Читать книгу Schwestern - Elisa Scheer - Страница 5
III
ОглавлениеKatrin zwang sich, nicht an Mutter und Schwestern zu denken, während sie den Businessplan eines neuen Unternehmens durchlas. Hm, ökologisch einwandfreie Verpackungen waren ja schon nicht schlecht, aber wozu überhaupt Verpackungen? Konnte man da nicht noch grundlegender sparen? Angeblich abbaubarer Kunststoff war nicht das Optimum, eher eine Form von Greenwashing! Sie machte sich Notizen, was ihre Bedenken betraf, und studierte dann, welche Abnehmer das Start-up ins Auge gefasst hatte. Naja! Mindestens die Hälfte wäre wohl nicht gar so hingerissen… Der Businessplan hatte nicht Hand noch Fuß, fand sie.
Trotzdem stellte sie ein überschlägiges Budget auf. Dieser Jan Kayser würde ganz schöne Summen brauchen – und wenn man seine Einkünfte realistisch einschätzte, würde es deutlich länger als veranschlagt dauern, eine Finanzierung in der Höhe, die er haben wollte, zurückzuzahlen. Sie stellte alles zusammen, was sie berechnet hatte, und brachte es Daniel, der es durchlas und brummte. „Das hab ich mir fast schon gedacht – schwache Idee, zu großer Optimismus. Ich werde mit ihm reden. Das hier“ – er schwenkte die dünne Mappe – „wird mir dabei eine große Hilfe sein. Danke, Katrin! Aber jetzt ist es fast halb zwei – mach erst mal Mittagspause. Danach hab ich sicher etwas Spannendes für dich!“
Nun gut, machte sie eben Mittagspause. Vielleicht sollte sie heute mal den Asia Food-Truck zwei Ecken weiter ausprobieren? Sechs kleine Frühlingsrollen mit Gemüsefüllung? Wo war ihre Tupperdose?
Der Asia-Truck war regelrecht umlagert, aber sie hatte ja eine Dreiviertelstunde Pause.
Lieber Gott, der Pummel in der Schlange, das war doch wohl nicht Tanja? Die sollte ja eigentlich kein Fastfood… okay, wer im Glashaus sitzt? Sagte sie eben nichts. Was Tanja genau kaufte, konnte sie auf die Entfernung nicht erkennen, aber auf jeden Fall hatte man ihr einiges in eine dünne Tüte gepackt und offensichtlich noch Pommes dazu.
Tanja zahlte, drehte sich um und erkannte ihre Schwester. Katrin quittierte den giftigen Blick mit einem freundlichen Lächeln und sagte nur: „Hallo, Tanja!“
„Spionierst du mir nach?“
„Warum sollte ich? Ich hab Mittagspause und Hunger. Der Truck soll doch gut sein?“
„Haha.“
Der Verkäufer im Truck warf Tanja einen scharfen Blick zu und fertigte die nächste Kundin ab. Tanja blieb stehen und starrte ihre Schwester an, bis Katrin drankam, sechs Mini-Frühlingsrollen mit süßer Chilisauce bestellte und ihre Plastikdose über den Tresen reichte.
Keine Hygiene-Debatten, glücklicherweise.
Schließlich wandte sie sich Tanja zu. „Wird dein Zeug nicht langsam kalt – oder matschig?“
„Was willst du wirklich hier?“
Katrin hob die Dose. „Ein halbes Dutzend Mini-Frühlingsrollen. Mittagessen, du verstehst?“
„Du willst mich bloß bespitzeln!“
„Quatsch. So interessant bist du gar nicht. Ich schlage vor, du gehst dahin, wohin auch immer du zum Essen hingehst, und isst dein Mittagessen, bevor es endgültig kalt und scheußlich ist.“
„Du weißt also, wo ich esse!“
„Nein, weiß ich nicht, sonst hätte ich ja wohl kaum gesagt wohin auch immer. Das bedeutet gemeinhin, dass man keine Ahnung hat und das auch irrelevant findet. Du kannst auch gerne hier stehen bleiben, aber ich gehe jetzt zu FinanceServices zurück und esse am Schreibtisch. Ciao, wir sehen uns ja bestimmt am nächsten Mittwoch!“
Damit ließ sie die wütende Tanja stehen und eilte zurück in ihr Büro, ärgerlich vor sich hinmurmelnd. Tanja war aber auch zu blöd! Hatte sie allmählich Verfolgungswahn? Mutti und Dani regten sich sowieso nicht über ihre Fresserei auf – und sie selbst hatte doch nur gelegentlich etwas gesagt?
Außerdem musste Tanja eigentlich wissen, dass ihre Klitsche und Katrins Firma nur zwei Ecken auseinanderlagen – und wenn sie heute mal Lust auf Asia hatte, statt auf Salat oder Sandwich? Hatte Tanja etwa das Recht auf Fastfood gepachtet? Aussehen tat sie ja allmählich so…
Unter diesem stummen Gemaule war sie wieder in ihrem Büro angekommen und öffnete voller Vorfreude ihre Plastikdose. Hm… und die Sauce war ja auch sehr lecker…
Kaum war sie fertig, trat Daniel ein. „Hier riecht es wie beim Chinesen – da knurrt mir ja gleich der Magen!“
„Mini-Frühlingsrollen. Leider schon verspeist – aber vorne beim Food Truck haben sie sicher noch welche!“
„Später. Ich hab dein Gutachten gelesen und dem Typen, diesem Jan Kayser, abgesagt. Du hattest Recht, das hat alles nicht Hand noch Fuß, da kriegen wir unser Investment ja nie zurück. Aber schau dir mal das da an…“
„Ich glaube, erst mache ich mal das Fenster auf. Der Geruch wirkt direkt einschläfernd!“
„Und danach gehst du an die Arbeit?“
Katrin sah ihn spöttisch an.
Als Dani nach ihrer Arbeit nach Hause fuhr, eine Tasche voller Lebensmittel im Kofferraum, malte sie sich schon deprimiert aus, wie es im Haus aussah: Georg war womöglich doch überraschend zurückgekommen - sie hätte doch besser zuhören sollen! - und hatte seine Reisetasche im Flur als Stolperfalle stehengelassen. Auf allen empfindlichen waagrechten Flächen waren klebrige Ringe von Bierflaschen zu sehen und im Schlafzimmer lag ihr Göttergatte und schnarchte. Wie so ein Klischee – und wieso eigentlich Göttergatte? Eher ein Gatte aus der Hölle: Teufelsgatte? Nein, das klang irgendwie düster-gefährlich-verführerisch, nach miesem Roman. Verführerisch war Georg schon lange nicht mehr, bei ihr wenigstens nicht. Egal, sie fand ihn auch nicht mehr sexy. Mochte er es bei einer anderen probieren, das war ihr doch egal!
Sie parkte vor dem Haus und trug die Tasche zur Haustür. Kaum hatte sie aufgeschlossen, fiel ihr auf, wie leer der Flur war. Leer und sauber. Keine Reisetasche.
Schon mal ein gutes Zeichen! Georg war der Ansicht, niedere Dienste wie hinter ihm herzuräumen seien Weiberkram. Hatte Valli sich erbarmt?
Auf der Kommode lag ein Zettel: Bin bei Melli zum Matheüben, komme um halb sieben heim. Valli.
Sehr brav. Warum waren Valli und Joschi seit neuestem so - so erwachsen? So vernünftig? Hatte Joschi vielleicht aufgeräumt?
Sie sah nach, aber Joschi saß vor seinem Rechner und drehte sich etwas belästigt um, als sie hereinschaute. „Wenn du schon mal da bist, Mama – was ist Werkgerechtigkeit?“
„Was?“
„Egal.“
„Hast du Papas Gepäck aufgeräumt?“
„Ist der heimgekommen? Ich hab nichts gehört. Und Valli ist bei Melli.“
„Ja, danke, ich weiß. Na, ich schau mal, ob der Papa hier irgendwo ist.“
„Steht der Audi nicht draußen?“
„Mensch! Den hab ich nicht gesehen… ich bin ja doof!“
Joschi grinste, sagte aber nichts.
Dani zog die Tür wieder zu und wunderte sich direkt – ein zivilisiertes Gespräch mit ihrem Teenie-Sohn? Es geschahen ja noch Zeichen und Wunder! Und Georg hatte doch nicht etwa seine Reisetasche selbst - ? Aber wo hatte er dann den Audi mit dem Schriftzug seiner Firma gelassen? Unfall? Bei der Filiale in der MiniCity abgestellt? Nur: wozu? Um mit dem Bus nach Moosfeld zu gondeln und morgen wieder zurück? Morgen war doch erst Freitag, da musste er doch entweder wieder los oder in der Firma Dinge erledigen – was auch immer, er erzählte ja nichts, machte nur immer einen auf Megastress…
Aber im Schlafzimmer war er auch nicht! Die Betten waren glatt gestrichen, alles war perfekt aufgeräumt – also, für ihre Verhältnisse. Der Wäschekorb quoll über und auf ihrem Nachttisch befand sich reichlich viel Kruscht. Sie dachte an ihre neuerdings so braven Kinder und räumte hastig gebrauchte Wattepads, Nagellackentferner, eine leere Schokoladenverpackung und zwei ausgelesene Bücher weg, danach sortierte sie eine Ladung Wäsche aus und steckte sie in der Küche in die Waschmaschine.
Schon besser!
Wenn die Kinder sich plötzlich so sehr zum Positiven gewandelt hatten, konnte sie ja wohl auch versuchen, aus ihrem Schlendrian herauszufinden!
Das Schlafzimmer sah schon besser aus, na, abgesehen von dem Nachttischchen neben Georgs Seite. Aber von seinen halb gelesenen Ganze Kerle-Magazinen ließ sie lieber die Finger…
Konnte er nicht mal zum Holzfällen nach Kanada fahren? Oder zur Bärenjagd? Und dann eine nette Kanadierin kennenlernen und nie zurückkommen! Andererseits: die arme Kanadierin…
Die Kinder würden es verkraften, überlegte sie und sah sich mit kritischem Blick im Wohnzimmer um. Viel Zeugs. Zu viel Zeugs!
Flohmarkt? Katrin war ihr gestern recht vernünftig erschienen. Nicht besserwisserisch-vernünftig, sondern eher mit brauchbaren Ideen. Und Katrin schien mit ihrem Leben so richtig zufrieden zu sein. Beneidenswert… wie machte sie das wohl?
Unter der Spüle stand die Wodkaflasche… ein Gläschen? Zur Belohnung nach einem langen, harten Tag?
Keine Lust, dachte sie und erschrak regelrecht: Wieso hatte sie plötzlich keine Lust auf einen Drink? Vielleicht auch, weil der Tag gar nicht lang und hart gewesen war? Im Büro hatte alles geklappt – und hier waren die Kinder nicht maulig. Und am allerbesten: Georg war nicht da. Entspannung total!
Bis halb sieben, als Valli auf die Minute pünktlich nach Hause kam, hatte sie die Wäsche aufgehängt, einen Gemüseauflauf (mit getrockneten Tomaten, Chili und Pfeffer gewürzt) in den Ofen geschoben und war bereits mit einer riesigen Tüte durch das Wohnzimmer gezogen, um Flohmarktkrempel einzusammeln.
„Was machst du da, Mama?“
„Katrin hat gestern vorgeschlagen, mal auf den Flohmarkt zu gehen. Sie findet ja, wir sammeln alle viel zu viel Kram an. Ganz Unrecht hat sie da wohl nicht…“
„Da hast du aber mal recht! Minimalismus heißt die Devise! Kann ich da mitgehen?“
„Ja, unbedingt! Und du magst Katrin doch?“
„Klar. Die hat immer gute Ideen. Hast du noch so eine Tüte? Dann suche ich auch mal… es riecht zwar toll, aber ich glaube doch, das Essen braucht noch ein bisschen?“
Dani reichte ihr eine große blaue IKEA-Tasche und Valli grinste. „Die krieg ich voll, wetten?“
Dani strich weiter durch das Wohnzimmer. In der Anrichte, die Georg von seiner Mutter übernommen hatte, gab es mindestens drei Tischdecken, die sie nie benutzte, zwei Serviettenständer (wozu das denn?), in einer altmodischen Schachtel ein Pralinenbesteck für vier Personen, das war ja fast etwas für Bares für Rares. Naja, so rar war es wohl auch noch nicht… Sie kannte jedenfalls niemand, der Pralinen zierlich mit Besteck aß. Außer Tanja und vielleicht noch Mutti aß ohnehin niemand Pralinen. Obwohl, diese mit den Nüssen und den guten Obstbränden darin?
Nein, brauchte sie nicht. Und wie sollte man auch flüssige Pralinen durchschneiden? Das gab doch bloß eine irre Sauerei? Weg mit dem Zeug!
Hinter den Tischdecken im unteren Fach gab es noch diverse Dekorationen aus Plastikblüten. Sie grinste kurz – für Mutti?
Die Schrankwand hatte diverse geschlossene Fächer. Eins enthielt Georgs Videos in neutralen Hüllen – aber auf den DVDs selbst stand allerlei Verräterisches. Nein, diese Pornoscheiße rührte sie nicht weiter an. Hoffentlich geriet Joschi nicht mal darüber?
Ach, der wusste darüber doch Bescheid – und im Internet gab es schließlich auch alles, wahrscheinlich Härteres als auf Kauf-DVDs!
Sieben Vasen – vier davon hatte sie noch nie verwendet – zu enge Öffnungen, zu blöde Farben, zu groß, zu klein. Weg.
Ein gutes Gefühl, fand sie, während sie die Vasen in die unnützen Tischdecken wickelte. Hätte sie eigentlich nicht gedacht!
Sie fand noch elf alberne Romane, die sie garantiert nie wieder lesen würde – aber Hardcover! Da freute sich der Flohmarkt – Quatsch! Lesefabrik! Gab´s die überhaupt noch? Morgen arbeitete sie vormittags, da konnte sie doch nachmittags zur Lesefabrik und danach mal schauen, wo der nächste Flohmarkt war. Und dann Katrin und Mutti informieren. Das konnte recht lustig werden!
Valli tauchte auf, mit der gut gefüllten IKEA-Tasche. „Ich hab ganz viele Bücher gefunden, die totaler Mist sind. Da schau ich dann mal in die-“
„-Lesefabrik. Mach ich morgen Nachmittag auch, nach der Arbeit!“
Valli lachte. „Und weißt du was? Joschi sucht auch. Der hat aber eher uncoole Klamotten gefunden.“
„Gut, wenn sie gewaschen sind… Notfalls bleibt immer noch der Wertstoffhof. Mir hat das Ausmisten jetzt richtig Spaß gemacht, dir auch?“
„Voll! Irgendwie ist das total befreiend. Ballast abwerfen und so. Gehen wir morgen zusammen zur Lesefabrik?“
„Ja, gerne! Wann hast du Schule aus?“
„Um zwei.“
„Ich auch so etwa. Dann treffen wir uns um halb drei hier und fahren zur Lesefabrik?“
„Hm“, machte Valli, „warum bis hier heraus fahren? Ich packe meine Bücher gleich in deinen Kofferraum und du gabelst mich am Mariengymnasium auf? Dürfte Zeit sparen.“
„So machen wir´s.“ Dani kam sich vor, als hätten sie beide einen Kurs zur harmonischen Gesprächsführung absolviert. Was war hier eigentlich los?
Ob Joschi genauso vernünftig geworden war? Aber sie wollte ihn jetzt nicht beim Entrümpeln stören.
Tanja hatte immer noch schlechte Laune, als sie im Bus saß. Was der blöden Katrin nur eingefallen war, herumzuschnüffeln? Sie konnte doch wohl in der Mittagspause essen, was sie wollte? Und Katrin verleidete ihr jetzt auch noch den Asia Truck – nein, das konnte sie nicht, die Samosas und die Wan-Tans waren hier einfach die besten!
Katrin aß doch sonst immer nur Salat und Gemüse, oder? Die Frühlingsrollen waren bestimmt bloß Tarnung gewesen! Und wozu machte sie das? Wollte sie sie bei Mutti und Dani verpetzen? Denen war doch egal, wieviel sie aß, Mutti freute sich wohl sogar. Dani hatte sich allerdings gestern mindestens so gemein benommen wie Katrin.
Gestern war es lecker gewesen – und dann der doppelte Nachtisch… Warum gönnten ihr eigentlich ihre Kollegen das Essen nicht? Heute hatten sie jeden Schokoriegel kommentiert und mittags gefunden, sie sollte ihren Chinascheiß gefälligst draußen futtern, das Zeug verpeste die ganze Packerei. Aber Käsebrot stank nicht, was?
Und dann hatte Alice ebenfalls Pakete gepackt und zwar gut doppelt so schnell wie Tanja selbst. „Ich ernähre mich ja auch gesund!“, hatte sie noch angemerkt, die magere Kuh, die!
Blödes Pack. Wenn sie da nicht mehr arbeiten müsste… aber wäre es so einfach, etwas anderes zu finden? In einem Fastfood-Restaurant hatte sie es auch nicht lange ausgehalten, da taten sie ihr immerzu die Füße weh. Und die beiden Bürohilfe-Jobs: naja! Mit Computern hatte sie es nicht so, und immerzu Zettel abzuheften war auch nicht gerade spannend. Außerdem regten sich immerzu Leute auf, dass irgendetwas nicht schnell genug gegangen war. Blöde Hektiker! Das alles machte ja so müde…
Immerhin war an der nächsten Haltestelle das Old England. Vielleicht hatten die wirklich große Tüten mit Brathähnchengeschmack? Und gab es nicht auch welche mit richtig guten Kräutern?
Tatsächlich – Hähnchen, Kräuter, Tomate und Bratwürstchen, ein ganzes englisches Frühstück in Chipsform!
Eine große Plastiktüte mit dem Union Jack darauf in der Hand (mit acht Chipstüten darin), stieg sie wieder in den Bus und fuhr zur Bonifatiusstraße.
Das Haus war scheußlich. Dass ausgerechnet sie in einem solch furchtbaren Haus wohnen musste! Sie verdiente doch weiß Gott etwas Besseres?
Aus den Briefkästen quoll mal wieder die Werbung, der Aufzug war total zerkratzt und auf der ersten Treppe lag ein leerer Pizzakarton. Naja, warum sollten die Leute hier auch auf Ordnung achten…
Sie fischte ihre Post aus dem Briefkasten und steckte sie ein, dann fuhr sie hinauf in den sechsten Stock.
Scheußliche Wohnung. Viel zu klein! Und die Möbel waren auch nichts…
Mit der Post ließ sie sich auf ihr Bettsofa fallen und sah sie rasch durch – Stromrechnung, Handyrechnung, Pizzaflyer, Chinaflyer, Sonderangebote, Sonderangebote… Postkarte: Ui. Nein, die war im falschen Briefkasten gelandet, offenbar war sie für die Frau aus 608. Nachher dort an die Tür stecken.
Jetzt hatte sie aber eine Pause verdient! Brathähnchen hieß die Devise!
Und die Flyer würde sie aufheben…
Als Dani vor dem Mariengymnasium anhielt, stand Valli schon parat und schlüpfte rasch auf den Beifahrersitz.
„Ist Papa jetzt eigentlich gekommen?“ Sie schnallte sich an.
„Nein. Vielleicht kommt er tatsächlich erst morgen Abend. Ist wohl auch nicht so wichtig.“
„Vor allem, wo jetzt so schön aufgeräumt ist. Papa macht doch bloß Unordnung.“
Dani gluckste unwillkürlich. „Mit seinen Bierflaschen?“
„Und seiner Reisetasche, die immer in den Flur schmeißt, als ob wir die Dienstboten wären!“
„Gut beobachtet.“
„Da! Da ist eine Parklücke!“
Dani lenkte den Wagen hinein, froh, dass sie nicht so ein Schiff fuhr wie Georgs Dienstwagen. In der Lesefabrik kassierte sie zwanzig Euro und Valli ganze achtunddreißig. Valli hielt draußen die Hand hoch und nach einem verdutzten Moment machte Dani High Five mit ihr.
„Du bist seit – gestern? – so nett und vernünftig, was ist denn los?“, fragte sie nun doch.
Valli grinste. „Katrin hat mir ein paar Tipps gegeben, auch zur Organisation und zum Entrümpeln. Dir doch anscheinend auch? Du warst auch viel netter und du hast doch auch entrümpelt?“
Dani lächelte schief und seufzte. „Bei deiner Großmutter war es vorgestern ziemlich furchtbar – und Katrin war wirklich noch die einzige Vernünftige.“
„Lass mich raten“, grinste Valli, „Tanja hat ununterbrochen gefuttert und deine Mutti hat versucht, euch irgendwelchen Schotter anzudrehen, den sie gehortet hat?“
„Tischdecken! Die kommen bei der ersten Gelegenheit zum Flohmarkt. Und Tanja war selig, weil Katrin ihr Eis mit Sahne verschmäht hat und sie so noch eine zweite Portion ergattert hat.“
„Und zu essen gab es irgendwas aus dem Tiefkühler?“
„Wie immer. Ganz ehrlich sind wir schon mit solchem Zeug großgezogen worden. Du hast recht, das müssen wir in Zukunft anders machen. Hast du Vorschläge?“
„Salat, Hähnchen, Fisch, Gemüse…“
„Klingt gesund. Obst auch?“
„Wenn es nicht zu süß ist. Haben wir gerade in Bio gelernt. Zucker ist böse.“
„Das sollten wir Tanja sagen!“
„Dann wäre aber was gefällig, oder? Also, mir geht´s nicht ums Abnehmen, brauch ich auch nicht, aber gesund ist der Tiefkühlkram nicht so arg. Außer dieser einen Marke, die angeblich keine Zusatzstoffe enthält. Naja, wer´s glaubt…“
So jung und schon so zynisch – aber war das denn ein Wunder?
„Dann wollen wir das mal versuchen. Aber ist Joschi damit auch einverstanden?“
„Klar, der will auch gesund bleiben, der macht ja auch viel Sport. Nudeln braucht man da nicht so dringend. Vollkornnudeln gehen gerade noch.“
„Also fahren wir zum Supermarkt. Salat und zwei halbe Hähnchen vom Hendlmann?“
„Perfekt!“
Katrin hatte einen schönen langen Spaziergang durch das heute schon winterlich kalte Zolling gemacht, das Schloss umrundet, die Hochhäuser besucht und der halbrunden Ladenzeile dort die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt – ohne etwas zu kaufen, so bald stand Weihnachten nun auch wieder nicht vor der Tür, und ansonsten brauchte sie wirklich überhaupt nichts. Durchgekühlt, erfrischt und wohlig müde kam sie nach Hause und streckte sich auf ihrem Sofa aus. Eine halbe Stunde Chillen, dann vielleicht Wäsche waschen, die To-do-Liste kontrollieren, einen Film ansehen?
Ihr ging es doch wirklich gut, aber die anderen machten ihr tatsächlich Sorgen. Mutti mit ihrem Sammeltrieb – ob das langsam ein Messie-Syndrom wurde? Saß sie eines Tages eingepfercht zwischen deckenhohen Stapeln von Müll, den sie nicht wegwerfen konnte? Und dazu dieses völlige Unverständnis dafür, dass andere nicht so leben wollten? Auch keine Einsicht, dass sie Tanja nicht weiter mästen sollte, weil das deren Gesundheit ruinierte!
Tanja ja überhaupt: Warum aß sie so viel? War das eine Sucht? Oder Hunger nach etwas anderem – aber wonach? Fehlten ihr irgendwelche Nährstoffe und verursachte das diesen Hunger? Sie wusste aber wohl, dass ihr Essverhalten falsch war, sonst hätte sie sich gestern doch wohl nicht vor dem Asia Truck derartig aufgeführt, sich beobachtet gefühlt und ihre Schwester beschuldigt, ihr nachzuspionieren! Wie so ein ertappter Verbrecher…
Was konnte man da tun? Tanja Vorwürfe zu machen hatte sich noch nie bewährt, aber wenn die wieder so tat, als habe ein böses Schicksal sie benachteiligt, konnte einem schon der Kragen platzen… vielleicht konnte sie sich mal mit Dani beraten? Dani war noch die vernünftigste, aber sie trank zuviel. Und sie lag immer im Streit mit ihren Kindern – aber mit denen hatte sie selbst ja schon einmal geredet…
Mit Georg aber konnte sie keinen Frieden vermitteln; den hielt sie, ehrlich gesagt, einfach für ein Arschloch. Unsympathisch und unzuverlässig – und wie er schon Dani immer anpflaumte!
Immerhin gehörte dieser wacklige Bungalow nur Dani, darauf hatte sie geachtet, als sie das Häuschen geerbt hatte. Georg, der Großkotz, hatte natürlich gefunden, die Bruchbude könne sie gerne für sich alleine haben, er werde sich eines Tages etwas viel Besseres leisten können. Darauf wartete er wohl heute noch – als Vertreter wurde man eben nicht reich! Er war doch Vertreter?
Oder dachten sie das nur, weil er vor Jahren bei diesem alten Loriot-Sketch so eingeschnappt war? Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur blasen kann? Dani und sie selbst hatten gekräht, Tanja hatte nicht aufgepasst, sondern auf dem Plätzchenteller herumgekramt, Mutti hatte die Anspielung nicht kapiert – und Georg war sauer geworden.
Weihnachten bei Hoppenstedts und andere Highlights – endlich mal ein anständiges Weihnachtsprogramm! Sie schmunzelte noch bei der Erinnerung vor sich hin. Früher war mehr Lametta…
Wie würde es wohl diese Weihnachten werden? Vielleicht sollte sich schon einen kleinen Schockeffekt für Georg ausdenken… na, wenn sie mal gar nichts Besseres zu tun hatte.
Das Abendessen war ohne Konflikte vorübergegangen; Valli hatte die Hähnchen gerecht in drei Teile geteilt und Dani hatte eine große Schüssel mit Gurken-, Tomaten- und Maissalat angerührt. Alle hatten mit gutem Appetit gegessen und sich munter unterhalten – über die Schule, über das Entrümpeln, über nette und merkwürdige Klassenkameraden und mit besonderer Süffisanz über peinliche Promis. Sie hatten einiges zu lachen und schließlich stellte Joschi fest: „Plötzlich ist es hier richtig nett. Komisch, woher kommt das wohl?“
Valli und Dani lächelten und schwiegen.
„Na, egal“, fand Joschi. „Hauptsache, es bleibt so. Wo ist eigentlich Papa?“
„Kommt wohl erst morgen.“
Joschi zuckte die Achseln. „Na, lässt sich ja auch aushalten.“