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Selbstaufopferung

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Im Frühsommer machten wir einen Spaziergang in der Holsteinischen Schweiz. Wir gingen gerade an einem der vielen Seen entlang, als eine Entenmutter mit ihren Küken im Schlepptau den Wanderweg überquerte. Plötzlich schoss ein laut kläffender kleiner Hund aus dem Wald und raste auf die Gruppe zu. Die Entenmutter stellte sich dem Angreifer schnatternd in den Weg, plusterte sich auf und schlug so heftig mit den Flügeln, dass sie sich schon vom Boden erhob. Julian rannte sofort schimpfend los, um den Hund zu vertreiben, was ihm aber erst gelang, als er nach dem Hund trat. Der Hund wich zurück, bellte aber aus sicherer Entfernung Julian an. Bald darauf hörten wir einen Pfiff. Der Eigentümer des Hundes wurde sichtbar und befahl den Hund zu sich, der sich daraufhin, indem er sich gelegentlich umdrehte und Julian ankläffte, zu seinem Besitzer zurückzog. Julian fuhr den Mann an, was er sich denn dabei denke, seine Töle im Naturschutzgebiet herumlaufen zu lassen. Der Hundebesitzer drohte Julian, er werde ihn anzeigen wegen Tierquälerei, erkundigte sich aber nicht nach Name und Adresse.

„Tapferes Entchen“, sagte ich.

„Ja“, meinte Julian, „todesmutig.“

„Wie groß es sich machen konnte, als der Hund kam“, staunte ich. „Es sah fast so aus, als wolle es sich auf den Angreifer stürzen.“

„Der Hund hätte sich trotzdem eins der Kleinen geschnappt. Die liefen ja vor Schreck durcheinander.“

„Man sagt ja immer, so etwas sei Instinkt, aber eigentlich würdigt man damit die Tapferkeit der Ente herab.“

„Die Tiere sind tapferer als die Menschen, weil sie nicht überlegen“, meinte Julian. „Vom Pelikan berichten ja alte Quellen, dass er sich selbst zerfleischt, um seine Jungen in der Not zu ernähren.“

Ich widersprach: „Menschen handeln auch instinktiv. Noch bevor sie Zeit haben zu überlegen, werfen sie sich bei Gefahren schützend über ihre Kinder, bei Bombenangriffen zum Beispiel, und wenn sie Zeit haben zu überlegen, sind sie auch oft bereit, ihr Leben für ihre Kinder zu opfern, und das ist dann ein Opfer, das die Tiere nicht bringen können. Das Problem ist, dass sich die Kinder später dafür Vorwürfe machen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Julian.

„Ich habe gerade eine junge Patientin, die sich Vorwürfe macht, weil ihr Vater durch ihre Schuld gestorben ist. Als er sie gerettet hat, ist er zu Tode gekommen.“

Julian schaute mich fragend an. Er wollte mehr wissen.

„Diese Patientin, sie ist jetzt zweiundzwanzig, hat sich als achtjähriges Mädchen von der Hand ihres Vaters losgerissen und ist auf die Straße gerannt, wo sie beinah von einem heranbrausenden Auto überfahren wurde. Als sie das Auto auf sich zukommen sah, ist sie vor Schreck erstarrt statt zurückzulaufen. Der Vater ist auf die Straße gesprungen, hat sein Kind von der Fahrbahn geschleudert und ist dann selbst überfahren worden.“

„Und sie macht sich jetzt Vorwürfe? Sie war doch noch ein Kind.“

„Sie hat sich einen Mann gesucht, der ihrem Vater ähnlich ist, kann aber nicht mehr mit ihm schlafen.“

„Sie konnte also vorher mit ihm schlafen?“

„Es ging wohl jahrelang gut; aber es ist dann immer schwieriger geworden. Sie hat Probleme, ihren Vater mit seinem Ebenbild zu betrügen. Aber sie hat noch weitere Probleme: Inzwischen ist sie auch kaum noch in der Lage, auf die Straße zu gehen. Sie sieht auch auf dem Bürgersteig Autos von jeder Seite auf sich zukommen. Dabei hat sie sich, so scheint es, jahrelang ganz normal entwickelt, Abi gemacht und eine Banklehre abgeschlossen.“

„Wie kommt es, dass es nach Jahren aufbricht?“

„Das weiß ich auch nicht. Ich nehme an, man hat das Kind schonen wollen und die Sache nicht angesprochen. Es gab ja auch keinen vernünftigen Grund, ihr Vorwürfe zu machen. Wie du schon gesagt hast, sie war ja noch ein Kind. Aber sie wird die Erinnerung behalten haben und irgendwann muss das Erlebnis mal verarbeitet werden. Ich weiß nicht, was der Auslöser war. Sie auch nicht.“

„Sie wird in ihrem toten Vater einen Helden sehen.“

„Das könnte man denken. Sie redet aber durchaus sachlich über ihrem Vater. Sie glorifiziert ihn nicht. Er war wohl recht streng und sie hing eigentlich mehr an ihrer Mutter.“

„Vielleicht sollte sie ihn glorifizieren.“

„Ich halte mehr von der Wahrheit.“

„Aber er war doch ein Held!“

„Vielleicht sollte sie stolz auf ihn sein.“

Julian schwieg. Wir gingen eine Zeitlang nebeneinander her, ohne ein Wort zu reden. Ich war mit meinen Gedanken schon abgeschweift zur nächsten Therapiesitzung, als Julian unvermittelt sagte:

„Eigentlich war es ein schöner Tod.“

Einige Tage später überraschte mich Julian mit der Information: „Herr Lehmann war auch Ingenieur“

„Welcher Herr Lehmann?“, fragte ich.

„Der seine Tochter gerettet hat und dann selbst überfahren wurde. - Über den wir vor einer Woche gesprochen haben.“

Ich schaute ihn mit offenem Mund an.

„Woher weißt du das, und woher hast du seinen Namen? Ich habe ganz bestimmt keinen Namen genannt. Ich weiß ja noch nicht einmal selbst, wie der Mann hieß, weil die Tochter doch geheiratet hat und nicht Lehmann heißt.“

„Beruhige dich, du hast keinen Namen genannt; aber es war nicht schwer, den Namen herauszufinden. Du hast gesagt, das Mädchen war acht, als der Unfall passierte und jetzt ist sie zweiundzwanzig. Die Sache ist also vierzehn Jahre her, und es gibt gute Zeitungsarchive.“

„Das glaube ich nicht“, sagte ich. „Warum hast du das getan?“

„Ich wollte wissen, was das für ein Mann war.“

„Und? Was hast du herausgefunden?“

„Weniger, als ich von dir erfahren habe. Nur in zwei Boulevard-Zeitungen habe ich etwas gefunden. Danach war er ein Held. Das hatte ich mir aber schon gedacht. Über seinen Charakter hat man sonst nichts erfahren.“

„Versprich mir, dass du nie mehr Nachforschungen anstellst über Patienten, von denen ich dir erzähle, oder deren Angehörige. Sonst werde ich dir nichts mehr aus der Praxis berichten.“

„Ist ja schon gut. Ich habe doch nur ein wenig in der Zeitung geblättert.“

Im Juni fuhr Julian übers Wochenende zu einem Schulungskurs des Weißen Rings.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich.

„Du beschäftigst dich mit den Tätern, ich mit den Opfern“, sagte er.

Ich empfand diese Antwort als Provokation.

„Da liegst du falsch“, sagte ich. „Ich beschäftige mich mit psychisch Kranken, unabhängig davon ob sie Täter oder Opfer sind.“

„Man muss doch nur die Zeitung aufschlagen. Die Gutachter beschäftigen sich doch immer nur mit den Tätern. Deren Seelenleben muss ungeheuer interessant sein, im Gegensatz zu dem der Opfer.“

„Gut, die Gerichte schicken einem die Täter zur Begutachtung; die Opfer kommen freiwillig.“

„Oder auch nicht. Über die Täter kann man seitenlange Abhandlungen lesen, die Opfer werden nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Und dann müssen sie sehen, wie sie mit dem Rest ihres Lebens zurecht kommen.“

Ich lenkte ein: „Ich finde das wichtig, was der Weiße Ring tut. Ich wollte von dir nur wissen, wie du dazu gekommen bist, da mitzumachen.“

„Ich habe vor einigen Tagen einen Bericht gelesen über das Verfahren gegen die zwei Jugendlichen, die einen Kioskbetreiber vor einem halben Jahr zusammengeschlagen haben. Du erinnerst dich?“

„Ja; ich habe auch darüber gelesen.“

„Der Artikel hat sich überwiegend mit dem Seelenleben der beiden Täter befasst, ihren Familienverhältnissen und ihrem bisherigen Lebenslauf, der im Wesentlichen aus Straftaten und Bewährungsstrafen bestand. Nebenbei wurde erwähnt, dass das Opfer ein Auge verloren hat und auf Krücken angewiesen ist. Dabei war der Mann erst fünfunddreißig. Er muss jetzt sehen, wie er als Krüppel seine zwei Kinder durchbringt. Von der Rente wird er kaum leben können. Die Täter haben natürlich eine Jugendstrafe bekommen. Die Armen“, sagte er ironisch, „ müssen jetzt auf Staatskosten eine Ausbildung machen, damit sie nach der Haft gut leben können.“

Julian bewertete den Bericht mit hörbarer Verbitterung. Ich hatte die Vermutung, dass ihm irgendetwas passiert sein musste, das sein besonderes Interesse an den Opfern erklärte. Wenn das so war, konnte sein Engagement beim Weißen Ring kaum schaden. Man sagt allgemein, dass der am besten trösten kann, der selbst in einer ähnlichen Situation war wie der Trostbedürftige. Auch uns Psychiatern wird ja unterstellt, dass wir besonderes Interesse an psychisch Kranken hätten, weil wir selbst unter deren Problemen litten. Und in der Tat glaube ich, dass jemand, der wenig gelitten hat in seinem Leben, kaum ein guter Psychiater sein kann. Andererseits sollte man die Probleme aber auch hinter sich haben, bevor man sich auf Patienten stürzt, weil man sonst die eigenen Probleme auf den Patienten projiziert. Und bei Julian bestand meiner Meinung nach auch die Gefahr, dass er seine eigenen Erlebnisse nicht verarbeitet hatte. Ich war mir also in der Bewertung seines Engagements nicht ganz sicher, dachte aber an die anonymen Alkoholiker, die erfolgreicher waren als die meisten Therapeuten, gerade weil selbst Betroffene mit den Alkoholikern sprachen und nicht Besserwisser, die die Probleme nicht kannten.

Die Wochenendkurse zogen sich über mehrere Monate hin. Danach stand Julian dem Weißen Ring am Abend und an den Wochenenden zur Verfügung, meist am Telefon. Es ging um Ermunterung der Opfer, um Hinweise auf Ansprüche gegenüber Versicherungen oder den Tätern, um zuständige staatliche Stellen und therapeutische Einrichtungen. Manchmal machte er auch Besuche, wenn Telefongespräche nicht zur Ermunterung ausreichten. Wegen seiner Berufstätigkeit stand er aber für Behördengänge während der Woche nicht zur Verfügung, was er sehr bedauerte. Da musste er sich auf Verweise an andere Mitarbeiter des Weißen Rings beschränken.

An einem Samstag im Oktober rief ich bei ihm an, um ihn zu fragen, ob ich Kuchen mitbringen solle. Wir hatten uns am Morgen beim Joggen zum Kaffee verabredet.

„Ja, bitte, bring etwas Kuchen mit. Für drei Personen. Ich habe Besuch.“

„Störe ich?“

„Im Gegenteil.“

Als ich mitsamt Kuchen erschien, stand eine etwa 40jährige Frau vom Sofa auf und stellte sich selbst vor: „Fabienne Schwertfeger.“

Frau Schwertfeger war eine durchaus aparte Erscheinung, vielleicht etwas zu schlank, aber auffällig teuer gekleidet. Sie musterte mich mit kritischem Blick.

Julian erklärte mir, dass Fabienne, so nannte er sie, vor etwa einem Jahr von einem Radfahrer angefahren worden sei und einen Beckenbruch erlitten habe. Infolge der Verletzung habe sie längere Zeit ihrem Beruf als Lehrerin nicht nachgehen können und habe sich an den Weißen Ring gewandt, weil sie von dem Radfahrer, der sie angefahren habe, einem polnischen Saisonarbeiter, kein Schmerzensgeld erwarten könne, auch von keiner Versicherung, da der Mann keine Haftpflichtversicherung habe.

„Aber der Weiße Ring kann mir auch nicht helfen“, fiel Frau Schwertfeger ein. „Das Pech bleibt mir treu. Sehen Sie, eigentlich müsste der polnische Staat, wenn er seine Bürger schon auf uns los lässt, wenigstens dafür sorgen, dass sie auch eine Haftpflichtversicherung haben. Und wenn er nicht dafür sorgt, muss er eben selbst in Haftung genommen werden. Aber keiner will mir den Prozess gegen den polnischen Staat bezahlen. Und selbst kann ich das Risiko nicht eingehen. Ich bin ein gebranntes Kind. Was meinen Sie, wie die Polizei darauf reagiert hat, dass ich von dem Polen zum Krüppel gefahren wurde?“

Ich zuckte mit den Schultern. Frau Schwertfeger schaute mich triumphierend an.

„Man hat mir ein Strafmandat über dreißig Euro aufgebrummt“, stellte sie empört fest.

Ich war ehrlich überrascht, kam aber gar nicht dazu, nach dem Grund zu fragen, weil Frau Schwertfeger empört fortfuhr:

„Angeblich, ich betone „angeblich“, bin ich blind auf den Fahrradweg gelaufen, direkt vor das Fahrrad des Polen. Ich habe natürlich sofort meinen Anwalt eingeschaltet. Ich liege halbtot im Krankenhaus und bekomme ein Knöllchen über dreißig Euro.Und jetzt kommt das Tolle: Der bescheuerte Richter hat das Strafmandat bestätigt. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich dem Polen sein altes Fahrrad ersetzen und Schmerzensgeld für den Rippenbruch hätte bezahlen müssen. Immerhin war der Richter der Meinung, der Pole müsse seinen Schaden selbst zahlen, weil er zu schnell gefahren sei. Der Pole ist dann auch jenseits der Oder verschwunden.“

Julian schaltete sich ein. „Verschwunden ist vielleicht der falsche Ausdruck. Der Pole war ja hier zur Spargelernte, und mit der gebrochenen Rippe konnte er sich nicht mehr bücken.“

Frau Schwertfeger ging darauf nicht näher ein, sondern setzte ihren Bericht fort:

„Ich wollte natürlich dagegen in Berufung gehen. Aber was macht meine Rechtsschutzversicherung? Sie weigert sich, die Prozesskosten zu tragen. Die schreiben mir doch glatt, eine Berufung sei aussichtslos. Da frage ich Sie: Wozu zahlt man die Beiträge? Wenn es darauf ankommt, reden sie sich heraus. Und gegen den polnischen Staat gehen sie natürlich erst recht nicht vor. Das hat man nun davon.“

Ich wollte gerade den Redeschwall der armen Frau Schwertfeger unterbrechen und von der Weigerung einer Versicherung, einer Freundin ihr gestohlenes Fahrrad zu ersetzen, berichten, als Frau Schwertfeger schon fortfuhr:

„Ich habe eine Petition an das Europäische Parlament in Straßburg gerichtet und meinem Europaabgeordneten Beine gemacht. Der hat aber nur mitgeteilt, er werde alles versuchen, mir zu meinem Recht zu verhelfen, was bis heute nicht geschehen ist, und das Europäische Parlament hat erst gar nicht geantwortet. Wahrscheinlich debattieren die gerade mal wieder über den zulässigen Krümmungsgrad von Bananen. Aber ich langweile Sie nur mit meiner Leidensgeschichte“, unterbrach sich Frau Schwertfeger selbst und wandte sich an mich: „Vielleicht lande ich demnächst noch bei Ihnen als Patientin, wenn mein Glaube an die Gerechtigkeit weiter erschüttert wird. Julian hat mir ja erzählt, dass Sie Therapeutin sind.“

Ich fragte mich, wann diese Frau endlich einmal Luft holen würde, und bedauerte die armen Kinder, die bei dieser Frau Unterricht hatten. Sie hatte noch einige Klagen mehr vorzubringen, über die Steuerpolitik, die Mineralölpreise, die Unverschämtheiten der heutigen Jugend, die Geistlosigkeit der Pop-Musik und besonders über die Männer, mit Ausnahme von Julian selbstverständlich, über ihren geschiedenen Mann im Besonderen, der die Unverschämtheit besessen habe, seine Sekretärin zu schwängern, während er ihr gegenüber immer Wert darauf gelegt habe, keine Kinder zu wollen, und der sie nun mit den Schulden auf dem großen Haus sitzen gelassen habe.

Ich flüchtete in die Küche und sagte, ich wolle nun etwas zum Abendessen machen. Frau Schwertfeger bestand darauf, mir dabei zur Hand zu gehen, was zur Folge hatte, dass ich weiter ihrem Redeschwall ausgesetzt war, der sich jetzt auf Essensspezialitäten und Partys bezog, die sie früher mit ihrem Mann besucht habe und bei denen sich einige Gastgeberinnen ordentlich blamiert hätten, weil sie entweder zu geizig oder zu geschmacklos oder zu protzig waren. Außerdem drängte sie mir das Du auf und bestand darauf, als Fabienne angeredet zu werden, da wir ja auch durch den gemeinsamen Freund verbunden wären. Ich beneidete Julian, der im Wohnzimmer geblieben war und eine CD eingelegt hatte, obwohl der Musikgenuss nicht uneingeschränkt blieb, da Fabienne ihn von der Küche aus gelegentlich fragte, ob dies oder jenes auch seinem Geschmack entspreche.

Auch nach dem Abendessen hielt es Fabienne immer noch nicht für angebracht, ihren Besuch zu beenden, sondern musste uns noch unbedingt erzählen, wo sie schon überall im Urlaub war, welche unhygienischen Verhältnisse in einigen Hotels geherrscht hätten, wie unverschämt sich die Gigolos an sie und andere Frauen herangemacht hätten und wie schamlos einige Touristinnen darauf eingegangen seien, und so weiter.

Als es elf wurde, war meine Geduld aufgebraucht. Ich ließ alle Höflichkeit fahren und sagte, ich sei müde und müsse jetzt ins Bett. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl reichte nicht. Fabienne wünschte mir eine gute Nacht, machte aber keine Anstalten aufzustehen, bis Julian sagte, auch er sei müde.

Sicherheitshalber begleiteten wir Fabienne vor die Tür, wo sie in einen flotten Sportwagen stieg und nach einigen Liebesbeteuerungen davonbrauste. „Haah“, stöhnte ich. Julian nahm mich in die Arme.

„Wie hältst du das nur aus?“, fragte ich.

„Mit Mühe“.

„Die Frau braucht keinen Weißen Ring, die braucht einen weißen Kittel – oder noch besser: einen Mann, einen Mann wie dich.“

Julian sagte nichts.

„Versprich mir, dass du mich zum Teufel jagst, wenn ich dir jemals lästig werde.“

„Du wirst mir nicht lästig.“

„Hat die Frau durch den Unfall eigentlich irgendwelche finanziellen Verluste erlitten? Bei ihrer Antragsgeilheit kann ich mir das kaum vorstellen.“

„Du hast Recht. Sie hat keinen Pfennig verloren, wenn man mal von den dreißig Euro absieht, die ihr die Polizei aufgebrummt hat. Darum sind wir auch der falsche Ansprechpartner. Nach dem Unfall hat sie bei vollem Gehalt im Krankenhaus gelegen, danach eine Kur gemacht und dann mit halber Stundenzahl unterrichtet, alles bei vollem Gehalt.“

„Und was ist mit den Ansprüchen gegenüber dem Polen oder dem polnischen Staat?“

„Das ist aussichtslos. Nach Aussagen von Augenzeugen ist sie tatsächlich dem Polen einfach vor das Fahrrad gelaufen, sodass der gar nicht ausweichen oder bremsen konnte.“

„Und warum kümmerst du dich trotzdem um sie?“

„Sie hat Angst, dass sie wegen ihres Beckenbruchs später einmal Schwierigkeiten beim Laufen hat.“

„Die haben andere Leute auch, die einen Unfall verursachen. Aber warum taucht ausgerechnet die bei dir auf. Es gibt doch bestimmt genügend andere Leute, die dringender Hilfe brauchen.“

„Sie hat angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen kann.“

„Irgendwie sollte ich mich freuen; du bist einfach ein guter Mensch. Aber wo wohnt sie denn?“

„In Rissen.“

„Also gerade um die Ecke. Dann wirst du ja demnächst häufiger Besuch bekommen.“

Julian bekam in der Tat häufiger Besuch von Fabienne und er war unfähig, ihr klare Grenzen zu setzen. Ich musste die Sache selbst übernehmen. Ich rief sie an und sagte ihr, wir würden in Zukunft gerne auf ihre Besuche verzichten. Sie gehe uns auf die Nerven. Ob das denn auch Julians Ansicht sei. Ich bejahte. Sie wollte ihn sprechen. Ich sagte ihr, ich würde nicht zulassen, dass sie Julians Gutmütigkeit noch länger ausnutzte. Sie beschimpfte mich als eifersüchtige Zicke. Ich gab Julian das Telefon. „Es ist Schluss“, brachte er hervor. Sie rief ihn noch mehrmals an, sogar an seinem Arbeitsplatz. Julian legte aber einfach auf. Das half schließlich.

Eine ungeheure Wut

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