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Pauls Traum

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Die Angst war dem schmächtigen Viertklässler deutlich ins Gesicht geschrieben. Totenblass stand der Junge zwischen den drei Jugendlichen. Sein Kinn zitterte, während er aufgeregt die Finger knetete. Paul blickte zu Boden. Er schämte sich dafür, Moritz und Jannik ihr böses Spiel spielen zu lassen und nicht einzugreifen. Moritz rempelte den rotblonden Viertklässler an. „Los, du Noob, rück die Kohle raus, sonst müssen wir nachhelfen!“ Sein Lachen klang tief und drohend. Jannik ließ eine grobe Kette um seine Finger wirbeln. Die Glieder rasselten in einem fort.

Der Kleine suchte verzweifelt seine Hosentaschen ab und hielt ihm zögerlich ein 50-Cent-Stück entgegen. Moritz zog einen Mundwinkel nach oben. „Willst du uns verarschen?“ Der Junge schüttelte mit angstgeweiteten Augen den Kopf. „Ich … ich hab nicht mehr, ehrlich.“ Sein hilfesuchender Blick streifte Paul. Dieser presste die Kiefer aufeinander und sah zur Seite. Jannik spuckte dem wesentlich Kleineren vor die Füße. „Morgen bringst du fünf Euro hierher, sonst setzt‘s was!“ Der Junge nickte heftig. Moritz schubste ihn weg. „Los geh heim, du Vollpfosten und wehe du verpetzt uns, dann gibt‘s paar aufs Maul!“ Der Angegriffene strauchelte und rannte blitzschnell davon. Jannik und Moritz machten sich lautstark über ihn lustig. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern und lästerten über die Angst des Jungens. In Paul stieg Übelkeit auf.

Am darauffolgenden Tag, nach der Schule, lag Paul auf seinem ungemachten Bett und starrte tief in Gedanken versunken vor sich hin. Seinem entrückten Blick entgingen die am Boden liegenden Kleidungsstücke, Chipstüten und die verklebten Raviolidosen. Er dachte an den armen Viertklässler und daran, dass er sich vorhin bei der Geldübergabe wieder mal feige verdrückt hatte, anstatt ihm gegen Moritz und Jannik zu helfen.

Nach einer Weile flogen seine aufgewühlten Gedanken zu Elisa, dem Mädchen, das vor zwei Wochen neu in seine Klasse gekommen war. Auf ihrer Nase tummelten sich ein paar Sommersprossen. Ihre feste Spange sah man nur selten, da sie wenig lachte. Sie war mittelgroß und weder dünn noch dick. Sogar ihre schulterlangen Haare waren normalbraun und gerade. Einfach nichts, das man bombe finden konnte, und doch strahlte sie eine Anziehungskraft auf ihn aus, wie er es noch bei keinem Mädchen erlebt hatte. Wenn sie in seine Nähe kam, wurde er übelst nervös und litt unter Achselterror. Aber das Peinlichste war, dass er knallrot anlief. Wenn sich ihre Blicke auch nur für eine Sekunde trafen, war er komplett von der Rolle.

Wie sollte man da im Unterricht aufpassen können? Seine Versetzung befand sich auch so schon im roten Bereich.

Seit seine Mutter tot war, ziemlich genau ein Jahr, gestaltete sich Pauls Leben nicht mehr so easy und chillig, wie bis dahin. Es war hart und frustrierend geworden. Denn während sein Vater den ganzen Tag arbeitete und danach auch keine Zeit für ihn hatte, musste Paul sehen, wie er mit seinen zwölf Jahren sein chaotisches Leben auf die Reihe bekam. Er fühlte sich mit all der Last - Schule, Haushalt, Trauer und Einsamkeit – voll mies und überfordert. Und nun kam auch noch Elisa ins Spiel …

Seufzend schloss er die Augen. Er sehnte sich nach den guten Gesprächen mit seiner Mutter.

Ob Mama mich hier unten sitzen sieht?

Plötzlich wurde ihm das Chaos seines Zimmers bewusst. „Entschuldige Mama, dass es hier so versifft aussieht, aber …“ du fehlst mir so unglaublich, wollte er noch hinzufügen, brachte die Worte aber nicht über die Lippen. In diesem Moment trat das Bild seiner Mutter vor sein inneres Auge und sofort überschwemmte ihn eine tonnenschwere Welle der Traurigkeit, die ihm den Hals zuschnürte, sein Kinn zittern ließ und ihm Tränen in die Augenwinkel trieb. Er hasste das! Warum war er nur so ein „Mädchen“? Warum nahm ihn immer alles so extrem mit und warum litt er so schrecklich? Wegen jeder Kleinigkeit stiegen ihm Tränen in die Augen und das Blut in den Kopf, sodass jeder mitbekam, wie er sich fühlte und über ihn lästern konnte. Aus tiefster Seele wünschte er sich, stark, cool und schlau zu sein, ohne Ängste und Sorgen.

Paul nickte vor sich hin. Ja, das wäre echt geflasht. Bestimmt wäre Dad dann megastolz auf mich, Elisa würde mich bombe finden und ich könnte Jannik und Moritz zur Vernunft bringen.

Aber wie und wo konnte er das erreichen? Vor allem, wenn man so ein Weichei und Loser war wie er.

In der Schule? Auf der Straße? Im Verein oder im Fitnessstudio? Paul lachte bitter über seine verpeilten Ideen, denn viel Kohle besaßen sie nicht.

Dann wurde er wieder ernst und grübelte weiter. Was konnte er denn überhaupt, außer eine knallrote Rübe zu bekommen und herumzustottern? Mehr fiel ihm dazu nicht ein, außer, dass er richtig gut Gitarre spielen konnte.

Früher hatte er hin und wieder seine Großmutter im Altenheim besucht und ihr auf der Gitarre vorgespielt. Er erinnerte sich an das chillige Gefühl, das er dabei hatte. Paul schmunzelte. Das fanden die alten Leute wirklich cool. Oma Heidi, von der er die Gitarre bekommen hatte, war der Meinung, jeder sollte eine gute Tat am Tag vollbringen, das würde der Seele gut tun. Er grinste liebevoll. Vielleicht sollte ich das mal versuchen. Wahrscheinlich würde mich das schon selbstbewusster und glücklicher machen, so, dass Elisa voll geflasht wäre. Denn so ein „Mädchen“ und Loser wie mich nimmt sie sicher nicht einmal wahr …

Aber wie sollte er das anfangen, viel Mut besaß er nämlich auch nicht? Und einfach so Leute ansprechen, ob er zum Beispiel die Einkaufstaschen tragen durfte, das getraute er sich nicht. Geplagt von Komplexen blickte Paul aus dem Fenster, dabei kaute er auf dem Nagel seines Mittelfingers.

Nach einer Weile kam er trotzdem zu dem Entschluss, dass es ein krasses Ziel war. Es wurde höchste Zeit seinem frustrierten Leben einen guten Sinn zu geben. Superman wusste ja vorher auch nicht, dass er ein Held wurde.

Er nahm sich fest vor, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. Besser, als nur daheim oder mit Moritz und Jannik auf dem Spieli abzuhängen und zuzuschauen, wie diese aus purer Langeweile Schwächere quälten, vermutete er schon viel überzeugter, denn das ging ihm voll auf den Sender.

Paul erwachte aus seiner Erstarrung, setzte sich auf und griff nach der Gitarre, die neben dem Bett an der Wand lehnte. Mit geschlossenen Augen zupfte er jede einzelne Saite und stimmte sie. Fast spürte er schon seine Muskeln wachsen. Das Reißen einer Gitarrensaite ließ ihn zusammenzucken. „Shit.“ Musste das jetzt auch noch sein? Gott sei Dank hatte er noch Ersatzsaiten, sonst wäre sein Plan schon dahin. Er entfernte die alte.

Die gute Tat mit meiner Gitarre zu tun, wäre am coolsten, denn hinter der kann ich mich verstecken und muss den Leuten nicht in die Augen schauen. Wie wäre es denn, wenn ich wieder wie früher in Altenheimen vorspiele? Das wäre doch krass, das würde ich echt gern tun. … Was die Omas und Opas wohl hören wollen?, überlegte er, während er die neue einfädelte und stimmte. Schade, dass Oma Heidi nicht mehr lebt. … Dann wäre ich der Oldie-Superman. Ein Lächeln huschte über seine vollen Lippen.

Nach einer Weile legte er das Instrument aus der Hand und ging vor dem Bett auf und ab. Die Chipstüten knisterten unter seinen Schritten. Plötzlich erhellte sich sein schmales Gesicht, er legte sich auf den Boden und robbte unters Bett.

Kurz darauf erschien er mit einem Notenheft in der Hand und jeder Menge Spinnweben auf dem Kopf. Im Schneidersitz setzte er sich auf den Teppich und blätterte in dem Heft herum. Schließlich schmiss er es stöhnend von sich.

„So ’n Mist, das kann ich doch nicht spielen, lauter englisches Zeug, das checken die doch gar nicht“, brummte er vor sich hin und stand ärgerlich auf.

Ahnungsvoll warf er einen Blick in seine leere Kasse. Wütend knallte er den Deckel zu.

Soll ich das, mit dem Altersheim, wirklich tun?

Was werden wohl Jannik und Moritz dazu sagen? Die lästern sicher voll ab. Na und? Wenn ich erst mal erfolgreich bin, sind auch die geflasht. Und außerdem brauchen die es ja vorerst nicht zu erfahren.

Sein Blick wanderte abermals aus dem Fenster.

Wo kann ich jetzt sofort Kohle ziehen, für ein Notenheft mit deutschen Songs?

Fluchend ärgerte er sich mal wieder, dass er keinen Internetanschluss hatte.

Vielleicht brauchen die im Getränkehandel um die Ecke Hilfe, hoffte er, schnappte voll Tatendrang seine Jacke und den Haustürschlüssel, knallte die Tür zu und rannte die Stufen hinab.

Die Nachbarin, die einen Stock unter ihm wohnte, öffnete ihre Wohnungstür und rief ihm hinterher: „Paul, mein Guter“, wie er diese Betitelung hasste, „könntest du mir bitte ein Brot kaufen? Mein Ischias plagt mich heute wieder so arg, dass ich nicht selbst gehen kann.“

Einen Augenblick ging Paul weiter und tat so, als hätte er nichts gehört, erinnerte sich aber seiner guten Taten und antwortete: „Ja klar. Moment, ich komme.“

Rasch spurtete er die Stufen wieder hinauf.

„Ich hab leider nur einen 20-Euro-Schein.“ Frau Krieching, bekleidet mit einer Blümchenkittelschürze, schwarzen Wollstrümpfen und Filzpantoffeln, lächelte entschuldigend, dabei entblößte sie ihren zahnlosen Mund. Paul starrte ablehnend auf das nackte Zahnfleisch.

„Kein Problem. Ähm, was für eins?“

„Ein weiches, du weißt ja …“ Abermals zeigte sie ein breites Lächeln. Rasch blickte Paul zu Seite, steckte das Geld in die Tasche seiner Jeans und sprang die Stufen wieder hinab.

Assig, der Bäcker ist in der entgegengesetzten Richtung als der Getränkemarkt, ärgerte er sich und fasste in die Hosentasche. Er griff nach dem Schein.

Cooles Gefühl, stellte er fest und knetete den Schein genüsslich in den Fingern. Für zwanzig Euro könnte ich drei Hefte kaufen. Aber leider ist es nicht meine Kohle …

Mittlerweile stand er an einer belebten Kreuzung und wartete ungeduldig auf Grün. Eine alte Dame kam auf einen Stock gestützt angehumpelt.

Kaum war sie bei ihm angelangt, sprach sie ihn an:

„Hallo junger Mann, wärst du so nett, mir über die Straße zu helfen?“

Paul sah sie entgeistert an. Heute scheine ich alte Omas besonders anzuziehen. Wahrscheinlich schon die Vorboten des Oldie-Superman-Seins.

„Bitte! Ich bin nicht so gut zu Fuß“, meinte die Dame und blickte ihm durch ihre dicke Brille erwartungsvoll an.

„Ähm ja, kann ich machen“, antwortete Paul nun mit tiefer Stimme und überlegte, wie sie sich das vorstellte. Lächelnd hakte sie sich bei ihm unter.

„Das ist wirklich nett von dir, danke für deine Hilfe. Weißt du, wenn man alt ist, geht alles nicht mehr so, wie es sein sollte.“

Paul blickte der alten Dame in ihr offenes, faltiges Gesicht. Sie trug ihr graues Haar in Ohrlänge gerade abgeschnitten und nach innen geföhnt. Ihre Ponyfransen hingen ihr glatt in die Stirn.

Sie sieht nett aus, gegen die zahnlose Krieching …, stellte Paul fest. „Haben Sie keine Kinder und Enkel, die Ihnen helfen können?“, fragte er verwundert.

„Doch, aber die haben ja ihr eigenes Leben und wenig Zeit für eine alte Frau.“ Sie lächelte milde, dabei strahlte ihr ganzes Gesicht und eine Reihe gelber Zähne kam zum Vorschein. Sie erinnerte ihn an seine Oma.

Die Frau kam dank Paul heil auf der anderen Straßenseite an.

„Vielen Dank. Bei diesen hohen Gehwegkanten habe ich immer Angst, zu stürzen. Gehst du nun zu deinen Freunden Fußball spielen?“, fragte sie interessiert.

Paul schüttelte den Kopf. „Ne, ich spiele nur Gitarre.“

Die graublauen Augen der alten Dame, die hinter den dicken Brillengläsern winzig schienen, begannen zu leuchten. „Was heißt hier nur? Das ist doch was sehr Schönes, mein verstorbener Mann spielte auch Gitarre.“ Ein schmales Lächeln huschte über ihre faltigen Lippen.

Dann begann sie, einen alten Schlager zu singen.

Verlegen blickte Paul zu Boden. Plötzlich hatte er eine Idee. „Vielleicht ähm könnten Sie mir helfen, ähm ein geeignetes Notenheft für ältere Leute zu finden? Ich Honk hab nämlich keine Ahnung … und bräuchte dringend eins.“

„Gern, sehr gern, und ich habe gerade Zeit. Komm wir gehen zu Müllers Musiklädle!“ Energisch hakte sich die alte Dame wieder bei Paul unter und humpelte los.

„Wie heißt du?“

„Paul.“

„Mein Name ist Wieler. Veronika Wieler.“ Sie streckte ihm die freie Hand hin. Paul drückte sie. Die Frau schien okay zu sein.

„Meine Oma lebt leider nicht mehr.“

„Das tut mir leid. Hast du noch einen Großvater?“

„Ich hab nur noch meinen Dad, sonst niemanden.“

Veronika Wieler nickte verstehend. „Du fühlst dich sicher manchmal einsam.“

Paul zog verlegen einen Mundwinkel nach oben. Sie hatte genau ins Schwarze getroffen, er war einsam. Sehr sogar. Ihm wurde schwer ums Herz.

Vor Müllers Musiklädle blieben sie stehen.

„Puh, lass mich erst einen Moment verschnaufen“, keuchte die alte Dame. Paul spielte mit dem Geldschein in seiner Tasche. Was soll ich nur machen, wenn wir ein Notenheft finden? Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen.

„Warte mal!“ Frau Wieler streckte sich und zupfte die Spinnweben aus seinen blonden Haaren.

„Danke“, sagte Paul und strich sich durch das leicht lockige Haar, das fransig in sein Gesicht fiel.

Ein Schwall warmer Luft, die nach neuem Teppichboden roch, schlug ihnen entgegen, als sie eintraten. Zielstrebig führte Paul die Frau zu den Notenheften.

Die alte Dame musste gar nicht lange suchen. „Das ist es! Volkslieder und Schlager aus meiner Zeit, das kannst du nehmen.“ Sie lächelte aufmunternd.

Paul las sich befremdet die Titel durch. „Rosa Munde“, „Alte Kameraden“, „Rote Rosen aus Athen“, "Ich esse gerne Sauerkraut“ …

Veronika Wieler nickte zufrieden. Paul drehte das Heft um und erschrak. Shit, vierzehn Euro! Warum so viel für so einen alten Schinken? Davon mal abgesehen, dass ich keinen Cent habe. Rasch legte er das Liedheft wieder zurück.

„Was ist?“, fragte Frau Wieler erstaunt.

„Ich … ich kann‘s noch nicht kaufen … Ich muss erst die Kohle verdienen“, erklärte er stockend und errötete.

„Für was brauchst du denn das Notenheft?“

Paul errötete noch tiefer. „Ich wollte … ähm, ich wollte eigentlich, na ja vielleicht irgendwann mal … in einem ähm Altersheim Gitarre vorspielen“, brachte er endlich heraus.

„Wirklich?“, fragte die Dame erstaunt und hoch erfreut.

Paul nickte mit feuerrotem Gesicht.

„Du bist ein wunderbarer Junge, das habe ich gleich gemerkt. Du nimmst das Heft und ich bezahle es!“

Paul schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich verdiene das Geld selbst. Ich muss das tun!“

„Papperlapapp, du übst bei mir, dann habe ich auch was davon.“

Nachdem er einen Augenblick über den Vorschlag nachgedacht hatte, fand er ihn gar nicht so übel. Gitarre üben war schließlich viel gechillter, als Kisten zu schleppen. „Also gut“, gab er nach.

„Wirklich? Du weißt gar nicht, was für eine große Freude du mir damit machst.“ Begeistert strahlte sie den Jungen an. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Paul lächelte geschmeichelt. Und wenn er ehrlich war, freute auch er sich auf die sicher gemütlichen Stunden bei der netten Frau. Er nahm sich vor, sie gleich am nächsten Tag zu besuchen - bevor ihn der Mut wieder verließ.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, rannte Paul beschwingt zum Bäcker, um endlich das Brot für seine Nachbarin zu kaufen.

An diesem Tag fühlte er sich schon ein kleines bisschen glücklicher und ahnte nicht, welche Probleme noch auf ihn zukommen würden.

Pauls Antiweichei-Plan

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