Читать книгу Das muss gesagt werden - Elfriede Hammerl - Страница 18
ОглавлениеMärz
26
2012
Alles prima in Fukushima
Der Mensch hat versagt. Nicht die Kernkraft.
Sagt der Experte.
In Fukushima ist nix passiert. Eigentlich. Sagt der Atomkraftexperte. Also, passiert ist natürlich schon was, nämlich ein Tsunami und ein Erdbeben. Aber nichts, was uns prinzipiell am Nutzen der Atomenergie zweifeln lassen müsste. Dem AKW wäre ja nichts geschehen, wenn es keinen Tsunami und kein Erdbeben gegeben hätte. Das Ganze war eine Naturkatastrophe. Man kann daher nicht sagen, dass das AKW als solches unsicher ist. Unsicher ist nur die Natur. Und der Mensch, der ja Teil der Natur ist. Man muss nämlich zugeben, dass menschliches Versagen eine Rolle gespielt hat. Der Mensch hat versagt. Nicht die Kernkraft. Das muss man unterscheiden. Sagt der Experte. In Zukunft wird der Mensch einfach nicht versagen dürfen, dann kann man die Kernkraft ohne Bedenken nutzen. Beziehungsweise werden die AKWs der Zukunft vielleicht unabhängig von Menschen betrieben, sie betreiben sich dann quasi selbst. Wo kein Mensch, da kein menschliches Versagen.
Ach so, Naturkatastrophen. Na ja, man wird die AKWs eben noch sicherer machen, dann halten sie noch mehr Erdbeben und noch mehr Tsunamis aus. Fukushima ist ja schon ziemlich gut abgesichert gewesen. Das muss man einmal feststellen. Da war ja nicht keine Vorsorge am Werk. Aber dieses letzte Erdbeben war halt stärker, als man für möglich gehalten hat. Jetzt, da man weiß, die Erde kann noch stärker beben, als man geglaubt hat, muss man die Sicherheitsvorkehrungen nur erhöhen. In Zukunft stellt man sich auf noch stärkere Beben ein. Dass dann ein Beben kommt, das noch stärker ist als diejenigen, auf die man sich jetzt einstellt, ist praktisch auszuschließen. Oder jedenfalls theoretisch.
In Fukushima hat es keine Toten gegeben, das ist beachtlich. Das heißt, Tote hat es schon gegeben, aber so richtig unmittelbar am Reaktorunfall ist niemand gestorben. Soviel wir wissen. Okay, Tepco4 hat nicht gerade extra umfassend informiert, zugegeben, aber insgesamt sind wir doch eh alle immerzu toll im Bild dank der globalen Vernetzung. Was übrigens auch seine Nachteile hat, weil es andernfalls nicht so schnell zu derart hysterischen Reaktionen kommen würde. Ja, hysterisch. Weil überzogen. Weil, siehe oben: eigentlich alles im grünen Bereich.
Über Langzeitfolgen ist noch nichts bekannt. Kann ja auch nicht. Langzeitfolgen heißen deshalb so, weil es länger dauert, bis sie auftreten, und wenn sie dann auftreten, kann man nicht mehr mit Sicherheit sagen, wovon sie tatsächlich die Folge sind. Beweise statt Spekulationen! In der Provinz Fukushima gibt es mehr Strahlenkranke als Behandlungsplätze, die Leukämie greift um sich, viele Kinder leiden an ständigem Nasenbluten – mag sein, mag sein, aber wer kann wirklich eindeutig und hundertfünfzigprozentig nachweisen, dass das alles auf die Geschichte mit dem Reaktor zurückgeht? Wo sind die Hard Facts? An Leukämie zu erkranken ist zwar hart für die Betroffenen, aber nicht hart genug, um zum Hard Fact zu taugen.
Der Experte kann seine Expertise nicht an Einzelschicksalen festmachen. Er denkt in größeren Dimensionen, in Statistiken, nicht in Menschen. Das war schon immer so, dass die führenden Köpfe das Detail vernachlässigen mussten im Interesse des großen Ganzen. Der Blick aufs große Ganze darf nicht am Schicksal des einzelnen Menschen hängen bleiben, er muss übermenschlich, ja unmenschlich sein. Deshalb betrachtet der Experte die verstrahlten Landstriche, zuerst um Tschernobyl, jetzt um Fukushima, nicht als riesige Gebiete im Vergleich zum einzelnen Menschen, sondern als kleine Flächen im Vergleich zur, sagen wir mal, ganzen Erde oder zu unserem Sonnensystem oder zum Weltall. Den großen Geist zeichnet eine weite Perspektive aus.
Der einzelne Mensch, der sein verstrahltes Zuhause verlassen musste und jetzt in Notunterkünften vegetiert, verarmt, abgeschnitten von allem Vertrauten und möglicherweise krank, der einzelne Mensch, der hilflos ausgeliefert weiter atmen und weiter essen muss, was ihn möglicherweise umbringen wird, der einzelne Mensch hat nur ein einziges Leben. Wenn das verpfuscht ist, kriegt er kein anderes. Darum zählt für ihn nur seine subjektive Wahrnehmung, und er begreift oft gar nicht, dass objektiv gar nichts los ist, jedenfalls nichts, was wirklich zählt. Was wirklich zählt, bestimmt nicht der einzelne betroffene Mensch in seiner Betroffenheit, das bestimmen nicht betroffene Experten, die dank persönlicher Sorgenfreiheit den Überblick haben. Sie stellen zum Beispiel fest, dass die „Atomkraft entgegen der öffentlichen Wahrnehmung eine gute allgemeine Sicherheitsbilanz vorweisen“5 kann. Na bitte.
Die Kernenergie bleibt auch deshalb prinzipiell eine Erfolgsgeschichte, weil es nach Fukushima kaum noch belastete Lebensmittel gibt. Die einschlägigen Grenzwerte wurden ja nahezu weltweit angehoben. Dank dieser umsichtigen Maßnahme wird es künftig fast nicht mehr möglich sein, verseuchten Fisch zu konsumieren, weil kontaminierter Fisch zwar kontaminiert, aber nicht verseucht ist. Und falls doch, kann man die Grenzwerte weiter erhöhen, um der ungesunden Angst vor verstrahlter Nahrung entgegenzuwirken.
Im Übrigen sind die Experten gar nicht frei von persönlichen Sorgen. Sie sind sogar äußerst besorgt, wenn es um ihr persönliches Wohlbefinden geht.
4Japanisches Energieversorgungsunternehmen, dem das von der Katastrophe betroffene Kernkraftwerk Fukushima Daiichi unterstand.
5Yukiya Amano, Generaldirektor der Internationaen Atomenergiebehörde, laut Standard vom 12.3.2012