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II

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Mittwochs trafen sich die Schwestern stets bei Mutti, die Wert darauf legte, dass die Familie zusammenhielt, und deshalb mittwochs groß aufkochte.

Keine der Töchter hielt das für eine besonders gute Idee, aber Mutti Heinrich pflegte so dermaßen nachdrücklich einzuschnappen, wenn man auch nur vorsichtige Kritik oder auch bloß Änderungsvorschläge wagte, dass sie sich eben fügten.

Katrin fand, das Essen war schlecht, ungesund, verkocht und schmeckte obendrein nicht, Tanja suhlte sich in Selbstmitleid und Dani war kaum besser – genau wie Mutti!

Dani hasste es, dass ihre Schwestern Georg nicht mochten – das stand nur ihr selbst zu! - und dass Mutti ihr ständig Haushaltstipps gab, als wäre sie selbst noch zu doof, ihren Haushalt zu führen. Mutti behauptete auch, Valli und Joschi seien frech und schlecht erzogen – und das konnte Dani auf keinen Fall durchgehen lassen, auch wenn sie ihre Kinder selbst öfter frech fand. Aber auf keinen Fall schlecht erzogen! Höchstens lag es Georgs schlechtem Vorbild…

Tanja konnte es auf den Tod nicht leiden, dass Katrin ihre Figur angewidert zu mustern pflegte und fand, ihr Job sei wirklich zu armselig, etwas Besseres müsse sich doch wohl finden lassen, wenn man sich bemühte? Muttis Essen war nicht besonders lecker, aber wenigstens war es reichlich und machte satt. Gebratenes und Frittiertes, auf jeden Fall Knuspriges wäre ihr bei weitem lieber gewesen.

Mal sehen, was heute geben sollte!

 

Daniela hatte ihre Kinder gefragt, ob sie zur Omi mitkommen wollten, aber Joschi hatte Handballtraining und Valli musste einen Übungsaufsatz schreiben. „Außerdem kocht die Omi furchtbar, noch schlimmer als du, Mama! Und Tanjas weinerliches Getue macht mich rasend. Nee, geh da mal schön alleine hin.“

Daniela hatte nichts anderes erwartet – und sie konnte ihre Kinder da beinahe verstehen. Muttis Genörgel, ihr Selbstmitleid und ihre sogenannte gutbürgerliche Küche, dazu Katrin, die alle Welt aufforderte, sich endlich mal zusammenzureißen und diverse schlechte Angewohnheiten abzulegen: „Dann würdet ihr euch auch gleich viel besser fühlen!“

Nein, sie ging aus Familiensinn hin, Lust hatte sie darauf eigentlich nie. Familiensinn hatten die anderen ja eher nicht. Tanja wohl nur, wenn sie Mutti etwas abbetteln wollte – und Katrin verachtete sie ja sowieso alle. Worauf zum Henker bildete die sich eigentlich so viel ein? Aber immerhin bettelte sie nicht bei Mutti! Tanja hatte da bestimmt schon – na, ganz schöne Sümmchen jedenfalls! Ob das verrechnet wurde, wenn Mutti mal ihr Testament machte? Das Reihenhaus, in dem sie alle aufgewachsen waren, war alt und scheußlich, aber bei den Immobilienpreisen zurzeit: nicht so schlecht! Oder gehörte das eigentlich Vati?

Um sieben. Naja, gegen halb zehn würde Mutti dezent ein Gähnen unterdrücken und zumindest Katrin würde daraufhin Müdigkeit vortäuschen und so den allgemeinen Aufbruch einleiten. Das konnte man überleben.

Immerhin war Georg wieder nach Augsburg abgerauscht, um dort Netzwerke zu reparieren oder irgendwas zu verkaufen– eine Sorge weniger.

Sie selbst vermisste ihn eigentlich nie, aber das fand Mutti wahrscheinlich wieder unangebracht für eine brave Ehefrau. Geistesabwesend rieb sie den blauen Fleck auf ihrem Unterarm und überlegte, ob sie jetzt ein Gläschen… um dieses Familienessen auszuhalten? Nein, lieber nicht, sonst rief Katrin wieder Boah, du hast ja eine Fahne! Eigentlich brauchte sie das Gläschen auch gar nicht, sie war ja ganz alleine in der Küche.

Sie räumte etwas lustlos die Küche auf und füllte die Spülmaschine, dann stellte sie einige Flaschen Bier kalt, damit Georg, wenn er denn irgendwann mal nach Hause kam, nicht ärgerlich wurde. Ein ärgerlicher Georg war kein Spaß und sie wollte am Freitag nicht nach Hause kommen und sofort einen Krach kriegen, nur wegen des blöden Biers.

Die Kinder waren in ihren Zimmern und dort blieben sie erfahrungsgemäß auch; freiwillig hatten sie ihre Mutter schon länger nicht mehr angesprochen, außer, wenn sie Geld für die Schule brauchten. Oder? Nein, nicht einmal dafür. Bezahlten sie Papiergeld und andere Dinge einfach selbst? Beide hatten ja auch einen Job, Valli an der Kasse im Supermarkt, Joschi im Baumarkt, samstags. Eigentlich sollten die lieber mehr für die Schule tun, sonst wurde aus ihnen auch nicht mehr als aus Tanja mit ihrem Primitivjob in dieser Packerei. Da hatte sie es mit Sachbearbeitung halbtags wirklich besser getroffen, das war doch nicht so – so – so ungelernt! Sie hatte ja immerhin eine Ausbildung!

Warum hatte Tanja eigentlich nichts Besseres gelernt? Aber das war eigentlich Tanjas eigene Angelegenheit, da musste sie sich nicht einmischen.

 

Katrin sah auf die Uhr: Viertel vor sechs, das war einigermaßen früh. Kurz nach Hause und dann zu diesem unsäglichen Essen. Wahrscheinlich war es wieder so ein Fraß aus Fett und Kohlenhydraten… wenn es wenigstens schmecken würde! Gute Kekse waren ja auch nichts anderes, aber die waren die Sünde im Allgemeinen auch wert, Muttis Fraß aber nicht. Und nachdem, was Valli ihr mal erzählt hatte, kochte Dani auch nicht viel besser, sie musste es wirklich bei Mutti gelernt haben.

Vielleicht war Vati deshalb so früh abgehauen? Nein, er hatte eine Neue, das wussten sie ja schließlich, weil Mutti es ihren Kindern einmal erzählt hatte, obwohl sie normalerweise eher ausweichend auf direkte Fragen reagierte.

Dass die Neue kochen konnte, war aber immerhin denkbar… netter Gedanke, damit könnte man Mutti sehr schön ärgern. Ach, wozu? Mutti war doch eigentlich arm dran.

Sie würde hingehen, sich das allgemeine Gejammer anhören, keine guten Ratschläge verteilen, auch wenn ihr das verflixt schwerfallen würde, und freundlich Konversation über irrelevante Themen machen. Wahrscheinlich hatte Tanja wieder irgendwelchen Stuss im Fernsehen gesehen und musste sich dazu unbedingt äußern. Meinetwegen, dachte Katrin, während sie sich im Spiegel betrachtete und überlegte, ob sie sich umziehen musste.

Nein, fand sie schließlich. Ganz dunkelblaue Jeans, ein dunkelblauer Sweatblazer und darunter ein T-Shirt in blassem Gelb. Da konnten sie nicht meckern.

Eigentlich war es doch egal, ob die meckerten, weder Mutti noch Dani und schon gar nicht Tanja waren irgendwie maßgeblich, die sahen alle selbst scheußlich aus und kleideten sich auch so. Wäre ja egal, wenn sie nett wären, sinnierte sie weiter, aber das waren sie eben auch nicht. Superkritisch bei anderen, und bei sich selbst?

Sie musste grinsen. War sie selbst nicht auch so? Das mussten die Familiengene sein!

Aber sie sah ja auch nicht scheußlich aus und sie jammerte nicht über ihr schlimmes Schicksal, warum auch, wenn es ihr doch prima ging? Dass sie auch nicht besser war als die anderen, konnte sie so nicht akzeptieren!

Tanja war schon da, als sie bei Mutti im Vogelbeerenweg ankam. Sie begrüßte sie höflich und wich nicht einmal Muttis Umarmung aus, obwohl sie dabei kurz überlegte, ob ihre Mutter sich zu vernachlässigen begann. Sie roch jedenfalls ein bisschen streng… und Tanja hatte doch schon wieder zugelegt? Sie schien kaum noch in den Sessel zu passen, den sie sich ausgesucht hatte. Dani tauchte unmittelbar nach Katrin auf.

Katrin lehnte etwas zu trinken ab und lobte etwas verkrampft den Blumenstrauß auf dem Couchtisch. Mutti lächelte. „Nicht wahr? Und sie sehen doch wirklich echt aus, findest du nicht?“

Huch, Plastik? Oder Stoff?

„Stimmt. Ich hätte sie tatsächlich für echte Blumen gehalten. Da hast du dann länger was davon, gell?“

Warum schaute Mutti jetzt schon wieder so verkniffen? Sie hatte sich doch gar nicht kritisch geäußert?

„Du kannst dir natürlich täglich frische Blumen leisten!“, sagte Dani in leicht anklagendem Ton, wohl um Mutti beizustehen, die immer noch schmollte.

„Also so hatte ich es nicht gemeint. Ich mag übrigens keine frischen Blumen. Die sollen da stehen, wo sie wachsen, warum bei mir in einer Vase vergammeln, die armen Dinger?“

„Ich würde mich schon freuen, wenn Georg mir mal wieder Blumen mitbringen würde.“

Katrin grinste. „So wie du das formuliert hast, rechnest du aber nicht damit?“

„Dein Jochen schenkt dir wohl dauernd was?“

„Nein, das tut er nicht, er kennt mich ja. Keine Blumen, keinen Schnickschnack.“ Sie versuchte, sich nicht in dem völlig überladenen Wohnzimmer beziehungsreich umzusehen, aber das war mal wieder vergebliche Liebesmüh – die legten ihr doch alles als Kritik, Angeberei oder wenigstens unerbetene Ratschläge aus!

Tanja hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt, sich nur aus der Colaflasche stetig nachgeschenkt. Und das war Zuckerpampe, diese doofe Kuh! Ach, was ging es sie an!

Mutti erhob sich nicht ohne Mühe und ging etwas ungleich in Richtung Esszimmer. Katrin hatte sie schon mehrfach gefragt, wie es denn mit einer Knieoperation aussah – das zahlte doch die Versicherung! Aber Mutti hatte stets mit Leidensmiene abgewehrt. Nun, wenn sie lieber Schmerzen leiden wollte…

„Kommt essen, Kinder!“

Dani erhob sich als erste. „Was gibt´s denn heute?“

Katrin, die ihr gefolgt war, schnupperte. „Ich rieche Kapern. Königsberger Klopse mit Reis, würde ich vermuten.“

„Wartet doch auf mich!“, Tanja trippelte unbeholfen hinter ihnen her. Das Esszimmer sah auf den ersten Blick aus wie immer, dunkle Möbel aus den frühen Achtzigern (Vatis Geschmack?) und diese unsäglichen Samtportieren, die Wohn- und Esszimmer voneinander trennten. Aber was war in den Kisten auf der Vitrine, auf dem Geschirrschrank und unter dem Buffet? Katrin wagte es zu fragen und hoffte, dass sie nur interessiert klang und nicht etwa kritisch.

Mutti klapperte in der Küche herum und ignorierte die Frage, statt dessen rief sie: „Setzt euch schon mal und schenkt euch etwas zu trinken ein.“

„Sollen wir dir nicht helfen?“, fragte Katrin.

„Danke, ich mache das lieber selbst.“

Als ob sie noch Teenies wären und zu allem zu dämlich! Aber bitte…

Auf dem Tisch standen Wein, Orangensaft und Wasser; Katrin schenkte sich schnell ein halbes Glas Wasser ein, Dani wählte Wein, Tanja Orangensaft. Noch mehr Zucker?

Wenn Mutti schon so tat, als seien sie alle noch Kinder, warum stellte sie dann nichts Gesünderes hin? Wenigstens eine Saftschorle statt dieser Zuckerbombe? Und sie könnte Dani vorschlagen, sich eine Weinschorle zu mischen…

Mutti kam, eine Schüssel Reis in den Händen. „Tut euch schon mal auf!“ Damit ging sie wieder und holte die nächste Schüssel, tatsächlich Königsberger Klopse.

Jetzt setzte sie sich wenigstens auch und goss sich Orangensaft ein, dann musterte sie Katrins Glas. „Keinen Saft? Das ist ein guter! Mit extra Vitamin C!“

„Danke. Das ist lieb von dir, aber ich esse viel Obst, also bin ich mit Vitaminen gut versorgt. Orangensaft enthält mir zu viel Zucker.“

War natürlich wieder falsch.

„Du musst doch immer was zu meckern haben“, stellte Dani fest und strahlte Mutti an. Ach, machte sie jetzt einen auf Ich bin die gute Tochter? Na, wenn´s ihr Spaß machte…

„Ich meckere nicht, wenn ich mich nur über mich äußere. Was ich tue, müsst ihr doch nicht nachmachen!“

„Das sagst du jetzt bloß so“, murmelte Tanja.

„Himmel! Was bitte könnte ich denn sagen, sodass ihr nicht einschnappt?“

Darauf gab es natürlich keine Antwort. Mutti und Dani unterhielten sich über das beliebte Thema der hektischen Zeiten. Dazu sagte Katrin lieber nichts, denn ihr kamen die Zeiten überhaupt nicht hektisch vor, sie war aber auch gut organisiert, fand sie selbst.

Sie aß vorsichtig ihren Teller leer, obwohl der Reis klumpig war und manche der Klopse innen etwas kalt waren – Mutti hatte also wieder ein Tiefkühlgericht aufgetaut, aber offenbar nicht lange genug. Na, was hatte sie denn auch anderes erwartet? Mutti kochte immer aus Tiefkühlschachteln. Sie selbst besorgte ja auch öfter Zeug aus der Kühltruhe, aber doch nur Obst und Gemüse, weil das länger hielt, nicht Zeug mit fertigen Soßen voller billigem Fett und diversen Zusatzstoffen! Dani machte es offensichtlich genauso wie Mutti, jedenfalls hatte sie Valli und Joschi schon öfter meckern gehört. Andererseits waren die doch wohl alt genug, sich selbst einen Salat zu machen oder sonst etwas Vernünftiges? Sie stocherte in den Resten herum – waren die Klopse innen eigentlich durch? Wurden die vor dem Einfrieren überhaupt vorgekocht oder holte sie sich hier womöglich eine Lebensmittelvergiftung?

Wahrscheinlich schon vorgekocht, überlegte sie, die mussten in der Fabrik ja auch irgendwie - aus billigsten Zutaten – die Sauce fabrizieren. Ohne Kochen war das kaum möglich…

Auch Dani aß etwas vorsichtig, sah sie aus dem Augenwinkel, den Kopf geradeaus auf ihren eigenen Teller gerichtet, damit nicht wieder eine blaffte Was schaust du schon wieder so? Allmählich bekam man hier wirklich Verfolgungswahn!

Auf keinen Fall aber Tanja anschauen, die schaffte es womöglich, loszuzetern und gleichzeitig weiterzuessen.

Der mollige Arm, den sie schon wieder nach der Schüssel mit dem klumpigen Reis ausstreckte, war aber auch ohne Kopfbewegung festzustellen.

„Tanja, frisst du das alles alleine auf?“, platzte Dani in diesem Moment heraus. Katrin unterdrückte etwas zu spät ein Prusten, tarnte es mit einem Husten und behauptete dann, ihr sei eine Kaper in die falsche Kehle geraten. Mutti sah leidend drein, als habe man ihr die Schuld zugewiesen, und wandte sich dann an Dani: „ Lass sie doch, ihr schmeckt es eben!“

„Sieht man ihr auch an“, murmelte Dani und rührte in ihren Resten herum, bevor sie den Teller wegschob. „Ich kann nicht mehr.“

Katrin war mittlerweile mit ihrer kleineren Portion fertig und legte ihr Besteck auch ordentlich ab, fromm schweigend, während Dani ihren Gedankengang weiterspann: „Tanja, mittlerweile bist du wirklich ganz schön – äh – dick. Bist du damit wirklich zufrieden?“

Tanja hielt inne, die Gabel mit Reis und einem ganzen Klops halb erhoben, während ihr die Tränen in die Augen traten; dann schob sie sich die Gabel hastig in den Mund.

„Jetzt lass deine Schwester in Ruhe, du machst sie nur traurig!“

Katrin wollte ablenken, bevor sich diese beiden in die Haare kriegten und dann so ausführlich beleidigt waren, dass man es nicht aushalten konnte. Ihr Blick fiel auf die Kartons auf den Schränken und unter der Anrichte und sie fragte nun doch noch einmal: „Mutti, was ist eigentlich in den Kartons?“

Mutti war sofort abgelenkt und Dani zog ein Gesicht, aber man merkte, dass sie die Frage auch interessierte.

Tanja nicht, die aß weiter. Jetzt hatte sie tatsächlich die Reste aus der Klopse-mit-Sauce-Schüssel auf ihren Teller geleert und noch Reis darauf gehäuft!

„Ach, es sammelt sich eben immer so viel an, das kennt ihr doch auch?“

Dani stimmte eifrig zu, Katrin nickte heuchlerisch. „Du meinst, Geschirr und solche Sachen?“

„Genau, auch Tischwäsche und so etwas… wollt ihr davon nicht etwas haben?“

Hm. Dani war sofort positiv gestimmt, Tanja futterte – und Katrin selbst besaß zweimal vier Sets und keine Tischdecke, nicht einmal für den Notfall. Welcher Notfall sollte das überhaupt sein? Sie stimmte zu, als Mutti nach den Kisten angelte, und half ihr, alles unfallfrei auf den Boden zu stellen.

Tanja verschlang die Reste und saß dann untätig da, während Katrin und Dani wenigstens den Tisch abräumten.

„Aber tut es nicht in die Spülmaschine, das mach ich lieber selbst – das muss man richtig machen!“

„Mutti, wir haben beide selbst eine Spülmaschine, wir können das. Aber wie du willst!“

Sie stapelten alles sauber auf, wischten aus langjähriger Gewohnheit auch den Tisch feucht ab und hievten dann die erste Kiste auf die Tischplatte.

Mutti hob den Deckel. Tatsächlich: Tischdecken! Riesige Decken, die sich nur für Hochzeitstafeln eigneten, dazu ein gewaltiger Stapel Damastservietten, leider zum Teil recht zerschlissen.

„Schön, nicht?“ Mutti sah gerührt auf die Stoffwolken.

„Hast du die geerbt?“

Das trug Dani einen freundlichen Blick ein. „Von Vatis Großmutter Dorothea. Hier, in der Decke steht DH, Dorothea Heinrich. Die waren sehr reich… Katrin, wäre das nichts für dich?“

Katrin schüttelte bedauernd den Kopf. „Mein Tisch ist dafür viel zu klein. Und ganz ehrlich, ich lade nie mehrere Leute ein. Wir alle gehen in dem Fall lieber essen. Indisch, ins Tadsch Mahal – oder Chinesisch, in den Kaiserpalast.“

„Chinesisch mag ich auch“, ließ sich Tanja vernehmen. „Kennst du Wan-Tans?“

„Klar. Lecker, aber fettig. Dieses ganze frittierte Mistzeugs, das sollte man wohl lieber ganz selten… Kennst du Huhn extrascharf mit acht Gemüsen? Das ist im Kaiserpalast fantastisch.“

Tanja brummte etwas und fixierte Mutti. Sie wollte doch nicht etwa noch einen Nachtisch?

Mutti ignorierte sie aber und öffnete die nächste Kiste, die dieses Mal Dani unter der Anrichte hervorgeangelt hatte. Du lieber Himmel, weitere Tischdecken!

Bestickte Decken.

Mit passenden Servietten.

Wohlstandsmüll aus den Sechzigern.

Dani sah die Stapel begeistert durch und suchte sich vier Decken mit den dazugehörenden Servietten aus.

„Kannst du die wirklich gebrauchen?“, fragte sie leise und ungläubig.

„Wieso, die sind doch schön?“

„Und deshalb adoptierst du sie?“

„Katrin, möchtest du denn nichts? Schau mal, hier eine Weihnachtsdecke, die hat meine Großtante Heidi noch selbst gestickt!“

„Großtante Heidi? War das die mit dem Verfolgungswahn?“, rutschte es Katrin heraus.

„Äh – ja, aber das war erst viel später. Du hast doch bestimmt nur eine Weihnachtsdecke, oder? Und stell dir mal vor, wenn du auf die Wachs kleckerst oder Glühwein, dann brauchst du doch eine zum Wechseln?“

Katrin starrte ihre Mutter an. „Mutti, das klingt wie aus einer anderen Welt! Ich dekoriere Weihnachten nichts. Ich habe überhaupt keine Weihnachtsdecke, trinke keinen Glühwein und zünde keine Kerzen an. Zugegeben, die Decke ist hübsch, aber bei mir würde sie nur in einem Regalfach einstauben, das arme Ding. Wie wäre es denn mit einem Flohmarkt? Da könnte man noch etwas verdienen und dann vielleicht die Hälfte spenden und für den Rest Weihnachtsdeko kaufen. Ich glaube, St. Korbinian macht vor dem ersten Advent immer so eine Art Basar mit Flohmarkt. Und sowas ist ja auch lustig, nicht?“

„Ja, das ist eine gute Idee!“, rief Dani, „da hab ich schon die tollsten Sachen gefunden, Mutti! Weißt du noch, dieses krasse Bowlengefäß? Mit zwölf Henkelgläsern?“

Mutti nickte unzufrieden, Katrin fragte: „Trinkt ihr echt so viel Bowle? Im Sommer ist das ja ganz lecker…“

Dani winkte ab. „Ach wo. Georg ist gegen Erdbeeren allergisch. Und wann sitzen wir schon zusammen im Garten…“ Sie nahm einen großen Schluck Wein und griff nach der Flasche, um ihr Glas wieder aufzufüllen.

Katrin schwieg; ihr lagen zwar zwei Kommentare auf der Zunge, aber weder die Frage, wozu Dani dieses Bowlengefäß dann eigentlich brauchte, noch die Bemerkung, sie habe doch eigentlich schon genug getrunken, wenn man bedenke, dass sie mit dem Auto da sei, würde die einigermaßen friedliche Stimmung erhalten. Verdammt, Dani war sechsunddreißig, die musste das doch wohl selbst wissen?

„Mutti!“, quengelte Tanja, „Gibt´s denn keinen Nachtisch?“

„Ach, entschuldige, Kind, natürlich! Erdbeereis mit Schokoladensauce und Schlagsahne, das magst du doch?“ Mutti ließ ihren Blick über ihre älteren Töchter gleiten, die beide resigniert nickten.

„Aber für mich bitte ohne Sauce und Sahne“, bat Katrin.

„Du bist so eine Spaßbremse!“, zeterte Tanja prompt los.

„Ach, du hättest mehr Spaß, wenn mir davon schlecht würde? Warum eigentlich?“

„Du tust doch bloß so! In Wahrheit willst du mir bloß den Appetit verderben!“

„Du hast jetzt echt noch Appetit?“, erkundigte sich Dani hörbar erstaunt. „Hast du nicht praktisch alles alleine weggefuttert?“

„Und du hast schon fast die ganze Flasche Wein weggepichelt!“

„Kinder! Streitet doch nicht! Es ist wirklich genug für alle da!“

Das war eigentlich nicht das Problem, fand Katrin, aber was hatte es denn für einen Sinn, etwas zu sagen? Ihre Schwestern schnappten nur wieder ein und Mutti verstand entweder nicht, was sie meinte, oder war ebenfalls beleidigt.

Mutti hinkte schon in die Küche.

„Du säufst ja!“, behauptete Tanja.

„Und du wirst immer fetter“, schnauzte Dani zurück.

Tanjas Augen füllten sich umgehend mit Tränen und Katrin verlor die Geduld. „Tanja, was erwartest du eigentlich, wenn du Dani so angehst? Ist doch klar, dass sie das kontert?“

„Ihr seid so gemein zu mir, dabei geht´s mir doch eh so schlecht!“

„Ach, ist dir doch schon schlecht?“, wollte Dani sie unbedingt missverstehen und Katrin konnte ein Prusten nicht unterdrücken.

„Mutti!!“

Mutti eilte herbei – mit einem Tablett voller Eisbecher, alle mit Erdbeereis, Schokosauce, Nougatwaffeln und einem Berg Schlagsahne üppigst gefüllt.

Tanja hörte auf zu heulen und strahlte, als der größte Becher vor ihr landete.

Dani bekam den zweitgrößten, Katrin den nächsten, den sie angewidert betrachtete. „Mutti, was war an keine Sahne eigentlich so schwer zu verstehen?“

„Aber Kind, mit Sahne schmeckt es doch viel besser! Und du kannst es dir doch nun wirklich leisten!“

Bevor Katrin darauf antworten konnte, fragte Dani: „Wenn man sich Sahne leisten können sollte, warum gibst du dann Tanja so einen Haufen davon?“

Tanja stiegen wieder Tränen in die Augen, aber sie löffelte trotzdem fleißig weiter.

„Mutti, es tut mir leid, aber mit Sahne ist das Ganze leider ungenießbar. Ich mag das Dreckszeug einfach nicht, davon wird mir übel. Hier Tanja, du schaffst den sicher auch noch.“

„Bei dir ist es ja schon wurscht“, fügte Dani höhnisch hinzu.

Tanja löffelte.

Mutti seufzte. Grabesschwer.

„Katrin, womit kann dir denn bloß eine Freude machen?“

„Eigentlich nur damit, dass man mich ernstnimmt. Warum weißt du besser, wie mir Erdbeereis schmecken muss, als ich selbst? Du überträgst deine Vorlieben auf mich, aber ich mag nun mal andere Dinge. Obst, Gemüse, Salat, Huhn, wenn es bio ist.“

„Aber die schönen Tischdecken wolltet du ja auch nicht?“

Himmel, was hatte das eine bitte mit dem anderen zu tun?

„Ich brauche keine Tischdecken. Und ich will nichts in der Wohnung haben, was ich gar nicht brauche. Das ist sinnloser Konsum.“

„Also ich kaufe gerne schöne Sachen“, murmelte Dani, die sorgfältig um das Sahnehäubchen herum aß.

„Und, kannst du sie auch immer gut gebrauchen?“, fragte Katrin sofort.

„Ja, klar, sonst würde ich doch nicht – okay, manchmal nicht. Geht es dir nie so?“

„Nein. Ich kaufe nur, was ich wirklich brauche. Einkaufslisten haben schon ihre Vorteile.“

„Macht das so überhaupt noch Spaß?“ Das klang etwas abfällig, aber doch weniger maulig als sonst, fand Katrin.

„Mir schon. Erst die gezielte Jagd nach dem idealen Teil, dann der Treffer – und schließlich die Freude, wenn es genau das ist, was in der Wohnung oder im Kleiderschrank noch gefehlt hat.“

Tanja hatte ihre Eisportion verputzt und machte sich jetzt über Katrins Schale her. Essen und reden gleichzeitig war aber kein Problem für sie: „Ihr! Ihr könnt ja auch dauernd shoppen gehen, ihr verdient ja gut!“

„Hast du denn gar nichts verstanden?“, entgegnete Katrin mit betonter Geduld, als sei Tanja etwas begriffsstutzig. War sie ja auch, fand sie. „Es geht doch nicht um dauerndes Shoppen – schon wieder sinnloser Konsum.“

„Und dafür, dass du so wenig verdienst, können doch wir nichts!“, ergänzte Dani. „Wieso suchst du dir nichts Besseres?“

„Mich will doch sonst keiner haben!“, klagte Tanja. „Die denken, ich bin dauernd krank, dabei stimmt das gar nicht.“

„Warum sollen die das denken, wenn du gar nicht fehlst?“ Katrin verstand nicht ganz, was Tanja meinte.

„Naja, manchmal geht´s mir schon nicht so gut, dann bleibe ich zu Hause – aber das machen die anderen doch auch! Und jemand bei einem neuen Job könnte das doch auch noch gar nicht wissen.“

„Stimmt“, kommentierte Katrin friedlich.

„Warum geht es dir denn nicht gut?“, erkundigte Mutti sich sofort besorgt. „Du bist doch hoffentlich nicht krank?“

Tanja seufzte mitleiderregend. „Ach, mein Rücken… und das rechte Knie – ich weiß gar nicht, wieso eigentlich, ich mach doch gar nichts?“

„Wahrscheinlich ist das der Grund“, rutschte es Katrin heraus, „kein Sport, aber viel Gewicht auf den Gelenken.“

Tanja starrte sie an und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Glücklicherweise griff Dani ein, bevor Katrin etwas Unverzeihliches sagen konnte: „Was heulst du denn jetzt schon wieder? Was hast du erwartet, wenn du pausenlos frisst? Logischerweise ist das Übergewicht ungesund, das weißt du doch wohl selber.“

Nun, das war garantiert genauso unverzeihlich… und jetzt zückte Dani ihr Handy und sah Tanja stirnrunzelnd an: „Wie groß bist du gleich wieder?“

„Einssiebzig“, murmelte Tanja und zog mit einem schluchzenden Laut die Nase hoch.

„Und hundert Kilo sind das locker, wenn nicht mehr… Hundert durch einskommasieben zum Quadrat…“

„Was macht sie da?“, flüsterte Mutti.

„Sie rechnet den BMI aus. Body-Mass-Index“, tuschelte Katrin zurück.

„Vierunddreißigsechs!“ Dani sah Tanja strafend an. „Und in Wahrheit bestimmt noch mehr, sagen wir sechsunddreißig. Der gesunde Wert liegt zwischen zwanzig und vierundzwanzig, das weißt du doch wohl auch? Da brauchst du dich nicht zu wundern, wenn´s dir nicht gut geht und deine Gelenke verschleißen! In ein paar Jahren schiebst du dann mit dem Rollator rum…“

Tanja jaulte auf.

„Verflixt!“, brach es nun auch aus Katrin hervor, „Warum heulst du, wenn wir dir Dinge sagen, die doch selbst ganz genau weißt?“

Prompt heulte Tanja nur noch lauter und Mutti eilte zu Hilfe. „Lasst eure kleine Schwester doch endlich in Ruhe! Sie ist eben ein bisschen voller, na wenn schon?“

„Ein bisschen voller?“, wiederholte Katrin, von Danis eifrigem Nicken ermutigt. „Wenn sie ein Drittel abnehmen würde, wäre sie immer noch an der oberen Grenze! Gut, das wäre nicht so arg, aber dieses massive Übergewicht ist total ungesund! Willst du denn, dass sie einen Rollator braucht und irgendwann nur noch pausenlos fressend mit fünf Zentnern im Bett liegt und gepflegt werden muss, Mutti?“

„Wie diese traurigen Gestalten auf diesem Krawallsender?“, assistierte Dani. Katrin warf ihr einen befremdeten Blick zu. „Lieber Himmel, welcher Krawallsender?“

Dani winkte ab. „Auf jeden Fall gibt es solche Gestalten, die kriegen dann den Magen verkleinert. Und die ganze Zeit jammern die rum, wie furchtbar alles ist, dabei sind sie ja wohl selber schuld, wenn sie pausenlos futtern! Das ist doch nicht ein böses Schicksal!“

„Ich futtere nicht pausenlos!“, empörte sich Tanja, mittlerweile hochrot im Gesicht.

„Aber viel zu viel!“, erklärte Katrin. „Du hast mindestens die Hälfte von Reis und Klopsen gegessen und zwei gigantische Portionen Nachtisch. Merkst du eigentlich noch, wann du satt bist?“

„Wenn es ihr doch schmeckt?“ Mutti hatte das Problem offenbar immer noch nicht erkannt.

„Ach? Das Lob für deine Kochkunst ist dir wichtiger als die Gesundheit deiner Tochter? Und kannst du, wenn es schon überflüssigerweise Nachtisch geben muss, nicht bitte einen Teller Obst hinstellen?“

„Obstsalat mit Eis?“, schlug Mutti vor. „Sicherlich, wenn ihr das mögt?“

„Mutti!“, stöhnte Katrin auf. „Kein Eis - und keinen Zucker ans Obst!“

„Aber dann schmeckt es doch gar nicht süß genug?“

„Nur weil der Zucker unser Süßeempfinden verdorben hat“, entgegnete Katrin sofort. „Ein normaler Apfel ist als Dessert völlig hinreichend. Wenig Fruchtzucker und dafür Pektin für die Verdauung. Und er reinigt auch noch die Zähne.“

„Praktisch“, fand Dani. „Katrin, wie groß bist du?“

„Eins sechsundsiebzig. Und ich wiege zweiundsechzig Kilo. Dani, lass gut sein, das gibt 20. Untere Grenze. Und du?“

Dani zog ein langes Gesicht. „Sechsundzwanzig.“

„Alkohol hat eine ganze Menge Kalorien“, gab Katrin zu bedenken.

„Mhm. Stimmt schon.“

„Außerdem finde ich 26 jetzt auch nicht schlimm. Das bisschen schadet der Gesundheit nicht.“ Katrin nickte in Richtung der fast leeren Weinflasche. „Aber das schadet der Leber. Und ganz ehrlich – glücklich macht es doch auch nicht, oder?“

Dani seufzte.

Katrin sah unauffällig auf die Uhr. Kurz vor zehn… na endlich! „Ich fürchte, ich muss jetzt nach Hause. Morgen muss ich recht früh anfangen, ich hab da ein Projekt noch abzuschließen…“

Das stieß nicht auf großes Interesse, aber das hatte Katrin auch nicht erwartet. Mattes Nicken genügte ja wohl!

„Willst du nicht doch etwas mitnehmen? Servietten vielleicht? Oder schau, diese hübsche rosa Decke? Das ist Kunststoff, die muss man nur abwischen, das ist doch für eine berufstätige Frau interessant? So viel Zeit hast du ja auch nicht für deinen Haushalt, oder?“

Männo, Mutti!

„Nein danke, Mutti. Kunststoffe sind schlecht für die Umwelt und gar keine Tischdecke ist noch arbeitssparender. Vielen Dank für das Essen – und denk mal über den Flohmarkt nach! An einem Samstag würde ich sogar mitkommen und dir helfen!“

„Au ja, ich auch“, rief Dani – und etwas leiser: „Da ist Georg zu Hause, das brauche ich nicht den ganzen Tag.“

 

Furchtbar, fand Katrin, als sie wieder in ihrer heißgeliebten, sparsam möblierten Wohnung war. Dani trank zu viel, war aber davon abgesehen heute durchaus vernünftig gewesen. Mutti kapierte ja wohl gar nichts – und diese übergriffige Art! Ich mag Sahne, also tu ich dir auch welche auf, egal, was du eben erst gesagt hast.

Außerdem hortete sie offensichtlich viel zu viel sinnloses Zeug – woher hatte sie bloß ungefähr hundert Tischdecken? Von diesem rosa Plastikscheiß mal ganz zu schweigen!

Und Tanja – Tanja hatte echt ein Problem. Diese Sendung, von der Dani gesprochen hatte, kannte Katrin zwar nicht, aber so sollte Tanja doch nicht enden!

Fraß sie so viel, weil sie ihr Leben so schrecklich fand? Aber es wurde davon doch nicht besser, im Gegenteil! Gut, sie hatte einen blöden, schlecht bezahlten Job, aber warum suchte sie sich nichts Besseres? Sie hatte immerhin Abitur!

Und weniger zu essen, das musste doch möglich sein? Gab es nicht andere Trostmechanismen? Erfolge aufschreiben, meinetwegen winzig kleine Erfolge?

Aber war sie dafür nicht schon zu sehr in ihrem Selbstmitleid gefangen? Hatte sie ein ernsthaftes psychisches Problem? Aber welches? War sie süchtig nach dauerndem Essen?

Und Danis Ehe schien auch nicht mehr besonders glücklich zu sein, Dani war ja offenbar froh, wenn sie diesen Georg nicht sehen musste. Der war aber doch ohnehin nur am Wochenende da, oder? War er nicht Vertreter oder so?

So ging´s eben, wenn man sich nicht für die Einzelheiten interessierte – auch nicht gerade sehr familienorientiert…

Ob sie mal ernsthaft mit Tanja reden konnte? Aber wie sollte sie das anfangen, ohne dass die sofort zumachte und nur winselte, sie verstehe sie eben nicht und habe sie noch nie gemocht und niemand unterstütze sie… genau das Gejammer, das Katrin selbst sofort ungeduldig machte. Und dann vergriff sie sich garantiert wieder im Ton.

Dani war auch nicht gerade zartfühlend… und Mutti hatte das Problem doch gar nicht erfasst! Sie hatte ja selbst eins, mit dieser fast schon manischen Kruscht-Sammelei.

Jemand Professionelles? Unmöglich! Tanja, mach ne Therapie, das ist doch krankhaft. - Hältst du mich etwa für verrückt? – Das wäre wohl noch die maßvollste Antwort!

Tanja war krank, das war doch klar! Irgendetwas war bei ihr schiefgelaufen und jetzt flüchtete sie sich ins Futtern. Wonach hungerte sie wohl wirklich? Wenn sie selbst Psychologie statt BWL studiert hätte, überlegte Katrin, dann könnte sie ihr jetzt vielleicht helfen, aber sie hatte ja schon vor der Einschreibung erkannt, dass es ihr ziemlich an Empathie und vor allem an Geduld fehlte. Irgendwer – war es ein Kurzzeitlover gewesen? – hatte sie als Nerd bezeichnet. Vielleicht hatte er gar nicht so unrecht gehabt…

Sie setzte sich vor ihren Rechner und rief den Online-Kalender auf, den sie akribisch führte. Organisation! Organisation war überhaupt das Wichtigste, und wenn man sie hundertmal als Korinthenkackerin bezeichnete. Ohne ihren Kalender würde sie wirklich nervös werden…

Essen bei Mutti konnte sie als erledigt markieren, sie klickte das Feld an und änderte die Farbe von Rot in ein mittleres Blau, ihre Lieblingsfarbe.

Eingekauft hatte sie vorher und staubgesaugt auch schon. Dann würde sie morgen… staubwischen und eine Ladung Wäsche waschen, ach, das stand ja auch schon da. Und in der Firma… genau, alles war schon in Orange angelegt. Ach, und in Rosarot: den Knopf am hellblauen Blazer wieder fester annähen. Das hatte sie vorhin erledigt, also konnte sie es ebenfalls blau färben. Schon vorausgearbeitet - das sah ja so toll aus!

Da waren Donnerstag und Freitag eigentlich einigermaßen entspannt, wenn Daniel nicht wieder mit einem fantastischen neuen Projekt um die Ecke kam. Andererseits war ein neues Projekt doch auch immer interessant, vor allem, wenn es um Start-ups mit wirklich tollen Ideen ging. Da freute man sich, wenn sie, von FinanceServices optimal betreut, schließlich Erfolg hatten.

Naked Beauty zum Beispiel. Wer da an Aktfotografie dachte, war selbst schuld – es ging um unverpackte Kosmetika, feste Shampoos, Gesichtsseifen, Gesichtswasser, das man in einer Pumpflasche aus Leitungswasser mit einem Wirkstoff-Tab selbst zusammenmischen konnte, und ähnliche Dinge. Katrin hatte sich alles, was NB produzierte, sofort im Unverpacktladen im Dortmunder Weg gekauft und es nicht bereut.

Wann wohl der Punkt erreicht war, an dem plastikverpackte Kosmetika uncool wurden?

Natürlich finanzierte FinanceServices auch Unternehmen, die bloß die Konsumlust befriedigten, aber dabei wenigstens soweit Gewinn machten, dass sie die Finanzierung in der vorgesehenen Zeit ablösen konnten. Allerdings weigerte Daniel sich, offen naturschädliche Konzepte zu finanzieren. Dieser komische Kerl, der ernsthaft glaubte, Autositzbezüge aus echtem Pelz seien eine Marktlücke, war stinkbeleidigt abgezogen. So ein Käse, dachte Katrin auch jetzt noch – warum nicht Webpelz? Oder einfach wärmere Klamotten? Echter Pelz taugte doch nur zum Angeben und dazu, „Ich-scheiß-auf-Tiere“ zu verkünden!

Aber der Typ war doch sowieso erledigt – oder?

Gut, mal schnell googeln, wenn sie sowieso schon vor dem Rechner saß. Perfect Fur hatte er seine Schnapsidee genannt… und er? Oliver Mannlicher, glaubte sie sich zu erinnern. Mannlicher, war das nicht eine Gewehrmarke? Das passte ja mal wieder!

Waffen würde Daniel wohl auch nicht finanzieren wollen. Und sie selbst würde dann ein mieses Konzept entwerfen, so eins, wo die ganze Summe viel zu früh fällig wurde!

Nein, Blödsinn, das schadete dann vor allem ihren eigenen Ruf – als sei sie zu blöd, es besser zu machen. Besser war es, den Kunden von Vorneherein abzulehnen. Von Perfect Fur war nichts zu finden, von Oliver Mannlicher aber schon, denn er hatte eine neue Idee entwickelt: Er wollte Strümpfe produzieren, die beim Tragen die Haut mit Feuchtigkeitscreme versorgen sollten – Zeitersparnis! Nie mehr die Beine eincremen müssen! Dummerweise (Katrin grinste beim Lesen) hätte man die Strümpfe, um die Wirkung zu erhalten, niemals waschen dürfen. Spöttische Kommentare, aber keine Finanzierung. Nun ja, bei einer solchen Schnapsidee wohl kein Wunder!

 

Daniela war nach Hause gekommen, noch den etwas faden und zugleich künstlichen Geschmack von Muttis Dessert auf der Zunge. Das Haus lag im Dunklen, also schliefen wohl alle schon? Eigentlich erstaunlich… War Georg etwa überraschend nach Hause gekommen und gleich zu Bett gegangen? So früh? An einem Mittwoch? Und warum wartete er dann nicht, um sich zu beklagen, dass für ihn kein Abendsnack bereitgestellt war? Nein, das war extrem unwahrscheinlich, er war doch erst heute früh nach Augsburg gefahren! Sollte er nun plötzlich Sehnsucht nach Weib und Kindern entwickeln? Extrem unwahrscheinlich, wirklich. Völlig abwegig.

Wenn doch, hätte ihn wohl niemand empfangen. Ob er wohl zur Strafe das Wohnzimmer verwüstet hätte? Den Fernseher zerschmettert? Mit einem Hauch böser Ahnung schaute sie ins Zimmer. Dunkel, wie alles andere. Sie knipste das Licht an und blinzelte erleichtert: Na bitte, tadellose Ordnung, ordentlicher als sie das Zimmer hinterlassen hatte! Alle Sofakissen aufgeschüttelt, die Fernsehzeitung und die Fernbedienungen perfekt auf einer Seite des Couchtischs. Kein Bierglas, keine Flasche, gar nichts?

Georg konnte das gar nicht gewesen sein, er würde sich nie mit Weiberkram befassen! Die Kinder? Das konnte sie sich auch nicht vorstellen, aber sie hatten doch keine Heinzelmännchen!

Sie kontrollierte sicherheitshalber auch das Schlafzimmer: dunkel, leer, kein Geruch nach einem schlafenden Mann, der etliche Biere konsumiert hatte. Licht – das Bett war leer und glattgestrichen.

Sie war allmählich schon ganz verwirrt, musste sie zugeben – warum sollte Georg denn eigentlich unter der Woche nach Leisenberg kommen? Hatte sie jetzt Verfolgungswahn?

Joschi schlief, Valli nicht, sie hörte leise Musik und las dabei etwas im Schein ihrer Nachttischlampe. Als sie ihre Mutter bemerkte, nahm sie die Kopfhörer aus den Ohren. „Wie war´s bei Omi?“

„Wie immer“, seufzte Daniela. „Hast du das Wohnzimmer so schön aufgeräumt?“

„Zusammen mit Joschi. Nur so ein bisschen. Papa ist wohl in Augsburg?“

„Denke ich auch. Kommt bestimmt erst am Freitag. Oder hat er vielleicht angerufen?“ Was er normalerweise auch nicht zu tun pflegte.

Valli schüttelte den Kopf. „Niemand hat angerufen. Einmal hat das Telefon geläutet, aber als Joschi drangegangen ist, war niemand mehr in der Leitung. Hat sich´s wohl anders überlegt.“

„Hm, komisch. Naja, dann kommt er eben erst am Freitag von seiner Tour zurück. Ich dachte vorhin, er hätte irgendwas gesagt von heute, aber da hab ich mich wohl vertan…“

Valli sah ihre Mutter nachsichtig an. „Also, ich schreib mir sowas ja auf, dann muss ich´s mir nicht merken. Ist ganz praktisch. Übrigens ein Tipp von Katrin!“

„Für deine knapp Siebzehn bist du ganz schön besserwisserisch“, gab Daniela zurück, aber sie stellte fest, dass sie sich nicht wirklich ärgerte. Heute Abend hatte sie sich ja auch viel weniger über Katrin geärgert als sonst, warum wohl?

Sie wünschte Valli rasch eine gute Nacht und verzog sich ins Schlafzimmer, um in aller Ruhe zu überlegen, warum sie sich heute mit Katrin direkt einigermaßen verstanden hatte.

Wahrscheinlich lag es bloß daran, dass Mutti und vor allem Tanja noch viel mehr genervt hatten. Mutti mit ihren Dutzenden von Tischdecken! Flohmarkt war wirklich eine gute Idee – und hier hatte sich auch ganz nett etwas angesammelt, vielleicht sollte sie den Kram morgen Abend nach der Arbeit mal durchsehen…

 

Tanja saß auf der Kante ihres Bettsofas und tat sich leid. Mutti war die einzige, die sie verstand! Das Eis war wirklich lecker gewesen – und welches Glück, dass Katrin so albern mäkelig war, Sahne war doch das Beste? So hatte sie doch glatt zwei Portionen abgekriegt. War sie satt? Oder brauchte sie noch einen kleinen Snack?

Doch, ja. Aber nur einen kleinen, natürlich! In dem Regal neben dem Bettsofa bewahrte sie einen beruhigenden Vorrat an solchen Snacks auf. Sie klappte die Schachtel auf und musterte das Angebot. Diesen Schokoriegel mit Marzipan und Mandeln? Oder eine kleine Tüte Chips? Die englischen mit Brathähnchengeschmack? Die waren so schwer zu kriegen… aber in der Peutingergasse war doch dieser Laden, Old England… da konnte sie morgen nach der Arbeit einmal hinfahren. Dann jetzt lieber den Schokoriegel und morgen, wenn sie ihren Vorrat wieder aufgefüllt hatte, das Chipstütchen. Diese Tütchen waren allerdings schon sehr klein – mal sehen, ob es die nicht auch in größer gab! Die würde sie dann eben in der Küche aufbewahren…

Eigentlich blöd, dass sie hier alleine in diesem Zwergenappartement wohnte, wo Mutti doch das ganze Reihenhaus hatte und da genauso alleine herumsaß… aber so leben wie Mutti es wollte? Auch nicht so toll…

Dani hatte diesen Bungalow, das waren doch bestimmt vier oder fünf Zimmer… sowas hätte sie auch gerne! Wieso hatte Dani damals das Haus von Tante Gertraut geerbt? Bloß weil sie ihr Patenkind war und schwanger, bevor sie zwanzig war? Und weil Tante Gertraut auf Vati sauer war, der sie alle verlassen hatte… aber dann hätte sie ihr ja auch was schenken können!

Katrin, die alte Besserwisserin, brauchte nichts. Die war ja angeblich so supererfolgreich, die konnte sich ein Schloss leisten!

Tanja kaute genüsslich auf dem Schokoriegel herum, musste aber feststellen, dass der Gedanke an ihre Schwestern den Genuss ziemlich schmälerte. Katrin hätte ihr ja ruhig mal anbieten können, bei ihr zu wohnen! Zwei oder drei Zimmer und ein richtig schönes Bad würden ihr ja schon genügen und Katrin hatte doch bestimmt das eine oder andere Gästeappartement, auch wenn sie immer einen auf bedürfnislos machte. Diese alberne Art, mit der sie Muttis Tischdecken abgelehnt hatte!

Katrin wohnte in Zolling, da gab es ja sogar ein richtiges Schloss. Eigentlich sollte sie sich das mal anschauen, aber wie sollte sie da bloß hinkommen? Fuhr da ein passender Bus? Eine Löffelkarte hatte sie ja – die war eigentlich nicht teuer. Dreißig Euro für den ganzen Monat und den gesamten Leisenberger Öffentlichen Verkehrsverbund, das ging. Ein vernünftiges Auto wäre ihr natürlich lieber, aber sie verdiente netto gerade mal 1400 Euro und die Zwergenwohnung kostete mit Nebenkosten schon 650. Essen, Kosmetika, Kleidung fraßen den Rest auf.

Gemeinsam auf den Flohmarkt…das klang eigentlich toll, aber hatte sie überhaupt etwas, was sie verkaufen konnte? Klamotten, die ihr nicht mehr passten? Unsinn, die gingen eines Tages bestimmt wieder!

Sie aß den letzten Bissen – oh, ganz viele Mandeln! –und legte die zerknüllte Verpackung auf das Regal. Jetzt aber schlafen, sonst machte sie morgen bloß Fehler beim Verpacken!

Schwestern

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