Читать книгу Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book) - Елена Макарова - Страница 9

1 Einleitung

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Berufliche Interessen sind wichtige Determinanten der Studien- und Berufswahl (Humphreys, Lubinski & Yao, 1993) und valide Prädiktoren von Leistung, Zufriedenheit und Persistenz im schulischen, universitären und arbeitsbezogenen Kontext (Nye, Su, Rounds & Drasgow, 2012; Nye, Su, Rounds & Drasgow, 2017; Schiefele, Krapp & Winteler, 1992; Tsabari, Tziner & Meir, 2005). Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen gelten als wesentlicher Faktor zur Erklärung der anhaltenden Ungleichverteilung von Frauen und Männern in MINT-Berufen (Ceci, Ginther, Kahn & Williams, 2014). Um die Studien- und Berufswahlentscheidung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen besser nachvollziehen und erfolgreiche Interventionen zur Förderung von MINT-Interessen gestalten zu können, scheint es zentral, die Entwicklung beruflicher Interessen und insbesondere die Entstehung geschlechtsspezifischer Unterschiede in beruflichen Interessen zu beleuchten.

Berufliche Interessen werden als zeitstabile, situationsübergreifende Handlungstendenzen, das heißt Dispositionen, verstanden (Holland, 1997). Zur Operationalisierung beruflicher Interessen dient traditionell das RIASEC-Modell von Holland (1997). Hollands Theorie folgend, lassen sich Individuen anhand von sechs grundlegenden Interessendimensionen beschreiben: praktisch-technisch (realistic, R), intellektuell-forschend (investigative, I), künstlerisch-sprachlich (artistic, A), sozial (social, S), unternehmerisch (enterprising, E) und konventionell (conventional, C). Jeder der sechs Personentypen lässt sich anhand spezifischer Interessen, Fähigkeiten, Kompetenzen, Werte und Ziele charakterisieren und präferiert bestimmte berufliche Tätigkeiten. Der praktisch-technische Typ bevorzugt die Arbeit mit Maschinen und Werkzeugen sowie Tätigkeiten in der Natur; der intellektuell-forschende Typ zeigt eine Präferenz für Naturwissenschaften; der sprachlich-künstlerische Typ bevorzugt es, eigene, neuartige Ideen kreativ mithilfe von Sprache, Musik, darstellender oder bildender Kunst auszudrücken; der soziale Typ präferiert Tätigkeiten, bei denen der Mensch im Vordergrund steht; der unternehmerische Typ möchte andere Menschen überzeugen oder führen; und der konventionelle Typ bevorzugt den Umgang mit strukturierten Daten.

Kindheit und Jugendalter sind wichtige Phasen der Interessenentwicklung. Theorien zur Entwicklung beruflicher Interessen (Gottfredson, 2002; Todt, 2000) gehen zunächst von einer Phase universeller Interessen aus. Im Vor- und Grundschulalter besitzen Kinder eine große Neugier und Offenheit für neue Erfahrungen. Sie erfreuen sich an einer Vielzahl von Aktivitäten und lassen sich für viele Themen begeistern. Durch individuelle Erfahrungen und den zunehmenden Kontakt mit wichtigen Bezugspersonen (z. B. Eltern, Lehrkräfte, Gleichaltrige) lernen Kinder soziale Erwartungen (z. B. Geschlechterrollen, Prestige von Berufen), ihre eigenen Interessen, Stärken und Schwächen kennen. Von der Primar- zur weiterführenden Schule formen sich individuelle Interessen, das heißt, Kinder entwickeln zunehmend Präferenzen für bestimmte Tätigkeiten und Themen. Bis ins späte Jugendalter findet eine zunehmende Differenzierung individueller Interessen statt, das heißt, die Breite der Interessen nimmt immer mehr ab. Erst im späten Jugend- und jungen Erwachsenenalter gewinnt die Exploration neuer Themen- und Tätigkeitsfelder wieder an Bedeutung. Vom frühen Jugendalter (12 Jahre) bis ins mittlere Erwachsenenalter (40 Jahre) besitzen berufliche Interessen eine relativ hohe Stabilität (Low, Yoon, Roberts & Rounds, 2005), die im Alter zwischen 12 und 30 Jahren sogar höher als die von Persönlichkeitsmerkmalen ausfällt (Roberts & DelVecchio, 2000). Für die Interessenentwicklung im Kindes- und Jugendalter kommen der Selbstwahrnehmung und der Selbstwirksamkeitserwartung eine zentrale Bedeutung zu (Lent, Brown & Hackett, 1994; Todt, 2000). Interessen, die den wahrgenommenen Fähigkeiten und Kompetenzen widersprechen, werden abgewertet und verlieren an Bedeutung. Dabei beeinflussen nach Eccles (1999) drei zentrale Aspekte das Selbstkonzept und das Tätigkeitsengagement im Kindes- und Jugendalter: (1) Kognitive Veränderungen führen zu einem besseren Reflexionsvermögen, (2) die soziale Umgebung der Kinder erweitert sich und Aktivitäten außerhalb der Familie gewinnen an Bedeutung und (3) Kinder sind zunehmend sozialen Vergleichen und dem Wettbewerb mit Gleichaltrigen ausgesetzt. Ähnliche normative Veränderungen lassen sich auch für andere Persönlichkeitsmerkmale nachweisen. Studien verweisen in der späten Kindheit und frühen Adoleszenz auf eine Abnahme der Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für neue Erfahrungen sowie auf eine Abnahme des Selbstbewusstseins (Robins, Trzesniewski, Tracy, Gosling & Potter, 2002; Soto, John, Gosling & Potter, 2011). Zeitgleich lässt sich auch eine stetige Abnahme des Fachinteresses nachweisen (Prenzel, 1998). Die «disruption hypothesis» nimmt an, dass die rasanten biologischen, sozialen und psychologischen Veränderungen beim Übergang von der Kindheit ins Jugendalter zu einer Abnahme verschiedener Persönlichkeitsmerkmale führen (Soto & Tackett, 2015). Unter dem Einfluss von zunehmendem externem Feedback (z. B. durch Lehrkräfte) und dem sozialen Vergleich mit Gleichaltrigen bewerten Jugendliche ihre Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen neu. Entsprechen Interessen nicht mehr dem idealen Selbstkonzept, werden sie abgewertet.

Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen lassen sich metaanalytisch für Jugendliche und Erwachsene nachweisen (Su, Rounds & Armstrong, 2009). Während Männer ein höheres praktisch-technisches und intellektuell-forschendes Interesse besitzen, berichten Frauen über ein stärkeres künstlerisch-sprachliches, soziales und konventionelles Interesse. Dabei gehören Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen zu den größten Unterschieden in psychologischen Merkmalen (Lubinski, 2000). Jüngere Stichproben verweisen meist auf geringere Geschlechtsunterschiede als ältere Stichproben (Su et al., 2009). Wann entstehen Geschlechtsdifferenzen in beruflichen Interessen? Bereits im Kindergarten bestehen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Präferenz von Spielzeugen (Todt, 2000). In der Primarschule, wenn Kinder zunehmend Geschlechterrollen verinnerlichen, etablieren sich sowohl Unterschiede in den Berufswahlpräferenzen (Gottfredson, 2002) als auch in beruflichen Interessen (Maurice & Bäumer, 2015). In ihrer «Theory of Circumscription and Compromise» geht Gottfredson (2002) davon aus, dass sich bereits im Kindesalter eine Karte an erstrebenswerten Berufsbildern und -wünschen ausbildet, die im Zuge der Selbstkonzeptentwicklung sukzessiv reduziert wird. Das Spektrum an Berufen, das für die eigene Person als adäquat betrachtet wird, reduziert sich demnach kontinuierlich und weitgehend unbewusst vom Kindesalter bis in das Jugendalter. Dabei erfolgt zunächst eine Reduktion auf Berufsbilder, die mit der eigenen Geschlechtsrolle übereinstimmen. Anschließend orientieren sich Kinder und Jugendliche an Berufsbildern, die ihrem sozialen Status entsprechen. Im frühen Jugendalter werden dann aus den verbleibenden beruflichen Perspektiven jene ausgewählt, die vermeintlich zu den eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen passen. In der späten Kindheit und frühen Adoleszenz lassen sich auch Geschlechtsunterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen und im Selbstbewusstsein erstmals nachweisen (Robins et al., 2002; Soto et al., 2011). Insgesamt scheint der Übergang von der Kindheit in das Jugendalter eine zentrale Phase der Entwicklung von Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen sowie von Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen in diesen Merkmalen zu sein.

Unsere Studie beschäftigt sich mit der Frage, ob sich das «disruption principle» auch für die Entwicklung beruflicher Interessen beim Übergang von der Kindheit ins frühe Jugendalter nachweisen lässt. Bisher gibt es nur sehr wenige Studien, welche die Entwicklung kindlicher Interessen längsschnittlich betrachten (Maurice & Bäumer, 2015; Tracey & Ward, 1998; Tracey, 2002). Keine der bisherigen Studien verwendet dabei mehr als zwei Messzeitpunkte. Dies stellt methodisch eine Einschränkung dar, da so Entwicklung sehr eng als Zuwachs, das heißt Veränderung zwischen zwei Messzeitpunkten, verstanden wird. Allerdings kann so weder der Prozess der Veränderung beschrieben noch zwischen tatsächlicher Veränderung und Messfehler differenziert werden (Singer & Willett, 2003). Wir gehen davon aus, dass sich eine altersbedingte Abnahme beruflicher Interessen beim Übergang von der Primarschule in die weiterführende Schule nachweisen lässt. In Anlehnung an bisherige Studien (Hoff, Briley, Wee & Rounds, 2018; Maurice & Bäumer, 2015) erwarten wir allerdings unterschiedliche Entwicklungsverläufe für die einzelnen RIASEC-Dimensionen. Wir gehen von einer altersbedingten Abnahme beruflicher Interessen für alle RIASEC-Dimensionen außer dem unternehmerischen Interesse (E) aus (H1).

Da sich Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen bereits am Ende der Primarschule herauskristallisieren (Maurice & Bäumer, 2015; Tracey & Ward, 1998), erwarten wir Geschlechtsunterschiede bei allen RIASEC-Dimensionen (H2). Jungen berichten über ein höheres praktisch-technisches, intellektuell-forschendes und unternehmerisches Interesse, während Mädchen ein stärkeres soziales, sprachlich-künstlerisches und konventionelles Interesse besitzen. Zusätzlich erwarten wir geschlechtsspezifische Unterschiede in den Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen. Hoff et al. (2018) fanden für das praktisch-technische Interesse einen stärkeren altersbedingten Abfall bei Mädchen als bei Jungen. Im Hinblick auf das soziale Interesse zeigten Mädchen eine leichte Zunahme, während sich für die Jungen ein deutlicher Abfall nachweisen ließ. Geschlechtsdifferenzen in den Entwicklungsverläufen der anderen RIASEC-Dimensionen wurden bisher nicht empirisch untersucht. Allerdings konnten Maurice und Bäumer (2015) in ihrer Längsschnittstudie mit Grundschulkindern eine altersbedingte Zunahme der Unterschiede in den Interessen von Mädchen und Jungen feststellen. Ausgehend von diesen Befunden erwarten wir Unterschiede in den Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen im sozialen und praktisch-technischen Interesse (H3).

Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl (E-Book)

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