behutsam nach.

Genervt winkte ich ab. Ich hatte keine Lust, über mein eigenes verpfuschtes Leben zu reden. Ich wollte über die ganze verpfuschte Welt reden.

»Wenn du auf so was stehst, hättest du Youtube-Blogger werden sollen«, brummte er. »Aber dann solltest du dir überlegen, ob Journalismus noch das richtige für dich ist. Ich meine richtigen Journalismus, nicht diesen reaktionären Blogger-Dreck.«

»Die Sache ist doch die«, sagte ich müde. »Hier gibt’s für mich nichts zu tun. Du jagst mich von einer Pressekonferenz zur nächsten und ich fühl mich wie ein Papagei, der alles nachplappert.«

Herold schaute mich aufmerksam an. »Willst du freigestellt werden? Willst du zu deiner Familie?«

Ich schüttelte den Kopf, verärgert darüber, dass er mich anscheinend für einen Drückeberger hielt. »Gib mir einfach was zu tun. Ich gehe hier die Wände hoch, verstehst du? Gib mir eine Aufgabe.«

Ich hatte mit einer flapsigen Antwort gerechnet, etwa die, dass alle ihre Probleme hätten. Stattdessen lehnte er sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Unter seinen Achseln lagen Schweißflecken in der Größe von Bowlingkugeln.

»In der Nacht, als die ersten Polarlichter über den Himmel flackerten, da tanzten unten auf der Straße Leute vor meinem Haus.« Es klang beiläufig, als erzählte er vom Frühstück. »Die beklatschten jedes Aufflammen, als ob’s ein Feuerwerk zu Silvester wäre. Diese Zeit bringt nicht gerade das Beste im Menschen zum Vorschein.«

Ich behielt für mich, was ich über diese Zeit und ihre Werte dachte.

»Vor ein paar Jahren kam ich mal an einem Unfall vorbei, Outis. Der Notarzt war gerade dabei, einen Mann wiederzubeleben. Vielleicht hatte der einen Herzanfall, vielleicht war er gestürzt – ich weiß es nicht. Während der Arzt sich um den Mann kümmerte, stiegen ungerührt Leute über beide hinweg. Manche schimpften. Sie hatten keine Zeit. Wollten ihre Straßenbahn noch erwischen. Es war ihnen egal, dass vor ihnen ein Mensch lag und sie seine Rettung behinderten.«

»Ich hoffe, diese empathielosen Wichser hat es gleich als Erstes erwischt, als der Blackout losging«, sagte ich hasserfüllt.

Er tat, als hätte er mich nicht gehört. »Und das war zu einer Zeit, als es uns gut ging. Was wir gerade erleben, kann man ohne Übertreibung als moralische Auszeit bezeichnen.«

»Das ist gut, das muss ich mir merken.« Ich versuchte gar nicht erst, den Sarkasmus aus meiner Stimme fernzuhalten. »Darf ich das für meinen Artikel verwenden? Es klingt irgendwie so … aufbauend. So lebensbejahend.«

Ein verlorenes Lächeln huschte über Herolds Gesicht. »Glaub nur nicht, ich würde dich nicht verstehen. Als in den 90er Jahren die große Oderflut kam, war es das Militär, das eine Katastrophe verhinderte. Ich war einer von denen, die sich auf den Deichen den Arsch abschufteten, damit das Oderbruch nicht voll lief. Damals waren wir Helden. Aber jetzt? Der Kalte Krieg ist vorbei. Die alten Feinde sind verschwunden. Die Truppe hat ein Image-Problem. Wir brauchen Aufgaben. Aber vor allem brauchen wir Vorbilder.«

»Wenn du glaubst, ich will mich vor der Arbeit drücken, bist du schief gewickelt«, sagte ich, seinen letzten Satz wieder auf mich beziehend.

»Ach Unsinn!« Das Leder des Bürosessels knarrte, als sich mein Chef nach vorne beugte. »Machen wir uns nichts vor; wir sitzen gerade tief in der Scheiße. Und wie es aussieht, haben wir den Grund der Gülle noch gar nicht erreicht. Was mich wieder zurück zum Thema bringt. Was wir in dieser Zeit mehr denn je brauchen, sind – bitte entschuldige meinen Pathos – Helden. Wir brauchen Leute, die zupacken, zu denen die Leute aufschauen können. Leute mit Mut, Grips, Opferbereitschaft, moralischer Stärke …«

Ich unterbrach ihn, ehe er weitere heroische Superlative bemühen konnte. »Einen Action-Held wie im Kino meinst du?«

Herold schüttelte unwillig den Kopf. »Was ist bloß los mit diesem Land? Wieso sagt jeder immer wie im Kino? Irgendwo passiert was, ein Unfall, eine Katastrophe, ein Verbrechen – und immer heißt es gleich: Es sah aus wie im Kino!«

»Schon gut«, winkte ich ab. »Du willst also, dass ich über einen Helden schreibe, hab ich das richtig verstanden? Kannst du mir auch verraten, wo ich einen solchen Ritter ohne Furcht und Tadel finden soll?«

»Hier ganz sicher nicht. Misch dich unters Volk. Fahr mit den Einsatzkräften mit. Geh dorthin, wo Action ist. Bist du nicht Reservist?«

Die Frage war rhetorisch. Natürlich wusste mein Arbeitgeber davon. Schließlich hatte er mich für die Lehrgänge freistellen müssen.

»Hab gehört, der Marschbefehl ist gerade rausgegangen«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Der Pressesprecher der Regierung wird’s wahrscheinlich in Kürze bestätigen. – Dabei fällt mir ein: Der Presse-Feldwebel deines Paten-Bataillons soll sich angeblich mit einer Salmonelleninfektion krankgemeldet haben. Wäre das nichts für dich?«

Er war bemerkenswert gut informiert. Ich fragte mich, wozu er mich noch brauchte, wenn er sowieso schon alles vor mir wusste.

»Die lassen mich nie an seine Stelle«, sagte ich überzeugt. »Du kennst die Richtlinien. Der PR-Mann der Truppe darf selbst kein Journalist sein. Soll Loyalitätskonflikte verhindern.«

»Ach was, im Moment geht hier doch sowieso alles drunter und drüber. Lass den alten Herold nur machen. Glaub mir, die werden dich mit Kusshand nehmen, wenn ich ihnen erst mal unter die Nase reibe, dass du Schriftsteller bist.«

»War«, verbesserte ich ihn.

»Dann wirst du wieder einer sein. Schreib, sei pathetisch, gebrauche Metaphern bis zum Abwinken – nur tu mir den Gefallen und stell diesen beschissenen Zynismus ab, ja? Werd wieder ein Mensch!«

»Sie werden mich nicht nehmen«, wiederholte ich verärgert. Herolds Optimismus wirkte auf mich zunehmend anstrengend.

»Sie werden, Outis!«

»Warum sollten sie das tun?«

Herold angelte wieder nach dem Satellitentelefon.

»Aus Eitelkeit?«, schlug er vor. »Für George Orwell war der Gedanke an den allgegenwärtigen Big Brother ein Alptraum. Unsere Generation hat sich dagegen dran gewöhnt, ihre Ansichten und Vorlieben überall raus zu posaunen. Die Vorstellung von einer Welt ohne Facebook, Instagram und Twitter muss für die Meisten der blanke Horror sein.« Er schaute mich an. »Wir haben kein Fernsehen mehr, keine Talkshows, kein öffentliches Casting, keine Youtube-Channels, keine fünfzehn Minuten Ruhm für Jedermann. Niemand ist da, der über uns Geschichten erzählt. Deshalb werden sie dich nehmen. Wer würde sich heute noch an Achilles erinnern, wenn Homer nicht die ganze vertrackte Story aufgeschrieben hätte?« Er nickte mit dem Kinn in Richtung Ausgang und streckte gleichzeitig die Hand nach dem Telefon aus. »Und jetzt geh rüber. Hör dir an, was sie zu sagen haben.«

An der Tür blieb ich stehen. »Was hältst du eigentlich von der Geschichte, dass Homer angeblich blind gewesen ist? Er war nicht mal dabei, als es Achilles erwischte.«

Ich sah, wie Herolds Silhouette vor dem hellen Viereck des Fensters mit den Schultern zuckte. »Wahrscheinlich konnte er gut zuhören.«

»… hat daher die Bundesregierung den Ländern die Weisung erteilt, die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei hinzuzuziehen.«

Der Pressesprecher der Regierung war ein früherer Fernsehjournalist, dessen Moderation zu 9/11 mit dem Preis der Goldenen Kamera ausgezeichnet wurde. Als er geendet hatte, herrschte einen Augenblick Schweigen. Dann brach erregtes Stimmengewirr aus. Mehrere Journalisten hoben gleichzeitig die Hand und versuchten, den Regierungssprecher auf sich aufmerksam zu machen.

»Schließt das den Einsatz militärischer Mittel mit ein?«, rief jemand aus der vorderen Reihe. Ich hatte meinen Platz ganz hinten und konnte nicht erkennen, wer es war. Er hatte einen französischen Akzent.

Der Sprecher schien auf diese Frage vorbereitet zu sein. Seine Antwort kam ohne das geringste Zögern.

»Die Unterstützung erfolgt in erster Linie logistisch, durch Schiffe, Hubschrauber, Räumfahrzeuge und Transporter. Allerdings stehen unsere Streitkräfte auch bereit, unsere Polizei bei Absperrungen und Objektschutz zu unterstützen. Sie haben eine Frage?«

»Danke. Bedeutet das auch die Übernahme hoheitlicher Befugnisse?«

»Davon können Sie ausgehen. Selbstverständlich dürfen unsere Streitkräfte im Rahmen ihrer Aufgaben Durchsuchungen und Verhaftungen vornehmen.«

»Halten Sie das nicht für gefährlich?«

»Inwiefern?«

»Nun, die Bundeswehr ist für polizeiliche Aufgaben nicht ausgebildet.«

Der Pressesprecher richtete einen Zeigefinger auf den Fragesteller. Er hatte dabei Ähnlichkeit mit einer Plakat-Karikatur von Uncle Sam, der zur Einberufung animiert.

»Lassen Sie mich eines klarstellen: Ich setze vollstes Vertrauen in die Professionalität unserer Streitkräftebasis. Im Übrigen arbeitet sie eng mit unseren zivilen Stellen zusammen.«

Mir fiel auf, wie oft der Staatssekretär den Begriff unsere gebrauchte.

In der ersten Reihe wurde erneut eine Hand gehoben. »Es erreichen uns Meldungen über Plünderungen. Können Sie uns dazu Näheres sagen?«

»Es ist vereinzelt zu Vorfällen gekommen, ja, aber entgegen allen Prognosen und Spekulationen ist es verhältnismäßig ruhig geblieben. In Krisenzeiten überwiegen in Solidargemeinschaften – lassen Sie mich das ganz deutlich sagen! – pro-soziale Reaktionsmuster und altruistische Verhaltensweisen.«

Er brachte die Sätze so flüssig heraus, als hätte er sie vorher hundertmal geübt.

»So haben etliche Supermärkte ihre Türen geöffnet und Lebensmittel unentgeltlich an die Bevölkerung verteilt. Zu Wucher-Verkäufen ist es meines Wissens nicht gekommen.«

»Stimmt es, dass wegen des Blackouts schon tausende Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen werden mussten?«

Der sonore Tonfall wirkte auf mich zunehmend einlullend. Was er von sich gab, wurde zu einem Wortbrei, aus dem von Zeit zu Zeit einzelne Phrasen aufstiegen. »Diese Frage … der jeweiligen Bundesländer … Pressekonferenzen, die … bin zuversichtlich, dass … Stärke des Landes … gemeinsame Herausforderungen …«

Ich hatte seit Tagen kaum geschlafen und wollte uns beiden die Peinlichkeit ersparen, mitten in seinen Ausführungen aus einem Halbschlaf aufzuschrecken. Ich stand auf und verzog mich ins Bistro.

Offenbar war ich nicht der Einzige, der auf die Idee kam, sich abzusetzen. An den Futternäpfen hatten sich weitere Reporter eingefunden.

Ich ging den Kettenhunden von der Yellow Press aus dem Weg, deren geistiger Zustand sich am ehesten mit dem von Rauschgiftsüchtigen auf Entzug vergleichen ließ. Nachrichten waren rar. Kein Wunder, dass jeder Reporter der Stadt, mich eingeschlossen, nach den seltenen Nuggets der Wahrheit schürfte. Die Neurosen blühten und in den Kantinen machten Gerüchte die Runde. Zum Beispiel, dass es in Wirklichkeit gar kein Sonnensturm war, der den halben Kontinent ins vorindustrielle Zeitalter zurückgebeamt hatte, sondern ein Angriff der Russen, Chinesen, Amis oder von den kleinen grünen Männchen vom Mars.

Während ich mich in der Schlange anstellte, lauschte ich den Unterhaltungen der Reporter.

»Hast du den Quadrat-Unsinn mitgekriegt?«, fragte ein Typ seinen Nebenmann.

»Du meinst die lahme Story von den Supermärkten, die aus lauter Menschenfreundschaft ihre Lebensmittel verteilt haben?«

Der Angesprochene schnaufte verächtlich. »Sind das etwa dieselben, die vor dem Blackout die Leute wegen Containern verklagt haben?«

»Immerhin war’s das Schlauste, was sie machen konnten. Stunden später hätten die Leute ihnen eh die Schaufenster eingeschmissen.«

»Ohne Kühlung wäre das Zeug sowieso vergammelt. – Und der Typ faselt was von Altruismus! Was wir jetzt dringend brauchen …«

Was er und seine Agentur brauchten, bekam ich nicht mehr mit. In dem Moment, wo sie ihre Rationen ergattert hatten, zogen sie sich in Richtung der Tischreihen zurück. Ihr Geschnatter entfernte sich.

Die Küchenkraft wirkte wie jemand, der schlafwandelt. Ich musste meine Bestellung zweimal wiederholen, ehe sie sich in Bewegung setzte und nach hinten schlurfte. Nach einer Ewigkeit konnte ich endlich ein königliches Bankett in Empfang nehmen, an dem Thilo Sarrazin seine Freude gehabt hätte, als er noch Berliner Finanzsenator war. Ein Teller Hühnersuppe, zwei belegte Brötchenhälften und einen Pappbecher mit heißem Wasser, in dem ein Teebeutel schwamm; dazu zwei Zuckerwürfel – die Standardration, die meinen Organismus bis zum Abend am Leben erhalten würde.

Ich nahm mein Tablett und schaute mich nach einem Sitzplatz um. Mein Blick blieb an einer Uniform hängen, deren Besitzer abseits an der Fensterfront saß und mir lässig mit einer Hand zuwinkte. Ich musste zweimal hinschauen, ehe ich ihn erkannte.

»Milton!«

In den letzten Tagen fragte ich mich oft, wo er steckte und was er so trieb. Am ersten Tag des Blackouts hatte ich vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Das Handynetz war völlig überlastet. Sechs Stunden später, als die letzten mit Notstrom betriebenen Basisstationen ihren Dienst quittiert hatten, war dann endgültig Schicht im Schacht.

Milton gehörte zu den Menschen, die sich in einer Menge bewegen konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wäre ich jemals auf die Idee gekommen, ihn in eine Geschichte einzubauen, hätte ich ihm vermutlich die Rolle des Schnüfflers angedichtet.

Nun allerdings wirkte er verändert. Nicht nur, dass er Uniform trug, auch seine Haltung war neu, gestraffter. Er erinnerte mich an eine Schlange, die sich gehäutet hatte. Seltsam, was eine Uniform aus einem Menschen macht.

Er schob mir einen Stuhl zu. »Was treibst du so? Bist du immer noch bei der Feldzeitung?«

»Immer noch.«

»Ein Papiertiger«, lachte er.

»Gibt Leute, die das wichtig finden.«

Komisch, ich hatte das Gefühl, meine Arbeit verteidigen zu müssen, obwohl die mir im Grunde nichts mehr bedeutete. Ich war kein guter Journalist. Nicht mal jetzt brachte ich die Wahrheit raus. Aber war das nicht meine Aufgabe?

»Was ist mit dir?«, fragte ich ihn. »Wie kommst du zurecht?«

»Womit?«

Ich breitete die Arme aus. »Na mit allem. Mit der Katastrophe.«

»Katastrophe?« Milton hob eine Braue. »Junge, die Zerstörungen nach dem letzten Weltkrieg – das war eine Katastrophe! Das Land am Boden. Trotzdem ging’s irgendwann wieder aufwärts.«

»Dank des Marshallplanes«, wandte ich ein, »weil die Amis eine Basis gegen den bösen Kommunismus brauchten.«

»Und so wird’s auch diesmal sein«, erwiderte er unbekümmert. »Wir sind noch lange nicht am Ende der Welt angelangt.«

»Was macht dich so sicher?«

»Ich glaube an den Kapitalismus, mein Freund. Ein echt geniales System. Nicht totzukriegen, egal was passiert.« Er hob die Hände, die Handflächen nach oben wie ein Prediger. »Ich glaube an den Fleiß und den Optimismus, an Innovation, Kreativität, Mut und harte Arbeit, an die Gier, an Gewinn und Wachstum.«

Milton war stockkonservativ. Gegen ihn war Potter Huntington ein Waisenknabe. Sein Hohelied auf den Kapitalismus hätte gut und gern als Leitartikel eines Wirtschaftsmagazins getaugt. Ich winkte ab, bevor er noch auf die Idee kam, mir irgendwas verkaufen zu wollen, eine Versicherung zum Beispiel. Milton war der Typ, der einem alles andrehen konnte. Sein Optimismus überrollte einen geradezu. Er erinnerte mich an den Frosch aus dieser altbackenen Geschichte, der erst in die Milch fällt und dann statt abzusaufen so lange strampelt, bis die Milch zu Sahne wird. Und wahrscheinlich würde er einem anschließend noch die Sahne verkaufen.

»Erzähl mir lieber von deiner Aufgabe«, sagte ich.

»Wir schützen Kasernen, Flugplätze, Rundfunksender, Lebensmittel- und Treibstoffdepots, Banken … So was halt. Weißt du, dass es in der ganzen Stadt nur fünf Tankstellen gibt, die mit Notstrom betrieben werden können?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Tja, wusste ich bis heute auch nicht. Die werden gerade abgesichert wie ein Konsulat. Aber das machen Andere. Wir wurden für einen Flugplatz abgestellt. Auf den Weg dorthin sollen wir noch was erledigen.«

Wieder spürte ich die alte Faszination, die mich schon bei unserer ersten Begegnung gepackt hatte. Die Katastrophe schien ihn nicht zu berühren. Mehr noch, anscheinend betrachtete er sie als Herausforderung. Herold … Milton … Der Regierungssprecher … In meiner Umgebung schienen sich eine ganze Menge Macher zu tummeln. Anderswo wurde Geschichte gemacht, während ich in der Etappe versauerte.

Ich rückte den Pappbecher mit dem erkaltenden Tee auf dem Tisch hin und her. »Reden wir von deinem Einsatz. Was sollt ihr auf dem Weg zum Flugplatz erledigen? Oder ist das geheim?«

»Ach wo«, winkte er ab. »Den alten Windisch kennst du noch?«

»Oberst Windisch vom Landeskommando?«

»Der ist jetzt bei der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit. Und redet immer noch dieselbe Sülze wie eh und je, von wegen wir Soldaten wären Mittler zwischen Armee und Gesellschaft. Die alte Leier. Du kennst ihn.«

»Der Einsatz«, brachte ich ihn aufs Thema zurück.

»Richtig. Also ich werd‹ zu einer Besprechung gebeten, und als ich reinkomme, sitzt da Windisch mit drei Zivilisten zusammen: eine Referatsleiterin von der IIIA, ein Typ vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt … Wozu der dritte da war, hab ich vergessen. Jedenfalls diskutieren die gerade die Evakuierungen der ersten Hochhaussiedlungen.«

»Steht es schon so schlimm?«

»Du warst wohl in den letzten Tagen nicht zu Hause?«, erkundigte er sich mit gutmütigem Spott.

»Ich schlafe seit drei Tagen in der Redaktion.«

»Dann lass mich dich mal kurz briefen. In den Hochhaussiedlungen herrscht gerade SHTF.«

SHTF. Shit Hits The Fan. Die Kacke war am Dampfen. Fast so schlimm wie WC – Worst Case – aber nicht ganz so heftig wie EOTW – The End Of The World. Nerd-Sprache. Wenn sich Prepper unterhielten, war’s, als würdest du besoffen einer Folge von Raumschiff Enterprise folgen.

»In dem Fall kannst du das ruhig wörtlich nehmen«, fuhr Milton fort. »Ohne Strom reicht der Wasserdruck nur bis zur dritten Etage. Alles darüber hat nicht mal mehr Wasser zum Spülen der Klos.«

Er lehnte sich zurück, kramte in seinen Taschen und fingerte eine zerdrückte Schachtel Pall Mall raus. Ich wartete darauf, dass er zum Punkt kam.

»Im Moment werden die Leute noch aus großen Tanks versorgt«, fuhr er nach den ersten Zügen fort. Er kam gar nicht auf den Gedanken, mir eine Zigarette anzubieten. »Aber kein Mensch schleppt jeden Tag fünfzehn Liter Wasser in den zehnten Stock hoch. Oder nimmt das Treppenhaus, um unten die Dixi-Klos zu benutzen. Die scheißen in Kübel und kippen’s ganz einfach aus dem Fenster.« In seiner Stimme fand sich keine Spur von Betroffenheit.

»Also wie eh und je.« Ich nickte. »Die Oberen bescheißen die Unteren.«

Ich stellte fest, wie mich Miltons Kaltschnäuzigkeit ansteckte. Flüchtig dachte ich, dies müsse das Geheimnis von archaischen Kriegerbünden sein, wo man gegenüber den Kameraden keine Schwäche zeigt. An Fantasie mangelte es mir nicht. Die Bilder, die Miltons Worte heraufbeschworen, tauchten lebhaft vor meinem inneren Auge auf: in der Dämmerung aufragende stockdunkle Wohntürme, in deren Fensterhöhlen vereinzelt Kerzen brannten; in den Klüften dazwischen Spielplätze, die sich langsam in Müllhalden verwandelten und verdorrte einstige Grünflächen, die wie ein gedüngtes Feld stanken.

Trotzdem – Seuchengefahr hin oder her, wäre es nicht besser, die Leute in ihrer gewohnten Umgebung zu lassen? Dort hatten sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. Soziale Kontakte. Ich machte eine entsprechende Bemerkung.

Milton winkte ab. »Allein in der Gropiusstadt brauchen sie eine Million Liter Wasser pro Tag. Und das auch nur, wenn sie sparsam sind. Zwar gibt’s übers Stadtgebiet verteilt um die 2000 Straßenbrunnen, allerdings ist nur bei etwa einem Drittel die Wasserqualität ausreichend. Wie willst du da die Massen an Wasser und Lebensmitteln heranschaffen? Wie verteilen, ohne dass einer zu kurz kommt?«

»Nachbarschaftshilfe?«, schlug ich halbherzig vor.

Milton schnaufte verächtlich durch die Nase. »Das sind anonyme Bettenburgen, Outis. Glaubst du, da denkt irgendwer ans Teilen?«

Er schnippte mit dem Finger, um anzudeuten, wie wenig er in der Krise ans Teilen denken würde. »Die Leute stehen schon jetzt viele Stunden am Tag an den Versorgungspunkten und Straßenbrunnen Schlange.«

»Na dann haben sie ja jetzt genug Gelegenheit, sich kennenzulernen.«

»Witzbold.« Milton grinste. »In der Stadt ist für die Masse an Leuten kein Platz. Die haben schon genug Probleme, die ganzen gestrandeten Touristen unterzubringen. Es ist Sommer. Hochsaison. Die Notunterkünfte platzen aus allen Nähten.«

»Ob es überall so aussieht?«

»Da geh ich jede Wette ein. Was glaubst du, was erst in zwei Wochen los ist, wenn der halbe Ruhrpott abgesoffen ist?«

Ich schaute ihn fragend an. Er erklärte es mir. Wegen des Kohlebergbaus hatte sich der Boden in den letzten Jahrzehnten immer mehr abgesenkt. Ein Großteil der Städte lag inzwischen in Mulden, aus denen ständig das Niederschlagswasser abgepumpt werden musste.

»In nicht mal einem Monat haben sich Bottrop und Gladbeck in Vineta verwandelt«, prophezeite er. »Dann werden fünf Millionen auf Wanderschaft sein.«

»Zurück zu unseren Problemen hier«, forderte ich. »Was ist mit den Evakuierungen?«

»Nun, sie bauen im Brandenburger Umland Notquartiere auf. Überall da, wo sich Verkehrsknotenpunkte befinden: Autobahn, Wasserstraßen, Kleinstflugplätze …«

»Ich verstehe. Das vereinfacht den Transport, nicht wahr?«

»Vor allem vereinfacht es die spätere Versorgung.«

»Was hat das Wasser- und Schifffahrtsamt damit zu tun?«

Er sah mich mit dem Blick eines Lehrers an, der irritiert darüber ist, dass sein Schüler nicht mal die einfachsten Zusammenhänge kapiert.

»Allein in Gropiusstadt hausen 38 000 Leute. Das ist fast die Größenordnung von Pribjat. Als dort der Reaktor hochging, brauchten die Russen für die Evakuierung zwei Tage. Aber die hatten tausend Busse, über hundert LKWs und mehrere Sonderzüge. Die Straßen waren frei, das Schienennetz funktionierte und es gab ein sicheres Umland. Hier herrschen ganz andere Zustände. Die Schienen sind mit liegengebliebenen E-Zügen verstopft, die Stellwerke funktionieren nicht, die Weichen müssten über die gesamte Strecke festgeschraubt werden. Die Verkehrsleitsysteme sind ohne Strom, die Tunnel ohne Licht. Trotzdem wollen die das Ganze in drei Tagen durchziehen.«

»Drei Tage? Du lieber Himmel!«

»Du gestattest?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern bediente sich gleich von meinem Teller.

»Tja, Realitätssinn war noch nie die Stärke der Politik«, fuhr er kauend fort. »Die Köpfe in den Wolken, ohne das geht’s bei ihnen nicht. Aber Gedanken haben sie sich schon gemacht, das muss man ihnen lassen.«

Er wischte sich die Finger an der Serviette ab und griff wieder nach der Zigarette. »Wenn man die Kanäle dazu zählt,kommt man in Berlin auf zweihundert Kilometer Wasserstraßen. Durchgehend frei, man muss nur die Schleusen kontrollieren. Rechne nach: Hundertfünfzig Fahrgastschiffe, die rein rechnerisch knapp zehntausend Leute auf einen Schlag transportieren können. Was übrig bleibt, geht mit Bussen ab.«

»Und die Reedereien machen da freiwillig mit?«

»Sicherlich nicht aus schierer Menschenfreude. Aber sie kriegen Diesel für die Hilfe. Und später, wenn das große Aufräumen losgeht, winken großzügige Entschädigungen. Da wird man doch gern zum Patrioten.«

»Erzähl mir lieber, was das alles mit deinem Auftrag zu tun hat.«

Milton schnippte eine Aschenflocke in seine leere Tasse. »Tja, da gibt’s nicht viel zu sagen. Wir schippern auf einem der Flüsse zum Flugplatz und nehmen dabei eine Inspektorin vom Wasserstraßen-Amt mit. Wegen des Sonnensturms haben die wohl immer wieder Funkprobleme, also sagen sie sich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«

»Warum erledigt das nicht die Wasserschutzpolizei?«

»Vergiss es, das sind Oldtimer. Die Boote, die gerade nicht in der Werft liegen, sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz.«

Die Flamme seines Feuerzeugs züngelte, als er sich eine neue Zigarette ansteckte. In einer wirren Vision sah ich uns beide in einer Höhle vor einem Lagerfeuer hocken wie zwei Jäger eines urzeitlichen Stammes, der eine Treibjagd plant.

»Rechnet der Senat denn mit Problemen?«, wollte ich wissen. »Warum fährt diese Inspektorin nicht allein in ’nem Tretboot den Fluss runter? Das ist die brandenburgische Provinz, nicht das Herz der Finsternis.«

»Ist halt so ne fixe Idee von Windisch. Reine PR, wenn du mich fragst. Als wir allein waren, sagte er zu mir: Es liegt in unserem Interesse, im Angesicht der Krise unsere Daseinsberechtigung zu beweisen.«

Ja, dieser geschraubte Tonfall sah Windisch ähnlich. Der Auftrag klang nach langweiliger Routine. Aber gut, das sind Wach- und Sicherungseinsätze häufig.

Milton sprach weiter, aber ich hörte nicht mehr richtig zu. Meine Augen wanderten über seine schon grau werdenden Haare. Er hatte seinen Zenit überschritten. Wie ich. Wie die anderen Reservisten, denen ich auf den Lehrgängen begegnet war. Die meisten waren in einem Alter, wo man sich in seinem Leben mehr oder weniger eingerichtet hatte. Sie hatten Jobs, eine Familie, einen Alltag. Und doch musste ihrem Leben irgendwas fehlen. Vielleicht verspürten sie Langeweile angesichts des Trotts. Vielleicht fühlten sie, dass das, was sie im Zivilleben taten, keinen Sinn ergab. Vielleicht suchten sie nach Herausforderungen, nach mehr Verantwortung, nach etwas, was größer war als sie selbst. Vielleicht suchten wir alle ein anderes, ein besonderes Leben.

Der Oberst von der zivil-militärischen Zusammenarbeit wollte eine Existenzberechtigung für seine Truppe, Herold einen Helden, wie ihn die Zeit gerade so nötig zu brauchen schien und Milton einen Auftrag, bei dem er Gelegenheit bekam, seine heiligen Werte des Kapitals zu schützen. Jeder suchte irgendetwas. Und jeder wollte im Grunde das Gleiche: Anerkennung.

Nun gut. Ich gab mir einen Ruck. Herold sollte seinen Helden bekommen. Ich würde den Job annehmen, von dem er geredet hatte. Ich würde Milton begleiten, Geschichten sammeln und über Helden schreiben. Vor allem aber würde ich endlich aus dem Mief rauskommen – ein bisschen herumreisen, ein bisschen Action erleben und alles gewürzt mit dem Salz des Pathos, des Gerechten und Wahren.

Am Ende bekam ich mehr von all dem, als gut für mich war.

Jeder des anderen Feind

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