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Todesengel

Die Augen der jungen Frau waren geschlossen. Obwohl die Sonne bereits aufgegangen war, schlief sie tief und fest. Ihr langes, blondes Haar lenkte den Blick auf ein mädchenhaft wirkendes Gesicht, dessen ebenmäßige Züge für den Betrachter schön anzuschauen waren. Die Rucksacktouristin hatte sich in ihren Schlafsack wie in eine Decke eingehüllt. In unregelmäßigen

Abständen kam ein Knie, ein Fuß oder ein Arm zum Vorschein. Einmal war sogar das entblößte Bein bis zum Oberschenkel zu sehen gewesen. Allem Anschein nach war die junge Frau eher zierlich gebaut. Wenn überhaupt, dann war die an dem schwer zugänglichen, felsigen Abschnitt des Strandes Liegende nur sehr spärlich bekleidet. Vermutlich war die Abgelegenheit des Strandabschnitts der Grund dafür gewesen, dass sie sich hier Menschenseelen allein zum Schlafen niedergelassen hatte. Die stark befahrene Straße mit all ihrem Lärm drang nicht bis zu der kleinen Bucht. Dafür sorgte das Rauschen des Meeres für eine Geräuschkulisse, die einerseits etwas Beruhigendes an sich hatte, zugleich aber auch dafür sorgte, dass leise Schritte am Strand kaum wahrnehmbar waren.

Die Blicke des Motorradfahrers ruhten bereits seit mehreren Minuten auf diesem Bild. Er hatte an der Straße eigentlich nur kurz gehalten, um zu urinieren. Auch er hatte sich für diese Stelle entschieden, weil er hoffte, hier unbeobachtet zu sein. Diese Erwartung hatte ihn nicht getrogen. Weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken. Allein die junge Frau lag da unten, verführerisch wie eine unberührte Blume, die darauf wartete, gepflückt zu werden. Unwillkürlich musste er an das kleine Liedchen denken, dass ihm seine Mutter oft vorgesungen hatte. „Sah ein Knab’ ein Röslein stehn, Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heide...“. Der richtige Text fiel ihm nicht mehr ein. Aber an das Ende vom Lied, an das glaubte er sich ganz genau zu erinnern. Der Biker spürte die Wärme der Sonnenstrahlen und zog es vor, seine schwere Ledermontur zunächst ein wenig zu öffnen. Unschlüssig suchte sein Blick wieder und wieder die Umgebung nach etwaigen Zeugen ab, um dann immer wieder auf der unbekleideten, schlafenden, zierlichen blonden Frau dort unten, nur wenige Dutzend Meter vor ihm am Strand haften zu bleiben. Er ertappte sich dabei, wie er unwillkürlich damit begann, sich vorsichtig seiner schweren Ledergarnitur zu entledigen. Seine Bekleidung darunter beschränkte sich auf ein ärmelloses Hemd und Boxershorts. Der Mann war hoch gewachsen und kräftig gebaut. Seine muskulösen Arme wiesen verschiedene, sorgfältig gestochene Tätowierungen auf, doch für diese interessierte sich in diesem Moment natürlich wirklich niemand. Ein weiteres Mal vergewisserte er sich davon, hier allein und völlig unbeobachtet zu sein und entschloss sich schließlich dazu, den weiteren Weg zur Bucht zunächst mit den Augen zu erkunden. Schnell konnte er feststellen, dass der Abstieg kein Problem darstellen würde. Immer noch etwas zögerlich bewegte er sich sodann vorsichtig in Richtung der schlafenden, jungen Frau mit den glänzenden, blonden Haaren. Bereits nach wenigen Metern musste er aber feststellen, dass der Verlauf des Weges ihm den weiteren Blick auf die Bucht versperrte. Er schaute zurück und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass von hier ab auch der Blick zur Straße verwehrt war. Nach Lage der Dinge würde sich das auf dem weiteren Weg zur Bucht auch nicht ändern. Jetzt war sich der Biker endgültig sicher, dass die schlafende, junge Frau ihren Schlafplatz deshalb ausgesucht hatte, weil sie überzeugt davon war, dort unten allein und völlig unbeobachtet zu sein. Auf dem Gesicht des Bikers zeichnete sich ein zufriedenes Grinsen ab, für das sich in diesem Moment aber ebenfalls niemand interessierte. Er selbst spürte statt dessen, wie sich auf seiner Haut kleine Schweißperlen bildeten, die er mit einer schnellen Handbewegung aus seinem Gesicht wegwischte. Gleich hinter der nächsten Biegung hatte er wieder einen freien Blick auf die schlafende Frau unter ihrem zu einer Decke umgewandelten Schlafsack. Der große, kräftige Biker blieb stehen und duckte sich, ohne den Blick abzuwenden von der jungen, zierlichen, blonden Frau. Sie begann etwas unruhig zu werden. Fast erschien es dem fremden Beobachter so, als ob sie im Begriff war zu erwachen. Tatsächlich räkelte sich das Wesen da vor ihm, drehte sich dann aber auf den Bauch und schob die Decke mit einer schnellen Handbewegung von sich, wachte aber nicht auf. Den Augen des Bikers bot sich nunmehr der Blick auf die komplette Rückseite des Körpers der schlafenden jungen Frau. Wie bereits vermutet, war sie bis auf ein kleines Höschen unbekleidet. Bei den sommerlichen Temperaturen an dieser einsamen Bucht war das, wie der Biker fand, nicht besonders ungewöhnlich. Allerdings trug diese Aufmachung entscheidend dazu bei, seine Begierde zu steigern und seine Vorsicht abzuschalten. Er spürte, wie seine Erregung anstieg. Erneut wischte er sich die Schweißperlen aus dem Gesicht. Leise setzte er einen Fuß vor den anderen und näherte sich unaufhaltsam der auf dem Bauch liegenden Frau am kleinen Strand der einsamen Bucht. Für einen Moment drehte sich die Schlafende auf die Seite und gab so den Blick frei auf den vorderen Teil ihres Körpers. Als sie sich gleich darauf auf die andere Seite drehte, erschien es dem nur noch wenige Schritte entfernten, kräftig gebauten Mann so, als ob sie in der Rückenlage einen Augenblick verharrt hatte. Ganz deutlich hatte er wahrgenommen, wie die junge, zierliche Frau ihren Oberkörper nach oben gestreckt und es ihm so erlaubt hatte, einen kurzen Blick auf ihre wohlgeformten Brüste zu erhaschen. Gerade so, als ob sie ihn ermuntern wolle, nur jetzt nicht aufzugeben. Der Biker spürte, wie sein Atem schneller ging, aber er machte sich deshalb keine großen Sorgen. Ein weiteres Mal vergewisserte er sich, mit der schlafenden Frau direkt vor ihm allein und unbeobachtet an dieser uneinsehbaren und vom Lärm der nahen Straße abgeschirmten, kleinen Bucht zu sein. Inzwischen ging sein Atem so schwer, dass er Sorge hatte, die Frau vor ihm könnte von dem Geräusch erwachen. Die letzten Meter legte er daher jetzt ganz schnell zurück. Angekommen am Objekt seiner Begierde verzichtete er auf jede weitere Vorsichtsmaßnahme. Wortlos stürzte er sich auf die zierliche, junge Frau, die sich genau in diesem Augenblick mit weit aufgerissenen Augen auf den Rücken drehte. Erstaunt nahm er noch zur Kenntnis, dass aus ihrem Blick mehr ein Gefühl des Triumphes sprach, als Angst oder gar Entsetzen. Aber dem kräftig gebauten Mann mit den sorgfältig gestochenen Tätowierungen blieb nicht mehr die Zeit, um sich darüber zu wundern. Das Erstaunen wurde überlagert von diesem völlig unbekannten, extrem intensiven Schmerz, den er noch verspürte, als die dreieckig geschliffene Klinge unmittelbar unterhalb der kleinen Rippen links in seinen Körper eindrang und ihm die Aorta durchtrennte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Die zierliche junge Frau mit den langen blonden Haaren hatte dafür keine Kraft aufwenden müssen. Das Körpergewicht des Mannes, der sich auf sie stürzte, allein hatte dafür ausgereicht. Sie hatte lediglich das Messer so halten müssen, dass es an der gewünschten Stelle in den Körper des Mannes eintrat. Aber damit hatte sie inzwischen ja Übung. Schließlich war das nicht ihr erstes Opfer. Tatsächlich hatte die junge Frau diesen „Schlafplatz“ genau deshalb für ihren Beutezug ausgewählt, weil sie überzeugt davon war, hier unten allein und völlig unbeobachtet zu sein. Durchaus angeekelt schob sie den sterbenden Mann von sich, eilte dann die wenige Schritte zum Wasser, reinigte sich von dem Blut ihres Opfers, und trocknete sich gründlich ab. Ohne Hast bedeckte sie anschließend den Körper des Toten so mit ihrem Schlafsack, dass jeder fremde Beobachter den Eindruck gewinnen musste, hier habe sich ein müder Krieger zur Ruhe gelegt. Eilig schlüpfte sie danach in ihre eigene Kleidung und begab sich sodann zügig aber ohne Hast nach oben zu den Sachen des Mannes. Auf dem Weg dorthin kam ihr der kleine Reim in den Sinn, den ihr ihre Mutter schon vorgesungen hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr so genau an den genauen Wortlaut, aber so oder ähnlich musste der gegangen sein. Röslein, Röslein, Röslein rot: du bringst dem Knaben stets den Tod. Die junge Frau durchsuchte gewissenhaft die Taschen der Ledermontur des Bikers, entnahm dort alles, was zur Identifizierung des Toten hätte geeignet sein können, ging die wenigen Schritte bis zum Motorrad ihres Opfers, setzte sich dessen Helm auf, startete die Maschine und machte sich auf zur nächsten Gelegenheit.

Böse ist der Mensch?

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