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Drei oder vier Tage nach unserer Begegnung sah ich Evelyne wieder. Ich hatte sie angerufen, um meinen Mantel zurückzubekommen, und wir verabredeten uns für den späten Nachmittag im Café an der Rue du Petit-Musc. Ich ging nach den Vorlesungen erst nach Hause und streifte mir ein hellblaues Hemd über, das besser zu ihrem Stil passte. Danach machte ich einen Umweg, um Zigaretten zu kaufen, und da sah ich sie an der Ecke zur Rue Saint-Antoine. Evelyne hielt ungefähr auf der Höhe ihrer Schulter einen Kleiderbügel in der linken Hand. Sie trug eine Stoffhose und einen beigefarbenen Regenmantel. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit trotz des Winds, der die weiße Hülle aufbauschte. Es sah aus, als würde sie mir ein Signal, einen Notruf aussenden, wie eine weiße Flagge, die am Horizont flatterte. Ich folgte ihr langsam aus einiger Entfernung, bis sie das Café betrat, ohne dass ich wagte, sie anzusprechen, sie hatte mir, als ich sie zum ersten Mal sah, nicht gesagt, wie sie hieß, und auch am Telefon nicht. Als ich sie so beobachtete, fiel mir auf, dass das Café sich in einem einstöckigen Haus befand, was eher an eine kleine Provinzstadt denken ließ.

Ich trat ein und ging auf Evelyne zu, sie hatte sich im großen Raum mit dem Rücken zur Wand hingesetzt, unter die Porträts des Mannes und der Frau aus den fünfziger Jahren. Mein Mantel lag ausgebreitet neben ihr auf der Bank. Ich hatte das Gefühl, ich sei noch nie in diesem Café gewesen, so anders war die Atmosphäre hier als in dieser Ecke, wo der Flipperkasten fast den ganzen Raum einnahm. Obwohl es draußen bereits dunkel war, war es hier heller, und das Geschirrklappern hinter dem Ausschank, die Gespräche ringsum vermittelten mir nicht das übliche Gefühl der Einsamkeit. Als ich sie begrüßte, antwortete sie kaum; sie beeilte sich zu sagen, der Flecken sei rausgegangen.

Evelyne bestellte ein Glas Rotwein und rief dem Kellner mit einem zwinkernden Seitenblick auf mich zu:

»Ich hoffe, heute wird er es nicht verschütten!«

Sie schien nicht sehr oft hierherzukommen, denn der Kellner zog ein schiefes Gesicht, als hätte er die Anspielung auf das Missgeschick ein paar Tage zuvor nicht verstanden.

»Für mich dasselbe«, sagte ich.

Der Kellner hatte auf dem Hals, hinter dem Ohr, eine blaue Tätowierung, ein leicht gebogenes Kreuz, das sich jedes Mal wellte, wenn er sich an einen Kunden wandte, um die Bestellung aufzunehmen.

Ich war überrascht, dass Evelyne etwas Zeit mit mir verbringen wollte. Sie hatte mich das letzte Mal ignoriert, in ihrer Zeitschrift gelesen, und als sie darauf beharrte, sich um die Reinigung zu kümmern, war ihr Ton herablassend. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie zu dem Treffen erscheinen würde, sie hätte den Mantel auch an der Theke abgeben und nie wieder herkommen können.

Ich hatte viel an sie gedacht seit unserer Begegnung im Café, aber da ich ihren Namen nicht kannte, war sie mir nur verschwommen im Gedächtnis geblieben, etwas unwirklich, wie die Leute auf den Visitenkarten. Ich hatte das Metroticket mit ihrer Telefonnummer in das durchsichtige Fach meines Portemonnaies geschoben, und wenn ich es öffnete, überprüfte ich, ob Evelynes Nummer wirklich draufstand, um mich zu vergewissern, dass ich nicht geträumt hatte. Ich konnte die Nummer schließlich auswendig, als wäre sie ein unsichtbarer Faden, den ich aufgreifen konnte, um in Gedanken mit ihr in Verbindung zu treten. Nach unserer ersten Begegnung hatte ich mehrmals geglaubt, sie im Viertel zu sehen. Evelyne war so präsent in mir, dass ich ihr Gesicht auf unbekannte Frauen projizierte, die ich auf der Straße sah, bis ich merkte, dass ich mich getäuscht hatte. Ich hatte sogar geglaubt, sie in einem Film zu sehen, der im Fernsehen lief. Die Schauspielerin hatte einen kleinen Auftritt, eine junge Frau, die an einer Ampel abgesetzt wird und den Fahrer durch die halb offene Scheibe lässig fragt: »Hast du vielleicht einen Hunderter für mich?« Es dauerte nur einen kurzen Moment, ich war nicht sicher, ob sie es war. Vielleicht war es Aurore Clément, von der sie mir später irgendwann erzählte, dass sie oft mit ihr verwechselt wurde. Evelyne hatte mehrmals Autogramme gegeben in ihrem Namen. Obwohl sie gegen das Lachen ankämpfte, musste sie sich konzentrieren, um bei der Widmung nicht ihren eigenen Namen zu schreiben.

Evelyne sprach in heiterem Ton, und ich dachte, dass sie genauso einsam war wie ich, dass sie jemanden brauchte, an dem sie sich festklammern konnte. Sie sprach von dem letzten Film, den sie im Kino gesehen hatte, und erzählte mir dann von einer Reise, auf der sie in der Mailänder Scala ein Sinfoniekonzert mit Musik von Respighi besucht hatte. Es war das erste Mal, dass ich den Namen dieses Komponisten hörte, und ich wagte nicht zu fragen, ob er noch lebte. Vor zwei Jahren hatte sie ein Schuljahr lang eine Stellvertretung in Cannes gemacht und die freie Zeit genutzt, um die Côte d’Azur entlang und durch Norditalien zu reisen. Sie liebte diese Gegend. Ich konnte kaum meine Sätze beenden, hatte sie schon das Thema gewechselt, und manchmal ließ sie zwischen uns lange Pausen entstehen. Dann hatte ich das Gefühl, ihr noch besser zuzuhören, so als hätten wir schweigend am meisten miteinander zu teilen, als sagte sie mir so, was sie nicht in Worte fassen konnte. Ich betrachtete sie, während sie das Gespräch anführte. Evelyne hatte blaue Augen, und ihre leicht abstehenden Ohren waren hinter den offenen Haaren versteckt. Wenn sie nicht lächelte, gaben ihr die Mimikfalten um die Mundwinkel einen ernsten und traurigen Ausdruck.

Als sie erfuhr, dass ich im ersten Jahr Jura studierte, zeigte sie sich überrascht, dass ich so jung war.

»Witzig. Ich war mir sicher, Sie würden Klassenarbeiten korrigieren, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. In Ihrem Alter kommt einem das Leben noch unendlich vor, und mit fünfunddreißig scheint es bereits so kurz. Man hat den Eindruck, etwas verpasst, nicht die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben.«

Und dann fügte sie hinzu, indem sie als Zeichen des Vorwurfs leicht das Kinn anhob:

»Sie werden den Frauen noch viel Kummer bereiten. So sind die Anwälte!«

»Wenn das so ist«, sagte ich, »werde ich bei den Jahresprüfungen bestimmt durchfallen.«

Und wir mussten beide lachen. Ich war genauso überrascht wie sie über meine Kühnheit; vielleicht hatte sie sich in diesem Moment nur über mich lustig gemacht. Sie hatte ein derbes, ansteckendes Lachen, das im Gegensatz stand zu ihrer sehr femininen Art, sich aufrecht zu halten, mit gereckter Brust, und zur Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres legte.

Evelyne kümmerte sich nicht um die Leute im Café, die uns beobachten könnten. Beim Eintreten hatte ich nur die Stammgäste an der Theke bemerkt. Sie schaukelte ihren Fuß unter dem Tisch, sodass ihr Anhänger regelmäßig an den Knopf ihrer Bluse schlug. Ich bekam Lust, die Halskette zwischen ihren Brüsten zu packen, damit dieses unangenehme Hin und Her aufhörte, ich stellte mir vor, dass sie sich zu mir beugte und ich die Strähne von ihrer Wange strich, um sie zu küssen. Sie gefiel mir, sie war anders als die Mädchen, mit denen ich in Antibes zusammen gewesen war. Es ging von ihr eine Kraft und gleichzeitig eine große Zerbrechlichkeit aus. Für Momente ging sie mir auf die Nerven, sie hatte dieses lässige, etwas unechte Gehabe, das mir schon beim ersten Mal aufgefallen war, so als versuchte sie ihre Bedrücktheit zu überspielen. Doch die Zerbrechlichkeit, gegen die sie ankämpfte, kam im Laufe des Gesprächs nach und nach wieder zum Vorschein. Evelyne wurde weniger redselig, sanfter, und strich mit dem Ende der verglimmenden Zigarette über den Rand des Aschenbechers, um meinem Blick auszuweichen. Ich hätte gerne ihre Hand genommen, damit sie mit dieser Manie aufhörte. Es schien mir, dass Evelyne sich in ihre Gedanken flüchtete, dass sie, während sie mit ihrer Zigarette spielte, identische Kreise in sich selbst zeichnete, die kleiner und kleiner wurden, und sich darin einschloss. Wenn ich sie zum Lachen brachte, hörte sie auf, mich auf Distanz zu halten, und ich wollte, dass sie noch mehr, noch heftiger lachte. Während ich sie beobachtete, spürte ich noch immer das gewohnte lastende Gefühl auf der Brust, aber es war nun nicht mehr so feindselig, wir mussten es nur mit unserem Lachen übertönen.

»Ich bin erst vor Kurzem nach Paris gezogen, ich wohne in einer kleinen Wohnung gleich hier um die Ecke«, sagte ich, indem ich mit der Hand Richtung Rue de la Cerisaie zeigte. »Die Straße ist ruhig, gut zum Arbeiten.«

Ich wagte sie nicht zu fragen, ob sie im selben Viertel wohnte. Ich hoffte, dass Evelyne mir ihre Adresse verriet, für den Fall, dass sie mir nicht vorschlagen sollte, uns wiederzusehen. Trotz meiner Angst, mich zu verirren, sah ich mich bereits durch die Straßen ihres Viertels streifen, um sie zufällig zu treffen und dabei einen Termin in der Gegend vorzutäuschen. Ich hatte Lust, mich auf ihre Suche zu begeben, so wie ich für die Suche nach mir selbst nach Paris gekommen war. Ganz sicher würde dieses Unbehagen verfliegen, wenn ich mit der Gewissheit, sie bald wiederzusehen, durch die Stadt gehen könnte.

»Sie wirken sehr seriös auf mich, scheinen jemand zu sein, der sich Gedanken um seine Zukunft macht«, sagte Evelyne zu mir.

»Ich habe nichts anderes zu tun, als zu studieren, und außerdem kenne ich niemanden hier, abgesehen von einer alten Cousine. Ganz allein ist es nicht so einfach, sich zu amüsieren, meinen Sie nicht?«

War es die leichte Beschwipstheit, die mich dazu brachte, so ungezwungen mit ihr zu sprechen, oder die Aufgeregtheit, die bei mir die Gegenwart einer solch verführerischen Frau auslöste? Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ich könnte ihr gefallen, und die Situation war so seltsam, dass ich selbst überrascht war über meine Unerschrockenheit, so als wäre ich in einem Traum und keines meiner Worte könnte nach dem Erwachen gegen mich verwendet werden.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, arbeiten Sie so viel, weil Sie noch keine Freunde gefunden haben? Und Sie haben neben Ihrem Studium noch keine Ablenkungen gefunden, die Ihnen lohnenswert erscheinen, das meinen Sie?«, fragte sie, während ich mein Feuerzeug ihrem Gesicht näherte, um ihre Zigarette anzuzünden.

»Genau. Seit ich in Paris wohne, habe ich den Eindruck, dass das ganze Leben so abläuft. Und dass wir alle ohne Kühnheit leben.«

Sie nickte, und wir schwiegen eine Weile, zwangen uns zu einem Lächeln, als ein amerikanisches Paar sich an den Nebentisch setzte. Sie waren um die zwanzig und trugen beide ein Jeanshemd. Der Mann hatte einen Stadtplan vor sich ausgebreitet, den er mit seinem Stift bekritzelte, er markierte die Orte, die sie besichtigt hatten, mit einem Kreuz. Der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen: zwei Cola und eine Portion Pommes frites für zwei.

»Sprechen Sie gut Englisch?«, fragte mich Evelyne.

»Nicht wirklich. Ich komme aus Antibes und brauche es nur im Sommer, wenn die Touristen an die Côte d’Azur kommen und nach dem Weg fragen.«

Als die Amerikanerin die Hand ihres Verlobten streichelte, holte mich meine Schüchternheit wieder ein, und das Gefühl der Trunkenheit, das mich bisher getragen hatte, war wie verflogen. Ich spürte ein gewisses Unbehagen neben diesem Paar, das seine Intimität zur Schau stellte, während Evelyne und ich uns kaum kannten. Bin ich mit ihr zu weit gegangen, wenn ich nicht einmal fähig war, anders als in Gedanken, ihre Hand zu nehmen? Sie studierten den Plan, der Mann führte die Spitze des Kugelschreibers über die Wege, die sie wohl gegangen waren, indem er wie bei einem Malbuch achtgab, nicht über den Rand zu geraten. Evelyne und ich konnten unseren Lachanfall kaum unterdrücken, als wir den Akzent hörten, mit dem sie die Straßennamen aussprachen, so als befänden sie sich in einem imaginären Paris.

Der junge Mann unterbrach uns mit der Bitte, sie zu fotografieren. Er streckte mir mit verschwörerischer Miene die Kamera entgegen, er dachte wohl, wir seien ein Liebespaar im selben Alter wie sie. Jetzt, da Evelyne nicht mit ihrem Sohn zusammen war, kam sie mir wie eine Studentin vor, leicht und unbekümmert. Sie musste sehr jung Mutter geworden sein, und vielleicht machte es ihr deshalb Spaß, mit einem Achtzehnjährigen zusammen zu sein, so als könnte sie in falscher Reihenfolge leben und wieder zu einer Studentin im ersten Jahr werden. Ich stellte mich in die Mitte des Raums, um den besten Winkel zu finden. Die Amerikaner hielten sich um die Schultern, der Pommes-Teller, den der Kellner auf den Pariser Stadtplan gestellt hatte, war aufgegessen. Durch das Objektiv beobachtete ich Evelyne zu ihrer Rechten. Sie war im Profil und betrachtete die Bilder an der Wand, während sie mit ihrem Anhänger spielte, was das Bild etwas leer aussehen ließ, ohne Vordergrund, vor allem weil der Arm des jungen Mannes abgeschnitten war. Doch statt das Objektiv auf das Paar zu richten, drückte ich auf den Auslöser im Gedanken, dass auf diese Weise eine Spur von dem Augenblick, den ich mit Evelyne teilte, auf dem Film dieses Fotoapparats erhalten bleiben würde.

Als sie fünf Minuten später das Café verließen, winkten sie uns hinter der Scheibe herzlich zu. Sie würden in zwei Tagen, hatten sie uns in einem holperigen Französisch erklärt, nach Denver, Colorado, zurückkehren.

Evelyne beugte sich zu mir vor und drückte mir einen Kuss auf die Wange, um gleich wieder in den schäkernden Ton unseres Gesprächs zu verfallen. Dann imitierte sie den strengen Ton, mit dem die junge Frau sich an ihren Verlobten gerichtet hatte:

»It’s simple, honey. Here we are at the Rjuu du Petite-Mjusc«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den Tisch.

Ich brach in Lachen aus, während sie wegen des Blitzlichts des Fotoapparats noch immer die Augen zukniff.

Ich weiß nicht, warum Evelyne mir so gefallen hat, ich hätte sie genauso gut nicht ausstehen können. Sie war nicht natürlich und versuchte sich als jemand anders auszugeben. Diejenige, die ich liebte, war die entspannte junge Studentin, die in dem Café schallend loslachte, ich fühlte mich aber auch von dieser Frau mit der eleganten Erscheinung angezogen. Wahrscheinlich fehlte es ihr, wenn sie so viel Mühe auf ihr Äußeres verwendete, an Selbstvertrauen. Manche Aspekte ihrer Persönlichkeit, die in mir jeder anderen gegenüber Antipathie ausgelöst hätten, zogen mich bei ihr an: ihre frivole Art, ihre Vorliebe für Luxuskleider, ihr leicht mondäner Tonfall, in dem sie die Sätze betonte, und der italienische Akzent, mit dem sie die Titel von Respighis Werken aussprach, die sie in Mailand gehört hatte. Noch nie war ich mit einer solch starken Präsenz konfrontiert gewesen, bestimmt, weil Evelyne älter war als ich. Ich war in dem Café euphorisch wie nach einer Anästhesie, die mich vergessen ließ, dass ich mir selbst überlassen war. Und während ich mich weigerte, mich unter die anderen Erstsemester zu mischen, und in der Einsamkeit jene Verbindung suchte, die mich mir selbst näherbrachte, wünschte ich mir jetzt im Gegenteil, mit ihr zusammenzubleiben, die Gewissheit zu haben, sie am nächsten Tag wiederzusehen. Ich hing an ihren Lippen in dem Bedürfnis, sie kennenzulernen, wollte sie aber auch über das erfassen, was sie durchscheinen ließ, wenn sie nicht sprach. Zeitweise kam es mir vor, als hätte ich selbst die Sätze gesagt, die sie äußerte, so sehr versuchte ich, Teil ihres Lebens zu werden.

Evelyne war Klavierlehrerin und sollte bald eine Stelle in einem Gymnasium im Vallée de la Bièvre antreten, wo ihr eine Dienstwohnung zur Verfügung stand. Es machte ihr Angst, Paris mit der Banlieue zu tauschen. Sie lebte von einer Stellvertretung zur anderen, die das Rektorat ihr anbot, und dazwischen gab sie Privatstunden bei den Schülern zu Hause und spielte ganze Nachmittage lang Klavier. Sie gab mir ihre Visitenkarte, auf der dieselbe Telefonnummer stand wie auf dem Metroticket:

Mme Evelyne Arnaudin

Klavierlehrerin

Diplomiert am Conservatoire Lausanne

42 56 20 78

Ich untersuchte die Karte, aber auch auf der Rückseite stand ihre Adresse nicht.

»Du kannst sie behalten, wenn du willst.«

Es war das erste Mal, dass sie mich duzte.

»Aber«, sagte ich, »du hast gar keinen Schweizer Akzent.«

Ich hatte erst gezögert, bevor ich sie ebenfalls duzte, wegen unseres Altersunterschieds.

»Na und, du doch auch nicht, du hast doch auch keinen südfranzösischen Akzent. Ich habe es hingeschrieben, damit es seriöser wirkt. Ich habe meine Klavierausbildung am Conservatoire von Besançon gemacht, wo ich aufgewachsen bin.«

»Ehrlich gesagt dachte ich, du seist aus Paris.«

»Wirklich? Wie kommst du denn darauf«, fragte sie mich mit einem falschen Ton der Entrüstung.

»Einfach so … Die Pariserinnen sind hübscher als die aus der Provinz.«

»Hör zu, weißt du, was jemanden aus der Provinz von einem Pariser unterscheidet?«, fragte sie und gab die Antwort gleich selbst: »Ein Pariser schaut dich auf der Straße an, ohne dich zu sehen, so als hätte er dich schon vergessen, bevor er dich kennengelernt hat.«

Evelyne war nicht diese Frau bürgerlicher Abstammung, deren Gehabe sie angenommen hatte. Als ich sie über ihre Kindheit sprechen hörte, glaubte ich einen Augenblick, sie habe sich um meinen Mantel gekümmert, um mit mir zu reden, um alles rauszulassen, was sie in sich verborgen hielt, und dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.

»Wenn du Schüler suchst, kann ich dem Wirt deine Karte geben, damit er sie hinter der Theke aushängt. Weißt du, ich komme jeden Tag zur gleichen Zeit hierher, sobald es dunkel wird.«

Sie schwieg einen Augenblick. Als ich spürte, dass sie von mir wegdriftete, sah ich vor mir, wie sie auf einem Gemälde von Edward Hopper abends allein an diesem Tisch sitzt, über ihr Glas Wein gebeugt, und im Versuch, sie da herauszuholen, sie ihrem Schweigen zu entreißen, fragte ich ganz laut:

»Und Jérôme? Wie geht es ihm?«

»Er lebt bei seinem Vater, ich sehe ihn nur selten. Es ist besser so.«

Seit sie in Cannes war, habe sich ihre Beziehung noch weiter gelockert.

»Er ist ein schwieriger Junge«, fügte sie in gleichgültigem Ton hinzu, als wäre sie es gewohnt, diesen vorgefertigten Satz jedem Beliebigen zu wiederholen.

Es schien ihr für einen Moment gutzutun, schlecht über ihn zu reden. Dann wechselte sie erneut das Thema. Ihr Blick war leer, Evelyne war wieder zu einer gut gekleideten Frau geworden mit diesem etwas ernsten Ausdruck, den die Frauen aus bürgerlichem Haus oft aufsetzen. Der Gedanke streifte mich kurz, sie habe sich verkleidet: Sie war einfach nur ein Mädchen in meinem Alter, dem man die Jugend gestohlen hatte, und das es, genau wie ich, nicht schaffte, so unbekümmert zu sein wie die anderen Studenten.

Der Traum vom kühnen Leben

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