Читать книгу Maika bleibt bei mir - Elin Ørjasæter - Страница 5

3.

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Heiligabend waren Eva und Mai-Katrin unten bei Julie, denn Eva wollte nicht, dass ihre Mutter ausgerechnet an diesem Abend traurig sein sollte. Wir anderen aßen Schweinerippen und kleine Würstchen. Aber so richtig konnten wir uns nicht entspannen, Papa hatte dauernd irgendwas auf dem Flur zu tun, um zu lauschen, zu hören, ob aus Julies Wohnung irgendwelcher Krach ertönte.

»Mir gefällt das nicht«, sagte er immer wieder, »mir gefällt das nicht, dass die Kinder da unten allein mit Julie und diesem Kinderprügler sind.«

Vor dem Essen lasen wir im Weihnachtsevangelium. Das hatten wir noch nie gemacht, aber ganz offensichtlich wollte Papa, dass Urgroßvater glauben sollte, das wäre bei uns eine alte Weihnachtstradition. »Und es war kein Raum für sie in der Herberge«, las Papa.

»Ist es nicht bald zu Ende?«, stöhnte Mons. »Können wir nicht bald anfangen zu essen?«

Danach packten wir unsere Weihnachtsgeschenke aus. Julie war am Vormittag mit einer Flasche Whisky für Mama und Papa da gewesen sowie einer Stange Zigaretten, die sie ihnen unbedingt aufdrängen wollte, obwohl doch beide nicht rauchten. Die lag jetzt auf dem Tisch und erinnerte an die beiden, die nicht bei uns waren.

Wir bekamen keine tollen Weihnachtsgeschenke. Von Mama und Papa gab es nur Skistiefel, so was Langweiliges, Skistiefel zu Weihnachten, die sie sowieso kaufen mussten. Aber ich sagte nichts. Mons dagegen war reichlich sauer. Er hatte einen Wollpullover und eine neue Federtasche bekommen. Von Urgroßvater bekamen wir jeder ein glänzendes Zehnkronenstück, es war wohl schon eine Weile her, dass er das letzte Mal in einem Geschäft gewesen war. Zum Schluss gab es da noch die Pakete von Jeanette, Mamas Schwester, die den Abend retteten. Ich bekam einen Kassettenrekorder von ihr, Mons einen unglaublich tollen Hockeyhelm und Mikkel ein Piratenschiff!

Tante Jeanette verschenkt immer so viel. Alle Kinder ihrer Familie schenken allen Kindern unserer Familie etwas, was für uns bedeutet, dass wir uns reichlich anstrengen müssen es ihnen gleich zu tun. Von meinen Cousinen Katharina und Madeleine bekam ich ein Tagebuch mit Schloss und einem Blumenstrauß drauf und einen schicken Pullover.

»Mein Gott«, sagte Mama, »das muss ja mehrere Tausender gekostet haben. Und ich habe ihnen nur so billige Sachen geschenkt! Von Mikkel nur Weihnachtsschmuck, den er im Kindergarten gebastelt hat!«

»Na, Jeanettes Kinder brauchen ja auch keine teuren Weihnachtsgeschenke«, sagte Papa, »die haben doch jetzt schon mehr als genug.«

Da kamen Eva und Mai-Katrin reingestolpert. Eva sah traurig aus, Mai-Katrin einfach nur müde. Wir legten die Kleinen schlafen und gingen wieder ins Wohnzimmer. Urgroßvater sortierte das Geschenkpapier, strich es glatt und legte es in einem ordentlichen Stapel zusammen. Dann löste er alle Knoten des benutzten Geschenkbands und wickelte es zu kleinen Knäueln zusammen. Zum Schluss machte er aus allen Grußkarten einen Stapel und gab ihn Papa.

»Wollen wir den Whisky aufmachen?«, fragte Mama fröhlich. »Wo wir alle so schön zusammensitzen und es uns gemütlich machen!«

Wir blieben noch lange auf, guckten ein wenig Fernsehen und versuchten, die Welt da draußen zu vergessen. Urgroßvater erzählte, wie Papa klein war und was er alles für Blödsinn machte. Einmal hatte er den Stall in Brand gesteckt. Ein anderes Mal, als er mit Urgroßvater auf einem anderen Hof half, die Kartoffeln zu ernten und in Tonnen zu lagern, nahm Papa alle leeren Tonnen und rollte sie die steilen Abhänge zum Fluss hinunter, sodass die Erwachsenen mehrere Stunden brauchten, sie wieder zu bergen und hinaufzubekommen.

»Warum bist du Papas Pflegevater geworden, nachdem seine Eltern gestorben waren?«, fragte ich. »Hast du ihn schon vorher gekannt?«

»Du kannst es ruhig erzählen«, sagte Papa.

»Es wollte ihn niemand anders haben«, sagte Urgroßvater.

»Warum denn nicht?«

»Na ja, sie wussten ja, wie unmöglich er war. Aber ich dachte, dass es bestimmt nicht schlecht wäre mit ein bisschen Gesellschaft, und da ich allein war, konnte er ja nicht so furchtbar viel Unheil anrichten.«

»Nicht nur deshalb wollte mich keiner«, ergänzte Papa leise, »auch weil ich meinen Vater fand, als er sich erschossen hat. Ich war mit meinem toten Vater mehrere Tage lang allein, weil er den Riegel von innen vorgeschoben hatte, bevor er sich erschoss, und ich schaffte es nicht, ihn aufzukriegen.«

»Hat er denn gar nicht an dich gedacht?«, fragte ich.

Mir erschien es undenkbar, dass jemand erst die Türen verschloss und sich dann umbrachte – allein mit einem kleinen Kind im Haus. Er hätte doch zumindest Papa erst zu Urgroßvater geben können, dann nach Hause gehen und sich erschießen können!

»Manche Menschen denken eben nicht so weit und schon gar nicht an andere«, sagte Papa. »Auch wenn sie Kinder haben. Aber alle im Bjortal glaubten, ein Kind, das mit einem Selbstmörder so lange allein gewesen war, das würde Unglück bringen.«

»Hast du das auch geglaubt, Urgroßvater?«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Urgroßvater. »Aber wenn dieser kleine Junge Unglück bringen sollte, dann war es im Gegenteil umso wichtiger, dass sich jemand um ihn kümmerte.«

Mama schenkte sich ein neues Glas ein und kuschelte sich gemütlich auf dem Sofa zurecht. »Ich habe euch so furchtbar lieb«, sagte sie, »ich habe euch alle, alle zusammen so schrecklich lieb.«

»Trink ruhig, meine Liebe«, sagte Papa und fuhr ihr durchs Haar, »das hast du weiß Gott verdient.«

Dunkel senkt die Nacht sich nieder, dachte ich. Doch in unserem dunklen Haus, da erscheint mit hellem Licht ... Wenn Urgroßvater Papa zu sich nehmen konnte, warum konnten wir dann nicht Eva und Mai-Katrin zu uns nehmen?

Zwischen den Tagen kam die alljährliche Einladung von Jeanette. Mamas ältere Schwester wohnt in einem großen, neuen Haus mit meinen beiden Cousinen und deren Vater, einem Rechtsanwalt. Wir mussten zweimal fahren, damit wir alle zusammen hinkamen.

»Ja, guten Tag auch«, sagte Jeanette, als Eva, Maika und ich mit der letzten Fuhre mit Papa ankamen. »Guten Tag, guten Tag und herzlich willkommen!«

Sie betrachtete prüfend Eva und Mai-Katrin. »Was habt ihr nur für einen amüsanten Urgroßvater. Hier entlang, die anderen sitzen schon im Wohnzimmer!«

Da saß auch wirklich Urgroßvater und sah ganz fremd aus. Vorher mussten wir aber erst durch eine riesige Eingangshalle und vorbei an all den Türen zu den Kinderzimmern, zur Kellerbar, zum Gästezimmer, Kraftraum und zur Sauna.

»Willst du mein Zimmer sehen?«, fragte Madeleine.

Ich nickte. Ich war seit dem letzten Weihnachtsfest nicht hier gewesen, obwohl sie nicht weit von uns entfernt wohnten. Madeleines Zimmer war seit damals neu eingerichtet worden. Es war hellbeige und rosa, mit weißen Bambusrohrmöbeln und einem hübschen kleinen Schreibtisch. Und Fernseher. »Den habe ich zu Weihnachten gekriegt«, sagte Madeleine. Ich konnte nicht anders. Ich wurde wütend. Madeleine hatte alles, was mir fehlte.

»Und wie lange willst du bei Hans und Ellen bleiben?«, fragte Jeanette Urgroßvater, als wir wieder reinkamen.

»Na, mal sehen«, antwortete Urgroßvater.

Jeanettes Mann führte seine neue Videokamera vor und Papa sah noch schlechter gelaunt aus als ich.

»Weißt du nicht mal, wie lange er bleiben will?«, flüsterte Jeanette Mama zu. Sie meinte Urgroßvater.

Mama zuckte mit den Schultern und sah bedrückt aus.

»Und diese anderen beiden«, flüsterte Jeanette, »diese Kinder, wer sind die eigentlich? Wie können das Schwestern sein, wo doch die eine Negerin ist und die andere weiß?«

»Maika ist keine Schwarze, sie ist Mulattin«, entgegnete Mama. »Die beiden haben unterschiedliche Väter.«

Dann gingen Jeanette und Mama hinaus in die Küche und ich wusste, dass Mama noch eine Woche lang schlechte Laune haben würde. Ich wusste, dass Jeanette eine Menge Fragen stellen würde; warum Mama so müde war, ob sie zu viel arbeite, wie es mit Mons in der Schule ging, wie sie gehört hatte, hätte er dort Probleme und so weiter. Das einzig Gute an den Besuchen bei Jeanette war, dass wir so viel Limonade und Kuchen bekamen, wie wir wollten, und außerdem hatten sie so viele witzige Videofilme.

»Diese alte Kuh«, sagte Mama, als wir wohlbehalten wieder zu Hause waren. »Sie hat mich gefragt, ob ich müde sei. Müde! Und das sie, die eine Putzfrau hat, obwohl sie den ganzen Tag zu Hause ist! Weißt du, was sie gesagt hat? Sie hat gesagt, dass sie sich nicht wieder einen Job suchen will, denn, ›wenn man Kinder in die Welt setzt‹«, ahmte Mama sie nach, »›dann bin ich der Meinung, dass man sich auch um sie kümmern muss‹. Immer schafft sie es, das zu sagen, was mich am meisten verletzt! Als wenn ich mich nicht um meine Kinder kümmern würde, auch wenn ich arbeite! Oh Mist, wenn wir jetzt in eine kleinere Wohnung ziehen müssen, dann merkt sie, wie schlecht es wirklich um uns steht!«

»Du hast den falschen Mann geheiratet«, sagte Papa leise.

Ich hielt mir die Ohren zu. Ich wollte sie nicht so reden hören. Santa Lucia, sang es in meinem Kopf. Doch in unserem dunklen Haus, da erscheint mit hellem Licht ...

»Ach, es ist doch zu schön wieder nach Hause zu kommen«, sagte Urgroßvater und legte sich aufs Sofa. Auf unser Sofa.

Es wurde ein merkwürdiger Winter. In der Wohnung hing der schwere Geruch von gebratenem Frühstücksspeck und es schien, als hätten Mama und Papa vollkommen resigniert, denn wir Kinder durften den Speck auch essen, jeden Tag. Urgroßvater schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, und da er sich um acht Uhr abends hinlegte, saßen wir anderen in der Küche. Papa, ich, Eva und Mai-Katrin, Mikkel und Mons quetschten uns um den Küchentisch, spielten Spiele und aßen Butterbrote. Mama war selten zu Hause.

Mama ist Kellnerin im Grand Hotel in der Stadt und in diesem Winter machte sie viele Doppelschichten. Sie verschwand gegen zehn Uhr morgens und kam erst nach Mitternacht nach Hause. Nur am Frühstückstisch trafen wir sie. Manchmal war sie einfach nur müde und verzweifelt, aber an anderen Tagen lachte sie und meinte, die ganze Welt sei verrückt.

»Ich hab dich lieb, Mama«, sagte Mikkel und kletterte auf ihren Schoß, »auch wenn es sich langsam alles für dich verheddert!«

»Wie lange halten wir das noch durch, Hans?«, hörte ich sie eines Abends Papa fragen, als sie zu Hause war und glaubte, wir würden schon schlafen.

»Bis zum Frühling«, antwortete Papa. »Wenn ich bis dahin keinen Job gefunden habe, müssen wir verkaufen. Jetzt leben wir von dem Geld, das wir für ein neues Auto gespart haben.«

»Benutzen wir unsere Spargroschen«, sagte Mama verbittert, »um das alte Dorfgespenst mit scheißteurem Frühstücksspeck durchzufüttern, tagein, tagaus, Monat für Monat?«

»Ellen«, sagte Papa, »was du ein altes Gespenst nennst, das ist der Mensch, der sich um mich gekümmert hat, als meine Eltern tot waren. Er war immer gut zu mir. Und er kann ja nicht wissen, wie viel sein Essen in der Stadt kostet. Er ist es schließlich gewohnt, sein Schwein selbst zu schlachten!«

»Wir müssen uns einen Marius hier auf dem Balkon anschaffen«, sagte Mama und Papa lachte.

»Sie lachen«, dachte ich unter meiner Bettdecke, »dann kann es wohl doch nicht so schlecht um uns stehen.«

»Sie können mein Zeitungsgeld kriegen«, sagte Eva, als ich ihr erzählte, wie pleite meine Eltern offensichtlich waren. »Das sind fünfzehnhundert im Monat.«

Denn Eva und Mai-Katrin blieben bei uns wohnen. Und wir fanden eine gerechte Art, die Zimmer aufzuteilen. Da Urgroßvater so früh ins Bett ging, stellten wir Mikkels Bett ins Wohnzimmer und Mai-Katrins Matratze daneben. Dadurch hatten wir den Alten und die Kleinkinder an einer Stelle platziert, während wir anderen es ganz gemütlich in der Küche hatten. Eva schlief in meinem Zimmer.

Mikkel war furchtbar stolz auf Urgroßvater. Er lud Pål und Jo und Andreas ins Wohnzimmer ein, damit sie den Seeräuberhaken mit eigenen Augen sehen konnten.

»Wie hast du denn so ’ne Hand gekriegt?«, fragten die Freunde Urgroßvater mit weit aufgerissenen Augen. Sie trauten sich kaum, den Haken zu berühren.

»Den Haken hat er gekriegt, als er in der Karibik gesegelt ist und einen Schatz geraubt hat«, erklärte Mikkel zufrieden.

»Und wo ist der Schatz?«, fragte Pål.

»Den hat er vergraben«, sagte Mikkel.

»Warum redet er nicht?«, fragte Andreas.

»Fischers Fritze fischt frische Fische, frische Fische fischt Fischers Fritze.«

»Oioioi«, sagten die Rotznasen.

Aber jeden Tag ging irgendwas kaputt. Eine Schranktür. Ein Käsehobel. Ein Handschuh verschwand. Alles fiel uns auf, weil wir kein Geld hatten Neues zu kaufen.

Es schien, als zerfiele die Welt um uns herum, während wir in der Küche saßen und uns nach besten Kräften amüsierten und wirklich spürten, wie gut es uns ging. Hier. In Skiferlia. Denn alles, was kaputtging, erinnerte uns daran, dass wir nur noch ein paar Monate hier wohnen würden. Die Strümpfe, die Löcher bekamen, der Pullover, den Mons verlor, der Türgriff, der abfiel. Alles, was kaputtging, erinnerte uns an das Geld, das auf Papas Konto auf der Bank allzu schnell davonfloss.

Es schien, als wäre die Welt draußen voller Gefahren, die uns in diesem merkwürdigen Winter auflauerten. Gefahren, die sich in uns hineinfraßen, um zu verhindern, dass wir weiterhin zusammen sein sollten.

Maika bleibt bei mir

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