Читать книгу Maika bleibt bei mir - Elin Ørjasæter - Страница 4
2.
ОглавлениеPapa fuhr Eva und mich in die Schule. In der ersten Stunde schrieben wir eine Mathearbeit, deshalb hatte ich viel Zeit, über alles nachzudenken. Ich dachte an Urgroßvater.
Urgroßvater ist Papas einziger Verwandter. Eigentlich ist er nicht mal ein richtiger Verwandter, sondern sein Pflegevater. Als Papa fünf Jahre alt war, starb seine Mutter und sein Vater hat sich kurz danach erschossen. Urgroßvater kümmerte sich seit dieser Zeit um Papa, als wäre er sein eigenes Kind.
Jeden Sommer fahren wir ins Bjortal, um ihn zu besuchen. Wir spielen im Stall und im Schuppen. Wir müssen uns mit einem Waschlappen in der Schüssel waschen, weil er keine Dusche hat, und aufs Plumpsklo gehen, wo es reichlich stinkt. Aber das Tollste in Bjortal ist Marius. Marius ist Urgroßvaters Schwein, jeden Sommer hat er ein neues. Wir dürfen ihm einen Namen geben und wir taufen es immer Marius. Und zum Mittagessen essen wir den Marius vom letzten Jahr, den Urgroßvater im Herbst geschlachtet und eingesalzen hat.
Urgroßvater nimmt uns gern auf den Schoß. Er riecht alt, wie Kleidung, die jahrelang im muffigen Keller gelegen hat. Dann sagt er ein oder zwei Kinderreime auf, die wir nicht verstehen, weil er so komisch redet, aber das macht nichts, denn Urgroßvater ist schon zufrieden, wenn er sie aufsagt.
Und jetzt wollte Urgroßvater herkommen! Es war total unmöglich, sich ihn an einem anderen Ort als in der grauen Küche in Bjortal vorzustellen. Wo sollten wir ihn hinsetzen, wenn sein Stuhl nicht da war?
Über all das dachte ich während der Mathearbeit nach. Eva und ich sind bei Mathearbeiten immer sehr schnell fertig, weil wir beide in Mathe so schlecht sind, aber wir dürfen nicht rausgehen, ehe alle fertig sind. Ich sah, wie ihr die Haare ins Gesicht fielen. Sie saß schräg vor mir. Dann schob sie ihren Zettel von sich und legte das Gesicht auf die Arme. Gleich würde sie sicher einschlafen, wie so oft.
»Eva«, sagte ich in der großen Pause, »warum bist du so traurig?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Kann Mai-Katrin bei euch wohnen?«
»Mai-Katrin? Meinst du für immer?«
»Nein, nur für eine Weile ...«
»Ist Julie sehr krank?«, fragte ich. Julie ist Evas Mutter.
So nannten wir es: krank. Auch wenn Julie sagte, sie wäre auf dem Trip. Aber drogensüchtig zu sein oder Alkoholikerin ist doch wohl wie eine Art Krankheit. Julie war wohl beides zugleich, aber nur ab und zu. Mehrere Jahre lang war sie ganz gesund gewesen. In den Jahren, als John hier gewesen war.
»Roger schlägt Mai-Katrin«, sagte Eva.
Roger war Julies neuer Freund. Er wohnte jetzt seit einem Monat bei ihnen.
»Oh nein!«
»Doch, er schlägt sie und gestern hat er nach ihr getreten, sodass sie mit dem Kopf gegen die Wand geflogen ist und hinterher gespuckt hat. Deshalb habe ich sie zum Zeitungsaustragen mitgenommen. Aber ich schaffe es nicht immer. Bei ihr zu sein, meine ich.«
»Und Julie?«
»Ach ... Mama ... Die sitzt nur auf dem Sofa und ist so weggetreten, dass sie überhaupt nichts mitkriegt. Oder sie schläft. Wie sollte sie da auf Maika aufpassen können? Maika ist letzte Nacht gegen eins aufgewacht und hat geweint«, fuhr Eva fort, »und bevor ich irgendwas tun konnte, war Roger schon in unserem Zimmer, hat sie aus dem Bett gerissen und getreten. Da hat sie nicht mehr geweint. Erst wieder, als ich sie in mein Bett geholt habe. Da hat sie sich an mich geklammert und wieder angefangen zu weinen. Und dann hat sie gespuckt. Ich kann bald nicht mehr, Marianne! Maika weint dauernd und ich tröste sie wie eine Blöde, damit sie still ist und Roger nicht kommt. Ich versuche alles, um auf sie aufzupassen. Und trotzdem schaffe ich es nicht!«
»Was glaubst du denn, wie lange wird Roger bei euch bleiben?«
»Keine Ahnung. Eine Weile ...«
Plötzlich fiel mir Mikkels ewige Frage ein. »Marianne, wie lang ist eine Weile?« Darauf gab es keine Antwort.
Wir drehten mehrere Runden um die Schule, Eva und ich, und schmiedeten Pläne.
Mai-Katrin konnte in der Ecke zwischen dem Fenster und Mikkels und meinem Bett schlafen. Eva konnte sie jeden Morgen abholen, wenn sie in den Kindergarten sollte, und ich konnte Mikkel gleichzeitig hinbringen, das war ja praktisch. Dann konnte Eva abends mit Mai-Katrin kommen, wenn sie ins Bett gehen musste.
»Und du, Eva, hast du keine Angst vor diesem Roger?«
»Mich zu schlagen traut er sich nicht«, sagte Eva. »Er hasst mich, traut sich aber nicht zuzuhauen. Und irgendjemand muss doch auf Mama aufpassen. Was meinst du, ob deine Eltern das in Ordnung finden mit Maika?«
»Ja, natürlich«, sagte ich im Brustton der Überzeugung und graute mich bereits davor, es ihnen erzählen zu müssen.
»Mai-Katrin?«, sagte Mama. »Du meinst, die kleine Mai-Katrin soll bei uns wohnen?«
»Nur nachts«, erklärte ich. »Eva passt tagsüber auf sie auf, wenn sie nicht im Kindergarten ist.«
»Ist es nicht langsam an der Zeit, dass der Dame das Sorgerecht entzogen wird?«, fragte Mama sauer. Sie meinte Julie. »Das ist doch ein Fall für die Jugendfürsorge, nicht für die Nachbarn.«
»Eva ist keine Nachbarin, Mama, sie ist meine beste Freundin!«
»Und gerade deshalb sollten wir vielleicht etwas tun, um ihr zu helfen. Die Fürsorge anrufen und berichten, was da vor sich geht.«
»Und was meinst du, was dann passiert?«
»Dann kriegen die beiden sicher ein besseres Zuhause.«
»Mama, aber das, was du ein besseres Zuhause nennst, das ist ein anderes Zuhause, und dann müssen sie von hier fortziehen! Ist das vielleicht gerecht, dass Julie weiter in Skiferlia wohnen darf, während Eva und Mai-Katrin von allen, die sie kennen, wegziehen müssen? Außerdem, es ist ja nur so lange, bis dieser Roger wieder auszieht.«
Papa hatte dagesessen und seine Zeitung gelesen, aber jetzt sah ich, wie er zuhörte. Nun legte er die Zeitung hin.
»Wenn das Mädchen einen sicheren Platz zum Schlafen braucht«, sagte er, »dann lass sie verdammt noch mal hier schlafen.«
»Und Urgroßvater«, fast schrie Mama, »was meinst du, was er von uns denken wird? Und wie soll es hier werden, mit Urgroßvater auf dem Sofa und drei Leuten in Mariannes Zimmer, wer soll sich dann um alles kümmern?«
»Ich«, erwiderte Papa, »ich habe ja die Zeit, ein Pensionat zu führen.« Er sah ein wenig traurig aus, als er das sagte.
»Aber kannst du mir vielleicht sagen«, fuhr Mama fort, »kannst du mir sagen, warum um alles in der Welt Urgroßvater ausgerechnet jetzt herkommt?«
»Das«, antwortete Papa, »das möchte ich auch gern wissen.«
Urgroßvater kam am nächsten Tag. Papa holte ihn vom Bahnhof ab. Er musste aus unserem alten Lada regelrecht herausgeschält werden und dann stand er da, sagte »Ja, ja«, und dann sagte er gar nichts mehr.
Alle Kinder im ganzen Wohnblock liefen auf den Balkon und starrten hinunter. So ist es nun mal hier in Skiferlia; wenn was passiert, dann wissen alle davon, und alle wussten sofort, dass unser Urgroßvater kam und bei uns wohnen wollte. Und nun standen sie da, Andreas und Pål, Jo und Elin und Kristina und all die anderen, und glotzten stumm auf Urgroßvater hinunter, der langsam auf unseren Eingang zuging. Er hatte einen kleinen Rucksack, das war sein ganzes Gepäck.
»Ja, herzlich willkommen!«, sagte Mama in der Wohnungstür und sah aus, als gefiele ihr das ganz und gar nicht.
»Hier kannst du schlafen«, sagte Mikkel und zeigte begeistert aufs Sofa.
»Ja, ja«, sagte Urgroßvater.
»Hier kannst du schlafen«, sagte Eva vier Stunden später freundlich zu ihrer Schwester, die sich an sie klammerte.
»Buuääh!«, rief Mai-Katrin. »Eva nicht gehen! Eva nicht gehen!«
Mai-Katrin ist erst vier. Eva sagte mit Engelsgeduld: »Eva kommt morgen früh und bringt dich in den Kindergarten, du schläfst hier mit Mikkel und Marianne, du kennst doch Mikkel und Marianne, nicht wahr?«
»Nein, nein«, schrie Mai-Katrin, »Maika schlafen bei Eva!«
Und dabei hatten wir alles so schön geplant! Ich war so enttäuscht, dass Mai-Katrin so ein Theater machte, dass ich fast böse auf sie wurde.
»Guck mal, da ist auch dein Teddy«, versuchte ich es und hielt ihr den Teddybär vors Gesicht.
Aber Mai-Katrin wurde nur noch verzweifelter.
»Teddy und Maika schlafen bei Eva!«
Da stand Mama in der Tür. Sie schaute zu Mai-Katrin, die aus vollem Herzen weinte und sich an ihre Schwester klammerte. Maika hatte eine Beule auf der Stirn und an dem einen Auge einen großen, blauen Fleck.
Eva, die doch immer so erwachsen ist, sah plötzlich ganz verzweifelt aus, als könnte sie nicht ertragen, dass ihr schöner Plan nicht klappen würde.
»Eva«, sagte Mama, »ich denke, es wäre nett, wenn du heute Nacht auch hier schläfst.«
Ich war kurz davor, zu Mama zu stürmen und sie ganz fest zu drücken. Papa und ich holten Decken, Kissen und noch eine Matratze, und Eva lief, um ihren Pyjama zu holen.
Also schliefen wir mit vier Personen in meinem kleinen Zimmer. Und Mama lachte beim Frühstück und sagte: »Als ich heute Morgen zu euch reingekommen bin, roch es nach einem alten Hamster!«
Aber ich hörte, wie sie Papa im Badezimmer zuflüsterte: »Hans, wie sollen wir das nur schaffen, noch drei Leute mehr zu versorgen?«
Am nächsten Tag saßen wir alle um den Küchentisch und aßen zu Mittag, Mons und Mikkel, Eva und Mai-Katrin, ich, Mama, Papa und Urgroßvater.
»Ich hoffe, das Essen schmeckt dir«, sagte Mama.
Urgroßvater antwortete nicht.
»Ich habe gesagt«, versuchte Mama es ein wenig lauter, »dass ich hoffe ...«
Papa hob abwehrend die Hände.
»Ist schon in Ordnung, das Essen«, sagte Urgroßvater. »Wenn ich nur ’n bisschen Speck kriege, dann bin ich schon zufrieden.«
»Hurra!«, rief Mons, »jetzt gibt es endlich ordentliches Essen hier im Haus!«
Ich sagte gar nichts. Ich überlegte nur, dass das Einzige, was hier in der Stadt Urgroßvaters Speck ähnelte, der Frühstücksschinken war, und den bekamen wir nur sonntags, weil er so teuer war.
Mama stellte die Kartoffeln mit einem resignierten kleinen Knall auf den Tisch. Wir aßen in aller Stille. Plötzlich blickte Urgroßvater auf und sah Mai-Katrin an.
»Ist das deine?«, fragte er Papa. »Die sieht ja irgendwie ausländisch aus, oder?«
Eva und ich sahen einander an.
»Nein, das ist ein Nachbarsmädchen«, erklärte Papa, »und das ist die Schwester.«
Er deutete auf Eva.
»Das ist also auch nicht deine?«, fragte Urgroßvater. »Dann hast du also nur drei, oder?«
Eva und ich starben fast vor Lachen. Dass er sich nicht einmal daran erinnerte, wie viele Kinder Papa hatte!
»Was führt dich denn hierher?«, fragte Papa.
»Ach, so langsam verheddert sich alles für mich.«
»Verheddert?«, fragte Mons mit vollem Mund.
»Er meint, dass er sich nicht so gut fühlt«, erklärte Papa.
»Na ja, er ist doch auch sechsundneunzig«, meinte Mons. »In dem Alter verheddert es sich bestimmt für viele«, fügte er zu Urgroßvater gewandt hinzu. Manchmal gibt Mons wirklich sein Bestes.
»Hattest du denn eine schöne Reise?«, versuchte Mama ein Gespräch einzuleiten.
»Ach ja.«
»Ja?«
Mama sah etwas angespannt aus. Sie ist es gewohnt, dass die Leute erzählen, wenn man sie etwas fragt, und nicht nur »Ach ja« sagen und dann wieder den Mund halten.
»Hast du vielleicht nette Leute getroffen?«
»Ach ja.«
Stille.
»Hast du auch ’nen Kaffee gekriegt?«
Mama ließ nicht locker.
»Ja, ja, da war so ’ne Frau, die ist mit ’nem Wagen rumgefahren, weissnichwa.«
»Und bei ihr hast du dir einen Kaffee gekauft?«
»Na ja, wenn man das Kaffee nennen kann. Er war ganz dünn. Und reichlich teuer.«
»Weissnichwa«, sagte Mikkel fasziniert. »Ich gehe raus und spiele ein bisschen Weissnichwa, darf ich?«
»Ja«, sagte Mama matt.
Zwei Tage vor Heiligabend kommt immer der Lions Club und verkauft zwischen den Häuserblocks von Ski-ferlia Tannenbäume. Ich hatte schon Angst, dass wir uns in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum leisten könnten, aber Papa zog sich Jacke und Stiefel an und fragte, ob wir mitwollten. Urgroßvater wollte auch mit, er fand es lustig zuzugucken, wie man sich in der Stadt einen Tannenbaum besorgt.
Ich suchte den Baum aus. Es war einer der größten mit vielen dichten Zweigen unten und ganz oben ein paar niedlichen hellgrünen.
»Dreihundert Kronen«, sagte der Lions-Mann.
»Wie viel?«, fragte Urgroßvater.
»Dreihundert Kronen«, sagte Mons.
»Dreihundert? Was will er für dreihundert Kronen?«
»Er will nichts kaufen«, erklärte ich, »er will uns den Baum für dreihundert Kronen verkaufen.«
»Den Baum?«, fragte Urgroßvater.
»Ja«, bestätigte ich.
Urgroßvater stand unbeweglich da und sah aus, als dächte er angestrengt nach.
»Da wird kein Geschäft draus.«
»Aber die Kinder brauchen doch einen Tannenbaum«, protestierte Papa.
»Ja, aber nicht diesen da«, entgegnete Urgroßvater.
Wir gaben es auf und gingen ohne Weihnachtsbaum nach Hause.
Um sechs Uhr am nächsten Morgen wachte ich davon auf, dass Mons mit Stiefeln und Jacke im Flur lärmte.
»Willst du raus?«, fragte ich.
Er zog mich zum Küchenfenster. »Guck mal«, flüsterte er.
Da draußen stand Urgroßvater mit Pudelmütze und dicker Jacke. Er hatte eine Axt in der Hand.
»Wohin wollt ihr?«, fragte ich.
Aber Mons war schon halb die Treppe hinunter.
Als wir anderen am Frühstückstisch saßen, schleppten Mons und Urgroßvater einen großen, schneenassen Baum an.
»Wo habt ihr den denn gefällt?«, fragte Papa verblüfft.
»Hinter der Schule«, berichtete Mons begeistert. »Ich freue mich schon drauf, wenn ich meinen Kumpels den Baumstumpf zeigen kann. Wir dürfen da nicht mal einen Ast abreißen, der Rektor sagt immer, das ist ein geschütztes Waldgebiet!«
»Vielleicht zeigst du dann lieber nicht den Baumstumpf«, sagte Mama trocken.
»Du Idiot«, flüsterte ich wütend Mons zu, »du hast doch gewusst, dass das nicht erlaubt ist. Du hast Urgroßvater angeschmiert!«
»Urgroßvater hat gefragt, ob der Wald der Gemeinde gehört«, murmelte er. »Und ich habe nur Ja gesagt.«
»Der Gemeinde! Dann könnte ja jeder da Bäume fällen!«
»Ich kann schließlich nicht alles wissen«, erwiderte Mons aufbrausend. »Jetzt ist es jedenfalls zu spät.«
»Da müsste mehr geschlagen werden«, sagte Urgroßvater.
Glücklicherweise hatte er nicht gehört, was Mons und ich geflüstert hatten. »Die Bäume stehen da viel zu dicht.«
»Da hörst du’s«, flüsterte Mons triumphierend. »Urgroßvater hat davon garantiert mehr Ahnung als der Rektor, oder?«