Читать книгу Eine ungeheure Wut - Elena Landauer - Страница 3
Ein Unfall
ОглавлениеIch lernte Julian durch Zufall kennen – oder, um genau zu sein, durch einen Unfall. Es war Mitte Februar. Am Morgen hatte es geschneit, mittags hatte es getaut und gegen vier Uhr hatte es wieder angezogen. Straße und Himmel waren ein einheitliches Dunkelgrau. Ich war auf dem Weg nach Hause auf der Osdorfer Landstraße und in Gedanken noch bei meiner letzten Patientin, als die Bremslichter am Wagen vor mir plötzlich aufleuchteten. Ich trat wohl etwas zu spät auf die Bremse. Es hätte aber noch gereicht, wenn die Räder gegriffen hätten. Sie taten es nicht. So rutschte ich mit nahezu unverminderter Geschwindigkeit in den Wagen vor mir. Zum Glück war ich angeschnallt. Ich musste erst einmal Luft holen, bevor ich den Motor abstellte. Der Fahrer im Wagen vor mir rührte sich nicht. Es war ein Mann, wie ich durch die Rückscheibe des Autos sehen konnte. Mutmaßlich bereitete er gerade seine Schimpfkanonade vor, die in der Frage gipfeln würde, bei welchem Preisausschreiben ich den Führerschein gewonnen hätte. Ich war schon halb ausgestiegen, um nach ihm zu sehen, als ein lautes Quietschen mir bewusst machte, dass der nächste Wagen bald in mein Auto hineinfahren würde. Halb in der Tür stehend schaute ich nach hinten, sah das quietschende Auto schlingernd auf mich zukommen und konnte mir ausmalen, welche Verletzungen ich mir in dieser Position einhandeln würde, wenn mich das Auto traf. Der Fahrer schaffte es aber gerade noch, sein Auto auf die Überholspur zu ziehen, wobei er allerdings einem Wagen, der dort zum Überholen angesetzt hatte, den Weg abschnitt, woraufhin auch der ins Schlingern geriet. Zum Glück schlidderten beide an mir vorbei. Ich beugte mich schnell noch einmal in mein Auto und stellte die Warnblinkanlage an. Inzwischen hatte der Fahrer des angefahrenen Wagens die Tür geöffnet. Ich ging schnell zu ihm hin. Es war ein Mann in den Vierzigern, schlank und gepflegt. Im Profil wirkte sein Kopf rundlich. Die kurzen, dunklen Haare waren schon leicht ergraut. Als er sich langsam zu mir wandte, sah ich ein schmales Gesicht mit kurz geschnittenem Vollbart, auch der schon leicht ergraut. Der Mann schaute mich an, als erwache er aus einem Schockzustand.
“Ist Ihnen was passiert?“, fragte ich. Er verneinte. „Wir müssen schnell von der Straße runter. Beinahe ist mir schon einer reingefahren“, sagte ich.
„Sie haben Recht“, sagte er.
Ich fuhr hinter ihm her auf das Gelände einer Tankstelle. Ich hatte nun Zeit, den Schaden an seinem Mercedes zu betrachten. Stoßstange und Kofferraum waren eingedrückt, die Kofferraumklappe ging ganz langsam von alleine auf, als wolle sie auf die Verletzung hinweisen, die ich ihr zugefügt hatte.
„Entschuldigen Sie!“, sagte ich. „Ist Ihnen wirklich nichts passiert?“
„Nein, nein“, betätigte er, „alles in Ordnung.“
„Und Ihnen?“, fragte er.
„Auch in Ordnung“, sagte ich. „Ihr Auto ist es aber nicht.“
„Das ist eine Kleinigkeit.“
„Eine Kleinigkeit?“, fragte ich. „Das kostet mindestens 2000 Euro. Warum haben Sie denn auf freier Strecke so plötzlich gebremst?“
„Da ist einer aus einer Parklücke vor mir auf die Straße geschossen.“
„Ja, dann“, sagte ich, „ich werde meine Versicherung informieren.“ Ich holte meine Handtasche aus dem Auto und gab ihm meine Visitenkarte.
„Sie sind Psychotherapeutin?“, fragte er mit dem Blick auf meine Karte.
„Ja“, sagte ich, „und ich war wohl in Gedanken noch in der Klinik. Außerdem war es sehr glatt. Die Räder haben einfach nicht gepackt. - Meine Versicherungsnummer habe ich nicht dabei. Ich rufe Sie an, wenn ich zu Hause bin.“
Er schaute nur auf meine Visitenkarte und rührte sich nicht. „Nun“, sagte ich, „Dann müssten Sie mir Ihre Telefonnummer geben.“
„Was?“, fragte er. „Ja, klar.“
Ich war mir nicht sicher, ob ihm nicht doch etwas passiert war; aber er fand die Karte in seinem Geldbeutel. Wie ich dem Papier entnehmen konnte, hieß er Julian Becker und war Diplomingenieur. Er wohnte nur wenige Häuser von mir entfernt in S.. Wir standen beide mit der Visitenkarte des anderen in der Hand herum.
„Danke“, sagte er schließlich, „dann bis nachher.“
„Wollen Sie sich nicht die Nummer meines Autos aufschreiben?“, fragte ich, als er schon in seinen Wagen einsteigen wollte, nachdem er die Heckklappe mit Erfolg wieder heruntergedrückt hatte.
„Warum?“, fragte er.
„Die Visitenkarte könnte doch falsch sein“, sagte ich.
„Ach so“, stutzte er, „das glaube ich aber nicht. Haben Sie sich denn meine Autonummer aufgeschrieben?“
„Das mache ich noch gleich; aber Sie sind doch der Geschädigte.“
„Ihr Auto sieht aber auch nicht gut aus“, meinte er. „Sollten wir vielleicht die Polizei holen?“ „Darauf würde ich gern verzichten“, sagte ich. „Ich bin nicht scharf darauf, auch noch ein Strafmandat zu bekommen. Der Fall ist doch klar. Ich habe geschlafen und bin Ihnen hinten drauf gefahren.“
„Ich hätte vielleicht nicht so hastig bremsen sollen“, sagte er. „Ich war nur erschreckt. Es hätte wohl auch genügt, wenn ich keine Vollbremsung gemacht hätte.“
„Sie reden sich ja um Kopf und Kragen“, sagte ich. „Wollen Sie den Schaden denn unbedingt selbst tragen?“
Ich fuhr hinter ihm her nach Hause. Wir wohnten in derselben Straße. Er bog ab in die Garage eines Hauses, das im Dorf etwas spöttisch Fort Knox genannt wurde. Im recht ländlichen S. lebte man noch relativ ungeschützt. Neben den Bauernhöfen, die meist als Reitställe genutzt wurden und große offene Einfahrten hatten, gab es die einfachen Landhäuser mit einem kleinen Vorgarten, ein paar Mietshäuser und einige Villen, die sich hinter Hecken versteckten; aber kein Haus war wie das meines Unfallgegners von einem hohen, stabilen Zaun umgeben.
Zwei Wochen später rief mich Julian an und bedankte sich für die Regelung der Angelegenheit, die übrigens 3.700 Euro gekostet hatte, und lud mich zum Essen ein. Ich war schon neugierig auf das Innere von Fort Knox, er nannte aber ein Gasthaus in der Nähe. „Das ist das Wenigste, was ich tun kann, nachdem Sie durch mich einen so großen finanziellen Schaden erlitten haben.“ Der Mann begann mich aus therapeutischer Sicht zu interessieren. Woher hatte er die auffällige Neigung zur Selbstbeschuldigung?
Julian war zweiundvierzig, kam aus Süddeutschland und arbeitete bei Blohm & Voss. Viel mehr erfuhr ich zunächst nicht von ihm, weil er mich mit größtem Interesse nach meiner Tätigkeit ausfragte. Was ihn besonders interessierte, war der therapeutische Umgang mit Depressiven. Wie hoch war die Erfolgsquote bei einer Therapie? Warum wurden Menschen depressiv? Ich erzählte ihm von einigen Fällen aus meiner Praxis. Er fragte nach. Ich erzählte ihm von einem Mädchen, dem alles gleichgültig war, das sich für nichts begeistern konnte und das morgens nicht aus dem Bett wollte, weil es nicht wusste, wozu es aufstehen sollte. Er fragte nach dem Therapieerfolg. Letztlich sei ich gescheitert, musste ich eingestehen. Das Mädchen hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und war verblutet. Er wollte eine Erklärung. Dass Leute mit einer tödlichen Krankheit wie Krebs im Endstadium Selbstmord begingen, könne er verstehen. Sogar Selbstmord aus Liebeskummer sei für ihn nachvollziehbar; aber warum sonst sollte sich ein junger Mensch, der sein ganzes Leben noch vor sich habe und eigentlich doch den Lebenswillen in sich spüren müsse, umbringen? Ich erzählte ihm von Verlusterlebnissen, die ein junger Mensch in seinem Leben gehabt haben konnte, ohne dass er wusste, dass er sie jemals hatte, und dass es manchmal gelang, diese Erlebnisse ins Bewusstsein zu heben und dass das manchmal zu einem Therapieerfolg führte, manchmal aber auch nicht, dass es oft nicht gelinge, hinter die Ursache zu kommen und dass viele Depressionen auch körperlich bedingt seien und medikamentös behandelt werden müssten.
„Kann man Selbstmorde verhindern“, wollte er wissen. Ich nannte ihm Anzeichen, die auf eine Selbstmordabsicht hindeuteten, die aber auch manchmal fehlten und manchmal keine größere Bedeutung hätten. Die meisten Selbstmordversuche scheitern übrigens zum Glück, fügte ich hinzu, weil sie scheitern sollen. Sie seien Hilferufe und als Vorwurf für die Angehörigen gedacht. Sie würden oft so durchgeführt, dass sie entdeckt und letztlich verhindert werden könnten, und wenn die eingeplante Entdeckung dann überraschenderweise doch nicht stattfinde, weil der Lebenspartner beispielsweise zu spät nach Hause komme, riefen die Selbstmordkandidaten selbst den Notdienst an. Aber es gebe natürlich auch andere, die keine Signale, zumindest keine erkennbaren, sendeten und sicher stellten, dass der Selbstmord auch erfolgreich sei.
Julian entschuldigte sich dafür, dass er mich mit seinen Nachfragen bedrängte. Ich fragte ihn, warum ihn das Thema denn so stark interessiere. Er sprach von einem Kollegen, dessen Tochter Selbstmord begangen habe. Dann fügte er hinzu, dass er zwar Ingenieur sei, aber viel lese. Und da gehe es ihm doch oft zu Herzen, warum so viele junge Menschen ihr Leben wegwürfen oder es durch Drogenkonsum ruinierten. Schuldgefühle, sagte ich, spielten oft eine Rolle. Er habe gerade mal wieder den „Faust“ gelesen, erklärte Julian. Gretchen sei ja ein Beispiel für Selbstbestrafung aus Schuldgefühl, obwohl sie doch eigentlich gar keine Schuld habe. Aber sie rechne es sich als Schuld an, dass sie ihre Mutter unwillentlich mit dem Schlafmittel, das ihr Faust gegeben hatte, getötet und ein uneheliches Kind bekommen habe und dass ihr Bruder von Faust getötet worden sei. Aber das sei doch lange her und spiele in einer Zeit mit strikten moralischen Normen und empfindsamen Seelen, meinte er, heutzutage sei das doch anders. Empfindsame Seelen gebe es immer noch, sagte ich, auch wenn es Gott sei Dank aus der Mode gekommen sei, bei jedem größeren Schreck und jeder größeren Freude in Ohnmacht zu fallen und auf das Riechfläschchen zu warten. Und selbst wenn die Moral heutzutage eine geringere Rolle spiele, Ehrverlust und Schuldgefühle seien für viele Menschen doch noch ein Problem.
Mir war natürlich klar, dass es weder Gretchen war noch die Tochter eines Kollegen, die Julians auffälliges Interesse an depressiven Mädchen erklärten. Ich wollte zwar unser gemeinsames Abendessen nicht zu einer therapeutischen Sitzung werden lassen, aber trotzdem rutschte mir die Frage heraus, ob er eine Tochter habe. Er zögerte einen Moment und sagte dann etwas zu heftig: Nein, nein, er habe keine Kinder, um dann noch heftiger hinzuzufügen, er habe auch keine Frau, er sei nämlich geschieden, und seine ehemalige Frau lebe jetzt wieder in Schwaben, wo sie früher gelebt hätten. Ich entschuldigte mich für meine indiskrete Frage, woraufhin Julian dann wieder versöhnlich meinte, die Sache wäre ausgeglichen, wenn ich auch etwas über meine persönlichen Verhältnisse verriete. Ich erzählte ihm also, dass ich verwitwet sei, weil mein Mann vor zwölf Jahren einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt habe, und dass ich eine 17jährige Tochter hätte, die zur Zeit in Amerika ein Auslandsschuljahr mache. Nun war es an ihm, sich zu entschuldigen und mir sein Beileid wegen des Todes meines Mannes auszusprechen.
„Dann haben wir also jetzt keine Geheimnisse mehr voreinander“, spöttelte ich, woraufhin wir uns zuprosteten.
„Und wie geht es Ihrer Tochter in Amerika?“, wollte Julian dann wissen.
„Soviel ich weiß, geht es ihr sehr gut da.“
„Und wo ist sie da genau?“.
„In Columbus, Ohio.“
„Das ist ja eine sichere Gegend“.
„Ich mache mir da auch keine Sorgen“, bestätigte ich ihn, „Columbus ist ja nicht New York.“
Das nächste Mal traf ich Julian beim Joggen. Es war ein sonniger Sonntag im März. Meist schaffe ich es ja nicht, mich rechtzeitig zum Joggen aufzuraffen, und dann wird es elf oder zwölf, bis ich aus dem Haus komme, manchmal schaffe ich es aber auch erst am Nachmittag. Aber an diesem ersten Frühlingstag hatte ich eine Verabredung mit meiner Freundin Lea. Außerdem war zu erwarten, dass die Wege, auf denen ich lief, ab zehn oder elf voll waren mit Spaziergängern und Radfahrern, einschließlich der mitlaufenden Hunde, die es nicht unterlassen können, alle Jogger anzukläffen und aus dem Rhythmus zu bringen. Also zwang ich mich an diesem Tag, schon um neun Uhr loszulaufen. Ich war kaum zehn Minuten unterwegs, als mir Julian entgegenkam. Er war schon auf dem Rückweg und ordentlich verschwitzt. Wir blieben stehen und gaben uns die Hand.
„Sie sind ja ein Frühaufsteher“, sagte ich. „Dabei war ich schon stolz, dass ich es heute geschafft habe, um neun auf den Beinen zu sein.“
„Nachher wird es hier Gedränge geben“, meinte er.
„Osterspaziergang“, sagte ich.
„Ich höre schon des Volks Getümmel/ Hier ist des Volkes wahrer Himmel/ Zufrieden jauchzet groß und klein/ Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein“, zitierte er.
„Wenn Sie noch lange hier herumstehen, werden Sie aber bald nicht jauchzen, sondern schluchzen, weil Sie sich eine ordentliche Erkältung zugezogen haben, so verschwitzt wie Sie sind.“
„Ich könnte Sie ja noch ein Stück begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben“, schlug er vor.
Ich hatte nichts dagegen. Man soll ja auch locker auslaufen und allmählich abkühlen, schlagen alle Trainer vor. Und für ihn war das natürlich nur ein Auslaufen, als er neben mir her joggte. Ich hatte ja gesehen, in welchem Tempo er gelaufen war. Wir liefen so langsam, dass wir uns dabei unterhalten konnten. Ich erzählte ihm, dass ich mich unter anderem deshalb so früh auf den Weg gemacht hatte, weil ich für zwei Uhr mit einer Freundin zu einem Orgelkonzert im Michel verabredet war.“
„Ich habe auch eine Karte“, sagte er.
„Dann könnten wir ja auch zusammen fahren“, schlug ich vor.
„Gerne“, sagte er.
Kaum war ich nach dem Konzert wieder zu Hause, rief Lea an:
„Ich glaube, ich sollte auch mal mit meinem Auto auf die Jagd gehen“, sagte sie, „vielleicht erledige ich dann auch so einen kapitalen Hirsch.“
Wir waren nach dem Konzert noch für eine Stunde in ein Cafe´ gegangen, Leas Neugier auf meinen Begleiter wollte befriedigt werden.
„Ich kann nicht dafür garantieren, dass du dann nicht einen Hornochsen abschießt“, sagte ich.
„Der redet nicht so viel wie Thomas“, stellte Lea fest, „er wird dich nicht dauernd analysieren.“
Ich hatte mich vor einem halben Jahr von Thomas, einem Kollegen, mit dem ich fünf Jahre zusammen war, nach einigen heftigen Streitereien getrennt. Thomas hatte die üble Angewohnheit, mir immer wieder zu sagen, warum ich etwas tat oder sagte. So etwas ist der Tod jeder Beziehung. Das permanente Analysieren des Partners ist widerlich, besonders widerlich ist es, wenn es von einem Therapeuten mit dem entsprechenden Fachvokabular kommt. Unter Therapeuten sollte das tabu sein, aber Thomas tat das mit Leidenschaft. Man möchte doch eigentlich nicht verstanden werden, jedenfalls nicht total. Irgendetwas Geheimnisvolles möchte man doch noch an sich haben. Da war Julian ganz anders. Julian lieferte keine Analysen, er fragte mir nur Löcher in den Bauch, was entschieden angenehmer ist als seziert zu werden.
Wir trafen uns nun öfter. Wir gingen zusammen ins Kino, ins Theater, in Konzerte, joggten am Sonntagmorgen zusammen und spielten auch gelegentlich Tennis miteinander, nachdem wir entdeckt hatten, dass wir im selben Tennisklub waren. Beim Tennis war es allerdings wie beim Joggen. Julian war um Klassen besser, aber er spielte mir den Ball so nett zu, dass dabei längere Ballwechsel zustande kamen und ich ganz gut aussah.
Ella, mit der ich meist spielte, hatte von irgendwo her Informationen über Julian und wusste, dass er einige Jahre in Peru gearbeitet hatte. Für mich war das neu, weil er so gut wie nie etwas über sich preisgab. Als ich Julian auf seine frühere Tätigkeit ansprach, erzählte er, dass er fünf Jahre in Lima für eine süddeutsche Firma tätig gewesen war. Die Firma hatte dort ein Werk für Lastkraftwagen aufgebaut, kleine, robuste Lastkraftwagen, die auf den meist sehr schlechten Straßen zurechtkamen und den Bauern dazu dienten, ihre Waren in die Stadt zu bringen, aber auch als Transportmittel für Arbeitskräfte dienten. Zehn bis zwanzig Leute saßen dann oft auf der Ladefläche eng zusammengedrängt und ließen sich mit gleichmütigem Gesicht über die holprigen Straßen kutschieren. Das war so ungefähr alles, was Julian von sich aus erzählte. Ich wollte aber mehr wissen, über die Lebensweise der Menschen dort, das Klima und die touristischen Sehenswürdigkeiten. Ich musste aber nach allem fragen, um ihn zum Erzählen zu bringen. Ja, sagte er, er sei in Machu pichu gewesen, ja, er sei beeindruckt gewesen, und die Temperaturen in Lima seien trotz der Nähe zum Äquator eigentlich gut auszuhalten. „Prima Klima in Lima“, scherzte er. Der kalte Humboldtstrom vor der Küste sorge dafür, dass die Temperaturen meist zwischen zwanzig und dreißig Grad schwankten. Im Winter liege zwar oft ein dichter Nebel über der Stadt, aber im Sommer sei es sehr sonnig. Ein wenig erzählte Julian auch von der Schönheit der Stadt, ihren Bauten aus der Zeit der spanischen Besatzung, und von den unterschiedlichen Volksgruppen, denen man dort begegne, den indogenen Völkern, den Nachkommen der Spanier, den asiatischen Zuwanderern und den Geschäftsleuten aus aller Herren Ländern, die dort ihre Spuren hinterließen. Die sehr unterschiedlichen Lebensweisen und Einkommensverhältnisse ergäben zwar ein pittoreskes Bild, die soziale Ungleichheit sei aber eigentlich unerträglich. Ein Großteil der Bevölkerung könne kaum überleben. Am Rande der Stadt entstünden immer neue Elendsviertel ohne Strom und fließendes Wasser. Er selbst habe natürlich in einem neu errichteten Viertel gewohnt, das die internationalen Firmen für ihre Mitarbeiter requiriert hätten und das durch Zäune und Wachpersonal vor den Armen geschützt gewesen sei. Julians Antworten fehlte alles Persönliche. Es war, als würde ich einem Referat über Lateinamerika zuhören.
Bei Auskünften über seine Ehe war Julian noch zurückhaltender. Er sei achtzehn Jahre verheiratet gewesen. Man habe sich aber auseinandergelebt. Ich gab mich mit dieser knappen Antwort zufrieden, obwohl ich natürlich gerne mehr erfahren hätte; aber offenbar wollte er nicht mehr sagen.
Irgendwann lud ich Julian zu mir ein, weil ich vergeblich darauf wartete, dass er die Initiative ergriff. Ich habe meinen Schreibtisch im Wohnzimmer stehen, weil ich eine Drei-Zimmer-Wohnung habe mit einem Schafzimmer für mich und einem für Judith, meine Tochter. Julian sprach mich gleich auf das Foto an, das auf dem Schreibtisch stand:
„Ist das deine Tochter?“
„Ja, das ist Judith.“
„Ein schönes Mädchen mit einem fröhlichen Lachen im Gesicht.“
„Ja, sie ist ein sehr fröhliches Mädchen, voller Unternehmungslust.“
„Ich habe mich mal im Internet über Columbus informiert“, sagte Julian zögerlich.
„Warum?“
„Nun ja, nachdem du mir erzählt hast, dass sie dort ihr Auslandsschuljahr macht, wollte ich doch einmal wissen, wie es da so aussieht.“
Obwohl Julian sich schon mehrfach erkundigt hatte, wie es meiner Tochter in Amerika ging, war ich doch erstaunt, dass sein Interesse so weit ging, dass er sich mit ihrem Aufenthaltsort befasst hatte.
„Und was hast du herausgefunden?“, fragte ich.
„Ich wusste gar nicht, dass Columbus eine so große Stadt ist“, sagte er. „Sie hat über 700.000 Einwohner.“
„Aha“, sagte ich nur. Mir war das auch neu, ich sagte aber nicht mehr, weil ich darüber nachdachte, warum Julian die Stadt so sehr beschäftigte.
„Fünfundzwanzig Prozent sind Afroamerikaner“, fuhr Julian fort. „Das hat mich auch überrascht. Ich hatte mir gedacht, die Schwarzen leben im Süden, wo ihre Vorfahren auf den Baumwollfeldern arbeiten mussten, oder in Detroit wegen der Autoindustrie, oder in New York, aber nicht in einer so ländlichen Gegend, wo die Farmer mit ihren riesigen Mähdreschern über die Felder fahren.“
„Hast du was gegen Schwarze?“, fragte ich verwirrt, weil ich nicht wusste, wie ich seine Informationen deuten sollte.
„Nein, nein,“ versicherte er, „aber über zehn Prozent der Bevölkerung von Columbus leben unter der Armutsgrenze, und das sind überwiegend Schwarze.“
„Traurig genug“, konstatierte ich, „aber warum erzählst du mir das?“
„Ich meine damit nur, dass Columbus doch nicht so ungefährlich ist, wie ich angenommen habe.“
„Willst du mir Angst machen?“, fragte ich.
„Entschuldige! Nein, das wollte ich nicht. Ich habe mir nur so meine Gedanken gemacht.“
„Solche Gedanken macht man sich nicht nur einfach so. Was ist mit dir los?“
Julian schwieg.
„Ich kann dich aber beruhigen“, sagte ich schließlich. Judith lebt in einem sehr bürgerlichen Viertel. Ich kann´s dir mal im Internet zeigen. Ich klickte auf Google earth, tippte die Straße ein und zoomte dann auf das Haus, in dem Judith lebte, ein typisches amerikanisches Einfamilienhaus mit einer Doppelgarage und einem kleinen Swimmingpool im Garten.
„Und die Schule ist nicht weit weg“, ergänzte ich.
Ich zoomte mich wieder von dem Haus weg und zeigte ihm die Schule, die zwei Blocks entfernt war. Julian schaute nur und sagte nichts. Ich schaltete auf Emails und zeigte ihm Fotos, die die Familie mir zugeschickt hatte. Das sind Ron und Barbara, und das sind ihre beiden Mädchen. Ron arbeitet in der Stadtverwaltung und Barbara ist Lehrerin an Judiths Schule.“
Julian sagte immer noch nichts.
„Und das ist Rex“, fügte ich noch hinzu und zeigte Julian das Foto eines deutschen Schäferhundes.
„Der beißt jeden Eindringling weg. Beruhigt?“
„Entschuldige“, sagte Julian schließlich, „ich bin vielleicht ein bisschen zu ängstlich.“
Mitte August kam Judith aus den USA zurück. Sie war noch einige Wochen über das Schuljahresende hinaus dort geblieben, um mit ihrer Gastfamilie eine Rundreise zur Westküste zu machen: Yellowstone Park, San Francisco, Los Angeles, Las Vegas, Grand Canyon und so weiter.
Ich fuhr zusammen mit Julian zum Flughafen, um sie dort abzuholen. Judith kam braun gebrannt und strahlend in die Empfangshalle, fiel mir um den Hals und begrüßte Julian mit der Nonchalance einer Weitgereisten. Sie plapperte ununterbrochen, als wir in Julians Auto nach Hause fuhren. Hinten im Auto sitzend erzählte sie halb Englisch halb Deutsch von Ihrer Familie, von Mom, Dad, Cindy und Meaghan, von ihrer Schule und von der Rundreise. Ich beobachtete Julian von der Seite. Er amüsierte sich köstlich, das Grinsen ging ihm nicht aus dem Gesicht. Er saß da wie ein stolzer Vater, der seine schöne Tochter auf dem Abiball tanzen sieht. Als Judith so ungefähr zum zehnten Mal von ihrer Mom gesprochen hatte, sagte ich: „Excuse me, young lady, I´m your mom.“ „Entschuldigung!“, widersprach Judith heftig, „Barbara ist meine Mom, du bist meine Mutter.“
Sie beugte sich vor und gab mir einen Kuss.
Zum Abendessen waren wir wieder mit Julian verabredet. Wir holten ihn in seiner Festung ab und fuhren in das Lokal, wo ich schon mit Julian die Erledigung der Unfallkosten gefeiert hatte. Judith konnte sich natürlich nicht verkneifen, Julian nach den Gründen für die Schutzmaßnahmen um sein Haus zu fragen. Ob er Goldschätze dort aufbewahre oder Leichen in seinem Keller verstecke? Julian wirkte aber nicht gekränkt, sondern verwies auf die Ängstlichkeit seiner früheren Frau. Beim Essen verlief die Unterhaltung ähnlich wie im Auto: Judith erzählte, inzwischen auch schon überwiegend auf Deutsch, was es alles an Absonderlichem in den USA gab. Immerhin hatten wir manchmal Gelegenheit eine Frage zu stellen, wenn sie gerade mal den Mund voll hatte. Als Erstes ging es um die Tischsitten. Sie sei versucht gewesen, erzählte Judith, als die Suppe serviert worden sei, die Hände unter dem Tisch zu falten und still zu beten. Das habe ihre Familie nämlich getan, wenn sie in ein Restaurant gegangen seien. Zu Hause sei aber immer laut gebetet worden, vor und nach dem Mittagessen, ebenso vor und nach dem Abendessen. Nur zum Frühstück sei nicht gebetet worden. Das habe man verzehren dürfen, ohne Gott um seinen Segen zu bitten oder ihm zu danken. Sie seien aber selten in ein Restaurant gegangen, weil ihre Mom und ihr Dad gerne gekocht hätten, und zwar gut und gesund. Es habe keineswegs jeden Tag Fast Food gegeben, wie wir vielleicht denken würden. Es gebe auch Amerikaner, die nicht nur von Hamburgern und Pommes und Cola lebten; aber natürlich seien die meisten Amerikaner übergewichtig, nicht aber ihre Familie. Dann ging es um die Schule, ihre Lehrer, ihre Freunde, dann wieder um die Rundreise. Julian stellte am Anfang einige Fragen, wurde dann aber immer stiller.
Schließlich meinte Judith: „Ich glaube, ich rede zu viel, Julian wird schon ganz schläfrig.“ Julian protestierte. Es sei ein Vergnügen, ihr zuzuhören; aber er sei wohl in der Tat ein wenig müde. Er entschuldigte sich und bat darum, es ihm nicht übel zu nehmen, wenn er vorzeitig nach Hause ginge. Er wirkte trotz der aufgesetzten Heiterkeit traurig und verließ das Lokal mit hängenden Schultern.
Judith war in den folgenden Tagen kaum noch zu sehen. Sie traf sich mit ihren Freundinnen und Freunden, und bald begann auch die Schule. Ich war schon froh, wenn sie wenigstens beim Abendessen und am Wochenende zu Hause war.
Was mich von Tag zu Tag mehr verwirrte war die Tatsache, dass Julian mich nie zu sich einlud. Wenn wir uns privat trafen, geschah das immer bei mir. Ich überlegte, ob ich ihn fragen sollte, ob er vielleicht, wie Judith gescherzt hatte, tatsächlich eine Leiche im Haus habe, unterließ es aber, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Schließlich sagte er von sich aus, es sei doch komisch, dass ich noch nie in seinem Haus gewesen sei, und lud mich für den nächsten Tag ein. Begrüßt wurde ich zunächst vom wütenden Gebell seines Hundes, der sich am Zaun aufrichtete und mir sein Gebiss zeigte, und vom grellen Licht des Bewegungsmelders. Ich hatte schon Angst auf die Klingel zu drücken, weil ich befürchtete, dann ginge ein neues Donnerwetter los. Ich musste es aber erst gar nicht tun, weil Julian schon das Gartentor öffnete.
Die Wohnung war groß und hell, besonders das Wohnzimmer, das recht karg, aber geschmackvoll eingerichtet war: eine breite Glasfront zum Garten hin, vor der jetzt der Hund stand und durch Knurren auf sich aufmerksam machte, ein Esstisch mit vier Stühlen, ein Sofa mit Beistelltisch, ein Sideboard, ein paar Bilder und ein Bücherregal, das eine Wand verdeckte. Auffälligstes Mobiliar war ein Klavier rechts an der weißen Wand. „Du spielst Klavier?“, fragte ich ihn. „Hin und wieder“, sagte er. Ich bat ihn, mir etwas vorzuspielen. Er zierte sich nicht lange, sondern fragte mich, was es denn sein solle. Ich überließ ihm die Auswahl. Ich habe wenig Ahnung von Musik, lasse mich aber gerne von ihr einfangen. Julian spielte etwas Träumerisches, das mich über eine verschneite Landschaft fliegen ließ. Ich hatte aber auch Zeit, mich im Wohnzimmer umzusehen. Über dem Klavier waren zwei helle Stellen, an denen offenbar vor nicht allzu langer Zeit Bilder gehangen hatten. Die Nägel darüber waren noch nicht entfernt. Dann überließ ich mich wieder meinen Traumbildern. „Schläfst du?“, fragte Julian plötzlich. Ich hatte mit geschlossenen Augen auf dem Sofa gesessen, sodass ich gar nicht bemerkt hatte, dass er nicht mehr spielte. „Du hast mich zum Träumen gebracht“, sagte ich, „es war sehr schön.“
„Hast du etwas dagegen, wenn ich den Hund mal hereinhole, damit er mit dir Freundschaft schließt?“, fragte Julian. „Ich möchte nicht, dass er dich auch künftig ankläfft, wenn du mich besuchst.“
„Wenn es hilft und er mich nicht beißt.“
„Keine Sorge!“
Er ließ den Hund durch die Terrassentür herein und stellte mich als Freundin vor. Der Hund war nun ganz ruhig und kam zu mir, um sich ein wenig kraulen zu lassen. Ich mag eigentlich keine Hunde; ich liebe Katzen. Mit Hunden muss man sich dauernd beschäftigen, weil sie so auf ihren Herrn fixiert sind, ihn dauernd anstarren und auf seine Befehle warten. So ein Verhalten ist mir zu sklavisch. Katzen dagegen können sich gut alleine beschäftigen und auf Befehle reagieren sie allergisch. Wenn sie Lust haben, kommen sie und lassen sich streicheln; wenn sie keine haben, bleiben sie weg. Und wenn man eine Katzenklappe zum Garten hin hat, hat man mit ihnen keine Arbeit. Hunde sind dagegen nicht nur eine Belastung für ihre Besitzer, die sie alle paar Stunden Gassi führen müssen, sondern ein Alptraum für Jogger, weil diese Kläffer, besonders die kleinen, immer zeigen müssen, wie gefährlich sie sind. Dieser Hund hier benahm sich aber ordentlich.
„Wie heißt er denn?“, fragte ich.
„Theo.“
„Theo? Seltsamer Name für einen Hund.“
„Er hat gewisse Ähnlichkeit mit meinem Onkel Theo.“
Ich stellte mir Onkel Theo vor, und das ließ ihn nicht vorteilhaft erscheinen: vorstehender Unterhiefer, Sabber in den Mundwinkeln und Haare auf dem Rücken. Er war aber so gut wie der erste Verwandte Julians, von dem ich erfuhr.
„Was ist denn das da an der Tür?“, fragte ich.
„Der Monitor? Der gehört zu der Kamera, die den Eingangsbereich überwacht.“
Vielleicht entglitt mir in diesem Moment ein Hmm, so ein Hmm, das oben in der Tonskala anfängt und dann noch etwas weiter nach oben geht. Jedenfalls fuhr er fort: „Du wunderst dich vielleicht darüber, dass ich so etwas in dieser friedlichen Gegend brauche. Meine Frau wollte so etwas haben. Sie war ein wenig ängstlich.“
„Daher auch der Zaun und der Wachhund?“
„Was soll ich machen? Ich kann den Zaun vorläufig nicht abbauen, weil der Hund Auslauf braucht, und ich will ihn nicht in ein Tierheim geben.“
„Dein Haus hat im Dorf einen Spitznamen“, sagte ich, „Fort Knox.“
„Nicht schlecht“, meinte er, „aber Gold ist hier nicht zu holen.“
Sein lockerer Ton ermunterte mich, ihn ein wenig auszufragen. „Gab es einen besonderen Grund, warum deine Frau so ängstlich war?“
„Sie ist einmal überfallen worden.“
„Wo?“
„In unserem Haus in Lima.“
„Ist ihr etwas passiert?“
Julian zögerte einen Moment. „Man hat sie in den Keller gesperrt und sie musste warten, bis einer, ich meine ich, nach Hause kam. Die Einbrecher haben mitgenommen, was sie gebrauchen konnten.“
Ein etwas peinliches Erlebnis einige Monate später ließ mich daran zweifeln, dass es nur seine Frau war, die von diesem Einbruch mitgenommen war. Es war im späten Herbst. Wir saßen wieder einmal bei ihm im Wohnzimmer, draußen tobte ein wilder Sturm, begleitet von Blitz und Donner, als plötzlich die Terrassentür erzitterte. Theo, der nachts und bei schlechtem Wetter im Haus war, sprang auf und bellte die Tür an. Julian schob mich vom Sofa und rief „Hinlegen!“ Er selbst robbte zum Lichtschalter und machte dunkel. Dann versteckte er sich hinter dem Sofa, was ich mehr hörte als sah. Ich kroch zu ihm hin und schaute dann an der einen Seite des Sofas in Richtung Terrasse, genau so wie der Hund, der immer noch bellte. Im Schein eines Blitzes erkannte ich aber, dass niemand die Glastür aufhebeln wollte, sondern dass ein großer Ast auf die Terrasse gekracht und gegen die Tür gefallen war. Julian musste es auch gesehen haben; denn er stand auf und sagte „Fehlalarm“. In der Hand hielt er eine Pistole.
Immer wenn ich mit ihm verabredet war, empfing er mich an der Haustür. Eines Nachmittags, als ich vom Einkaufen nach Hause ging und gerade an seinem Haus vorbei kam, fiel mir ein, dass ich ihn noch fragen musste, wann wir uns zum Tennis treffen wollten. Sein Auto stand schon vor der Tür. Also klingelte ich bei ihm, statt ihn von zu Hause aus anzurufen. Julian ließ mich warten, dann rief er vom Wohnzimmer aus: „Einen Moment noch.“ Es war ein recht langer Moment. Nun gibt es sicher viele Gründe, weshalb jemand einen unerwarteten Besucher nicht jederzeit sofort ins Haus lassen kann. Ich war aber sicher, dass er irgendetwas vor mir verbergen musste, vor allem die Bilder über dem Klavier. Als er mich dann an der Haustür abholte, zeigte er sich erfreut über den spontanen Besuch und liebenswürdig wie immer. Wir tranken auch noch einen Kaffee zusammen, wobei wir allerdings vom Läuten des Telefons gestört wurden. Er ließ es nicht lange läuten, sondern nahm gleich ab. „Jetzt nicht“, sagte er, „ich rufe dich nachher an.“ So etwas erlebt man ja öfter und es ist ja eigentlich ein Gebot der Höflichkeit, kein Telefongespräch in Anwesenheit eines Gastes zu führen; aber die eindringliche Art, in der er das Gespräch abwürgte, machte den Eindruck, als dürfe auf keinen Fall ein verräterisches Wort laut werden. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich annehmen müssen, dass er eine heimliche Geliebte hatte; aber mir war klar, dass es nur seine geschiedene Frau sein konnte. Er entschuldigte sich kurz wegen der Störung, machte aber keine Anstalten, mich aufzuklären. Ich ließ ihm sein Geheimnis. Ich wollte nicht seine Therapeutin werden, sondern seine Freundin bleiben.