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Kapitel 2 »Wer hätte gedacht, dass ich, Stella-Sexy-Sixpack-Edwards, jemals eine postnatale Bauchdeckenstraffung in Anspruch nehmen müsste?«

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Als ich aufwachte, fühlte ich mich, als wäre ich einen ganzen Abend lang Karussell gefahren. Nachdem ich mich allmählich von dem Schwindel erholte, vernahm ich gedämpfte Geräusche und kurz darauf eine verzerrte Männerstimme. Trotz meines dröhnenden Schädels verstand ich jedes Wort. Ich blinzelte und erkannte die verschwommenen Umrisse zweier männlicher Gestalten, die am anderen Ende des Zimmers standen.

»Tut mir wirklich leid, lieber Herr Kollege. Infolge des Aufpralls und des massiven Stoßes gegen den Kopf, leidet Ihre Frau an einer vorübergehenden retrograden Amnesie. Wir müssen zuerst verschiedene Tests mit ihr durchführen, um genau herauszufinden, inwieweit ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigt ist. Erst danach können wir eine gezielte psychologische Therapie in Betracht ziehen.«

Dann hörte ich den anderen Mann sprechen. Ich erkannte die Stimme sofort wieder. Es war Julius Gaulkötter, dieser Frauenarzt, der nicht ganz bei Trost war und der mir partout seine drei quirligen Nervzwerge unterschieben wollte.

»Wie lange kann so was dauern Doktor Hildebrand?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Ein paar Wochen. Vielleicht auch Monate. Wir sollten in jedem Fall behutsam mit ihr umgehen, damit sie keinen psychischen Schock erleidet.«

»Ihre Erinnerung endet vor ungefähr sieben Jahren. Sie glaubt immer noch, sie sei fünfundzwanzig. Von uns weiß sie nichts mehr. Wie soll ich den Kindern erklären, dass ihre Mutter sie nicht mehr erkennt? Sie brauchen ihre Mutter. Außerdem ist bald Weihnachten. Was ist, wenn sie uns hoffnungslos vergessen hat? Wenn ihre Erinnerung nie mehr zurückkommt?«

»Keine Sorge, Doktor Gaulkötter. Die Erinnerung Ihrer Frau wird schon wieder zurückkehren«, erwiderte der andere zuversichtlich.

»Und wenn nicht?«, erkundigte sich Doktor Gaulkötter mit bebender Stimme. »Stella verhält sich so merkwürdig. Was ist, wenn sie nichts mehr von uns wissen will?«

Das konnte er aber laut sagen. Als ob ich mein vertrautes und geliebtes Jetset-Leben aufgeben würde, um zu diesem Gaulkötter zu ziehen und auf dessen lästigen Nachwuchs aufzupassen. Wovon träumt der eigentlich nachts?

Retrodings hin oder her. Im Übrigen war ich bislang davon ausgegangen, diese komische Amnesie, von der der Arzt vorhin gesprochen hatte, sei lediglich ein fiktives Krankheitsbild, das den Köpfen irgendwelcher Bestsellerautoren oder Starregisseuren entsprungen war.

Wie war es überhaupt zu meiner Kopfverletzung gekommen? Unwillkürlich fasste ich mir an den hämmernden Schädel und ertastete mit den Fingern das Überbleibsel einer Beule auf meiner Stirn. War es wirklich ein Autounfall? An diesen mysteriösen Teil meiner Vergangenheit konnte ich mich tatsächlich nicht erinnern. Es kam mir so unbegreiflich vor, dass sieben Jahre meiner Erinnerung versehentlich irgendwo innerhalb meines Gehirns abhanden gekommen sein sollten. Im Geiste rechnete ich mir die angebliche, aktuelle Jahreszahl aus. Ohne Zweifel war ich dann zweiunddreißig Jahre alt, was natürlich den bedauernswerten Allgemeinzustand meiner Epidermis erklärte. O mein Gott, in meinen Augen war ich quasi im Zeitraffer gealtert. Sofort musste ich an diverse Naturkunde-Dokumentationen im Fernsehen denken, wo man den physischen Verfall aller möglichen Dinge in Quick-Motion beobachten kann: Eben liegt da noch eine saftige, pralle Weintraube, doch innerhalb von Sekunden verwandelt sie sich in eine schrumpelige Rosine.

Ich will keine Rosine sein!

Ich blinzelte vorsichtig und beobachtete, wie Doktor Hildebrand und Julius Gaulkötter sich in Richtung Tür bewegten.

»Stellen Sie sich vor, die Erinnerung Ihrer Frau wäre ein durcheinander gewürfeltes Puzzle«, fuhr Doktor Hildebrand fort, während er den Türgriff betätigte. »Sie muss erst alles gründlich sortieren, bevor sie es wieder zusammensetzen kann. Das wird eine Zeit dauern. Und erst danach wird man feststellen, welche Teile des Erinnerungspuzzles Ihrer Frau fehlen.«

»Das ist der reinste Albtraum«, lamentierte der Gaulkötter, womit er völlig Recht hatte. Vielleicht musste ich einfach nur ganz laut schreien, um endlich aufzuwachen – aus diesem Albtraum. Die Tür fiel ins Schloss. Und ich war allein.

Also, los Stella, schrei so laut du kannst!

Ich setzte zum Schreien an, doch meine schlaffen Stimmbänder gaben (logisch nach einer Woche Koma) nicht mehr als ein kratziges Krähen her, das wie ein sterbender Hahn klang, der Zeit seines Lebens Kettenraucher war und am Ende an einer hochgradigen Form von Kehlkopfkrebs zu leiden hatte. Nein, so schnell gab ich nicht auf.

Ein Strategiewechsel musste her. Dann musste ich eben

drastischere Maßnahmen ergreifen. Und so kam es, dass ich mir mit vollem Tatwillen in den Unterarm biss.

»Auaahh…!«

Wenn das nicht hilft…

So, bin ich jetzt wach?

Bei meinem vorsichtigen Blick in den Handspiegel, erfasste mich augenblicklich die niederschmetternde Woge der Erkenntnis: Ich war zweiunddreißig Jahre alt, hatte fettige Haare und leichte Krähenfüße um die Augen herum. Und was der Doc da eben gesagt hatte, war dann wohl die Wahrheit. Ich musste lediglich die Teile meines Erinnerungspuzzles zusammensetzen, um wieder zu Verstand zu kommen. Nur war es so, dass ich überhaupt kein Bedürfnis danach verspürte, mich an den Gaulkötter und seine Söhne zu erinnern. Ich wollte nur zurück nach Hause. Das zu Hause, an das ich mich erinnerte. Zu Alex. Zu meinem Vater. Zu Bjarne und zu Vera. Zurück in mein Leben, so wie ich es kannte. Ich wollte heulen. Aber das würde auch nichts an dieser furchtbaren Situation ändern.

Ich überlegte eine Weile. Was ich dringend brauchte, war mehr Durchblick bei der ganzen Angelegenheit. Ich musste also a) herausfinden, was mit mir geschehen war. Und b) wer ich denn nun wirklich war, was mir wiederum c) eine Heidenangst bereitete, da ich ja nicht wusste, was mich erwartete und ich deswegen d) am liebsten den Kopf in den Sand stecken wollte, in der Hoffnung, dass sich e) alles wie von Zauberhand selbst zum Guten wendete. Ich wollte doch nichts weiter, als jeden Moment gesund und munter zu Hause, in meiner geliebten Penthouse-Wohnung im gehobenen Bogenhausen aufwachen. Ohne fremden Ehemann und dreifacher Nachkommenschaft!

Hoffnungslos ließ ich meinen Kopf zurück ins Kissen sinken und dachte wehmütig an zu Hause. Dort würde mir schon alles wieder einfallen, ohne großartig zu suchen. Dann würde sich dieses Durcheinander gewiss endlich aufklären und ich könnte in aller Ruhe in meinen Luxus Airpool – übrigens eine Sonderanfertigung von Villeroy & Boch – steigen und ein ausgiebiges Entspannungsbad nehmen. Dazu zwei, drei Gläschen Billecart Salmon. Herrlich! Ich konnte es kaum erwarten.

***

Ich musste eingeschlafen sein. Alarmiert schnellte ich hoch, doch die hastige Bewegung erzeugte einen so heftigen Kopfschmerz, dass es sich im ersten Moment anfühlte, als hätte mir jemand mit einer riesigen gusseisernen Pfanne eins über den Schädel gebraten. Postwendend ließ ich mich wieder zurück auf das gummiartige Klinikkopfkissen sinken.

Eine retrograde Amnesie also? Mit solchem medizinischen Fachchinesisch konnte ich nichts anfangen. Und überhaupt sah das alles viel mehr nach einer Verschwörung aus. Aber meine persönliche Einschätzung interessierte hier anscheinend niemanden.

Fakt war demnach, dass ich mich an die vergangenen sieben Jahre meines Lebens nicht mehr erinnern konnte. Und angenommen dieser Julius sagte die Wahrheit, dann bedeutete dies, dass er mein Ehemann war. Aber das war doch paradox, der Mann war definitiv nicht mein Fall. So’n Durchschnittstyp eben. Durchschnittlich groß, durchschnittlich gekleidet, durchschnittlich gebaut, obwohl…, so genau konnte ich das nicht beurteilen. Einerseits kann so ein wallender, weißer Kittel ziemlich gut Problemzonen kaschieren, andererseits wiederrum täuscht er Problemzonen vor, wo gar keine Vorhanden sind. Beim nächsten Mal müsste ich wohl genauer hinschauen, was sich unter dem Kittel meines Ehemanns verbarg.

Ein weiteres Manko bestand definitiv in der allgemein bekannten Tatsache, dass Ärzte im Stationsdienst heutzutage restlos unterbezahlt waren. Demnach hatte dieser Doktor Gaulkötter mich wohl auch kaum mit seinem denkbar dürftigen Einkommen beeindruckt. Im Klartext hieß das: Julius Gaulkötter entsprach weder optisch noch in finanzieller Hinsicht den generellen Ansprüchen einer Frau wie mir. WIESO, um alles in der Welt, war ich dann mit diesem Menschen verheiratet?

Aber damit nicht genug. Noch viel unglaublicher war ja seine Behauptung, dass ich seine drei Kinder zur Welt gebracht haben sollte– noch dazu alle drei am gleichen Tag! Da drängt sich einem doch die Frage auf, wie zum Teufel er das bloß angestellt hatte. Mit Gehirnwäsche?

Von wegen »Mütter lieben ihre Kinder mehr, als Väter es tun, weil sie sicher sein können, dass es ihre sind.« Werter Herr Aristoteles, da muss ich Ihnen leider widersprechen.

Des Weiteren beunruhigte es mich natürlich außerordentlich, in wie weit sich dieser Gaulkötter in meinem Intimbereich auskannte.

Prompt lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Vielleicht war er so eine Art Doktor Frankenstein, der mir heimlich Eizellen entnommen, sie dann mit seinem Sperma befruchtet und mir schließlich wieder eingesetzt hatte. Nur so konnte ich mir die Drillinge erklären.

Heilige Scheiße…, die reinste Horror-Theorie, die sich da gerade in meiner ungeordneten Gehirnmasse zusammenbraute. Einmal eingeschaltet, ließ sich mein Kopfkino nun nicht mehr stoppen und so spann sich das Ganze wie von selbst zu einem Szenario, in dem ich diesem verrückten Gynäkologen selbst mein schmerzhaftes Schädelhirntrauma, inklusive Krankenhausaufenthalt zu verdanken hatte. In meinem persönlichen Horrorfilm versuchte er nämlich, mich außer Gefecht zu setzen, um mir ein zweites Mal besamte Eizellen einzusetzen. Wer weiß, möglicherweise gehörte er einer fanatischen Sekte an, die beabsichtigte, so eine Art moderne Zwölf Jünger zu erschaffen, um irgendwann die Welt zu bekehren…oder so. Die tapfere Stella Edwards, leistete bei seinem erneuten Befruchtungsversuch jedoch so heftigen Widerstand, dass er sie letztendlich nur mit einem gezielten Schlag vor den Kopf mit einer gusseisernen Bratpfanne ruhig stellen konnte. Fortsetzung folgt…

Genau! So musste es passiert sein.

Das alles mochte zwar ein bisschen paranoid klingen, aber in Zeiten, in denen zig durchgeknallte weibliche Teenager die Filmpremiere eines schnulzigen Vampir-Streifens stürmen, um sich von dem blassen, unterernährten Hauptdarsteller (den irrsinnigerweise alle unwiderstehlich finden) mit Schmackes in die Kehle beißen zu lassen – nicht undenkbar! Solchen Irrsinn behauptete zumindest die Titelstory des Frauenjournals, welches ich in meinem Nachtschrank gefunden hatte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass neuerdings Vampirfilme unsere Kinoleinwände eroberten. Keine Frage, es war höchste Zeit meine Erinnerung zurück zu erlangen, bevor mir noch jemand weismachen wollte, Michael Jackson sei tot.

Kopfschüttelnd klappte ich die Illustrierte zu. Doch im nächsten Moment loderte Panik in mir auf, denn eine besorgniserregende Vermutung hatte soeben Besitz von meinem Verstand genommen. Hatte dieser verrückte Arzt es möglicherweise geschafft, sein dämonisches Werk zu vollbringen?

O-Gott-o-Gott, war ich vielleicht schwanger? Diesmal mit Petrus, Judas und Bartholomäus!?

Vor lauter Sorge rubbelte ich wie wild mit den Handflächen über meinen Bauch und versuchte mich mit einem tranceartigen Singsang, der lediglich die Worte »Bitte nicht…, bitte nicht…, bitte nicht…« beinhaltete, zu beruhigen.

Dabei ertastete ich etwas. Etwas, das sich anfühlte wie…eine Narbe!? Kein Zweifel, das war die Narbe eines Kaiserschnitts, an den ich mich zwar nicht erinnerte, die mir jedoch eindeutig verriet, dass dies alles real war. Noch viel deutlicher wurde es mir allerdings, als sich meine Finger langsam über meinen gesamten Bauch vorantasteten und ich dabei mit Entsetzen feststellte, wie schwabbelig sich diese Abteilung anfühlte. Igitt, ich traute mich gar nicht hinzusehen! Es wimmelte ja förmlich von schlabbernden Bauchfalten. Ich versuchte mich zu sammeln.

Jetzt nur nicht wieder hysterisch werden, Stella.

Dagegen gab es mittlerweile hervorragende operative Möglichkeiten! Spontan tauchte das Bild von dem 300 Kilo-Mann aus Hawaii vor meinem geistigen Auge auf, der sich nach einer Radikaldiät seine unzähligen Fettschürzen hatte wegoperieren lassen.

Wer hätte gedacht, dass ich Stella-Sexy-Sixpack-Edwards jemals eine Postnatale Bauchdeckenstraffung in Anspruch nehmen müsste? Das durfte ich gar keinem erzählen!

Stopp! Bevor ich mich mit der Planung irgendwelcher Schönheitsoperationen befasste, musste ich mir zu allererst etwas einfallen lassen, um mich aus den Fängen dieses geistesgestörten Frauenheilkundlers zu befreien. Ich sah schon die Schlagzeile im regionalen Sensationsblatt vor mir:

Millionärstochter

nach sieben Jahren Gefangenschaft

und dreifacher Zwangsbefruchtung

endlich frei!

Wahnsinniger Gynäkologe beteuert Unschuld!

Diesmal hob ich meinen Kopf behutsamer, um dem Bratpfannen-Effekt zu entgehen.

Ich griff zum Handy, das auf dem Nachtschrank lag und wählte instinktiv die Festnetznummer meines Elternhauses, an die ich mich problemlos erinnerte.

Hoffentlich ist jemand zu Hause, betete ich. Mein Vater hielt sich oft in London auf – seiner Geburtsstadt. Dort besaß er ein großzügiges Loft, in das er sich, seit dem Tod meiner Mutter, immer häufiger zurück gezogen hatte. Mein Vater hatte britische Vorfahren. Allenfalls gehörte auch Prinz Charles zu seinen entfernten Verwandten, was sich durchaus an seiner ähnlich ausgeprägten Ohrenpartie erkennen ließ. Zum Glück hatte ich die zierlichen Ohren meiner Mutter geerbt.

Es tutete.

»Ja bitte…?«

Es war eine mir unbekannte Frauenstimme.

»Hallo… ähm, mit wem spreche ich?«, erkundigte ich mich verunsichert.

»Ebner! Und wer sind Sie? «

???

Eilig linste ich auf das Display, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich die richtige Nummer gewählt hatte.

Kein Zweifel. Eindeutig Papas Nummer.

Hm, mal überlegen. Konnte es sich bei dieser Frau Ebner vielleicht um eine neue Hausangestellte handeln?

»Stella Edwards. Könnte ich bitte mit meinem Vater sprechen?«

»Wer?« Sie klang verwundert.

Langes Schweigen. Dann endlich schien sie sich zu entsinnen. Ansatzweise zumindest.

»Edwards…Edwards...? Momenterl, i hob’s glei.«

Die Geistesfrische dieser Dame schien mir nicht gerade die Blühendste zu sein. Also echt, seit wann beschäftigte mein Vater seniles Hauspersonal?

»Ah… ja, freili. Edwards! Tony Edwards, gäi?«, rief sie überschäumend. »Dem g’hoerte doch früher dieses Haus.«

»Gehörte…?« Ich war so perplex, dass ich kein weiteres Wort herausbrachte.

»A sehr netter Mann woar des g’wesn.«

»War…?«

»Gott hob ihn selig.«

Äh… Sekunde..., wie war das eben?

»Soll das heißen…mein Vater ist…tot?«, presste ich mit bebender Stimme hervor. »Seit wann?«

»Sagdn’s ned gerade, Sie wär’n sei Tochter?«

»Ja, ich bin seine Tochter, aber ich leide an Amnesie. Ich kann mich an die letzten sieben Jahre nicht mehr erinnern.« In dem Augenblick war es mir gleich, dass ich einer völlig fremden Frau am Telefon meine Not klagte.

»Mei, Sie Ärmste! I helf Ihna moi auf d’Sprünge. Oiso, i glob es wor im Juli vor sieben Jahrn. A Herzinfarkt, wenn mi ned ois täuscht.«

In einer Art Schockzustand, gelang es mir gerade noch, Frau Ebner aus der Leitung zu schmeißen, bevor mir das Telefon aus der verkrampften Hand glitt.

Mein Vater war tot. Das hörte ich heute zum ersten Mal.

Sieben Jahre war er bereits tot. Diese Zahl verfolgte mich. Wieso war er ausgerechnet vor sieben Jahren gestorben? Genau da, wo meine Erinnerung verblasste. Hatte sein Tod vielleicht sogar etwas damit zu tun? Auch wenn ich gegenwärtig nicht viel wusste, so ahnte ich doch, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Ich musste dieser ganzen verzwickten Sache auf den Grund gehen und zwei existentielle Dinge herausfinden.

Erstens: Wieso hatte ich kurz nach dem Tod meines Vaters ein neues Leben mit diesem Gaulkötter begonnen? (Das alte war doch wirklich mehr als phantastisch gewesen).

Und zweitens: Gab es ein Testament?

Wobei zweitens sich ganz besonders existenziell in Hinblick auf meine ramponierte Bauchdecke bezog. Jammerschade, dass der Gaulkötter nicht Schönheitschirurg war. Wer brauchte schon einen Mösenklempner?

Wehmütig dachte ich an meinen Vater. Er war nicht mehr der Jüngste gewesen. Bei meiner Geburt war er schon so alt gewesen, dass die Hebamme ihn als frischgebackenen Opa beglückwünschte, nachdem er schweißüberströmt direkt nach einem unaufschiebbaren Finanzgeschäft in den Kreissaal gestürmt war. Leider mit 20-minütiger Verspätung, was nach Ansicht meiner Mutter vermeidbar gewesen wäre, hätte er anstelle des Taxis mal lieber den Ferrari genommen.

Laut meiner noch vorhandenen Erinnerung, hatten mein Vater und ich stets ein sehr solides Vater-Tochter Verhältnis zueinander. Im Gegensatz zu meiner Freundin Vera, die mit ihrem Vater weniger Glück hatte. Wolf Merlinger war ein geachteter Experte im Pharmabereich. Durch Zufall fand Vera heraus, dass er sich in Kooperation mit seiner 24-jährigen Sekretärin als Proband für ein neues Potenzmittel-Experiment zur Verfügung gestellt hatte. Gleich im Anschluss beteiligten sich die beiden freiwillig an einer Testreihe, für ein homöopathisch wirksames Präparat, zur postkoitalen Empfängnisverhütung, das nach Forschungsabschluss mit dem Prädikat untauglich ausgezeichnet und aus dem Verkehr gezogen wurde. Damals empfand ich aufrichtiges Mitleid für Vera, nicht nur, weil die neue Frau an Wolfs Seite Vera prompt den Geldhahn zudrehte, sondern weil sich ihr neuer kleiner Halbbruder (den sie nur das Experiment nannte) als wahrer Satansbraten entpuppte, der Vera das Teenager-Leben zu Hölle machte.

Tja… so viel stand fest, mein Vater würde mich schon mal nicht hier rausholen. Ich musste also beginnen, in meinen verwüsteten Erinnerungsschubladen zu stöbern, auf der Suche nach Hinweisen, die mir Aufschluss über Vaters Tod und den möglichen Zusammenhang mit meinen Erinnerungslücken geben konnten. Aber so sehr ich auch stöberte. Ich fand nichts. Das Einzige was mir spontan in den Sinn kam war Folgendes:

Ich war 22 und hatte gerade erfolgreich mein Modedesignstudium – unter anderem an der Parsons New School of Design in New York – abgeschlossen und einen Vertrag bei dem aufstrebenden, jungen süddeutschen Modelabel Municorn unterschrieben. Ich sprühte förmlich vor Ideen und war voller Ehrgeiz. Ich wollte ein unentbehrlicher Teil des Unternehmens werden, indem ich mit innovativen Konzepten brillierte. Meine ganze Aufmerksamkeit galt ausschließlich der Arbeit, denn ich hatte es auf den begehrten Posten der Vize-Chefdesignerin abgesehen. Logisch, dass mir kaum Zeit blieb, mich über die Geschäfte meines Vaters auf dem Laufenden zu halten, geschweige denn großes Interesse daran aufzubringen. Und überhaupt, wer blickte schon bei all den zahlreichen Transaktionen innerhalb der komplexen Businesswelt durch? Von so was hatte ich nun wirklich keine Ahnung.

Eher zufällig war mir zu Ohren gekommen, dass es Wirbel um einen Millionendeal mit einer wichtigen US-Gesellschaft für neuste Computertechnologien gab. Besagter Handel wäre damals um ein Haar nicht zustande gekommen, hätte mein Vater nicht in letzter Sekunde einen der herausragendsten jungen Unternehmensberater, den die Branche zu bieten hatte, zu Rate gezogen. Alexander Ahlborn!

Ahlborn, der nicht nur in München, sondern auch in anderen Europäischen Wirtschaftsmetropolen erfolgreich tätig war, rettete Vaters Konzern für Softwareentwicklung in letzter Sekunde vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Parallel kurbelte er den Handel und sämtliche Transaktionen meines Vaters soweit an, dass er innerhalb eines Jahres, fast doppelt so hohe Renditen erzielte. Daraufhin schenkte mein Vater ihm sein vollstes Vertrauen und ernannte Alexander Ahlborn zum stellvertretenden Geschäftsführer, um die Zukunft seiner Firma weiterhin zu sichern.

Eines Abends lud mein Vater Alexander zum Essen in seine Grünwalder Villa ein. Ich wohnte seit kurzem in Bogenhausen, doch sooft mein vollgestopfter Terminkalender es zuließ, aß ich bei meinem Vater, der von jeher die exzellenten Künste eines französischen Privatkochs in Anspruch nahm. Ich gebe zu, dass sich mir persönlich die Grundsätze des passablen Kochens bislang noch nicht erschlossen hatten. Aber um ehrlich zu sein, fehlte mir schlicht die nötige Motivation, mich selber in die Küche zu stellen und mir ein Abendessen zu kochen. Dabei glänzte meine nagelneue Küche mindestens genauso schön, wie Kojaks Glatze und wartete nur darauf, endlich ihre Jungfräulichkeit zu verlieren.

Nein wirklich, die Küche war nicht meine Domäne. Mir graute es vor Aktivitäten wie Braten, Rösten, Dünsten oder Frittieren, welche unbestritten fettige und klebrige Kochrückstände auf meiner keimfreien, sorgfältig polierten Küchenarbeitsplatte hinterlassen würden. Und erst die Vorstellung von fettigen und klebrigen Kochrückständen an meinen hochwertigen Designerstücken. Iiiihhh!

Der Abend, an dem ich Alexander Ahlborn zum ersten Mal begegnete, war unvergesslich. Diese himmelblauen Augen, das dichte blonde Haar und vor allem sein muskulöser Körperbau. Ich wusste, diesen Mann würde ich eines Tages heiraten. Alexander sah umwerfend aus, in seinem maßgeschneiderten dunkelblauen Armani-Zweireiher. Der harmonierte wirklich perfekt mit meinem seidenweißen Prada-Ensemble. Zu schade, dass wir damals kein Erinnerungsfoto gemacht hatten. Den ganzen Abend klebte ich förmlich an Alexanders Lippen, wenngleich ich kaum ein Wort von dem verstand, was er vornehmlich mit meinem Vater besprach. Trotzdem täuschte ich brennendes Interesse vor, nickte hin und wieder und kommentierte halbwegs verständliche Passagen mit »O Tatsächlich…? und »wie interessant…« oder »Genau das wollte ich auch gerade sagen!«

Kein Zweifel, ich hatte mich in Alexander Ahlborn verliebt und ich hoffte inständig, dass es ihm genauso ging.

***

Ein Klopfen.

»Herein!«

Da ich keine Bettnachbarn hatte (das wäre ja noch schöner gewesen), war der Besuch, der sich hier ankündigte offenbar für mich.

Ich setzte mich in meinem Bett auf. Möglicherweise beehrte mich zur Abwechslung mal jemand, den ich kannte. Vielleicht Alex!? Voller nervöser Vorfreude rutschte ich auf meinem Hintern hin und her. Jede Wette, dass ich schon ein Druckgeschwür am Arsch hatte, so höllisch weh wie der mir tat. Diese patientenfeindliche Matratze sollte man auf der Stelle verbrennen.

Die Tür öffnete sich.

»Hallo Liebes! Wie geht’s dir? Julius hat mir schon erzählt, dass du dich an nichts erinnerst. Das ist ja furchtbar, du Ärmste! Aber das wird schon wieder. Hauptsache du bist endlich wieder wach...! Gut siehst du aus! «

Verunsichert studierte ich das namenlose, von unzähligen Falten durchzogene Gesicht und verfolgte die Bewegungen der grellrot geschminkten schmalen Lippen.

RUMMS!

Ehe ich mich versah, ließ die komische Alte, deren Stimme mich an einen Papagei erinnerte, sich auf die Bettkante plumpsen und erwischte dabei mein rechtes Bein. Ihr knochiger Hintern bohrte sich schmerzhaft in meinen Oberschenkel. Der bizarre Anblick der Seniorin fesselte mich jedoch so sehr, dass der Schmerz unheimlich schnell abebbte. Ich war nahezu hypnotisiert, von dem megaglänzenden Violett ihrer hautengen Polyesterleggins, die ihre spindeldürren Beinchen ziemlich unvorteilhaft betonten. Noch viel schlimmer waren die abgewetzten Pumps aus hellbraunem Lederimitat, die sie dazu kombinierte, aber der puderrosafarbene Angorapullover, der auf jeden Fall zu heiß gewaschen worden war, der ging gar nicht.

Und was zum Geier sollte diese merkwürdige Kreuzung aus einem Rucksack und einer Perserkatze darstellen, welche sie bei sich trug?

Ganz selbstverständlich platzierte sie das wollweiße, flauschige Etwas auf meinen Füßen, öffnete den Verschluss und begann wie wild darin herum zu kramen. Unfassbar, das Ding hatte tatsächlich Ohren!

Halleluja! Diese Frau war der Inbegriff miserablen Stilempfindens. Aber wer um alles in der Welt war diese Person und vor allem, was wollte sie von mir?

»Jetzt sag doch auch mal was, Kind!«, forderte sie lächelnd und entblößte dabei eine Reihe maisgelber Zähne, an denen rote Lippenstiftreste klebten. Sie war starke Raucherin, was man nicht nur sehen konnte – man roch es auch.

Ich schluckte und versuchte etwas zu sagen, konnte aber partout nicht aufhören, sie anzustarren. Sie sah steinalt aus. Dabei war sie höchstens siebzig, extrem kachektisch und ihr um drei Nuancen zu dunkel geschminktes Gesicht war so runzelig wie eine vergammelte Kartoffel. Der Ansatz ihrer blass roten – dank einer Tonne Haarspray Ultra-stark –versteinerten Dauerwelle war grau.

Ich kannte sie zwar nicht, aber irgendetwas in meinem Inneren sagte mir, dass ich sie gemocht haben musste, bevor ich vergessen hatte, wer sie war.

»Tja...ähm...«, verlegen kratzte ich mich am Kopf.

»Lotte! Liebes«, offenbarte sie mir mit einem jovialen Lächeln, während sie noch immer in dem Plüschrucksack mit Ohren herumwühlte. »Du kannst mich ruhig Mutti nennen. So wie früher.«

Mutti???

Blankes Entsetzen befiel mich. Ich betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Nein!das war definitiv nicht meine Mutti, zumal meine Mutter nicht mehr lebte.

Endlich ließ die Mutti namens Lotte von ihrem seltsamen Katzenrucksack ab und zog ihre faltige Hand heraus.

»Kaugummi?«, bot sie mir an.

»Eine Zigarette wäre mir lieber…«

Lotte beäugte mich argwöhnisch, dann peilte ihr Blick die Balkontür des Krankenzimmers an.

»Gute Idee, Liebes. Aber lass dich bloß nicht von Julius erwischen. Du weißt ja, wie er das Rauchen hasst. Ich dachte, du hättest längst damit aufgehört.«

Sie griff erneut in ihren Rucksack und zückte eine Schachtel Menthol Slim Zigaretten. Extra long.

»Aufgehört...?« Da wusste sie anscheinend mehr als ich.

Immer noch steif vom vielen Liegen, quälte ich mich hoch und stieß dabei auf unerwarteten Widerstand. Ich warf einen Blick unter meine Bettdecke und schob das Krankenhausnachthemd ein Stückchen hoch.

Was zum Kuckuck…? Entgeistert starrte ich auf den merkwürdigen Schlauch, der an dem einen Ende mit meinem hhrhm… Unterleib und am anderen mit einem ominösen Plastikbeutel verbunden war. Und dessen flüssiger Inhalt, sah mir sehr verdächtig nach etwas aus, das man von Haus aus ungern mit sich herumschleppt und noch ungerner öffentlich zur Schau stellt. Lautlos verfluchte ich den Katheter samt prallgefülltem Beutel und versuchte, mich von der Bettkante hochzuhieven, was mir natürlich nicht gleich gelang.

Lotte inspizierte mein Anhängsel, irgendwann sagte sie: »Bei drei...«, drückte mir den Urinbeutel in die Hand und griff mir stützend unter die Arme.

»Eins, zwei und…drei!« Ein Ruck und ich stand auf den Beinen. So viel Kraft hatte ich dieser klapprigen Person gar nicht zugetraut.

Sofort spürte ich einen unangenehm kühlen Luftzug durch meinen Hospitalfetzen wehen. Dieses hellblaugeblümte Teil gewährte wirklich ein ausgezeichnetes Panorama auf mein Hinterteil, das bloß mit einem Netzhöschen bekleidet war.

Mit halbnacktem Arsch und einem randvollen Katheterbeutel in der Hand, setzte ich wackelig einen Fuß vor den anderen. Erniedrigender ging‘s nun wirklich nicht. Im Gegensatz dazu stellten meine unrasierten Waden, die in wenig erotischen Thrombosestrümpfen steckten, lediglich ein peripheres Übel dar. Also, jetzt konnte mich wirklich nichts mehr schockieren. Ich befand mich ja praktisch in einem Dauerschockzustand – oder unter dem Einfluss von Rauschmitteln. Allenfalls illegale. Hinzu kam, dass mein Verlangen nach einer Zigarette von Sekunde zu Sekunde stärker wurde.

Ich schlüpfte in ein Paar anatomisch geformte Latschen, das neben dem Bett stand. Schön sahen die nicht aus, aber gesund. Ich warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Der verhangene Himmel verhieß nichts Gutes. Alles in Allem sah es verdammt ungemütlich aus da draußen.

Sobald ich aus dieser Klinik raus war, würde ich umgehend einen Flug nach Nizza buchen und den Rest des Winters im milden Monte Carlo, in unserem Ferienhaus verbringen. Ich kann‘s kaum erwarten.

An einem Haken hing ein Morgenmantel aus Frottee, der zu seinen besseren Zeiten wohl blau war. Spätestens, wenn ich meine eigene Garderobe wieder gefunden hätte, würde dieses Ding im Kamin landen. Doch vorerst warf ich ihn mir über.

Ich folgte meiner vorgeblichen Schwiegermutter auf den Balkon. Eisige Kälte schlug mir entgegen, was meine nackten Zehen in den AOK-Tretern gar nicht gut hießen und auf der Stelle taub wurden. Aber egal. Mittlerweile hatte ich nur noch einen einzigen, alles überbietenden Gedanken: »Her mit der Fluppe, aber dalli!«

»Nach so einer Woche Koma sind die Entzugserscheinungen echt mörderisch«, erklärte ich, während Lotte mir die Schachtel anbot. Ein kurzer skeptischer Blick von ihr streifte mich, bevor sie mir ein Feuerzeug vor die Nase hielt.

Gierig saugte ich an meinem Glimmstängel. Postwendend breitete sich ein Kratzen in meinem Hals aus, es folgte ein Erstickungsanfall und die, mit einigen Sekunden Verzögerung eintreffende, Schwindelattacke zwang mich dazu, mich auf den frostklirrenden Balkonfußboden plumpsen zu lassen. Lotte kauerte sich in aller Ruhe neben mich und klopfte mir auf den Rücken.

»Du musst gleich noch mal dran ziehen, dann wird ’s besser. Glaub mir, Liebes.«

Ich schaute gequält in ihre wässrig-blauen Augen, die mich freundlich anlächelten und befolgte ihren Rat. Ein kräftiger Zug und ich war von neuem benebelt.

»Ganz schön stark«, ächzte ich heiser. »Dabei sehen diese dünnen Dinger so harmlos aus!«

»Wann hast du denn wieder angefangen mit dem Rauchen?«

Da war ich eindeutig überfragt. Ich zuckte mit den Schultern, zog abermals an der Zigarette und versuchte, den aufkommenden Hustenanfall zu unterdrücken.

Lotte raffte sich am Balkongeländer hoch, während ich unten sitzen bleib. Ich blickte auf meine angefrorenen Zehen. Ups, unbedingt einen Termin bei der Pediküre machen, notierte ich mir auf einem imaginären Merkzettel in meinem Kopf.

»Ich hab dich in all den Jahren nie rauchen gesehen«, bemerkte Lotte.

»Ich kann mich an all die Jahre nicht erinnern!«

Eine Mischung aus Verzweiflung und Wut über diese Tatsache keimte in mir auf. Mürrisch schnipste ich die Asche weg. In diesem Moment wurde die Balkontür aufgerissen und mein hypothetischer Angetrauter, Doktor Julius Gaulkötter, stürzte auf mich zu.

»Mutti, was ist passiert!?«, rief er alarmiert in Lottes Richtung. Doch bevor Lotte etwas erwidern konnte, griff er mir auch schon unter die Achseln, um mich hochzuziehen.

»Stella, Schatz, geht’s dir nicht gut?« Vor lauter Beunruhigung vibrierte seine Stimme. »Warum hockst du hier draußen auf dem kalten Fußboden? Und was in Gottes Namen ist das?« Sein entsetzter Blick heftete sich auf die Zigarette.

»Also, ein Knollenblätterpilz ist es schon mal nicht. Und auch sonst nichts, was einen umbringt, zumindest nicht gleich.«

Meine mokante Bemerkung stieß bei Julius auf wenig Beachtung. Dafür hatte ich den Eindruck, Lotte im Hintergrund kichern zu hören.

»Sei doch vernünftig, Stella und wirf die Zigarette weg. Du bist Nichtraucherin!« Sein Griff wurde fester. »Stella, bitte, steh auf, du holst dir den Tod!«

Dieses ewige Stella, Stella nichts als Stella stimmte mich urplötzlich aggressiv. Wütend schnippte ich die Zigarette vom Balkon.

»Finger weg!«, zischte ich Julius an und wehrte mich rigoros gegen seinen Griff. Entgegen meiner Erwartung ließ er von mir ab und wich einen Schritt zurück. Und da ich noch nicht fest auf meinen Füßen stand, kippte ich nach hinten weg. Auch mein dynamisches Armrudern half nicht, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Mit einem unartikulierten Quieker ging ich zu Boden und landete auf meinem Steißbein, überzeugt davon, dass es nun auf jeden Fall gebrochen war. Mein Schmerzschrei scheuchte ein paar Tauben auf, die auf dem benachbarten Balkongeländer kauerten. Inzwischen hatten wir auch etliche Zuschauer, die die Szene gespannt von den umliegenden Balkons verfolgten.

Habt ihr keinen Fernseher auf eurem Zimmer, oder was?

Das alles war zu viel für mich. Wie ein verschrecktes Tier verkroch ich mich tief in der Ecke des Balkons und zog meine Beine eng an meinen Körper. Mir war schweinekalt. Im nächsten Moment machten meine Zähne sich selbstständig und klapperten wie Kastagnetten beim Flamenco, während mein ungehemmtes Schluchzen sie melodisch dazu begleitete. Ich war ein einziges Häufchen Elend, und die Vorstellung, dass die Kombination aus Erfrieren und zu Tode Schluchzen nicht gerade als das Nonplusultra der Sterbearten zu bezeichnen war, verschärfte die Situation vollends, aber wer konnte sich das schon aussuchen? Doch als wäre das alles nicht schon schlimm genug, setzte schlagartig ein monumentaler Platzregen ein, der innerhalb von Sekunden mein Netzhöschen einschließlich Inhalt unter Wasser setzte.

Irgendwann hatte Lotte es geschafft, mich dazu zu überreden, wieder ins Zimmer zurückzukehren. Ihre raue, tiefe Stimme hatte in dem Moment etwas Beruhigendes. Mit festem Griff führte sie mich – inklusive meines unappetitlichen Anhängsels – hinein, gefolgt von einem schweigenden Julius Gaulkötter. Er beobachtete mich geknickt, während ich wie eine gebrechliche Urgroßmutter ins Bett zurückkroch. Aus mir unerklärlichen Gründen, konnte ich es nicht ertragen, dass er mich so sah. Ich wollte, dass er ging. Schließlich war er ja trotz seines weißen Kittels nicht mein Arzt, sondern nur mein unliebsamer Ehemann.

Etwas pampig gab ich ihm zu Verstehen, dass er verschwinden solle. Er habe doch mit Sicherheit noch jede Menge Eizellen zu befruchten.

Mit geneigtem Kopf schlich Julius aus dem Krankenzimmer. Dennoch fing ich einen letzten deprimierten Blick von ihm ein, bevor er die Tür schloss. Na endlich. Den war ich los. Vorerst.

Kurze Zeit später verabschiedete sich auch meine Schwiegermutter. Sie müsse zum Seniorensport, den sie zwar stinklangweilig finde, aber wegen des sympathischen und knackigen Gymnastiklehrers auf keinen Fall verpassen dürfe. Eijeijeijeijei, eine Oma die auf schwule Sportlehrer in viel zu engen Shorts stand. Was kannte ich bloß für schräge Leute?

Ich sank ins Kopfkissen.

Ungeduld machte sich breit. Wann begannen die endlich mit der Therapie?

Allmählich hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Meine Vergangenheit, so wie ich sie in Erinnerung hatte, wurde unweigerlich von diesem Albtraum aus lauter mutmaßlichen Familienangehörigen inklusive schrulliger Schwiegermutter entmachtet. Und ich konnte nichts dagegen tun.

Ich war wirklich gespannt, was mich noch erwarten würde. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gebracht, klopfte es an meiner Zimmertür.

»Ja bitte!«

»JUHUUU!«

Wer war das denn nun schon wieder?

»Süße, was machst du bloß für Sachen?«, zwitscherte eine kernige Blonde, deren geschwollene Füße in biologisch abbaubaren Gesundheitssandalen steckten, und trampelte meinem Krankenbett entgegen. Inspirativ ging ich in Deckung, ließ sie jedoch keine Sekunde aus den Augen.

Sie war schätzungsweise eins-achtzig groß und mindestens genauso breit. Bei näherer Betrachtung bekräftigte sich mein Verdacht, dass es sich bei ihrer olivgrünen Jacke um ein ausrangiertes Bundeswehrzelt handelte. Also nein, diese Person stammte definitiv nicht aus meinem Bogenhausener Bekanntenkreis. Niemand kleidete sich dort derart rustikal.

Als sie mich angrinste, erkannte ich eine breite Zahnlücke zwischen den beiden vorderen Schneidezähnen. Sie sah ein bisschen aus wie Vanessa Paradis – allerdings mit Schuppenflechte und erheblich mehr Wassereinlagerungen.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Machst du Witze, meine Süße? Sag bloß, du erkennst deine Susi nicht?«

Ihr beharrliches Grinsen machte mich irgendwie nervös.

Meine Süße…???

Auweia, war sie möglicherweise meine heimliche Geliebte?

War ich neuerdings auch noch bisexuell? Herrgott nochmal, diese Unwissenheit machte mich noch wahnsinnig!

Die fremde Frau kam näher. Ihr Dekolleté war wirklich furchteinflößend. Mit Mühe unterdrückte ich einen Hilferuf und konzentrierte mich stattdessen auf meine Atmung.

»Ich bin’s. Susann!«, half sie mir auf die Sprünge. Doch ich glotzte sie nur begriffsstutzig an und wich so weit wie irgend möglich in meinem Bett zurück. Mein Kopfkissen war schon ganz platt. Postwendend erntete ich einen verständnislosen Blick ihrerseits und dann sagte sie fast vorwurfsvoll: »Susann Holzbaum, deine beste Freundin und Lieblingsnachbarin.«

Natürlich machte es trotzdem nicht Klick. Da konnte sie ihren Quadratschädel so weit vorstrecken, wie sie wollte.

Im Gegenteil. Diese ganze Situation erschöpfte nun auch den bescheidenen Rest meiner Geisteskraft und mit einem Mal spürte ich wieder diese innere Unsicherheit, die sich stetig in Aggression transformierte.

»Verdammt noch mal… Lasst mich doch alle in Ruhe.

Ich kenne weder Sie noch sonst irgendwelche Nachbarn. Ich weiß ja nicht einmal, wo ich jetzt überhaupt wohne!«

Meine Offensive schien diese Sandalen-Suse nicht sonderlich zu beeindrucken, stattdessen trällerte sie: »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe«, und hielt mir eine Porzellanschale mit unbekanntem Inhalt vor die Nase. Da ich mir nicht sicher war, ob es sich bei der seltsamen grünen Pampe um etwas Essbares handelte oder um etwas, das schon mal gegessen wurde, glotze ich sie nur verdutzt an. Ich wollte ihr gerade die alles entscheidende Frage stellen, da enthüllte sie: »Ich hab’s nach deinem Spezialrezept zubereitet, Stella. Probier mal!«

Während ihr scheinbar das Wasser im Mund zusammenlief, begutachtete ich angeekelt den giftgrünen Mansch in der Schüssel. Na schön, kochen hatte ich also immer noch nicht gelernt.

»Und was soll das bitte sein? Wie isst man das? Pur?«

Das breite Dauergrinsen verflüchtigte sich schlagartig aus Suses Gesicht.

»So schlimm ist es also? Ein Jammer!«

»Was meinen Sie damit?«

»Na, dass du dich nicht mal mehr an deine eigene preisgekrönte, biologisch wertvolle Grünkohlsuppe erinnern kannst. Das ist einfach furchtbar!«

Mir fehlten die Worte.

»Kalorienarm und Nährstoffreich«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Preisgekrönte Grünkohlsuppe? Jetzt machen Sie aber Witze!«

»Süße, könntest du wenigstens aufhören, mich zu Sie’zen.«

»Ich bin nicht Ihre Süße. Hör’n Sie gefälligst auf damit!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und eine junge Krankenschwester brachte ein Tablett herein.

»Abendessen, Frau Gaulkötter.«

»Unterlassen Sie es bitte, mich so zu nennen!«, dozierte ich in geschärftem Ton.

Das junge Ding stellte kleinmütig das Tablett ab und wünschte mir kaum hörbar einen guten Appetit. Suse verzog angewidert ihr Gesicht, als ich den Deckel vom Tablett hob.

»Das willst du doch nicht im Ernst essen?«, erkundigte sie sich empört.

Merkt die nicht, dass sie nervt?

»Wieso nicht? Ich hab riesigen Kohldampf. Immerhin hab ich eine ganze Woche lang nichts gegessen«, entgegnete ich unbeirrt und griff zu der Scheibe Brot auf meinem Teller. Na ja, eigentlich vermied ich es ja, Kohlenhydrate zu essen, besonders am Abend. Aber allemal besser, als diese grüne Bio-Grütze, die sie mir die ganze Zeit andrehen wollte.

Ich zögerte nicht länger, legte eine Scheibe Käse auf meine Brotscheibe und biss genüsslich hinein.

»Um Gottes Willen, Stella! Weißt du eigentlich, was du da isst?«

Was wollte diese aufmüpfige Person eigentlich von mir?

»Äh…Brot!?«, gab ich verunsichert zurück. Zugegeben, ich hatte schon Besseres, als diese gräuliche, vertrocknete Stulle gegessen.

»Das ist mit Sicherheit das minderwertigste Fabrikbrot, das ich je in meinem Leben gesehen habe!« Suses Stimme klang so gepeinigt, als hätte man sie gezwungen Glasscherben zu essen, wobei sie die wahrscheinlich bereitwilliger verspeist hätte, als das minderwertige Brot.

»Ich fass’ es nicht Stella. Dann spül es wenigstens mit der Suppe runter, um den Rest deiner Würde als Ökokostlerin zu wahren.«

»Was soll ich sein? Sie spinnen wohl!«, rief ich voller Verblüffung und verschluckte mich dabei fast an den staubtrockenen Brotkrümeln.

Suse, ihrerseits ebenso bedeppert, stand anscheinend kurz vor einem Herzinfarkt. Ihr Atem pfiff plötzlich ganz komisch.

Also gut. Dann wollte ich mal nicht so sein. Ich hatte wirklich keine Lust darauf, dass diese nervige Person mir, infolge akuten Herzversagens, demnächst noch in einem der Nachbarbetten Gesellschaft leistete, nur weil ich ihre dämliche Grünkohlsuppe nicht probieren wollte.

Und die Wahrheit war, der Krankenhaus-Käse schmeckte wie eingeschlafene Füße.

Ich stippte vorsichtig ein Stück Brot in die Suppe und probierte. Wow, war das köstlich!

Also, das hatte ich weiß Gott nicht erwartet, so unappetitlich wie das Zeug aussah. Gierig tunkte ich das Brot erneut in die Suppe und auf einmal musste ich an meine allererste Begegnung mit Beluga-Kaviar denken. Damals war ich sechs und keineswegs begeistert von den unattraktiven Delikatessen, die anlässlich meiner Einschulung das Festtags-Büfett zierten. Ich bezweifelte, dass irgendetwas davon lecker schmecken sollte, entschied mich aber letztendlich für den Kaviar, der sich gegen panierte Kopffüßler (euphemistisch »Calamaris«), gegrillte Riesengarnelen und krüppelige Austern hatte durchsetzen können.

»Probier ihn. Du wirst ihn lieben, Stella!«, hatte meine Patentante Rosi mir prophezeit. Im Wahrsagen war sie allerdings noch nie gut gewesen. Um es mit anderen Worten auszudrücken, eine ihrer Vorahnungen hatte meine schwangere Mutter trügerischerweise dazu animiert, himmelblaue Babygrundausstattung im Wert eines Kleinwagens zu erwerben, und da meine Mutter die kuriose Angewohnheit besaß, niemals etwas umzutauschen, glaubte alle Welt in den ersten Monaten meines Lebens, ich wäre tatsächlich der ersehnte Stammhalter.

Aber um noch mal auf das eigentliche Thema zurückzukommen, seit jenem denkwürdigen Tag, war ich vorsichtig, was unansehnliche Lebensmittel betraf. Und Tante Rosi trug seitdem keine offenen Schuhe mehr in meiner Gegenwart.

In Suses Gesicht kehrte Leben zurück. Beinahe freudig beobachtete sie mich beim Essen. Feine Schweißperlen leuchteten auf ihrer Nase und der Stirn. Sie zog sich einen Stuhl heran, auf den sie sich mit pathologischen Atemgeräuschen plumpsen ließ.

»Die anderen sind schon ganz aus dem Häuschen, seit sie wissen, dass du wieder aufgewacht bist«, offenbarte sie mir.

»Welche anderen?« Gab es etwa noch mehr von ihrer Sorte? Ganz ehrlich, diese eine war im Prinzip schon eine zu viel!

»Na, die anderen aus der grünen Gruppe. Sie hatten schon befürchtet, du könntest dieses Jahr nicht mit deinem berüchtigten Bio-Karotten-Zucchini-Soufflé teilnehmen– bei der diesjährigen Meisterschaft der originellsten, selbstgemachten Bio-Mahlzeit, bayrischer Hausfrauen. Du hast immerhin schon zweimal gewonnen. Erinnerst du dich?«

Grüne Gruppe, Bio-Karotten-Zucchini-Soufflé???

Das wurde ja immer besser. Und apropos bayrische Hausfrau, ich war ja nicht mal eine richtige Bayerin. Mein Vater war zur Hälfte Brite und meine Mutter war damals nur ihm zuliebe von Hamburg nach München gezogen. Ich hatte sämtliche Metropolen dieser Welt gesehen, war quasi dort aufgewachsen. Ich war ein Glamourgirl und kein vertrocknetes bayrisches Dorfmütterchen, das in Gesellschaft von lauter Ökotrullas in der Küche mit Biogemüse herumhantierte.

Und ›nein, verdammt!‹ ich erinnerte mich nicht daran, bei so einer beknackten Naturkost-Veranstaltung irgendwelche Preise für ökologisch-wertvolle Gerichte gewonnen zu haben. Das war ja wohl der Witz des Jahrhunderts, nein – des Jahrtausends. Und überhaupt, wie konnte diese Person sich erdreisten, sich als meine beste Freundin zu bezeichnen?

Amnesie hin oder her. Nicht mal nach einer Gehirnamputation hätte ich vergessen, dass ich – Stella Edwards – mich prinzipiell nicht mit Heim- und Herdtussis abgab.

Mal im Ernst, verglichen mit meinen alten Freunden, wirkte diese Suse wie ein armseliges Plastikarmband aus einem Kaugummiautomaten, das versehentlich in der samtüberzogenen Schmuckschatulle zwischen dem Smaragtcollier, den goldenen Chopard-Ohrringen und der Breitling gelandet war.

Ich tränkte die zweite Scheibe Krankenhausbrot in der Grünkohlsuppe und aß. Ein Glück, dass das Zeug kalorienarm war.

»Besten Dank für die Suppe«, bekundete ich schnippisch, »…aber wie Sie sehen, bin ich noch nicht ganz fit. Ich brauche meine Ruhe, um mein Gedächtnis wiederzufinden. Am besten Sie gehen jetzt. Mit mir kann man im Augenblick sowieso nicht viel anfangen.« Ich simulierte ein ausgedehntes Gähnen.

Mit asthmatischer Atmung erhob Suse sich vom Stuhl.

»Verstehe ich, Süße. Werd’ erst mal richtig gesund und wenn du wieder zu Hause bist, komm ich vorbei. Dann können wir endlich an unserem neusten Rezept weiter tüfteln. Dabei wird dir bestimmt alles wieder einfallen. Ich freu’ mich schon. Also erhol’ dich schnell!«

Ich atmete erleichtert auf, als endlich die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Was sie da vorhin erzählt hatte, war einfach so was von unglaublich. Das war nicht ich!

Ich hatte gar keine Amnesie. Das hier war tausendmal schlimmer! Vielmehr war ich der Auffassung, an einer gravierenden Form von multipler Persönlichkeitsspaltung zu leiden. Und keine der beiden Stellas wusste offenbar etwas von der Existenz der anderen. Wie sonst sollte ich mir erklären, dass ich regelmäßig bei Konkurrenzkämpfen im Naturkostbereich alle möglichen Preise absahnte, mich aber nur an eine einzige nennenswerte Auszeichnung in meinem Leben erinnern konnte. Nämlich an den Siegertitel bei der Wahl zur Miss Oberstufe, im Jahre 1999.

Ein fieser Schauer lief mir über den Rücken, als ich an den unabwendbaren Moment dachte, in dem meine zweite Persönlichkeit »das grüne Monster« in mir erwachen und ich mich wieder in Stella Gaulkötter verwandeln würde. Meine rechte Hand schnellte hoch. Von Panik ergriffen drückte ich auf den roten Alarmknopf. Ich war eindeutig behandlungsbedürftig!

Grünkohlsuppen-Blues

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