Читать книгу Die Kunstjägerin - Elis Fischer - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеPöllau in der Oststeiermark, Freitag, 1. November
Abgehackt hallte die Stimme des Pfarrers aus den Lautsprechern und schien in der klirrenden Kälte zu gefrieren. Der Gottesdienst zu Allerheiligen fand wie jedes Jahr unter freiem Himmel an den Gräbern der Angehörigen statt. Und wie jedes Jahr war die Tonanlage auf dem Friedhof derart schlecht, dass sich die Worte in ihrem Echo verloren. So wie Theresa sich in ihren Gedanken. Sie versuchte die Erinnerung an ihren Vater wachzurufen. Sein Gesicht verblasste bereits, dabei war er erst vor sechs Monaten gestorben. Doch schon die Jahre davor hatte er sich verändert. Wieso hatte sie seinen schleichenden Verfall nicht bemerkt? Musste sie sich vorwerfen, zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen zu sein? Hatte sie zu wenig Zeit mit ihm verbracht?
Sie wechselte von einem Bein aufs andere, um die Kälte aus den Knochen zu schütteln. Ihre Mutter stand stoisch vor dem Grab und blickte ins Leere. Die Namen der Verstorbenen des heurigen Jahres wurden vorgelesen und ließen Theresa aufhorchen. »Wir gedenken Hermann Heller, Destillateurmeister aus Pöllau, gestorben im Mai.«
Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie durch seinen Tod ihre eigene Unsterblichkeit verloren hatte. Bis jetzt hatte sie sich nicht damit auseinandergesetzt, dass eines Tages alles vorbei sein könnte. Und mit Dino war das pure Leben in ihr Haus eingezogen. Beim Gedanken an ihren Sohn stieg ein Glücksgefühl in ihr hoch, das sie die Kälte leichter ertragen ließ. Sie rückte näher zu ihrer Mutter und drückte ihre Hand.
Der Pfarrer murmelte ein Gebet. Die Menschen stimmten leise ein. Theresas Blick schweifte über die Menge und blieb am weißen Marmorkreuz des Igowski-Grabes hängen. Rund herum standen Tannen, die an die drei Meter hoch waren und dennoch vom monumentalen Kreuz überragt wurden. Die Bäume umschlossen das Grabmal und bildeten eine nicht einsehbare Insel inmitten des Friedhofs.
Ob mein Brief an die Rehaklinik überhaupt angekommen ist?, überlegte Theresa. Sie hatte ihn bereits vor fünf Tagen aufgegeben. Zu gerne würde sie, falls noch vorhanden, in den Unterlagen des Schlosses stöbern. Sie wusste von ihrem Vater, dass die Fürstin sogar einen Tizian besessen hatte. Vielleicht würde Theresa ein Verzeichnis der Gemäldesammlung finden, auf dem die ›Krönung‹ samt Maler aufgelistet war.
Theresa nahm aus dem Augenwinkel Bewegungen wahr und kniff die Augen zusammen. Sie sah ein paar Männer mit schwarzen Capes, die in das Baumrondeau zum Grab gingen. Lebten noch Verwandte der Fürstin hier? Hatte ihr Vater nicht erzählt, dass sie kinderlos gestorben war und keiner der entfernten Angehörigen das baufällige Schloss Schwarzbergen erhalten wollte? Aus diesem Grund waren nach ihrem Tod all ihre Kunstwerke und Möbel billig verkauft und das Anwesen zu einer Klinik umfunktioniert worden.
Theresa ließ das Grab nicht aus den Augen. Kurz vor dem Schlusssegen des Pfarrers verließen die Männer das Rondeau wieder und marschierten in Richtung Ausgang. Der Wind ließ ihre Umhänge in der Luft tanzen. Wie eine kleine Armee von Templern, dachte Theresa. Litt sie jetzt schon unter Wahnvorstellungen? Nein, ihre Fantasie war wieder einmal mit ihr durchgegangen. Hier standen so viele schmiedeeiserne Kreuze, in Kombination mit den wehenden Mänteln machten sie fast alle Besucher zu Gotteskriegern! Trotzdem – die vier Männer kamen ihr merkwürdig vor.
»Gut, wir können aufbrechen, ich habe einen Tisch beim Wolfbauer reserviert«, sagte ihre Mutter, als das letzte Knacken der Lautsprecher in den Hügeln verhallt war. Theresa hakte sich bei ihr unter und sie gingen los.
Während sie langsam über den Pöllauer Hauptplatz schlenderten, spürte Theresa Blicke in ihrem Rücken. Täuschte sie sich oder standen da die Männer vom Friedhof und … starrten sie an? Sollte sie sie ansprechen: ›Hallo, ich bin Theresa Valier, mein Vater hat ein Bild aus dem Nachlass der Frau gekauft, deren Grab Sie gerade besucht haben. Wissen Sie über ihre Kunstsammlung Bescheid?‹ Nein. Wahrscheinlich hatten sie in der Abgeschiedenheit des Rondeaus einfach eine Zigarette geraucht. Oder etwas anderes? Waren sie womöglich Drogendealer?
Verstohlen beobachtete Theresa die vier weiter. Wie sie betont unauffällig dastanden und sich unterhielten. Da stimmte was nicht! Nachdenklich betrat sie das Gasthaus, stolperte über die erste Stufe und konnte sich gerade noch an ihrer Mutter festhalten.
»Thesi Guckindieluft, wo bist du denn mit deinen Gedanken?«
»Ich? Ach nirgendwo … Es ist so ungewohnt, ohne Papa hier zu sein.«
»Lass uns erst was essen. Und … dann erzähle ich dir ein paar Geschichten, die du noch nicht kennst. Wenn wir von ihm reden, ist er ja bei uns.«
Sie setzten sich und bestellten. Kurz darauf betrat ein hohlwangiger, alter Mann das Gasthaus. Unbeholfen schloss er die Tür hinter sich, sah sich um und fuhr mit der Zunge über seine rissigen Lippen. Als er Theresa erblickte, hellte sich seine Miene auf. »Jö, die Resi. Is die letzte Stund scho aus?«
Theresa zuckte zusammen. ›Resi‹ war sie das letzte Mal vor über 20 Jahren genannt worden, als sie die Volksschule im Ort besucht hatte. Ambrosius Dreiseitl, der sie breit anlächelte und dabei seine braunen Zähne entblößte, war ein Pöllauer Unikum. Um die 80 musste er mittlerweile sein. Jahrzehntelang hatte er als Schulwart gearbeitet und jahrzehntelang hatten ihn die Kinder mit seiner Verwirrtheit aufgezogen.
»Ambrosius, komm setz dich zu uns. Ich spendiere dir einen Apfelsaft«, sagte Theresas Mutter und deutete auf den Platz neben sich.
»Danke, Frau Heller. Und die Resi … Schad is um dein Vata. Jetzt liegt er auch da unt. Und schuld sin nur die Russn«, kicherte er.
Theresa rollte mit den Augen, wie sie es bereits als Kind bei seinem Anblick getan hatte. Ihre Mutter stieß sie in die Seite, flüsterte ihr zu, dass er es schwer gehabt habe und sie höflicher sein solle. Dann winkte sie der Kellnerin.
Ambrosius murmelte weiter: »A guta Mensch war er, da Hermann. Wir habm die Fürstin besucht, aba da wars tot. Oda ned? Jaja, nein, war scho so.« Er nickte, dann fiel sein Kopf nach vorne, als würde er jeden Moment einschlafen.
Theresa sah ihre Mutter fragend an. Die packte den alten Mann an der Schulter und schüttelte ihn sanft. »Ambrosius, dein Getränk ist da. Möchtest du auch etwas essen?«
»Gern, a Suppn bitte.« Neugierig sah er Theresa wieder an. »Groß bist wordn. Pass auf, dass dich d’ Engländer ned mitnehman. Meina Schwesta is es passiert.« Er schmunzelte und trank gierig aus seinem Glas.
»Lassen wir ihn einfach reden, das braucht er. Auch wenn es nur wirres Zeug ist. Er lebt noch oder wieder im Krieg«, flüsterte die Mutter und nickte Ambrosius zu, der erneut zum Sprechen ansetzte.
»Und hüt dich vor den Italienern, die hobm mei Ilse umbrocht.« Seine wässrigen, blutunterlaufenen Augen füllten sich mit Tränen, er seufzte leise und starrte stumm in die Luft. Als die Suppe kam, schlürfte er hastig einen Löffel nach dem anderen. Nachdem sie alle gegessen hatten, bedankte er sich höflich, stand auf und klopfte Theresa auf die Schulter. »Morgen ned wieda z’spät in d’ Schul kummen, gö?«
»Den Kaffee trinken wir bitte zu Hause«, sagte Theresa, als Ambrosius das Gasthaus verlassen hatte. »Ich möchte gerne ungestört mit dir reden.«
Ihr altes Zuhause war eine zweigeschossige Villa aus der Jahrhundertwende, die in einer Hügellandschaft eingebettet etwas außerhalb des Pöllauer Ortskerns lag. Hinter dem Gebäude stand ein prächtiger Apfelbaum, von dem Theresa als Kind mindestens dreimal hinuntergefallen war, wobei ihr älterer Bruder Lorenz zweimal mit einem kleinen Stoß nachgeholfen hatte.
In dem Moment, als ihre Mutter den Schlüssel ins Schloss steckte, fiel ein vom Wind gelockertes Stück Putz zu Boden. Das Stuckornament über der Tür, das den Weingott Dionysos zeigte, begann zu bröseln. Auch die Mauerfarbe blätterte ringsum ab. Als könne ihre Mutter Gedanken lesen, sagte sie: »Ich muss es wieder streichen lassen. Ständig ist etwas zu tun. Das Haus verfällt wie …« Sie verstummte und Theresa wusste sofort, dass sich ihre Mutter vor dem eigenen Gedanken erschrocken hatte.
Sie gingen hinein, stiegen die knarrende Holztreppe hinauf und öffneten die Tür zum Wohnzimmer. Der Duft nach dem Pfeifentabak ihres Vaters hatte sich in den Möbeln festgesetzt. Sofort beschlich sie das Gefühl, er könnte jeden Moment ins Zimmer kommen. Nein, er war nie einfach nur ›hereingekommen‹, er war stets erschienen. Wie ihre Mutter es schaffte, in diesen vier Wänden weiterzuleben? Alles erinnerte an ihn: jedes alte Buch, jeder Kerzenleuchter, jedes Kruzifix.
Theresa setzte sich auf einen weinroten, durchgewetzten Samtfauteuil und betrachtete den dunklen, viereckigen Abdruck an der Wand gegenüber. Hier hatte der Sustermans gehangen.
»Kannst du mir mehr über die ›Krönung‹ erzählen?«, fragte sie ihre Mutter, die gerade mit der Kaffeekanne aus der Küche kam. »Wieso habt ihr nicht versucht herauszufinden, wer der Maler ist?«
»Vielleicht haben wir nie den Zettel auf der Rückseite entdeckt, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.«
»Aber Papa muss ihn gesehen haben, er hätte sich doch erkundigen müssen.«
»Überleg mal, wie das war in den 70er-Jahren. Damals gab es kein Internet …«
»Unvorstellbar«, unterbrach sie Theresa.
»… und keine Bibliotheken am Land. Schon gar nicht mit kunstgeschichtlichen Fachbüchern. Er wird wohl seine Freunde gefragt haben, den Volksschuldirektor, den Pfarrer«, fuhr ihre Mutter fort. Sie nahm einen Schluck Kaffee und überlegte kurz. »Nach Wien in die Nationalbibliothek ist er nicht gefahren. Ich glaube, damals hat er gerade sein Flugzeug in der Garage gebaut – und den dazu passenden Flughafen neben dem Sportplatz. Da war das Gemälde schnell vergessen.«
Theresa lächelte beim Gedanken an die unzähligen, ständig neuen Ideen und Projekte ihres Vaters. Langweilig war es im Hause Heller nicht einen Tag gewesen.
»Falls er ihn je gesehen hat, ist die Erinnerung an den Zettel mit der Zeit verblasst. Wie so vieles in den letzten Jahren.« Traurig betrachtete ihre Mutter ein gerahmtes Foto. Es war die letzte Aufnahme ihres Vaters, bevor der Gehirntumor seine Persönlichkeit geraubt und ihn in seinem Körper eingesperrt hatte.
Theresa ergriff ein Kuvert, das neben dem Porträt lag. »Was ist da drin?«
»Alte Familienbilder. Ich habe ein bisschen aussortiert. Vielleicht kannst du sie für Dino gebrauchen.«
Theresa steckte die Fotos in ihre Tasche, stand auf und ging durchs Zimmer. Vor dem leeren Fleck an der Wand blieb sie stehen.
»Weißt du eigentlich, wieso er ausgerechnet dir die ›Krönung‹ vererbt hat?«, fragte ihre Mutter.
»Nein, keine Ahnung.«
»Als du etwa fünf warst, bist du auf einen Sessel geklettert, hast das Bild lange angeschaut und dann zu Papa gesagt: ›Der König sieht ja aus wie du‹. Er hat sich wochenlang darüber gefreut. Ich glaube, er wollte, dass du ihn so in Erinnerung behältst: als strahlenden, jungen König deiner Kindheit.«
Gleich nachdem Theresa wieder in Wien angekommen war, zeigte sie ihrem Sohn die Schätze, die sie ihm mitgebracht hatte.
»Und wer ist das?« Dino betrachtete eines der vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos.
»Meine Oma. Deine Urgroßmutter.«
»Und das?« Er deutete auf eine zerknitterte Aufnahme mit Passepartout-Rahmen.
»Deine Ururgroßmutter.«
Mit offenem Mund und herausgestreckter Zungenspitze griff Dino nach ein paar anderen Bildern, die um ihn herum auf dem Wohnzimmerboden verstreut lagen, unterzog sie einer strengen Prüfung und fragte schließlich: »Und wann kommen endlich die Höhlenmenschen und die Affen?«
Einem Lachen aus der Küche folgte Leons lapidare Antwort: »Dazwischen gab’s noch die Dinosaurier, wie deine Mutter und ich welche sind. Was ihr heute im Kindergarten schon alles lernt! Uns wurde statt Darwin noch die Genesis erzählt.«
Theresa sagte nichts. Sie zog ein kleines Foto aus dem Stapel. Es zeigte ihren Vater und Ambrosius Dreiseitl: beide jung, beide lachend und jeder von beiden hatte ein Gemälde in den Händen. Wieso aber trug der Schulwart ihre ›Krönung‹?
Siena, Oktober 1633
Carissimo et illustrissimo mio amico!
Teuerster Freund!
Ich glaube, eine Auswirkung meines Schreibens, welches ich an Kardinal B. schickte, scheint zu sein, dass man begann, meine Angelegenheit zu behandeln, wenn auch unter der gewohnten, strengsten Geheimhaltung. Während des Fortganges wurde ich angewiesen, zurückgezogen zu bleiben, dies jedoch bei außerordentlicher Räumlichkeit und Bequemlichkeit in drei Zimmern. Dank der göttlichen Gnade und dank der ausgezeichneten Führung des überaus gastlichen Hauses des Erzbischofs bin ich gesundheitlich wohlauf.
Er ist auf alle mir nahezu übermäßig scheinenden Annehmlichkeiten bedacht, ich hätte es schlechter treffen können.
Betrübt muss ich lesen, dass Euch Euer altes Leiden wieder plagt. Versucht Euch zu kurieren, auch um meinetwillen, so ich doch plane, alsbald es mir möglich sein wird, Euch bezüglich unseres Vorhabens zu treffen.
Danke für Eure treue und unerschütterliche Freundschaft, die trotz aller Widrigkeiten unzerstörbar scheint.
Innigst verbunden und ergeben,
Euer G.