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Drei Tage nach unserem Treffen rief ich Evelyne von einer Telefonzelle aus an. Ich war nicht sicher, dass sie zu Hause war. Es musste ungefähr vier Uhr nachmittags sein, und meistens gab sie um diese Zeit bei ihren Schülern Klavierstunden. Vielleicht sollte ich mein Schicksal einfach dem Zufall überlassen? Wenn das Telefon ins Leere klingelte, würde ich nicht mehr versuchen, sie wiederzusehen.

Wir waren vor dem Café etwas überstürzt auseinandergegangen. Evelyne wollte nicht, dass ich sie zur Metrostation begleitete. Sie habe es eilig, hatte sie kurz angebunden gesagt. Ich ging nach Hause und hielt die weiße Hülle auf Schulterhöhe, um mich davon abzuhalten, ihr mit dem Blick zu folgen und auf dem Gehsteig hinterherzurennen. Am liebsten hätte ich den Reißverschluss aufgemacht und mein Gesicht hineingedrückt, um darin zu verschwinden. Sie hatte mich nicht geküsst zum Abschied. Ich bereute es, dass ich sie nach Jérôme gefragt hatte, denn fünf Minuten später brach Evelyne unser Gespräch ab und ging zur Theke, um die Getränke zu bezahlen, unter dem Vorwand, sie sei in der Nähe der Madeleine verabredet. Bestimmt schämte sie sich, mir zu gestehen, dass ihr Sohn nicht bei ihr lebte. Ich hatte nichts dazu gesagt, konnte jedoch meine Überraschung und den Gedanken schlecht verbergen, der mich spontan überkam, sie sei eine schlechte Mutter. Hatte sie ihren Sohn denn nicht ein ganzes Schuljahr lang alleingelassen, um in Cannes zu leben?

Ich spürte die Einsamkeit noch immer, doch seit unserer Begegnung im Café hatte die Leere das Gesicht von Evelyne. Wenn es verwischte, versuchte ich mich an das Foto zu erinnern, das ich von ihr neben dem amerikanischen Pärchen gemacht hatte, und sie tauchte wieder vor mir auf. Einen Augenblick lang saß sie dann auf der Bank und spielte mit ihrer Halskette, während sie die Fotos an den Wänden betrachtete, und das Stimmengewirr eines Cafés füllte meine Ohren. Evelyne war ein Schatten, den die Sonne entstehen und gleich wieder verblassen ließ, bis er sich ganz aufgelöst hatte, aber es schien mir, ich könnte danach genau an der Stelle, wo das Licht ihn hingelegt hatte, noch immer seinen Abdruck, seine intakten Umrisse sehen.

»Hallo. Guten Tag, hier ist Yves.«

»Hallo … Wer ist am Apparat?«, fragte sie in einem strengen Lehrerton.

Ich hörte das Klavier im Hintergrund, falsche Noten, die mich hinderten, sie deutlich zu verstehen.

»Yves, vom Café an der Rue du Petit-Musc. Ich würde Sie … dich gern wiedersehen …«, sagte ich mit gepresster Stimme.

»Ich bin in einer halben Stunde fertig, ruf mich dann noch einmal an«, sagte sie und legte auf.

Ich war froh, dass Evelyne mich nicht vergessen hatte, und fragte mich, ob sie auch an mich gedacht hatte. Doch als ich dreißig Minuten später wieder anrief, nahm niemand ab. Was sollte sie auch an einem Achtzehnjährigen finden. Ich probierte es noch ein zweites Mal und überließ die Kabine dann einem Mann, der draußen wartete. Es war kühler geworden, und er hatte seinen Rücken an die Tür gedrückt, bestimmt um sich vor dem Nieselregen zu schützen, der eingesetzt hatte. Er stampfte mit den Füßen, um sich aufzuwärmen, was die Tür zum Klappern brachte. Bevor ich hinausging, klopfte ich an die Scheibe, um ihm nicht wehzutun. Die massige Statur des Mannes hatte einen Schatten in die Kabine geworfen, während ich telefonierte, und dieser Schatten begleitete mich auf der Straße weiter. Aber es war nur der Himmel, der noch grauer geworden war.

Zu Hause hängte ich den Mantel an einen Kleiderbügel und packte ihn in die weiße Hülle, auf der die Adresse der Reinigung stand, Rue de Birague 3, im vierten Arrondissement, daneben der Vermerk »de luxe«. Ich weiß nicht warum, aber ich war mir sicher, dass Evelyne in dem Viertel leben musste, in der Nähe ihres Sohnes, und dass sie auf dem Nachhauseweg an dieser Reinigung vorbeikam. Am Tag nach unserem Treffen hatte ich die Rue de Birague auf einem Plan gesucht, es ist eine Querstraße zur Rue Saint-Antoine. Die Vorderfront und die Auslage des Ladens waren in derselben Farbe gehalten wie die Hüllen, mit denen sie die Kleider schützten. Ich lief weiter die Straße hinunter, die zu einem kleinen Park führte, ohne dass ich die Place des Vosges erkannte. Dieselbe rote Backsteinfassade, dasselbe steile Schieferdach wiederholten sich auf allen vier Seiten des Platzes, und die Arkaden ließen mich an einen langen Tunnel denken, an dessen Ende ich in einen Abgrund fallen würde. Eine Touristengruppe fotografierte den Platz, und ich hätte um sie herumgehen müssen, um die Gegend weiter zu erkunden. Wegen dieser Angst, mich zu verlaufen, und angesichts der Menge Menschen machte ich wieder kehrt. Wenn ich mich von meiner Wohnung entfernte, hatte ich oft das Gefühl eines Taumels, eine Straße hinunterzugleiten, die leicht abschüssig war wie der Grund eines Schwimmbeckens, in dem man nach und nach den Boden unter den Füßen verliert.

Ich versuchte nicht mehr, sie zu erreichen. Ich hatte Angst, bei meinen Jahresprüfungen durchzufallen, wenn ich mich weiter mit dieser Frau traf, und so führte ich, geborgen in meiner Einsamkeit, das Leben, das ich mir mit Evelyne erträumte, einfach, indem ich an sie dachte. Abends stellte ich mir vor, sie sei bei mir im Zimmer: Evelyne, wie sie auf dem Rand meines Schreibtischs sitzt, in einem meiner Universitätsbücher blättert und ihr Bein durch die Luft schaukeln lässt. Die Szene schien so real, dass ich nicht mehr wusste, ob ich sie wirklich erlebt hatte oder ob es ein Bild war, das ich mir einzuprägen versuchte. Sie erklärte mir lachend, sie verstehe nichts von Verwaltungsrecht, und legte das Buch mit amüsierter Miene auf den Schreibtisch zurück. Ihr Ton war nicht lehrerhaft, sondern eher der einer Studentin in meinem Alter. Ich rief mir das Timbre ihrer hohen Stimme ins Gedächtnis, an der ich mich festklammern konnte und die in mir weitersprach, die mir antwortete, auch wenn ich nichts sagte. Es schien, als würde ich mich an eine Vergangenheit erinnern, die wir nicht erlebt hatten, und diese Vergangenheit füllte sich im Laufe der Tage immer mehr an. Es gefiel mir, mich ganz von Evelynes Gegenwart durchdringen zu lassen, und am Morgen vertiefte ich mich in meine Bücher, um sie wieder zu verdrängen. Im Café hörte ich noch immer ihr Lachen durch den Raum hallen, dann versuchte ich, sie zu vergessen, um die Leere wiederzufinden, nackt und gesichtslos. Es war, als würde ich jedes Mal einen Alarmknopf betätigen, um mich mit Gewalt einem Traum zu entreißen.

Mein Studium an der Assas war nur ein Vorwand gewesen, um nach Paris zu kommen, wo ich von unvergesslichen Begegnungen träumte. Aber auch wenn die Einsamkeit mich ins Bistro bei mir um die Ecke trieb, so hielt ich mich weiterhin abseits. Mein Unbehagen, meine ständige Angst ließen mich auf Distanz zu meinen Kommilitonen bleiben. Im Hörsaal belauschte ich die Gespräche des großen Blonden aus Bordeaux, er unterhielt sich mit seinen Freunden darüber, in welchen Vierteln der Hauptstadt, die ich nur dem Namen nach kannte, es abends Partys gab. Sie führten mir ihre Leichtigkeit vor Augen, während mich ein schweres Gewicht bei den Leuten dieser Kneipe zurückhielt. Ich hatte in Paris keinen einzigen Kontakt geknüpft, und ich hatte das Gefühl, meine Jugend zu verpassen. Sollte ich bei den Prüfungen durchfallen, würde ich zu meinen Eltern nach Antibes zurückkehren, und niemand würde sich an diesen jungen Mann erinnern, der sich immer an denselben Platz setzte, außer vielleicht ein, zwei Tage lang der Kellner mit dem blauen Tattoo im Nacken. Oft fiel mir der Satz meines Vaters ein: Das Leben ist ein Hindernislauf, und man muss Hürde für Hürde überwinden, um nicht zu fallen. Und die Semesterprüfungen waren die erste Hürde, die sich mir in den Weg stellte. Ich war ein Provinzler, der nach Paris kam, um all das hinter sich zu lassen, was er seit jeher gekannt hatte, die alten Schwarz-Weiß-Postkarten über dem Bett, den Hund, der jedes Mal hinter dem Eingangstor bellte, wenn jemand klingelte, die gerade Linie des Meers am Horizont, und ich wollte, sobald mir die Stadt einmal nicht mehr so viel Angst machen würde, herausfinden, wer ich wirklich war, über meine Kindheit hinaus.

Als ich eines Nachmittags das Lernen unterbrach, um Zigaretten zu kaufen, und am Collège des Francs-Bourgeois an der Rue Saint-Antoine, Ecke Rue du Petit-Musc, vorbeikam, erblickte ich Evelynes Sohn. Er hielt das rote Fahrrad am Lenker, das am Flipper gestanden hatte. Statt die Straße zu überqueren, um dem Gedränge nach Schulschluss auszuweichen mit dem Geschrei der Schüler und den Müttern, die in ihren Autos in der zweiten Reihe hupten, ging ich auf dieser Seite des Gehsteigs weiter. Ich hatte plötzlich den Eindruck, wieder ein Kind zu sein und vor meiner Schule in Antibes zu stehen. Eigenartigerweise fühlte ich mich fragiler als damals, als wären die Jahre umsonst verstrichen: Nicht nur war ich kein bisschen reifer geworden, ich hatte darüber hinaus die Unbekümmertheit verloren, die Kindern eigen ist. Jérôme war in Begleitung einer schwarzhaarigen Frau um die vierzig, die den Arm um seine Schulter gelegt hatte. Sie trug einen Nerzmantel und hielt einen dunkelbraunen Rucksack an einem seiner roten Träger. Es musste die neue Frau seines Vaters sein, denn sie hatte dasselbe Auftreten wie Evelyne, nur noch bürgerlicher. Die Frau sah mich mit abwesendem, leerem Blick an. Ich sagte Jérôme Guten Tag, aber niemand achtete auf mich. Ich fühlte ein Unwohlsein aufkommen und lehnte mich neben dem Schuleingang ans Geländer. Ich beobachtete die Kinder auf der Straße: Sahen sie mich, wie ich sie sah? Stellte mein Körper für die Schüler, die mich mit der Schulter anrempelten, wirklich ein Hindernis dar? Und dann diese bohrende Frage, die mich jedes Mal mit dem Gefühl überfiel, ich würde in der nächsten Sekunde das Gleichgewicht verlieren und in Ohnmacht fallen: Existierte ich überhaupt?

Schließlich beruhigte ich mich. Die Menge der Schüler hatte sich zerstreut, und ich erinnerte mich daran, dass ich eigentlich Zigaretten kaufen wollte. Langsam ging ich weiter, was mir guttat. Was mir fehlte, dachte ich auf dem Weg, war eine gehörige Dosis Mut, um meinen Ängsten die Stirn zu bieten, dann wäre das Leben angenehmer. Die Universität war nach den Prüfungen zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen, und meine Eltern hatten mit mir eine Reise nach Sardinien geplant. Doch es wäre besser für mich, ich würde Paris erkunden, jeden Tag dieser Ferienwoche nutzen, um ein neues Arrondissement kennenzulernen, damit mir die Stadt vertrauter wurde. Ich bräuchte mir nur einen detaillierten Plan von den Straßen und Vierteln zu beschaffen, ich wollte Montmartre, die Butte-aux-Cailles, Saint-Germaindes-Prés, das Quartier Latin entdecken, die Orte, an denen sich die anderen Studenten trafen, wie Saint-Michel oder das Odéon, die für mich nur Metrostationen waren, und warum nicht in den Vorortszug steigen und Versailles besichtigen. Danach würde ich mich leichter fühlen, ohne dieses Gewicht auf den Schultern.

Am Abend rief ich aus einer Telefonzelle meine Mutter an. Ich hätte keine Zeit für die Sardinien-Reise, sagte ich, ich hätte viel zu tun für das zweite Semester, und ich weiß noch, dass ich mit bewegter, zitternder Stimme auflegte. Beim einzigen Mal, da ich meine Eltern besuchte, seit ich in Paris lebte, hatte ich den Eindruck zu ersticken und war augenblicklich in die Gewohnheiten zurückgefallen, die ich ein paar Wochen zuvor hinter mir gelassen hatte. Nach meiner Rückkehr fühlte ich mich noch fragiler, noch einsamer als zuvor. Mein kurzer Aufenthalt in der stattlichen Villa meiner Eltern hatte meine Einzimmerwohnung düster gemacht, und die Holzbalken zu beiden Seiten des Fensters vermochten das Ambiente auch nicht aufzuheitern. Das nur mit einem Bett und einem Schreibtisch ausgestattete Zimmer kam mir plötzlich karg vor und enger als in meiner Erinnerung. Ein Gefühl der Traurigkeit hing in der Luft; ich hatte es mit der Zeit vergessen.

Nach den Prüfungen fiel ich erneut in ein Loch. Die Vorlesungen gingen erst im Januar weiter, und ich hatte den Mut wieder verloren, Paris zu durchstreifen. Ich spürte eine große Müdigkeit und ließ die Tage einfach an mir vorbeiziehen, ohne wirkliche Beschäftigung, so als wollte ich mich mit Evelynes Gesicht, das sich nach und nach entfernte, in diese Leere einschließen, um sie ein letztes Mal zu betrachten. Ich wusste noch nicht, dass wir einander im Laufe dieser Ferienwoche im Viertel über den Weg laufen und mehrere Monate lang zusammen sein würden. Bald sollte Evelyne mir meine Jugend nehmen, so wie man ihr die ihre genommen hatte.

Ich habe mir lange ausgemalt, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich würde die Wohnung in der Nummer 79 der Rue de Courcelles in dem kalten, schmucklosen Botschafts- und Büroviertel mieten und mein Leben noch einmal von vorne anfangen. Ich hätte Evelyne nie getroffen, mich vielleicht mit meinen Kommilitonen angefreundet. Doch es ist besser, nicht daran zu denken, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn Jérôme im Bistro dieses Weinglas nicht umgestoßen und ich Evelyne in den Weihnachtsferien nicht wiedergesehen hätte.

Ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist in den letzten dreißig Jahren, in denen ich sie nicht mehr gesehen habe. Ob sie immer noch an der Côte d’Azur wohnt? Sie muss inzwischen fünfundsechzig sein, ihr Gesicht durch die starke Sonnenexposition von tiefen Falten gezeichnet. Wahrscheinlich würde ich sie auf der Straße gar nicht mehr wiedererkennen. Trotz ihrer Abwesenheit schien es mir die ganzen Jahre über, ihr Schicksal sei im Verborgenen noch immer mit meinem verstrickt, so wie zwei im Unglück vereinte Wesen fähig sind, egal, wie groß die Distanz ist, wie viel Zeit vergeht, eine viel intimere und ausschließlichere Beziehung aufrechtzuerhalten, als wenn sie sich weiterhin sehen würden.

Jeden Nachmittag ging ich ins Café an der Rue du Petit-Musc. Ich musste erst mehrere dieser langweiligen, untätigen Tage über mich ergehen lassen, bevor sich unsere Wege wieder kreuzten. Ich arbeitete für die Universität vor, indem ich den Stoff für das zweite Semester durchging. Ich dachte an Evelyne und schämte mich, gescheitert zu sein bei meinem doch so simplen Vorhaben, Paris zu erkunden, und wieder brauchte ich es, mich an ihr festzuklammern. Wenn die Bank frei war, setzte ich mich in den großen Raum, an den Platz, an dem sie bei unserer ersten Verabredung auf mich gewartet hatte. Die Porträts des Manns und der Frau, die auf das Geschehen herunterblickten, beruhigten mich, die SchwarzWeiß-Fotos prägten den Raum, gaben ihm etwas Zeitloses. Jedes Mal, wenn die Bistrotür aufgestoßen wurde, hob ich den Kopf in der Hoffnung, es sei Evelyne und sie würde sich zu mir an den Tisch setzen. Manchmal hielt ich hinter der Scheibe nach ihr Ausschau und stellte mir vor, wie sie mit der weißen Hülle von der Reinigung über der Schulter hereinkäme, und alles würde wieder von vorn beginnen, mit dem amerikanischen Pärchen, das mich bitten würde, ein Foto zu machen. Einmal, noch vor Beginn der Weihnachtsferien, hatte ich mir überlegt, bei Schulschluss auf Jérôme zu warten. Vielleicht holte Evelyne ihn manchmal ab, aber dann fielen mir ihre Worte ein: Sie sah ihn nur sehr selten. Nach ihrer Trennung mehrere Jahre zuvor hatte ihr Mann das alleinige Sorgerecht für Jérôme erhalten. Vor dem Gymnasium hatte es ausgesehen, als wäre er der dunkelhaarigen Frau im Pelzmantel mit dem leeren Blick näher als seiner Mutter.

Am 24. Dezember, einem Donnerstag, machte das Café an der Rue du Petit-Musc gegen fünf Uhr nachmittags zu. Bis ich meine Sachen zusammengepackt hatte, hatte der Wirt das Licht bereits ausgemacht. Er hängte ein Schild an die Glastür, und ich beeilte mich, zu ihm auf die Straße zu kommen. Er drückte mir die Hand und wünschte mir frohe Festtage, und bevor er ging, fragte er mich mit einer sanften Stimme, die mich an die eines Arztes erinnerte, nach meinem Namen. Ich fürchtete mich davor, allein zurückzubleiben, so als würde ich gleich in Ohnmacht fallen, wenn er weg wäre. Ich wäre gerne noch länger mit ihm zusammengeblieben, wahrscheinlich, weil er mich geduzt hatte, mir mit Wohlwollen begegnet war, und ich wünschte mir, er würde mich von meinem Unbehagen befreien. Ich dachte kurz, er sei drauf und dran, mich einzuladen, den Heiligabend bei ihm zu verbringen. Er sah tatsächlich seinem Vater ähnlich, dem dunkelhaarigen Mann, dessen Porträt an der Wand hing. Ob seine Eltern noch lebten, wollte ich ihn fragen, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen, doch er wünschte mir fröhliche Weihnachten und drehte sich um. Ich blieb vor dem Café stehen, um ein wenig die Zeit verstreichen zu lassen, und sah dem Wirt nach, der die Straße hinunterging Richtung der Seine-Quais. Das Café werde erst am Montag, dem vierten Januar, wieder öffnen, stand auf dem Schild, und darunter »Bis nächstes Jahr«, gefolgt von drei Punkten.

Ich ging in die Rue Saint-Antoine und rief aus einer Telefonzelle meine Mutter an. Nein, ich sei nicht allein heute Abend, sagte ich ihr, während ich mich zwang, beruhigend zu klingen, ein Kommilitone habe mir vorgeschlagen, den Abend mit ihm bei seiner Familie zu verbringen. Ich stellte mir diesen jungen Mann als den großen Blonden aus Bordeaux vor, der mich kaum noch grüßte, wenn wir uns im Hörsaal sahen. Ja, versicherte ich ihr, ich würde meinem Freund eine Schachtel Pralinen und seiner Mutter einen Strauß Blumen mitbringen. Einige Sekunden später legte ich auf, ich hatte nicht die Kraft, sie noch weiter anzulügen. Sie könne verstehen, dass ich nicht zu spät zur Feier erscheinen wolle, hatte sie mir geantwortet, sie werde meinen Vater von mir grüßen. Ich hatte ganz vergessen, ihnen eine gute Reise zu wünschen: Am nächsten Tag bestiegen sie das Schiff nach Italien.

Ich hatte keine Lust, in mein Zimmer zurückzukehren, obwohl die Straßen ausgestorben waren und in mir dasselbe Gefühl der Verlassenheit auslösten, das ich zu Hause hatte. Ich hatte noch etwas Kleingeld und rief Evelyne an. Ich hatte nicht vor, mit ihr zu sprechen, falls sie abnehmen sollte, ich wollte nur ihre Stimme hören, bis sie sich über das Schweigen ärgerte und auflegte. Der Anschluss war nicht mehr erreichbar. Evelyne hatte von einer Stellvertretung in einem Gymnasium in der Banlieue gesprochen: Vielleicht war sie während der Ferien umgezogen, um bei Schulbeginn im Januar mit dem Unterrichten anzufangen? Ich spürte gleichzeitig Erleichterung und einen Stich im Herz: Mit Ausnahme von Paris, seinen vier oder fünf berühmten Vierteln, würde ich nie neue Horizonte entdecken, dachte ich plötzlich.

Der Traum vom kühnen Leben

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