Читать книгу Pauls Antiweichei-Plan - Eike Ruckenbrod - Страница 4

Die Probleme fangen an

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Im Schulhof stand Paul bei seinen Freunden Jannik und Moritz. Jannik, schwarzhaarig und kleiner als Moritz, dafür aber viel kräftiger, bekam von seinem Stiefvater fast alles, was er sich wünschte. Paul vermutete, dass dieser so Janniks Liebe erkaufen wollte. Das Gegenteil war bei Moritz der Fall, seine Adoptiveltern kümmerten sich nicht sonderlich um ihn, er konnte tun und lassen, was er wollte. Er war der Älteste, der drei Freunde, rauchte, verhielt sich überheblich und ärgerte leidenschaftlich Schwächere. Er pflegte innig sein größtes Bedürfnis: cool zu sein. Leider ließ Jannik sich immer öfters von ihm anstecken und Paul getraute sich nicht, gegen ihn anzugehen.

„Kommst du heute Mittag mit, wir wollen auf dem Spieli chillen und eine quarzen?“, fragte Jannik Paul und vergrub seine Hände in den Jeanstaschen.

„Ne, ich … ich kann nicht“, antwortete dieser ohne seinen Freund anzusehen. Der Junge sah ihn zweifelnd an. „Warum nicht?“

Paul dachte nach, was glaubwürdig klingen würde, und setzte eine unschuldige Miene auf. „Ich muss zum Arzt.“

„Zum Arzt? Wieso? Bist du krank?“, bohrte Jannik weiter und spuckte vor Pauls Füße. Er trat einen Schritt zurück.

„Ich muss ein Rezept für meinen Dad holen“, log er weiter.

„Ach so, das dauert ja nicht lang. Danach kommst du dann!“, sagte Jannik in einem Ton, der keine Widerrede duldete.

„Danach? … Danach muss ich noch mein Zimmer aufräumen“, fügte Paul rasch hinzu.

„Hey Alter, seit wann räumst du dein Zimmer auf? Da ist doch was mega faul“, mischte sich nun Moritz ein, dessen stoppelhaariges, dunkelblondes Haupt Paul um einen Kopf überragte. Er starrte den Jüngeren mit engen Augen an. Über seiner rechten Augenbraue verlief eine schmale Narbe.

„Ich … ich hab keinen Bock auf Spieli, okay?“

„Der Noob hat keinen Bock. Wenn du mich mal wieder fragst, hab ich auch keinen Bock“, erwiderte Jannik aufgebracht. In diesem Moment schlenderte Elisa an den Jungs vorbei. Das Mädchen warf Paul einen Seitenblick zu. Zu seinem Ärger schoss ihm das Blut in den Kopf.

Moritz beobachtete ihn aufmerksam. „Stehst du etwa auf die?“, fragte er laut. Paul fühlte sich ertappt. „Was? Nein, überhaupt nicht! Spinnst du?“, wehrte er mit feuerrotem Gesicht ab.

„Komm, erzähl mir nichts, Alter. Du findest die bombe. Ich seh‘s dir doch an.“ Jannik und Moritz lachten lauthals.

Paul winkte ab. „Kommt, lasst mich doch alle in Ruh!“

Und eilte mit klopfendem Herzen davon.

Gute Taten zu tun, war mit Lügen verbunden, das merkte er schon jetzt, obwohl es noch nicht mal angefangen hatte.

Niemals kann ich Jannik und Moritz erzählen, was ich vorhabe. Die werden sich sicher voll über mich lustig machen. Mit einer alten Oma zusammen in der Stube zu sitzen und Gitarre zu üben, um schließlich in einem Altersheim vorzuspielen, wie mega uncool …

Nachmittags trieb er sich trotzdem in der Nähe von Frau Wielers Grundstück herum.

Bis er endlich mit weichen Knien vor deren Anwesen stand, dauerte es eine ganze Weile. Er warf einen Blick nach rechts und links und starrte über den Zaun.

Hier, in diesem krassen, zweistöckigen Haus wohnt sie ganz allein, voll unnötig … und der Garten … wie unfassbar groß. Paul merkte, wie Wut in ihm aufstieg.

Warum hat sie so viel und wir so wenig? Voll assig.

Gerade, als er wieder gehen wollte, riss ihn das Summen des Gartentors aus seinen bitteren Gedanken. Offensichtlich hatte sie ihn gesehen. Aus der Sprechanlage hörte er ihre vertraute Stimme:

„Komm nur rein, mein Junge, ich freue mich!“

Paul schluckte die Bitterkeit hinunter und lief den Schotterweg entlang auf das Wohnhaus zu. Sein Blick streifte durch den riesigen Garten und über den Teich, der jetzt fast im Winterschlaf lag.

Im Sommer ist es hier sicher richtig chillig, stellte er nicht ohne Neid fest.

Strahlend stand die Hausherrin im Türrahmen und begrüßte den Jungen voll Wärme und Freude. Sofort verschwanden seine unguten Gefühle und er ließ sich gern in die Wohnstube führen. Frau Wieler deutete auf das Sofa.

„Setz dich hierher! Was möchtest du trinken? Einen Tee, Kaba oder Kaffee?“, fragte sie aufmerksam.

„'ne Cola?!“

„Eine Cola. Ich habe leider keine Cola im Haus, aber das nächste Mal werde ich dir eine besorgen“, versprach sie.

„Nein, nein, das ist echt nicht nötig. Ich trinke auch Wasser.“

Veronika Wieler humpelte in die Küche.

Der Junge ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Im Kaminofen prasselte ein Feuer, das den Raum in eine angenehme Wärme hüllte. Die alten Möbel sahen schön und gemütlich aus. Einige Fotos standen auf dem Kaminsims und hingen an den Wänden. Dicke Teppiche strahlten Behaglichkeit aus. Ein zarter Duft nach Veilchen, Kamillentee und Gebäck schwebte im Raum.

Ein Kanarienvogel zwitscherte ununterbrochen und flatterte aufgeregt im Käfig hin und her.

Frau Wieler betrat mit einem Tablett die Stube. Sie trug eine karierte Schürze. Klammern hielten ihr graues Haar zurück. „Tja, Hansi, da staunst du, was? Heute haben wir Besuch“, sagte sie liebevoll zu dem Vogel und wandte sich dann an Paul. „Jetzt stärkst du dich erst einmal, bevor wir loslegen.“

Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und vor Paul eine Flasche Apfelsaftschorle und einen Teller mit einem dicken Stück Kuchen drauf.

„Ich habe leider beim Kuchenbacken den Zucker vergessen und ihn drübergestreut.“ Sie lächelte entschuldigend. „Ich hoffe, er schmeckt dir trotzdem.“

Paul nickte zuversichtlich. „Wow, der duftet echt hammer. Vielen Dank.“ Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Die alte Dame lächelte zufrieden und setzte sich in einen der hohen Ohrensessel. „Na, wie war dein Tag?“

Paul dachte nach, während er den leckeren Kuchen genoss. Der Zucker knirschte zwar zwischen den Zähnen, aber das störte ihn keineswegs. „Na ja, Jannik und Moritz haben ganz schön gestresst.“ Frau Wieler nickte, während sie in der Teetasse rührte. „Ging‘s um Mädchen?“

Paul verschluckte sich fast und schüttelte hustend seinen roten Kopf.

„Nein, natürlich nicht“, meinte die alte Dame amüsiert und ihre Augen funkelten schelmisch. „Isabel, meine Enkelin, ist in deinem Alter. Vielleicht lernst du sie mal kennen. Wer weiß? Sie ist sehr hübsch, aber leider eine verwöhnte Zicke. Du hast etwas Besseres verdient!“

Paul konzentrierte sich schweigend auf das Stück Kuchen, das viel zu schnell in seinem Mund verschwand.

Wenn ich ganz kleine Bissen nehme, hält es doppelt so lang …

Veronika Wieler beobachtete ihn. „Er schmeckt dir nicht. Du kannst es ruhig zugeben.“

„Doch, echt. Er ist voll lecker. Ich hab schon ewig keinen so guten Kuchen mehr gegessen.“

„Na, dann iss tüchtig, später bekommst du noch ein Stück.“

Nun stopfte Paul sich den Mund voll und kaute mit dicken Backen. Frau Wieler nickte zufrieden. Dann erzählte sie von früher, von ihrem Mann, seinem Geschäft und seinem Hobby, dem Gitarre spielen. Die alte Dame lächelte entrückt vor sich hin. Dann richtete sie ihren glasigen Blick auf den Jungen. „Ich hoffe ich langweile dich nicht.“

Paul schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein, erzählen Sie ruhig weiter.“ Er hoffte auf ein weiteres Stück Kuchen.

„Dann wurde er krank und musste nach und nach seine Leute wieder entlassen. Das tat ihm sehr weh. Er hätte sich sicher gefreut, dich kennenzulernen. Du hättest ihm mit deinem Gitarrenspiel eine große Freude bereiten können.“

Paul nickte. Frau Wieler lächelte herzlich. „So, genug geplaudert, jetzt zeig mal, was du kannst!“

Paul wischte sich die Krümel vom Mund, stand auf, holte die Gitarre und stimmte sie. Frau Wieler beobachtete jede Bewegung des schlanken Jungens.

Schließlich fing er an, leise zu spielen. Die alte Dame saß lächelnd mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel und schaukelte sanft hin und her. Paul blickte sie aufmerksam an. Eine wohlige Wärme durchflutete ihn. Schon jetzt hatte er sie in sein einsames Herz geschlossen.

Nach einer Weile hielt er inne und Frau Wieler schlug die Augen auf. „Was ist? Bist du schon fertig?“

„Ich soll doch die Lieder aus dem Heft üben, oder?“

„Stimmt, aber deine sind auch sehr schön.“

Frau Wieler blätterte in dem Heft und entschied sich für „Hoch auf dem gelben Wagen“. Paul sah sich die Noten und Griffe an und begann zu spielen. Schon bald klang es ganz passabel und die alte Dame konnte mitsingen. Immer und immer wieder spielte Paul die Melodie, bis sie perfekt war und sie lachend aufhörten.

„Das war wunderschön“, freute sich Frau Wieler mit leuchtend roten Wangen.

Paul sah lächelnd aus dem Fenster und erschrak, da es schon dämmerte.

„Wie spät ist es denn?“

„Halb fünf.“

„Wie lang kann ich bleiben?“ Paul hatte keine Ahnung, wann alte Leute ins Bett gingen.

„Solange du möchtest, oder meinst du ich habe heute noch eine Verabredung?“ Sie zwinkerte.

„Ne … Ich meinte ja nur … Vielleicht sind Sie müde.“

Die Hausherrin lachte amüsiert. „Von was sollte ich denn müde sein? Aber du bist sehr aufmerksam.“

Paul zog geschmeichelt die Mundwinkel nach oben. In diesem Augenblick dachte er eine Sekunde lang an Elisa. Sofort reagierte sein Herz laut pochend. Hastig packte er die Gitarre in die Hülle.

„Nein, bitte nicht. Spiel mir noch ein paar von deinen Melodien!“, bettelte die Frau. Der Junge ließ sich überreden und nahm sein Instrument wieder zur Hand. Glücklich schenkte sie ihm Apfelsaft nach.

„Trink, Junge! Möchtest du noch was essen?

Ich gebe dir nachher ein paar Stücke Kuchen mit.“

Paul spielte noch eine halbe Stunde weiter, dann fiel ihm siedeheiß seine Bioarbeit ein. „Shit, ich muss noch Bio lernen. Kann ich noch schnell aufs Klo?“

„Ja, zur Tür raus, dann die Stufen hoch, rechts hinten.“

Paul stellte die Gitarre zur Seite und stand auf.

Im Flur blickte er sich neugierig um. Alles schien mal sehr teuer gewesen zu sein. Die Gemälde, die Teppiche, die Vasen und überall standen Orchideen. Offensichtlich war seine neue Bekanntschaft eine Blumenliebhaberin.

Paul erreichte die Toilette und betrat den kleinen Raum. Dieser war hell und freundlich und wirkte gegen den Rest des Hauses richtig modern.

Kritisch betrachtete er sein Spiegelbild und wünschte sich, sein kindliches Aussehen würde endlich weichen, sogar über einen Pickel würde er sich freuen. Moritz hatte schon einen leichten Flaum über der Oberlippe und Janniks Stirn war rot getupft vor lauter Pickel. Paul verstrubbelte seine Haare, da er das cooler fand, und senkte seinen Blick auf die Ablage. Seine blauen Augen weiteten sich. Mehrere goldene Ringe lagen darauf.

Fasziniert starrte er auf den wertvollen Schmuck. Der Gedanke, ob es wohl auffallen würde, wenn einer der Ringe fehlen würde, schoss ihm augenblicklich durch den Kopf. Zögernd nahm er einen und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Der rote Stein funkelte ihn so feurig an, dass Paul der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihn an den Finger zu stecken. Plötzlich trat Elisa vor sein inneres Auge, die ihm lächelnd ihre Hand entgegenstreckte. Eine heiße Welle durchströmte ihn.

Wie krass wäre es, wenn ich ihr so einen Ring schenken könnte?, sinnierte Paul mit geschlossenen Augen.

„O Gott, bin ich durchgeknallt!“, murmelte er und wollte den Ring wieder abstreifen, aber der steckte fest!

„Mist, warum geht er denn nicht ab?“ Paul zog und zerrte. Rasch seifte er seine Finger ein, aber das Schmuckstück ließ sich nicht über sein Gelenk streifen. Panik ergriff ihn. Was soll ich jetzt nur machen?

Mit einem dicken Kloß im Magen sank er auf die Klobrille.

Bestimmt denkt sie, ich wollte den Ring klauen, aber Mutti hat immer gesagt: Angriff ist die beste Verteidigung, also …

Sein Herz pochte laut, als er zu Frau Wieler eilte.

Die alte Dame saß mit geschlossenen Augen im Sessel. Ihr Kopf war zur Seite gekippt und die Brille halb von der Nase gerutscht. Durch ihre leicht geöffneten Lippen drang ein zartes Schnarchen hervor. Paul atmete erleichtert aus und packte leise seine Sachen zusammen. Vielleicht merkt sie es ja gar nicht, hoffte er und flüchtete auf Zehenspitzen hinaus.

Aber je weiter er sich entfernte, desto mehr brannte der Ring an seinem Finger.

Was kann ich nur Dad sagen, wo der Ring herkommt? Der glaubt mir sicher kein Wort. … Er darf ihn einfach nicht sehen, entschied Paul und überlegte, was er um den Ring wickeln konnte.

Paul schlich mit der Hand in der Hosentasche in die Wohnung und war gottfroh, dass sein Vater schon vorm Fernseher saß.

„Hi Dad“, rief er ins Wohnzimmer und steckte kurz seinen Kopf hinein.

„Hallo Paul. Alles klar?“, fragte Herr Eggmann, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Grad heute interessiert es ihn, wie es mir geht, ärgerte sich Paul. „Ja. Muss aber noch Bio lernen.“

Reinhard Eggmann nickte zufrieden und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche.

Paul schloss die Kinderzimmertür und ließ sich auf das Bett fallen. „Was mach ich jetzt bloß?“, murmelte er und drehte an dem goldenen Ring. Der rote Stein funkelte feurig, wie ein Auge, das Paul unentwegt anstarrte.

Bestimmt als Strafe, für meine schlechten Gedanken, vorhin im Klo von Frau Weiler, vermutete Paul voll Unbehagen. Seine Oma hatte öfters gesagt: Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort …

Aber ich wollte ja gar nicht in echt klauen, ich hatte ja nur daran gedacht, und die üblen Gedanken waren von ganz allein gekommen.

Paul sprang auf, huschte ins Bad und suchte aufgelöst eine Creme.

„Da ist sie ja. Jetzt werden wir sehen, wer stärker ist, du oder ich?“, sprach er zu dem Ring, während er einen erbsengroßen Tupfen auf den Ringfinger drückte. Gründlich massierte er diesen um den Ring herum ein.

Mit einem siegessicheren Grinsen zog er nun an dem Schmuckstück, aber es war wie verhext. Es ließ sich nicht entfernen, so fest er auch zog und zerrte. Sein Fingergelenk schmerzte schon.

„So ’n Megascheiß“, fluchte Paul, „Warum geht das nicht?“ Sein Blut pochte bis in die Ohren.

Was soll ich nur tun, wenn er nicht mehr abgeht? Wird Frau Wieler mir glauben und mich noch mal zu sich einladen? Einen Kerl, der offensichtlich ihren wertvollen Schmuck klaut? Einen Dieb!

Hastig riss Paul die Tür vom Spiegelschrank auf und suchte nach einem Verband. Ihm war sterbensschlecht. Fürsorglich wickelte er ihn um den Ring. Endlich musste er nicht mehr in das rote Auge blicken.

Tief atmete er ein und überlegte, was er seinem Vater erzählen sollte, wie und wo er sich verletzt hatte.

Was ist, wenn er die Wunde sehen will, um sie sauber zu machen? Warum muss ich immer so viel Pech haben? Es war doch so schön bei Frau Wieler. Wir hätten Freunde werden können, grübelte er traurig und verließ das Bad wieder.

Wie ein Häuflein Elend saß Paul auf der Bettkante und dachte keinen Augenblick mehr an die Bioarbeit. Unter dem Verband brannte der Ring, während sich ein schwerer Kloß in seinem Magen bildete. Er fühlte, wie sein Hals dick wurde und seine Augen brannten.

„Nein, ich werde jetzt doch nicht anfangen zu flennen“, rügte er sich und sprang auf. Denk lieber nach! Was würde ein Held jetzt tun?

Paul marschierte vor seinem Bett auf und ab. Es knisterte unter seinen Füßen. Er bückte sich, sammelte die Chipstüten auf und stopfte sie energisch in den übervollen Abfalleimer.

„Ich muss zu ihr! So kann ich nicht weiterleben. Sie wird mich verstehen.“ Erleichtert rannte er in den Flur.

„Ich muss noch mal kurz weg. Zum Essen bin ich wieder da“, rief er in Richtung Wohnzimmer und schmiss die Tür zu, bevor sein Vater ihn zurückhalten konnte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter, hinauf auf den Gehweg und die Straße entlang. So entgingen ihm die energischen Rufe seines Vaters, die laut im Treppenhaus widerhallten.

Minuten später stand er keuchend vor Frau Wielers Haus und erblickte erleichtert Licht. Mit zittrigem Finger drückte er auf den Klingelknopf. Sein Herz hämmerte fest gegen die Rippen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Er klingelte noch einmal, und panisch noch einmal.

„Kommen Sie, bitte öffnen Sie!“ Bevor mein Mut mich verlässt.

In diesem Moment hörte er ihre Stimme. „Wer hat es denn so eilig?“

„Ich bin‘s der Paul.“ Paul merkte, wie der Kloß im Hals wieder wuchs. Ein Summton ertönte und der Junge trat in den Garten. In der Dunkelheit wirkte dieser ganz schön unheimlich. Er zwang sich gerade aus, auf das erleuchtete Fenster zu schauen und nicht in Richtung der großen, dunklen Schatten, die sich rechts und links vom Weg weit nach oben reckten. Ein Rascheln, das aus dem Gebüsch kam, ließ ihn zusammenzucken. Er eilte weiter.

Frau Wieler öffnete verwundert die Tür.

„Paul, ich muss mich entschuldigen. Ich war vorhin sehr unhöflich. Vorher noch große Töne spucken und dann einschlafen …“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hättest mich ruhig wecken können.“

„Ach was, Sie schliefen so fest, ich wollte Sie nicht aufwecken.“

„Schön, dass du mich noch einmal besuchst, aber wolltest du nicht Bio lernen?“

Paul holte tief Atem. „Es … es ist sozusagen ein Notfall.“

„O mein Gott, komm schnell rein! Was für ein Notfall, ist etwas passiert? Kann ich helfen?“ Mit angstgeweiteten Augen blickte sie dem Jungen ins Gesicht.

„Nicht wirklich ein Notfall, also nur für mich … und für Sie“, stammelte er.

„Für uns? Komm, setz dich erst einmal her und dann erzähle mir genau, was geschehen ist!“

Paul setzte sich gern, da seine weichen Knie nachzugeben drohten. Sein Herz raste und sein Atem keuchte. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte, und streckte ihr einfach seine Hand mit dem verbundenen Finger hin. „Es … es hat damit zu tun“, sagte er mit belegter Stimme und räusperte sich. Frau Wieler griff nach seiner Hand und hielt sie zärtlich streichelnd in der ihren. „Erzähl! Hast du dich verletzt? Bist du gestürzt?“

Pauls Herz schmerzte vor so viel Zärtlichkeit. Fest schluckte er. „Also, ich war doch vorhin auf‘m Klo und da ist es passiert.“

Die alte Frau zog die Stirn in Falten. „Bei mir?! Das ist ja schrecklich, das werde ich wieder gut machen.“

„Nein, nein, da gibt‘s nichts zum Gutmachen, im Gegenteil … Ich bin an allem selbst Schuld. Ich sah die Ringe auf der Ablage liegen, dachte an Elisa und steckte mir einen Ring auf den Finger, und dann bekam ich ihn nicht mehr ab. Aber ich wollte ihn nicht klauen, ehrlich, das müssen Sie mir glauben!“, sprudelte es aus ihm kleinlaut heraus. Frau Wieler wickelte den Verband ab und erblickte das Unglück. Dann blickte sie ernst in Pauls Gesicht und sah das Zittern an seinem Kinn und die Tränen in seinen Augenwinkeln. Sie spürte, dass er die Wahrheit sagte. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich.

„Du bist ein wunderbarer Junge. Nicht jeder hätte den Mut gehabt, zu mir zu kommen und alles zu beichten.“

Rasch wischte Paul über seine überquellenden Augen.

„Ich glaube dir! So, jetzt wollen wir mal sehen, wie wir den Guten wieder von deinem Finger bekommen. Hast du überhaupt schon Bio gelernt?“, fragte sie den aufgelösten Jungen. Paul schüttelte den Kopf.

Die alte Dame stand energisch auf und humpelte in die Küche. Mit einem Eisbeutel und einer Flasche Öl kam sie zurück.

„Jetzt kühlst du deinen Finger, dass er sich zusammenzieht und dann versuchen wir es mit Öl. Im Notfall müssen wir deinen Finger abschneiden“, scherzte sie. Paul brachte ein kleines Lächeln zustande.

„Ich möchte mich noch ganz herzlich für den schönen Nachmittag bedanken. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Freude. Ich hoffe, du kommst bald wieder.“

Paul nickte erleichtert.

„Und jetzt das Öl.“ Sie tropfte zwei Tropfen auf seinen Finger und rieb es ein. Dann zog sie mithilfe eines Geschirrtuches den Ring mit einer festen, drehenden Bewegung von seinem Finger.

„Na also, da haben wir ja den Übeltäter“, sagte sie fröhlich. Paul rieb lächelnd seinen schmerzenden Ringfinger. Frau Wieler war nicht zimperlich gewesen, aber nun war alles wieder gut.

„Den hat mir mein lieber Mann zur Verlobung geschenkt. Damals war ich jung und schön … Aber nun musst du schauen, dass du nach Hause kommst! Ich freue mich auf deinen nächsten Besuch.“

„Ich komme auf jeden Fall noch diese Woche vorbei, und vielen Dank für alles.“

„Ich habe zu danken. Und du kannst stolz auf dich sein.“ Zärtlich strich sie Paul über die Wange. Bewegt grinste er und eilte durch den Garten zum Tor hinaus.

So gechillt war es also Probleme zu lösen, freute er sich und rannte beschwingt nach Hause, ohne zu ahnen, dass es noch schlimmer kommen konnte.

Pauls Antiweichei-Plan

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