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„Guck mal, was ist das denn?“

Ich drehte mich um. „Oh, welch Glanz in unseren Elendsquartieren? Hat der nicht das Recht, von gedeckten Tischen à la carte zu speisen?“

„Eben. Das ist doch unser Obermotz, der, vor dem Bertolt und Gundler solchen Schiss haben, oder?“

„Stimmt. Ich hab ihn erst zweimal gesehen, aber das muss er sein. Wie heißt der gleich wieder? Pe-Pre- vergessen.“

„Praetorius. Wie in dem alten Film.“

„Welcher alte Film?“

„Mit Heinz Rühmann. Dr. med. Hiob Praetorius. “

Hiob? Meinst du, der hat auch so einen schrägen Vornamen?“

„Keine Ahnung. Irgendwas mit J.“

„Joseph, Johannes, Jakob... mir fällt nichts Schrägeres ein. Was will der hier?“

„Keine Ahnung – Mensch, guck! Der stellt sich an!“

Ich fuhr wieder herum. Tatsächlich – und niemand ließ ihn vor, die meisten kannten ihn wohl gar nicht. Da stand er mit seinem Tablett (er hatte eins mit besonders abgesplitterten Ecken erwischt) und guckte nach einiger Zeit ziemlich konsterniert auf das, was man ihm da auf den Teller geklatscht hatte. „Ist das Casino abgebrannt?“, flüsterte Dietlinde, und ich hob ratlos die Schultern. Meinen laschen Salat hatte ich vergessen, das hier war ja wie im Kino!

Praetorius suchte sich mühsam einen Platz und ergatterte schließlich auch einen, ziemlich in unserer Nähe. Jetzt hatte ich einen besseren Blick als Dietlinde, die sich anstandshalber ja nicht pausenlos umdrehen konnte.

Er sah für einen der Götter aus der Chefetage ziemlich normal aus. Reichlich jung zwar, höchstens – na, Mitte dreißig, schätzte ich. Die übliche Brille, die übliche Cheffrisur. Allerdings hatten seine braunen Haare einen ziemlich deutlichen Rotstich und glänzten, als habe er Arsen gegessen. Gut gekleidet, in dunklem Grau. Ob er Bertolts Styling-Vorbild war? Der sah ihn sicher öfter, bei den Abteilungskonferenzen. Ziemlich scharfes Profil, aber mit Kinn.

Ha, jetzt! Der erste Bissen Frikassee, mit Reis! Er führte die Gabel zum Munde, wie ich Dietlinde im Reportagestil flüsternd mitteilte, kaute mit schreckgeweiteten Augen und schluckte schließlich angewidert herunter. An seiner Stelle hätte ich den Rest stehen gelassen und mir von der Feinkost-Oase was an den Schreibtisch liefern lassen! Nein, er aß fast den ganzen Teller leer, mit offenkundiger Überwindung, aber immerhin.

„Jetzt hält er sich erschrocken die Hand vor den Mund“, flüsterte ich aufgeregt, „ich glaube, das Frikassee will wieder raus!“

„Oder er muss ein Bäuerchen machen“, schlug Dietlinde vor und biss in ihre Gabel, bis es gefährlich knackte. Etwas blass um die Nase stand Praetorius wieder auf und sah sich suchend um, dann trug er doch tatsächlich wie wir Fußvolk sein Tablett zu einem der Transportkarren.

„Das gibt ein feines Nickerchen am Nachmittag“, murmelte Dietlinde, und jetzt konnte ich endlich richtig lachen – die Schwingtüren schlugen gerade hinter Mr. Wichtig zu.

„Warum macht so einer das?“, fragte ich mich halblaut.

„Wo haben wir unseren Brief eigentlich hingeschickt?“

„An die Geschäftsleitung, Abt. Privatversicherungen, warum?“

„Weil ich glaube, dass er bei ihm gelandet ist.“

Ich staunte. „So schnell? Ich hab das Ding vielleicht um zehn in den Korb geworfen!“

„Ja, und um Viertel nach war der Bote da. Das kann schon hinhauen.“

„Respekt“, murmelte ich, „der arbeitet aber wirklich schnell! Ich hätte gedacht, der Brief liegt tagelang rum, bevor ihn jemand aufmacht.“

„Und dann schmeißen sie ihn sofort weg, was?“

„Genau. Und der kommt und guckt sich das selber an! Und pennt sicher selig an seinem Schreibtisch!“

„Das würde ich ja gerne sehen...“, kicherte Dietlinde.

„Ich auch. Hast du eine Ahnung, wo er sitzt?“

„Ich glaube, im siebten Stock.“ Woher wusste Dietlinde immer solche Sachen?

„Aber da bräuchten wir einen Vorwand – und außerdem würde ihn seine Sekretärin wecken, bevor wir hineindürfen.“

„Wahrscheinlich. Schade, was?“

„Jammerschade. Aber dem schreiben wir öfter, der kümmert sich wenigstens.“

„Weißt du, was peinlich wäre? Wenn ihm das Essen nun doch geschmeckt hat und er denkt, wir sind die letzten Querulanten?“ Dietlinde runzelte die Stirn, und ich wedelte kühn mit der Hand.

„Der soll doch froh sein, wenn sich jemand kümmert! Die meisten roboten hier doch nur dumpf vor sich hin, keiner macht jemals einen Verbesserungsvorschlag!“

„Ja, aber ausgerechnet wir?“

„Warum nicht wir? Wir blicken doch durch, oder?“

„Schon. Na, zurück in die Tretmühle“, seufzte Dietlinde und öffnete die Tür zu unserem Großraumbüro.

Ah, neues Material, und zwar reichlich. Ich ging erstaunlich beschwingt an die Arbeit, weil ich mir so effizient vorkam – die einzige weit und breit, die wirklich Ideen für das Wohl der Firma hatte. Naja, eine Idee. Eine einzige.

Dietlinde schien es ähnlich zu gehen, jedenfalls sah sie aus, als würde sie bei der Arbeit innerlich pfeifen. Wir arbeiteten alles weg, umgeben von der üblichen schläfrigen Nachmittagsstimmung – Gundler in seinem Kabuff pennte allen Ernstes, und Grasmeiers Kopf sackte auch dauernd auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. Zwischendurch warf ich einen Stapel fertiger Briefe in den Ausgangskorb, stieß an Grasmeiers Stuhl, der mit einem verlegenen Grunzlaut hochfuhr und sofort hektisch in seinen Papieren herumwühlte (ich habe keinesfalls geschlafen!) und öffnete kurz ein Fenster, was nicht auf Gegenliebe stieß.

Lahme Bande! Schließlich ging ich Gundler aufstöbern, um von ihm Entscheidungen bezüglich zweier strittiger Fälle zu verlangen. Auch er hatte winzige Äuglein und täuschte vergeblich vor, wach und aufnahmebereit zu sein. Wenigstens ergatterte ich zwei wenig durchdachte Genehmigungen und konnte wieder zwei Schreiben weiterleiten.

Und jetzt? Mein Schreibtisch war leer, aber es dauerte noch fast zwei Stunden bis Arbeitsschluss! Die Schubladen mal gründlich aufzuräumen, dauerte eine Viertelstunde; der Schreibwaren- und Formularvorratsschrank war sogar noch schneller auf Vordermann gebracht, weil Dietlinde mir half – sie hatte ebenfalls nichts mehr zu tun. Zwanzig vor vier – und jetzt?

Die vergammelten Blumen konnten wir noch gießen – und in der Teeküche abspülen, aber nicht einmal unser Geklapper riss die übrige Belegschaft aus ihrem Frikasseedösen.

Grauenvoll, dieser Praetorius musste unbedingt den Speisezettel ändern!

„Kann er das überhaupt?“, fragte Dietlinde mutlos, als wir uns im Büro umsahen – alles sauber, alles fertig, nichts zu tun. Wenn das jemand merkte, flogen wir wahrscheinlich als überflüssig raus!

„Weiß ich nicht. Aber wenn nicht, stänkern wir einfach weiter. Ich wüsste eh noch was – diese bescheuerte Einteilung, nach der die Fälle hier nach Schadenssummen verteilt werden. Nach Versicherungsart wäre doch viel einfacher. Über einer bestimmten Grenze brauchen wir ja ohnehin eine Genehmigung.“

„Das hat vielleicht irgendwelche juristischen Gründe“, versuchte Dietlinde zu kneifen. „Dann sollen sie uns die mal anständig erklären“, murrte ich, „so wirkt das nur total albern und selbstherrlich.“

„Okay, wenn beim Essen nichts vorangeht, nehmen wir uns das Thema vor. Nächste Woche!“

Damit war ich einverstanden. Wir trödelten noch eine Zeitlang herum, und als unsere Kollegen langsam wieder munter wurden, schenkten wir starken Kaffee aus, täuschten noch ein bisschen Arbeit vor und gingen dann betont pünktlich nach Hause – wir waren schließlich fertig!

Ich musste leider in die Stadt. Lästig, lästig, welcher Idiot hatte bloß die Weihnachtsgeschenke erfunden?

Na, dann am besten zuerst in die Rathausbuchhandlung, da ging es meist am fürchterlichsten zu. Ich schob mich durch die Massen, die sich um die Tische mit reduzierten Bildbänden (machte viel her, kostete wenig) und die Titel der Bestseller-Listen drängten, und erklomm schließlich die schmale Wendeltreppe. Oben war das kleine Reservat der Gebildeten, und schon nach einer halben Stunde frustrierten Blätterns hatte ich das ideale Buch für Gundula gefunden – eine abstruse Abhandlung darüber, dass Shakespeare bei – nein, nicht bei Marlowe, das wussten wir ja nun alle schon aus dem Film – sondern bei Hans Sachs abgekupfert hätte! Das reichte, um Gundula in Raserei zu versetzen – und es sollte bloß vierzehn Euro kosten. Gekauft! Im nächsten Regal fand ich einen prachtvollen, reich bebilderten Reiseführer durch Südtirol – falls die Lifte mal ausfielen, konnten Papa und Mama sämtliche kunsthistorisch wichtigen Kirchlein besichtigen und nachschlagen, wo man den besten Speck kaufen und den besten Wein trinken konnte. Plus jede Menge abwegiger Jagertee-Rezepte, damit konnten sie Opa auf längere Zeit ruhig stellen. Ich trug meine Beute glücklich zur Kasse, konnte auch noch einer Riesenrolle Geschenkpapier mit strippenden Nikolausis drauf nicht widerstehen (samt zehn passenden Anhängern und roten Schleifchen) und trug die Tüte hochzufrieden zu Spiel und Spaß.

Es gab doch tatsächlich einen kleinen Puff für die Modelleisenbahn, komplett mit rotem Licht und Herzchen-Leuchtreklame (Sauna-Club), sofern man noch eine Minizelle einbaute. Nein, das fände Papa nun weniger komisch, leider. Schade, dass Achim nicht den Modelleisenbahn-Vogel hatte, der hätte sich scheckig gelacht und das Häuschen sofort zusammengebaut! Dafür entdeckte ich für Achim einen maßstabsgetreuen BMW V 8 und eine genau dazu passende Isetta – warum sollte seine Sammlung nicht auch um eine historische Dimension erweitert werden?

Und bei den Modellhäuschen gab es auch eine putzige Berghütte mit einem Satz Skifahrer und einer Miniaturbedienung, deren Busen den kleinen Maßstab etwas zu sprengen schien. Aber das Dirndl war zu nett!

Und für den großen Bahnhof fand ich einen kleinen – nicht realistischen – Beschwerdekiosk, den man auf den Bahnsteig stellen konnte. Es gab auch einen entsprechenden Satz wütender Bahnkunden und kleine Täfelchen für die elektronischen Anzeigen: 45 Minuten Verspätung, Zug entfällt und ähnliche erfreuliche Nachrichten.

Papa liebte seine Eisenbahn, hasste aber den realen Bahnbetrieb und besuchte Bahnhöfe nur, um sich Deko-Anregungen zu holen – einen Zug hatte er in den Siebzigern zum letzten Mal bestiegen. Musste ein Schockerlebnis gewesen sein, vielleicht sollte ich da mal nachbohren...

Im La Soie gab es wie immer die edelsten Krawatten weit und breit und ein bildschönes Seidentuch in verfließenden Gelbtönen zwischen Vanille und Orange – das sah zu Jeanshemden und zu Dietlindes schokoladenbraunem Haar bestimmt klasse aus. Gekauft!

Wer fehlte noch? Cora und Hannah – für Cora das Schaumbad zu ihrem Lieblingsparfum... ich eilte mit langen Schritten davon, aber bis ich vor der Discountparfümerie ankam, war es glücklich acht und die Scherengitter rasselten herunter. Mist!

Ach, egal. Das meiste hatte ich immerhin schon, ich konnte doch ganz zufrieden sein: Fünf echt gute Geschenke in drei Stunden, keine üble Quote!

Das Schaumbad war eine meiner leichtesten Übungen – und diesen WG-Krimi: Ich Trottel, denn hätte ich in der Rathausbuchhandlung auch gleich aufgetrieben! Ich war so aufgedreht, dass ich aus dem Bus nach Hause schon am Bahnhof wieder ausstieg und dort nicht nur den Krimi, sondern auch das Schaumbad (zu deutlich überhöhtem Preis) ergatterte.

Hungrig und müde kam ich heim, und mittlerweile war wirklich nichts mehr zu essen im Haus. Ganz hinten fand ich noch eine Dose Baked Beans – Ablaufdatum Ende 2002, dann wurde es ja mal Zeit! Sie schmeckten nicht gerade aufregend, trotz aller Gewürze, die ich etwas wahllos hineinkippte, und nach einem halben Teller trug ich den Rest in die Küche zurück und machte mich lieber daran, die Geschenke sorgfältig zu verpacken, richtig traditionell – Preis abknibbeln (eine Eins davor zu malen galt in unserer Familie als gemein), Papier knapp zuschneiden (Kinder, verschwendet doch nicht immer soviel gutes Papier!), exakt falten, keinen Tesafilm verwenden, das war für Weicheier (und man musste ihn mühsam wieder herunterbügeln), das Band exakt über Kreuz und die – maximal doppelte – Schleife natürlich auf der Vorderseite. Dann wurden Albernheiten auf die Anhänger gekritzelt und die wiederum sorgfältig am Schleifenknoten festgebunden, auf keinen Fall an einer Schlaufe, die zog sich dann womöglich auf!

So hatten wir drei das von Mama gelernt, wie das Basteln von Goldpapiersternen, und so hatte Mama das von ihrer Mutter gelernt, wenn die wiederum auch in ihrer Kindheit kriegsbedingt mit alten Nummern des Völkischen Beobachters statt mit strippenden Nikoläusen auskommen musste. Das war unsere Familienvariante von Iss schon auf, damals im Krieg wären wir froh gewesen, wenn wir so feine Hafergrütze gehabt hätten!

Ich lehnte mich zurück und betrachtete befriedigt mein Werk, dann stellte ich die Geschenke, der Größe nach geordnet, ins Regal, wo sie sich sehr nett machten.

Die ganze Familie erledigt – Himmel noch mal, Opa!! Was sollte ich bloß Opa schenken? Jedes Jahr der gleiche Stress, ich konnte ihm ja schlecht ein Bild malen wie früher.

Ich zog aufs Sofa um und zappte ein bisschen herum. Nichts... Was konnte Opa brauchen? Mama würde sagen, neue lange Unterhosen, aber so was freute ihn nicht. Und sein Buchgeschmack ging mehr in Richtung Wie wir beinahe Moskau erobert hätten, das musste man nicht noch unterstützen. Ärgern durfte man ihn auch nicht zu sehr, sonst kippte er noch um; der Katalog der Wehrmachtsausstellung verbot sich damit leider von selbst.

Mensch, Opa! Ein Schnäpschen? Ein Schnäpschen! Prima Idee, ein richtig guter Tropfen freute ihn, er verbrauchte sich und vielleicht kriegten die anderen auch etwas ab... Williamsbirne oder Kirschwasser, das hatte er am liebsten.

Und wieder ein Problem gelöst. Nun noch Plätzchen backen und rechtzeitig vor den Feiertagen in die Bücherei!

Ha, und am Vierundzwanzigsten morgens, wenn sich alle im Haus angifteten, wenn die Bäume beim Schmücken umfielen und die Schlangen beim Bäcker und beim Metzger, von denen an den Supermarktkassen ganz zu schweigen, rund um den Block reichten, würde ich mit Mandelmakronen, Zimtsternen und Spitzbuben auf dem Sofa liegen und schmökern. Oder hämisch grinsend aus dem Fenster hängen, ein Kissen unter dem Busen, und den anderen zuschauen, wie sie sich abstressten. Keine schlechte Aussicht – aber vor diesen gemütlichen Tag hatten die Götter leider noch sieben Arbeitstage gesetzt.

Als ich am nächsten Morgen unser Büro betrat, konnte ich nur hoffen, dass mit der Post etwas Neues gekommen war – wie sollte ich sonst Arbeit vortäuschen?

Wenigstens drei Kuverts – besser als nichts. Dietlinde, die einen Moment nach

mir kam, hatte auch nicht viel mehr. Vor zehn gab es nichts Neues, da war sorgfältiges Einteilen angesagt.

Ich öffnete die Umschläge und sah den Inhalt durch. Drei recht simple Fälle, einer konnte sofort genehmigt werden, bei einem fehlten Belege, also schrieb ich einen Brief, und beim dritten wurde ich unterbrochen, weil Gundler herumkrähte und wieder einmal nach einem Vorgang suchte, von dem keiner von uns jemals gehört hatte. Und wenn einer gegen eine Mauer fuhr und die Mauer daraufhin einstürzte – das war ja wohl Kfz-Haftpflicht, oder? Nicht unser Ressort!

Dietlinde übernahm es, ihm das taktvoll klar zu machen, und ich half ihm, seinen überquellenden Schreibtisch zu durchsuchen, bis wir den Akt schließlich entdeckt hatten.

„Und wie es hier aussieht!“, jammerte Gundler, dass seine Kinne zitterten. „Heute findet die Besprechung hier statt, ich weiß auch nicht, warum, und so kann ich doch Bertolt und den Chef“, ehrfürchtig wiederholte er: „den Chef nicht empfangen!“

„Wir helfen Ihnen schnell“, versprach ich, weil mir das angstbebende Häufchen Fett Leid tat. Er war nicht gerade ein guter Chef, aber er konnte es eben nicht besser. Wir räumten die Akten auf, nahmen einige immer noch unbearbeitete Fälle unauffällig an uns, verteilten den Rest ansprechend auf die diversen Körbe, knallten die Aktenschränke zu, stellten Kaffeetassen, Zucker und Milch bereit – Dietlinde stiftete sogar Kekse aus ihrem privaten Vorrat - , kochten anständigen Kaffee (meine Bohnen, frisch gemahlen), gingen mit einem feuchten Lappen über die sichtbaren Flächen, hängten den Vorhang wieder richtig auf, gossen die Blumen und klopften den Staub aus den beiden Besuchersesseln, auf denen wohl noch nie jemand gesessen hatte.

„So, sieht doch gar nicht so übel aus, oder?“

Gundler war den Tränen nahe. „Danke, vielen Dank. Aber hatte ich hier nicht vorhin viel mehr Vorgänge liegen?“

„Nein“, log Dietlinde sofort.

„Das sah nur wegen der Unordnung so aus“, sekundierte ich.

„Ja, meinen Sie? Na gut. Und wo ist jetzt diese Mauer-Sache?“

„Hier, Herr Gundler. Und hier ist auch Ihr Terminkalender!“ Ich schlug schnell die aktuelle Woche auf, die leider in völlig jungfräulichem Weiß prangte.

„Schreiben Sie noch was rein, wie sieht denn das sonst aus“, riet Dietlinde, dann verzogen wir uns und nahmen im Hinausgehen die Akten mit, die wir für uns erobert und eben versteckt hatten. Gundler, der eifrig seinen Terminplaner bekritzelte, merkte nichts davon.

Draußen ließen wir uns glücklich mit den geklauten Schadensfällen an unseren Schreibtischen nieder. Grasmeier las Zeitung, zwei Mädels unterhielten sich halblaut, der Gestik nach über die Frage, ob BHs mit oder ohne Bügel besser saßen, jemand starrte so konzentriert auf seinen Bildschirm und klickte so regelmäßig, dass man ihm das Spiel schon von weitem ansah... Wieso war die Union Securé (bescheuerter Name) eigentlich nicht längst pleite?

Die Beute von Gundlers Schreibtisch war etwas angestaubt, die Fälle hätten schon längst bearbeitet werden müssen. Das meiste war bloße Routine und schon fertig, als der Bote endlich kam und uns neue Arbeit brachte.

Gegen halb elf – Gundler hatte es sicher schon wieder geschafft, Chaos zu verbreiten – öffnete sich unsere Tür und Bertolt, heute in Rehbraun mit blassblauem Hemd und Krawatte Ton in Ton, beehrte uns. Wir nickten höflich, als er sich Gundlers Glaskabuff näherte. „Schick, unser Börtie“, murmelte Dietlinde.

„Mal sehen, wie das Original aussieht“, murmelte ich zurück – und siehe da: Dr. Praetorius himself! Heute in Graublau und mit einem professionellen Zeitplaner in der Hand.

Er ließ seinen Blick kurz über uns schweifen, registrierte unser korrektes, aber betont desinteressiertes Nicken, und strebte dann ebenfalls dem Glaskabuff zu. Wir arbeiteten im Prinzip weiter, aber in Wahrheit passten wir höllisch auf: Würde Gundler in Ohnmacht fallen? Hatte er die Unterlagen schon wieder verschlampt? War der Kaffee in der Thermoskanne noch heiß? Würde Gundler vor Aufregung jemanden mit Kaffee begießen (am liebsten Bertolt, den eitlen Affen)?

Also fertigte ich einen eindeutig getürkten Schadensfall unkonzentriert summarisch ab und verfasste einen entsprechenden Brief. Die entsprechenden, halb höflichen, halb versteckt drohenden Makros hatten wir ja alle auf der Festplatte.

Drinnen schien die Besprechung recht friedlich zu verlaufen, Gundler fuchtelte nicht mehr herum als sonst, hatte den Kaffee noch nicht umgeworfen, hielt den blauen Aktendeckel griffbereit – was nicht hieß, dass er im entscheidenden Moment wusste, wo er war – und schien sich noch recht tapfer zu halten. Bertolt zog die übliche arrogante Miene, Praetorius wirkte eher gelassen, leicht gelangweilt. Schließlich öffnete sich die Tür wieder. Na prima, Gundler lebte noch und es war vorbei.

Halt, nein – nur Bertolt kam heraus, sichtlich schmollend. Ich hätte zu gerne gewusst, was da passiert war, aber wenn man ab und an Arbeit vortäuschen musste, verpasste man natürlich leicht das Beste.

Ich rief die nächste Versicherungsnehmerin an, bei ihr fehlte nur eine Bestätigung, die in der Anlagenliste aber aufgeführt war. Sie versprach, den Beleg sofort bei mir vorbeizubringen und beschwerte sich auch nicht über unser langsames Arbeiten – die Meldung war von Mitte November!

Gundler und Praetorius unterhielten sich, Gundler zeigte wild in die Luft, Praetorius nickte ab und zu und schrieb sich dann etwas auf. „Man müsste das Kabuff mal verwanzen“, flüsterte ich Dietlinde zu.

„Au ja, dann haben wir alle Infos aus erster Hand. Kannst du so was?“

„Nicht wirklich. In der Schule haben wir´s mal versucht. Schade, dass das illegal ist. Was treiben die da drin eigentlich?“

„Sieht man doch. Praetorius fragt die Namen ab und Gundler zeigt ihm die Gesichter. Siehst du das nicht?“

„Nö“, musste ich zugeben, unwillkürlich beeindruckt. „Kannst du Lippenlesen?“

„Nein, aber logisch denken. Was soll das denn sonst sein?“

Praetorius nickte, sprang auf, drückte Gundler die Hand und durchquerte unser Büro. Ich tippte schnell am nächsten Brief weiter und schielte nur ganz vorsichtig nach ihm. Hatte der mich gerade angeguckt?

„Hat der uns gerade angeguckt?“, zischelte Dietlinde.

„Ich glaub´s auch. Weil wir diesen frechen Brief geschrieben haben. Aber das

musste ja wohl mal sein, oder?“

„Eben. Ich nehme nichts zurück.“

„Ich auch nicht!“ Wir machten High Five, obwohl jetzt eher Eine für alle, alle für eine angesagt gewesen wäre, aber das gab mit zwei Händen optisch nichts her.

Etwas gelangweilt arbeiteten wir die Reste ab. Die anderen im Büro hatten sich nicht gerührt, nicht den Hals verdreht, genau genommen auch nicht viel gearbeitet - waren die eigentlich schon tot? Oder Schaufensterpuppen? Der Obermotz – jedenfalls für den Privatversicherungsbereich ohne Kranken und Auto – kommt vorbei und die wachen nicht mal auf?

Doch, Grasmeier erhob sich in Zeitlupe, seufzte tief und schritt gemessen zum Kantinenplan. „Mhm, Gulasch mit Salzkartoffeln und Wirsing! Und Mousse au chocolat!“

„Das –e spricht man nicht mit“, brummte ich.

„Bitte?“

„Man sagt Muss, nicht Musse“, erklärte ich unlustig und kam mir vor wie Gundula. Grasmeier knurrte und setzte sich wieder hin; jetzt kam der Lokalteil dran. „Immer noch der selbe Pampfraß“, schimpfte ich. „Auch dieser Praetorius kann nicht hexen“, murmelte Dietlinde, „wart´s doch mal ab!“

Es war wirklich dieselbe Pampe, schwer, zerkocht und lähmend. Und die Salate waren seit Montag die gleichen! Heute konnte man überhaupt nur noch den Kopfsalat nehmen, der sah einigermaßen frisch aus. Kopfsalat und eine halbe Breze, das war sogar mir zu wenig – ich stellte das Tablett zurück und holte mir an dem Obststand auf der anderen Straßenseite ein Pfund Trauben und vom Bäcker eine Zehnkornsemmel. Das war doch wenigstens etwas Anständiges! Dietlinde guckte nachher allerdings so hungrig drein, dass ich ihr die Hälfte abgeben musste. Wir hatten die Trauben gerade fair geteilt, als der Bote hereinkam. Um diese Zeit? „Frau Landmann und Frau Schäfer sollten bitte zu Dr. Praetorius kommen.“

Mir fielen die Trauben aus der Hand; hastig sammelten wir sie wieder ein.

„Jetzt kriegen wir Stress“, flüsterte Dietlinde mir zu. „Soll er doch!“ Jetzt kam ich in kriegerische Stimmung. „Ich steh zu meiner Meinung!“

„Ich auch“ – aber das klang ein bisschen hohl. Wir klatschten die Trauben wieder auf den Teller und machten uns auf den Weg in den siebten Stock.

Schicker als bei uns – Teppichboden statt Plastikbelag, die Pflanzen waren gegossen: Ah, Hydrokultur, das war für uns wohl zu teuer?

Wir irrten ein bisschen herum, bis wir das Vorzimmer fanden. Ein Drachen hauste dort. „Was wollen Sie?“

„Schäfer und Landmann, Privatschaden Eins, Dr. Praetorius wollte uns sprechen“, entgegnete ich beleidigt. Wir trieben uns doch nicht zum Spaß hier herum!

Ich wurde mit einem strengen Blick gestraft, Dietlinde dagegen wurde freundlich gemustert – die sah ja auch nicht aus wie Pumuckl. Und einen Rock trug sie auch, genau genommen ein wadenlanges Jeanskleid. Bei Dietlinde war alles aus Jeansstoff, sogar die Umhängetasche. Ich dagegen war schon wieder grau in grau unterwegs, nur trug mein Sweatshirt heute eine unanständige Aufschrift, glücklicherweise auf Gälisch – Achims letzte Guinnesstour. Ich wusste, was der unaussprechliche Satz hieß, aber ich würde mich hüten! „Warten Sie dort drüben!“ Der Zeigefinger erinnerte an „Ab in dein Körbchen, Hasso!“ Ich verbiss mir ein Kichern und folgte Dietlinde in den Wartebereich.

Nach einigen Minuten schaute Praetorius aus seiner Tür. „Frau Treml, sind die beiden Damen – ah, gut. Frau Treml, warum lassen Sie meine Besucher unnötig warten?“ Frau Treml färbte sich unter ihrer goldblonden Dauerwelle rosafleckig und antwortete nicht.

„Kommen Sie bitte mit?“

Etwas beklommen folgten wir ihm in ein riesiges Büro, halb leer, nur ein großer Schreibtisch, penibel aufgeräumt, zwei Schränke und dazwischen ein Regal. Von dem Schreibtisch zwei Stühle für niedrige Lebensformen wie uns, dahinter ein Ledersessel. Keine Pflanzen, aber ein toller Blick über die Stadt.

„Setzen Sie sich doch bitte!“

Wir taten wie geheißen und kamen uns vor wie früher beim Schulleiter. Das konnte nichts Gutes werden, ich verlor allmählich auch allen Rebellionsgeist. „Was haben Sie heute Mittag gegessen?“, fragte er dann. Ich starrte ihn verblüfft an. Er hatte klare graue Augen, etwas heller als meine, die mehr schieferfarben waren.

„Kopfsalat. Und dann haben wir uns Trauben gekauft. Die wollten wir gerade teilen, als uns der Ruf ereilte.“

„Der Ruf?“

„Na, hierher, ins Allerheiligste.“ Ich verstummte erschrocken. Konnte ich denn nicht einmal meine Klappe halten? Praetorius lachte. „Tun Sie mir nicht zuviel der Ehre an, ich bin nicht der liebe Gott, nur der Stellvertreter.“

„Also der Papst?“

Dietlinde trat mich ans Schienbein. „Entschuldigung“, murmelte ich und starrte auf den blassgrauen Teppichboden.

„Wofür denn, wenn ich Ihnen eine solche Vorlage liefere? Nein, ich wollte mich bei Ihnen beiden bedanken. Ihr Brief war sehr aufschlussreich, und ab Januar werden in der Kantine andere Sitten einziehen, die Leiter der übrigen Abteilungen sind ganz meiner – Ihrer – Meinung. So beschneiden wir ja unnötig die Arbeitskraft unserer Mitarbeiter! Und gesund ist dieser Fraß auch nicht.“

„Wir haben Sie gestern in der Kantine gesehen“, platzte Dietlinde heraus.

„Ich weiß. Schließlich habe ich zumindest Frau Landmann schlecht übersehen können, oder?“

Er grinste frech und ich grinste versuchsweise zurück. „Und, haben Sie hinterher auch ein Nickerchen eingelegt?“ Dietlinde trat mich wieder. Sie hatte doch damit angefangen! „Nein, aber ich war knapp davor. Von der Wirkung abgesehen, war das Essen auch geschmacklich eine Zumutung.“

„Stimmt. Wenn wenigstens die Salate einigermaßen frisch wären, und wenn man nur noch alkoholfreies Bier ausschenken würde – ich meine, Bier am Mittag, da muss man ja einschlafen! Und Obst statt der ewigen Puddings, Kompott meinetwegen oder ein kleines Eis mit Früchten, Joghurt oder Quark...“ Mein Eifer erstarb schon wieder, aber nein: Praetorius schrieb sich das tatsächlich auf. „Sehr vernünftig. Man begegnet hier selten einem kritischen Geist – und jetzt gleich zweien!“

Dietlinde errötete sanft und sah anbetend drein. Verguckte sie sich jetzt in den? Kerle in dieser Position waren verheiratet, gerne mit der Tochter des Aufsichtsratsvorsitzenden. Zwei Kinder, eine Freundin, und sie treibt es mit dem Golftrainer. Lass das, Dietlinde!

„Tja, ich hatte mich nur bei Ihnen bedanken wollen.“ Er stand auf, und sofort sprangen wir auch auf. Wir waren schon fast wieder im Vorzimmer, da sprach er wieder. „Frau Landmann, mit Ihnen hätte ich noch etwas anderes zu besprechen – wenn Sie noch einen Moment Zeit haben?“

„Sicher.“

Dietlinde zog ein erschrockenes Gesicht und machte, dass sie wegkam. Ich konnte mir schon denken, was jetzt kam – die taktvolle Frage, ob meine Haarfarbe wirklich so sehr rot sein musste? Echt war das doch nicht, oder etwa doch? Konnte ich nicht etwas diskreter – dem Ansehen der Firma angemessener -? Jaja, das hatte Gundler schon stotternd versucht, und ich hatte es ignoriert, aber wenn sich der Papst persönlich einmischte, konnte ich wohl nicht umhin...

„Okay“, sagte ich also ergeben, „ich färb drüber. Zufrieden?“

„Was?“

„Na, es geht doch um meinen Pumucklkopf, oder?“

„Indirekt ja. Färben Sie das bloß nicht um, das ist perfekt.“

Ich schwankte und musste mich setzen. „Worum geht es dann?“

Praetorius stand auf und trat ans Fenster. Er spielte ein bisschen mit der Jalousieschnur herum, sah hinaus und drehte sich dann um, so dass ich im Gegenlicht nur noch seine Umrisse erkennen konnte.

„Das ist ein bisschen heikel...“

Lieber Himmel! Roch ich schlecht? Hatte ich einen großen Schadensfall vermasselt? Grasmeier verarscht und der war der Neffe vom Aufsichtsratsvorsitzenden? Wuchsen mir plötzlich Haare aus der Nase?

„Immer raus damit, es kann nicht halb so schlimm sein wie das, was ich mir jetzt einbilde! Was hab ich angestellt?“

„Sie haben gar nichts angestellt. Im Gegenteil, Sie scheinen mir – und Ihre Freundin auch – auf Ihren jetzigen Positionen etwas unterfordert zu sein.“

Das stimmte allerdings, aber wenn das heikel war - ?

„Wollen Sie uns feuern, weil wir überqualifiziert sind?“

„Großer Gott, sind Sie aber misstrauisch! Nein, es hat mit Ihrer Arbeit gar nichts zu tun.“

Also hatte mein Deo doch versagt! Musste der sich seine Trauerbotschaft derartig aus der Nase ziehen lassen? Ich beschränkte mich auf ein höflich fragendes Gesicht und dezent ungeduldiges Füßescharren.

„Ich bin sonst nicht so weitschweifig, aber ich habe Ihnen einen mehr als blöden Vorschlag zu machen, der – nein, ich glaube, ich lasse es lieber, es ist wirklich eine Schnapsidee.“

„Kommt nicht in Frage! Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht, jetzt können Sie mich nicht so abspeisen.“

„Sie werden ablehnen.“

„Das wissen Sie doch noch gar nicht. Und wenn, sind Sie doch nicht schlimmer dran, als wenn Sie´s gar nicht versucht hätten. Los, ich verspreche, ich lache nicht. Oder nur ganz leise.“

Er grinste schief. „Was machen Sie an Weihnachten?“

Keine Überstunden!“, entgegnete ich scharf.

„Nein, natürlich nicht – obwohl, in gewissem Sinne. Himmel, so habe ich seit dem Abitur nicht mehr gestottert! Ich meine – haben Sie über die Feiertage schon etwas vor? Ach, was frage ich, natürlich haben Sie schon was vor, entschuldigen Sie bitte.“

„Wie es der Zufall will, habe ich noch nichts vor. Meine liebe Familie fährt zum Skifahren und hat vergessen, mich rechtzeitig zu informieren, so dass ich keinen Urlaub habe. Und für zwei Tage fahre ich da nicht runter, das lohnt sich nicht.“

„Verständlich. Nun...“

„Darf ich raten? Sie fahren weg, mit Frau und Kinderchen, und brauchen jemanden, der das Haus hütet?“

„Nein, Unsinn. Das könnte ja wohl die Putzfrau machen. Und Frau und Kinderchen habe ich nicht, aber damit kommen wir dem Problem schon näher. Ich muss über die Feiertage zu meinen Eltern.“ Er seufzte.

„Und das ist so furchtbar?“

„Ziemlich. Sie haben sich in den Kopf gesetzt, dass ich heiraten soll. Warum ich, weiß ich auch nicht, ich habe noch zwei Brüder, die könnten doch auch dran glauben, aber nein, sie haben sich auf mich eingeschossen.“

Ich sah ihn ratlos an. Was sollte ich dabei tun? Wozu breitete er sein Privatleben vor mir aus? Als Papst?

„Und inwiefern kann ich Ihnen dabei helfen?“

„Kommen Sie mit und spielen Sie meine Freundin.“

Ich hielt mich im letzten Moment an der Schreibtischkante fest. „Was?“

Er seufzte wieder. „Meine Eltern haben da schon ein, zwei Kandidatinnen im Auge, und immer wenn ich sage, die sind nicht mein Geschmack, kommt dieses Totschlagargument Du hast ja auch keine andere!

„Und ich soll jetzt die andere spielen? Aber wie lange soll das denn funktionieren? Ich meine, wir können natürlich einen prachtvollen Krach mit Schlussmachen und allen Schikanen inszenieren, aber dann geht der ganze Ärger doch bloß von vorne los! Das hilft doch auf Dauer nichts!“

„Doch. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber meine Eltern – wenn sie Sie sehen -“

„Ich soll sie erschrecken?“

„Nicht direkt. Ihnen nur zeigen, dass mein Geschmack so ganz, ganz anders ist als diese beiden tadellosen jungen Damen, die sie da für mich ausgegraben haben.“

„Ah ja – weil ich keine tadellose junge Dame bin...“

„Bitte, seien Sie jetzt nicht beleidigt, ich meine das gar nicht negativ. Aber Sie sind frech und schlagfertig, und sie sehen originell aus.“

„Und das soll Ihre Eltern die Gardinen hochtreiben?“

„So etwa. Sie sollen denken Wenn die sein Geschmack ist, können wir mit unseren Vorschlägen einpacken.“

„Eher schmeißen die mich raus.“

„Das können sie nicht, dann gehe ich auch. Ich suche schon lange nach einem geeigneten Vorwand für eine längere Funkstille.“

„Geheimnummer?“

„Bitte?“

„Würde eine Geheimnummer nicht den gleichen Zweck erfüllen?“

„Nein, das wäre feige.“

„Ja, vielleicht“, stimmte ich nachdenklich zu.

„Würden Sie mitmachen?“

„Ich weiß nicht. Kann ich ein bisschen darüber nachdenken?“

„Aber natürlich. Würden Sie mich anrufen, wenn Sie sich entschieden haben?“ Ich erhob mich. „Klar. Spätestens am Montag. Ich bin nicht sicher, ob dieser Plan etwas taugt - Entschuldigung, aber ich glaube wirklich nicht, dass das funktioniert.“

„Das weiß ich auch nicht – wenn Sie eine bessere Idee haben? Moment – Sie haben ja gar nicht meine Nummer!“

Ich sah ihn erstaunt an. „Wieso? Die steht doch sicher im internen Verzeichnis, oder? Oder stellt ihre Sekretärin nichts durch?“

„Ich dachte an meine Privatnummer.“ Er kritzelte etwas auf eine Karte und reichte sie mir dann. Hui, seine Privatnummer und seine Handynummer - wie huldvoll! „Möchten Sie meine Nummer auch? Karten hab ich leider keine..."

„Meine sind auch bloß selbst gebastelt. Ja, das wäre wohl ganz praktisch.“

Ich diktierte ihm meine Nummern und gab dann ungern auch noch meine unschicke Adresse an. Er verzog keine Miene, offenbar wusste er gar nicht, wo die Essener Straße war. Andererseits wollte er seine Eltern schließlich mit mir erschrecken, also war es wohl zweckdienlich, wenn ich im Slum lebte.

„Und bitte, bewahren Sie innerhalb der Firma Stillschweigen.“

Ich sah ihn beleidigt an. „Versteht sich. Dass man zum Leute erschrecken engagiert wird, ist ohnehin nichts, was man so begeistert herumerzählt.“ Er errötete leicht. „Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen – so war das nicht gemeint, wirklich nicht!“

Ich winkte ab. „Brechen Sie sich nichts ab – Entschuldigung. Ich komme damit schon zurecht. Nur glaube ich eben nicht, dass der Plan funktioniert.“

„Warten wir´s ab. Ich danke Ihnen auf jeden Fall für Ihre Geduld.“

„Keine Ursache.“

Endlich war ich draußen und auch an dem Drachen vorbei, der mich verächtlich musterte – hatte die etwa gelauscht?

Immer noch leicht benommen kehrte ich in unser Büro zurück und setzte mich, innerlich den Kopf schüttelnd. Dietlinde brachte mir die Hälfte der Trauben und flüsterte: „Was wollte er denn noch?“

„Hab ich auch nicht kapiert. Aber ich soll Stillschweigen bewahren.“

„Hat es was mit unserer Abteilung zu tun?“

„Eigentlich nicht. Mach dir keine Sorgen, aber frag mich bitte nicht.“

Damit war sie logischerweise nicht zufrieden, aber ich durfte ja nicht mehr sagen! „Eigentlich sieht er ziemlich gut aus, findest du nicht?“, wisperte sie weiter.

„Geht so. Er ist eben schick angezogen, das macht viel aus“, antwortete ich desinteressiert. Sollte ich dann neben ihm in zerrissenen Jeans auftreten, um den Kontrast richtig herauszuarbeiten?

„Mir gefällt er. Und er ist auch richtig nett mit unserem Vorschlag umgegangen, oder findest du nicht?“

„Nein, stimmt schon. Schau, wenn er ein guter Chef ist, muss er ja wohl erkennen, dass unsere Beschwerde dringend nötig war. Ich meine, wenn er nicht einmal erkennt, wie viel Arbeitszeit da verschwendet wird, dann kann er ja gar nichts! Was macht er dann auf diesem Posten?“

„Das Übliche. Unfähige Chefs gibt´s doch genug!“ Sie wies mit dem Kopf auf Gundler in seinem Kabuff, der gerade ein Verdauungsschläfchen einzulegen schien. Jetzt schreckte er aber hoch und kam herausgetrippelt. „Frau Schäfer, wenn Sie nichts zu tun haben, dann -“

„Doch, doch“, versicherte Dietlinde hastig und eilte an ihre neue Post zurück.

Ich öffnete alles, was mir der Bote auf den Schreibtisch gelegt hatte, während Dr. Praetorius mir diesen aberwitzig dämlichen Plan unterbreitet hatte, und sortierte etwas unkonzentriert. Für uns – für uns – für nebenan – Kfz – ein Brandschaden, das gehörte zu den Gebäudeversicherungen im vierten Stock, es stand sogar auf dem Umschlag, konnte der Bote nicht lesen? – für uns – für Gundler – für uns – aus. Ich leitete die Irrläufer weiter und ging an die Arbeit.

Bei Freunden mit dem Absatz im bodenlangen Tischtuch hängen geblieben und den ganzen Tisch ruckartig abgedeckt? Die wollten wohl ein neues Service? Fotos, Erklärungen aller Beteiligten, sogar die Rechnung des Service und der Gläser – natürlich, die allerteuersten waren es gewesen! – lagen bei und die Versicherung, man habe Scherben aufgehoben, so weit keine Essensreste daran klebten. Immerhin behaupteten sie nicht, das Silber sei auch zu Bruch gegangen. Insgesamt knapp unter 500 €, die wussten wohl schon, wo wir die Grenze zogen. Na gut, ziemlich überzeugend dargestellt! Ich schrieb eine kurze Begründung, füllte einen Scheck aus und brachte das ganze Gundler, der den Scheck unterschreiben musste.

Wieder was weg!

Ich stellte mir vor, ich würde bei den erhabenen Eltern Praetorius so etwas bieten – den Tisch umwerfen oder so. Toller Abend: Würden sie mich einfach vor die Tür setzen oder den Chef-Sohn gleich enterben? Und wie sollte er nach einem solchen Auftritt begründen, warum ich ihm gefiel? Alles Blödsinn – oder sollte ich die scharfzüngige Intellektuelle spielen? Wie hatte er sich meine Rolle denn vorgestellt? Und was war nach Weihnachten? Wir konnten den Quatsch ja nicht weiter laufen lassen, irgendwann gelangte das doch in die Firma, und wie standen wir dann da? Er als jemand, der die Mäuse aus der Sachbearbeiterebene vernascht: na gut, vielleicht war ihm das egal oder er war so blöd, dass er sich darauf noch etwas einbildete.

Aber ich wollte nicht als Idiotin dastehen, und das würde ich – entweder als eine, die glaubt, sie könnte sich nach oben schlafen (wohin denn? Er würde mir garantiert keinen besseren Job verschaffen!) oder, noch schlimmer, als eine, die bescheuert genug ist, sich in einen Vorgesetzten zu vergaffen. Nein, da blieb mir ja nur noch die Kündigung, und die Schmach würde mir wahrscheinlich auch noch an den neuen Arbeitsplatz folgen.

Mein Job war ohnehin schon nichts Besonderes, aber als Chefmatratze musste ich nicht auch noch verschrien werden.

Vielleicht war das Ganze bloß eine besonders ausgefallene Anmache? Ach, Quatsch – dann würde er sich doch eine aussuchen, die ihm gefiel, und nicht

eine, deren feuerroter Strubbelkopf seinen Zweck erfüllte!

Ich schreckte hoch und machte mich an den nächsten Vorgang, aber sehr konzentriert war ich bis Arbeitsschluss nicht. Ich vergaß sogar, die Trauben zu essen, obwohl mir die ganze Zeit der Magen knurrte, und musste sie um fünf schließlich mühsam in die zerrissene Tüte zurückstopfen, um sie mit nach Hause zu nehmen. Völlig desorganisiert! Reichte denn ein alberner Vorschlag, um mich so aus dem Konzept zu bringen? Ich nahm noch schnell ein Schnäpschen der Extraklasse für Opa mit – soweit war mein Hirn nun doch noch funktionsfähig – dann sank ich zu Hause aufs Sofa.

Dr. Praetorius hatte einen Knall. Und er war total naiv – ich hatte selbst Eltern, ich wusste, was man denen verkaufen konnte und was nicht. Und das würden sie nie glauben! Der Sohn ein feiner Herr, Chefetage und alles, was dazu gehört – und dann so was wie mich? Nie würden die das schlucken! Und hatte er nicht gesagt, er hatte noch zwei Brüder? Sogar wenn die Eltern schon völlig senil waren – die würden sich nichts vormachen lassen.

Praetorius war – naja, maximal vierzig. So sah er zwar nicht aus, aber vielleicht ließ man sich in Managementkreisen ja liften, um jung und dynamisch zu wirken. Wenn er der jüngste von den dreien war – die Mutter konnte gut achtzig sein, der Vater dann beliebig alt. Ja, vielleicht waren sie ja senil?

Blödsinn.

Dann könnte er ihnen doch vormachen, er sei längst verheiratet, ihr wart doch auf der Hochzeit, habt ihr das etwa vergessen?

Auf jeden Fall hatte er einen Knall! Und es war völlig zwecklos, über diesen Schwachsinn nachzudenken, ich würde nein sagen, war ja klar.

Was würde passieren, wenn ich mitmachte?

· In der Firma wäre ich als Idiotin abgestempelt.

· Seine Eltern würden mich sofort vor die Tür setzen.

· Sie würden ihn enterben und ich wäre Schuld – wer sonst?

· Sie würden sich totlachen und kein Wort glauben - und wir stünden beide als Trottel da.

· Wenn es klappte, wüssten wir hinterher nicht, wie wir da wieder rauskommen sollten.

Und gab es irgendeinen Vorteil? Sollte es wider alles Erwarten irgendwie doch funktionieren, schuldete Praetorius mir einen Gefallen. Na und? Erinnern konnte ich ihn schlecht daran, das grenzte ja an Erpressung. Und dann war ich meinen Job schneller los, als ich gucken konnte. Auf keinen Fall würde ich das tun, Praetorius hatte ganz echt einen Knall!

Wie viele Frauen hatte er wohl vor mir schon gefragt? Und warum hatten die abgelehnt? Er konnte es ja bei Dietlinde probieren, die war gerade im Begriff, sich in ihn zu vergaffen – die spielte bestimmt mit. Nein, die arme Dietlinde – die würde aus den Augen verlieren, dass alles nur Show war, wenn er dann sagte Vielen Dank, auf Wiedersehen, wäre sie völlig geknickt.

Nein, er brauchte schon eine, der er piepegal war. So gesehen war ich keine schlechte Wahl, das hatte er ganz gut erwischt. Ohne mich zu kennen, er wusste ja nur, dass ich schockierende Haare und ein freches Mundwerk hatte. Sachgründe, sozusagen.

Nein, die Idee war trotzdem total bescheuert. Ich würde ihm am Montag in der Firma absagen – diese Karte mit der Privatnummer würde ich keinesfalls missbrauchen, nachher dachte er noch, ich wollte mich anbiedern! War es nicht so was von egal, was er dachte? Auf eine eventuelle Beförderung hatte er doch wohl kaum Einfluss, das konnte höchstens Gundler machen – wohin überhaupt befördern? Unterhalb von Gundler arbeiteten zwölf gleichberechtigte Sklaven, da konnte ich doch sowieso nichts werden.

Also, wenn ich ohnehin nie auf eine Beförderung hoffen konnte, konnte es mir doppelt wurscht sein, was Dr. Praetorius von mir dachte, und wenn er mich für feige hielt – meinetwegen, man musste ja nicht jeden Blödsinn mitmachen! Klar würde ich absagen, ich war doch nicht blöde! Lieber verbrachte ich die Feiertage auf dem Sofa und trainierte mir den Plätzchenspeck später wieder ab. Und jetzt war Schluss damit! Lieber rief ich Hannah und Cora an, vielleicht hatten sie ja morgen Abend Zeit, mit auf ein Bier zu gehen.

Hannah hatte Zeit, Cora wusste es noch nicht. Wir verabredeten ins um sieben im Ratlos – wenn man später kam, fand man garantiert keinen Platz mehr – und Hannah wollte noch ihre Mitbewohnerin fragen. Schön, dann konnte ich gleich meine Weihnachtsgeschenke überreichen und Hannah in Verlegenheit bringen, wenn sie noch nichts für mich hatte. Ja, ich weiß, sehr christlich, sehr weihnachtlich – aber Leute ärgern ist nun mal das Allerschönste.

Apropos Leute ärgern – sollte ich den Machls einen Duftstecker schenken, einen von der Sorte Übertönt alle üblen Gerüche? Wären sie dann hinreichend beleidigt?

Und vielleicht eine erfundene Mitteilung der Hausverwaltung ans Schwarze Brett hängen – nein, das war ein Kündigungsgrund, wenn es herauskam. Aber lustig wäre es schon, etwa ein Verbot von echten Kerzen an den Christbäumen... Das musste ich mir aber leider verkneifen. Doofen Eltern etwas vorzuspielen wäre vielleicht doch ganz lustig? Nein, das konnte sonst wohin führen, und am Ende war ich dann die Dumme. Lieber nicht!

Sollte ich ihm gleich absagen? Oder mir zuerst anhören, was Hannah, Cora und Anke dazu meinten? Und wenn die auch sagten, Lass den Blödsinn, dann absagen?

Wenn man über jemanden nachdenkt, sieht man ihn prompt dauernd – es sei denn, man will ihn auch sehen, dann ist natürlich keine Spur von ihm zu entdecken.

Am Freitag hatte Dr. Praetorius schon wieder eine Besprechung mit Gundler, der fast durchdrehte ob dieser Ehre und der Tatsache, dass sein Büro schon wieder aussah wie eine Müllkippe, und mittags aß er doch tatsächlich diesen fettig ausgebackenen Billigfisch mit Kartoffelsalat in dick Mayonnaise. Dietlinde und ich, hinter einer halbtoten Palme sichtgeschützt, beobachteten die Wirkung und pickten selbst zimperlich in unseren Salaten herum.

„Lebensmittelvergiftung?“, mutmaßte ich.

„Der arme Kerl“, empörte sich Dietlinde, „normale Übelkeit und ein langes Büroschläfchen genügen doch wohl.“

„Na gut. Aber der Kartoffelsalat hat irgendwie nach Salmonellen ausgeschaut, ich hab sie förmlich darin herumkrabbeln gesehen.“

„Salmonellen krabbeln nicht.“

„Nein?“

„Sie haben kleine Flügel und schweben über dem Salat“, erklärte sie mir todernst und prustete dann Wasser über den Tisch.

Ich wischte mit einer Papierserviette auf. „Jetzt hab ich gar keinen Appetit mehr, wahrscheinlich fliegen die Viecher hier auch schon herum. Komm, kaufen wir uns Mandarinen!“

Wir verzogen uns, als Dr. Praetorius immer noch mit dem verdächtig aussehenden Tiramisù kämpfte, das er sich ausgesucht hatte. Schön blöd, er wäre das ganze Wochenende außer Gefecht gesetzt! Offenbar war er aber hart im Nehmen, jedenfalls tauchte er nachmittags schon wieder bei uns auf, angeblich auf der Suche nach einem bestimmten Fall, der aber unauffindbar blieb, bis er die Schadenssumme nannte und Dietlinde ihn nach nebenan schickte.

„Was für ein eigenartiges Prinzip! Wer hat das eingeführt?“

„Ihr Vorgänger. Ja, es verursacht eine Menge unnötiger Hin- und Herschickerei“, kommentierte ich. „Soll ich es schnell holen?“

„Nicht nötig – aber vielen Dank!“ Er lächelte mich an.

Nachtigall, ick hör dir loofen! Du willst auch bloß, dass ich mich auf diesen Schwachsinn einlasse, dachte ich und lächelte eher kühl zurück.

Dietlinde verzog das Gesicht und lächelte ihn dann strahlend ein, mit ihrer geheimnisvollen Miene, die sich immer einsetzte, wenn sie femme fatale spielen wollte. Das konnte sie gut. Sie sah ja auch viel besser aus als ich! Er erwiderte das Lächeln höflich, zwinkerte mir unübersehbar zu und verließ das Büro – um sich die Akte zu holen? Oder war das nur ein Vorwand gewesen? „Der steht auf dich!“, wisperte Dietlinde hinterher aufgeregt.

„Quatsch. Der will, dass ich was tue, was ich für Unsinn halte, und jetzt will er mich bloß weich kochen“, entgegnete ich, „aber da muss er früher aufstehen, solche Tricks kenne ich schon.“

„Ich würde alles für ihn tun“, seufzte Dietlinde, „er ist doch total süß!“

Dann sah sie mich alarmiert an. „Was will er von dir? Will er mir dir ins Bett?“

Ich lachte verächtlich. „Kaum! Jedenfalls würde ich nicht wollen. Nein, was anderes, aber darüber soll ich doch Stillschweigen bewahren. Jetzt reg dich nicht auf, wenn du ihn einfangen willst, tu dir von mir aus keinen Zwang an. Und Waidmannsheil!“

„Du redest dich leicht. Wie soll ich ihn einfangen, wenn er hinter dir her ist?“

„Himmel noch mal, er ist nicht hinter mir her!“

„Ich glaub aber doch.“

Wie konnte man nur so verbohrt sein! Ich arbeitete schweigend weiter, um zu zeigen, wie wenig mich ihre Verdächtigungen interessierten, aber Dietlinde gab nicht lange Ruhe. Kaum hatte sie einen Fall fertig, fing sie wieder an: „Glaubst du, er ist verheiratet?“

„Ist er nicht. Sagt er jedenfalls.“

„Ach – das hat er dir erzählt?“

„Ja, aber aus durchaus harmlosen Gründen. Jetzt hör doch damit mal auf, das Zeug hier soll noch vor dem Wochenende raus, und du lenkst mich dauernd ab.“

„Oh, entschuldige!“

Jetzt war sie beleidigt, aber nicht für lange, ich kannte sie schließlich.

„Du hast nichts dagegen, wenn ich mein Glück auch bei ihm versuche?“, ging es wieder los, kaum dass ich den nächsten Fall erledigt hatte.

„Warum denn? Bedien dich nur – aber findest du es nicht ein bisschen peinlich? Ich meine, dem Chef nachzulaufen? Damit kannst du hier doch nichts mehr werden.“

„Und was kann ich hier werden, wenn ich es mir verkneife?“ Das war nicht von der Hand zu weisen: Unsere Jobs waren so oder so nicht gerade ausbaufähig.

„Also, mach dich ran, aber beklag dich nachher nicht, wenn alle grinsen.“

„Möchtest du nicht sagen Ich hab´s ja gleich gesagt?“

„Wenn ich darf – liebend gerne. Hey, es ist fünf nach fünf – jetzt aber nichts wie raus hier!“

Wir packten hastig zusammen. Die übrige Belegschaft schreckte aus ihrer Döshaltung hoch, schob die unbearbeiteten Papiere zusammen und machte sich matt in ein Wochenende auf, an dessen Ende eben wieder diese unbearbeiteten Papiere stehen würden. Dietlinde und ich guckten streberhaft, wischten imaginäre Stäubchen von unseren Schreibtischplatten und warfen einige Briefe in die Post, was uns missmutige Blicke eintrug.

„Was machst du am Wochenende? fragte ich auf der Treppe.

„Ins Nightflight, ein bisschen einkaufen, Weihnachtsgeschenke und so, am Samstagabend eine Party. Und du?“

„Plätzchen backen, heute Abend ins Ratlos und ein bisschen Familie.“ Das letzte war gelogen, aber ich konnte ja nicht sagen, worüber ich intensiv nachdenken musste!

Ich winkte ihr nach, als sie zum Parkplatz abbog, und trabte selbst zur Bushaltestelle. Kalt war´s – und einzelne Flocken wehten mir ins Gesicht. Jetzt hätte ich doch gerne einen austauschbaren Kleinwagen gehabt – aber dazu liebte ich mein Schlachtschiff viel zu sehr, auch wenn ich damit nicht zur Arbeit fahren durfte.

Zu Hause war es dafür umso gemütlicher. Ich zündete die Kerzen an, zog die Vorhänge vor dem mittlerweile recht heftigen Schneegestöber zu und ließ mir ein richtig luxuriöses Schaumbad ein – für eine Wannenfüllung tat es der Boiler gerade noch.

Im heißen Wasser überlegte ich weiter. Wahrscheinlich würden mir alle abraten, und sie hätten auch Recht. Ich hatte ja selbst kein gutes Gefühl bei dieser hirnrissigen Aktion, aber leider spürte ich auch schon dieses Kribbeln.

Dieses Kribbeln hatte mir in der Schule mehrere Verweise eingetragen. Wir hatten ein Playmate des Monats ans Direktorat geklebt, aus der Lehrertoilette das Schloss entfernt und tatsächlich einmal versucht, das Lehrerzimmer zu verwanzen. Das Ergebnis war aber bloß ein langes Gespräch darüber gewesen, ob und wann die einzelnen Pauker ihre Betten machten und woraus ihre Kopfkissen bestanden. Enttäuscht hatten wir von weiteren Lauschangriffen abgesehen.

Das Kribbeln hatte mich auch dazu gebracht, die Party einer sehr hochnäsigen Mitschülerin zu ruinieren, meine Eltern auf die Palme zu bringen, Achim ein Schild Fahrschule auf seinen Wagen zu kleben, Gundula ein Buch zu schenken, wie man Pauker in den Wahnsinn treibt, und meine Nachbarn zu ärgern. Die Sache mit dem künstlichen Hundehaufen (albern und abgedroschen, ich weiß) hatte bei Machls noch wunderbar funktioniert.

Würde es in die gleiche Kategorie fallen, den Eltern von Praetorius die unpassende Freundin vorzuspielen? Unpassend konnte ich bestimmt sein, ich wusste nur nicht, wie unpassend Praetorius mich haben wollte. Er hatte mir eindeutig

zu wenig erzählt!

Das Wasser wurde langsam kalt; ich stieg aus der Wanne, wickelte mich in ein Handtuch und dachte vor dem Kleiderschrank länger nach, bis ich den silbergrauen Nicki und die dunkelgrauen Breitcordjeans aus dem Schrank zog.

Fürs Ratlos reichte das allemal; ich zog ich mich auch weniger wegen der anderen um, die sicher nichts dergleichen getan hatten, als vielmehr, um den Beginn des Wochenendes zu feiern. Im Ratlos war es wie üblich gesteckt voll, ich drängte mich durch die Menge, signalisierte Birgit, dass ich ein Pils wollte, und fand den Ecktisch, an dem sich Hannah schon einen Stuhl erkämpft hatte. Einer war noch frei; wenn noch mehr kamen, mussten wir die beiden ernsthaft über eine Ausstellung debattierenden Frauen irgendwie vergraulen. Hannah bewunderte meine Haare. „Scharfes Rot, echt. Ist das Karotte?“

„Nein, Edelkupfer. Garantiert nicht auswaschbar. Fast so arg wie Henna, wenn man es unter Plastikfolie einziehen lässt, was? Aber das hat mir schon ein Problem eingebracht."

„Lass mich raten – die Spießer bei eurer Versicherung haben sich aufgeregt?“

„Ja, das auch, aber das meine ich nicht. Ich erzähl´s dir, wenn alle da sind, weil ich eure Meinung brauche. Wer kommt denn noch alles?“

„Anke vielleicht. Cora eher nicht. Vielleicht Bettina auch noch. Sie haben alle gesagt, um acht sind sie da oder sie kommen gar nicht.“

„Dann essen wir erstmal was. Was gibt´s denn heute?“

Ich verrenkte mir den Hals: Überneck – Überbackene sollte das heißen? Sauklaue! – überbackene Reiberdatschi mit Schinken und Käse, diverse Salate, Toasts und das übliche. Die Reiberdatschi reizten mich, und Birgit konnte sie auch warm empfehlen: „Die haben wir selbst erfunden. Ganz knusprig! Gut, Diätessen ist es keins, aber man muss ja auch nicht immer gesund leben.“

„Hast Recht. Vor allem, wenn ich schon in der Firma immer hungern muss, weil man den Kantinenfraß echt nicht essen kann. Seit Tagen gab´s mittags nur Salate, ich kann was Handfestes vertragen. Also her mit den Reiberdatschi!“

Hannah wollte sie auch, und in diesem Moment kamen Anke und Bettina, bestellten das gleiche, holten sich zwei Stühle und quetschten sich mit an den Tisch. Die kulturbeflissenen Damen rückten pikiert zur Seite und schossen verächtliche Blicke, sagten aber nichts. Feiglinge – bloß weil wir doppelt so viele waren?

Schließlich hatten wenigstens alle ein Glas vor sich stehen, Birgit hatte auch schon Besteck gebracht, und wir waren betont laut und fröhlich. Unsere Tischgenossinnen wurden immer kleiner und nickten sich schließlich resigniert zu, bevor sie ihr Geld herauszogen. Das klappte ja prima! Birgit brachte viermal Datschi und kassierte ab; wir verteilten uns sofort möglichst raumgreifend um den Tisch und fielen über das Essen her.

Köstlich!

„Stellt euch vor, jemand bittet euch, seinen Eltern die Freundin vorzuspielen. Eine möglichst abschreckende Freundin. Würdet ihr das tun?“

Anke senkte die Gabel. „Ohne weitere Informationen? Warum, wer ist das, was müsstest du tun?“

„Genau“, soufflierte Hannah, „das hängt doch vom Einzelfall ab.“

„Der Mann ist aus unserer Firma. Größeres Tier. An mir gefällt ihm die Haarfarbe, die müsste seinen Alten wohl den Rest geben. Er will seinen Alten wohl zeigen, dass er bestimmt nicht so heiraten wird, wie sie es gerne hätten.“

„Firma?“, wiederholte Anke. „Nein. Ich täte es jedenfalls nicht – das gibt doch nachher nur Ärger. Wenn das bloß ein Kumpel wäre, vielleicht. Ich hab Lothars Mutter auch schon die Prollbraut vorgespielt, leider ohne großen Erfolg, aber wenn du dich in einer Cheffamilie so aufführst - such dir vorher einen neuen Job, sicherheitshalber.“

„Aber der kann dich doch nicht feuern, wenn du auf seinen Wunsch hin so gehandelt hast“, empörte sich Bettina.

„Warum nicht, wenn er es sich hinterher wieder anders überlegt?“, wandte Hannah ein. „Wahrscheinlich ist das genauso, wenn du dich zum Beispiel mit Jan streitest und mit mir auf ein Bier gehst. Wir schimpfen genüsslich auf Jan, danach versöhnt ihr euch und du bist böse auf mich, weil ich Gemeinheiten über ihn gesagt habe.“

Alle nickten wir wissend. „Genau! Nachher sind die so sauer, dass sie ihn enterben, und dann bin garantiert ich schuld, wetten?“

„Das wäre aber trotzdem ungerecht“, murrte Bettina.

Such is life“, antwortete Anke. „Beate hat Recht, sie hat nachher garantiert die Arschkarte gezogen. Kann er keine andere finden?“

„Weiß ich nicht. Keine mit Pumucklkopf und losem Mundwerk, offensichtlich. In der Firma gibt´s vor allem brave Mäuse. Und Dietlinde sieht wohl zu gut aus, die geht glatt als Frau von Welt durch, wenn sie sich ein bisschen aufbrezelt. Dann sind die Alten womöglich noch begeistert und legen sofort einen Termin fest.“ Ich kicherte. „Stellt euch das mal vor – wie blöde die beiden schauen würden, wenn aus der Show plötzlich Ernst wird: Die kämen da nie mehr raus und müssten wirklich heiraten.“ Ich grinste begeistert in mich hinein, das Bild war aber auch zu nett.

„Sie könnten doch im letzten Moment den großen Krach inszenieren“, schlug Hannah vor, die auch viel Sinn für imaginäre Szenarios hatte.

„Nicht Dietlinde. Der gefällt der Kerl nämlich wirklich. Sie würde festhalten, was schon so greifbar nahe gerückt ist.“

„Auch wenn er gar nicht will?“

„Ach, sie wird denken, er wird sich schon daran gewöhnen. Männer gewöhnen sich ja an vieles.“

„Nur nicht an die Hausarbeit“, warf Anke ein, aber auf dieses Gambit ging keine von uns ein.

„Sieht der Knabe gut aus? Erzähl mal ein bisschen mehr!“ Bettina, natürlich.

Ich überlegte. „Gut? Normal, würde ich sagen. Cheftyp. Ordentlich. Gute Klamotten, vorzeigbares Gesicht, etwa Mitte bis Ende dreißig, höchstens – wieso lässt sich so einer überhaupt noch von seinen Eltern nerven? Die können ihm doch im Mondschein begegnen!“

„Erbschaft“, erinnerte Hannah.

„Naja, gut – aber als Obermotz bei uns wird er doch wohl genug verdienen.“

„Du weißt ja gar nicht, was die Eltern zu vererben haben, vielleicht Millionen, Schlösser, Firmen, Imperien!“

„Ja, gut – aber wo ist der Unterschied, ob er wegen der Show enterbt wird oder weil er sagt, sie sollen ihn mit Heiraten in Ruhe lassen?“

„Vielleicht ist er schwul, und mit dir denken sie, er ist widerborstig, aber hetero. Wenn die recht konservativ sind... Homo wäre sicher schlimmer für die. Wo wohnen die Eltern? Stadt? Land? Vielleicht sind es Großbauern mit einem halben Kleinstaat Bauerwartungsland, die hätten an einem schwulen Sohn sicher sehr zu knabbern.“

„Schwul...“ Ich überlegte. „Vielleicht ist es das. Er kam mir nicht so vor, und der schmachtenden Dietlinde wohl auch nicht, aber ich hab kein gutes Auge dafür. Tuntig wirkt er nicht.“

„Tuntig sind die wenigsten“, sagte Bettina. „Hat er denn keine echte Freundin, die er dafür nehmen kann?“

„Offenbar nicht. Ja, ihr könntet Recht haben. Entweder wäre die Freundin das Ideal der Eltern, oder sie ist ein Freund – und den kann er ja schlecht in Fummel und Perücke stecken, oder?“

Ein Käfig voller Narren“, warf Anke entrückt ein. „Sollte man sich wieder mal anschauen. Aber das französische Original, natürlich. Das Remake ist dämlich.“

„Remakes sind immer dämlich“, antwortete Hannah, und mein Dilemma war sofort vergessen. Nach einigen Bieren mehr waren wir bei der Psycho-Neuverfilmung gelandet, und Hannah zog nicht mehr ganz sauber artikulierend einen eleganten Bogen zum ursprünglichen Thema: „Vielleicht wohnen die in einem Haus wie Bates´ Motel, und er hat auch so eine giftige Mutter? Und der Vater ist ausgestopft – Pass bloß unter der Dusche auf!“

„Herzlichen Dank, das animiert mich jetzt richtig, ihm zuzusagen. Was soll ich denn jetzt machen? Helft mir doch!“

„Lass es“, sagten Anke und Bettina.

„Mach´s“, sagte Hannah mit funkelnden Augen.

„Klasse“, seufzte ich, „ihr seid auch zu nichts zu gebrauchen.“

„Wieso? Zwei zu eins, du bleibst zu Hause. Wir könnten an Heiligabend hierher gehen, hier ist´s bestimmt lustig.“

„Zwei zu zwei“, verbesserte ich, „ihr habt mich so neugierig gemacht, dass ich jetzt doch Lust habe. Obwohl ich weiß, dass das der letzte Schwachsinn ist.“

„Na, wenn du dafür bist? Bei dir liegt schließlich die letzte Entscheidung. Dann mach´s, aber jammere nachher nicht rum.“

„Ich jammere nie rum“, entrüstete ich mich.

Jetzt war ich so schlau wie vorher, ärgerte ich mich zu Hause. Sicher, die anderen hatten Recht: Wenn sie mir zurieten, fände ich Einwände, wenn sie mir abrieten, weckte das nur meine Lust. Aber ich hatte auf neue, unwiderlegliche Argumente gehofft. Frustriert putzte ich mir die Zähne und streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus. Pumuckl! Sähe ich bürgerlicher aus, hätte Praetorius mich nie gefragt, und ich hätte Weihnachten meine Ruhe. Aber so? War es vernünftig oder bloß feige, nein zu sagen?

Am Samstag beschloss ich, mich gründlich abzulenken, nachdem ich endlich aus dem Bett gefunden und die Wohnung eher oberflächlich durchgeputzt hatte. Ich trug den Müll weg, schrubbte die Küche keimfrei und ging daran, einen großen Klumpen Mürbeteig zuzubereiten.

Während er im Kühlschrank lag, baute ich alles auf, was ich mir an Unwiderstehlichem gekauft hatte – Kakaopulver, Krokant, gehackte Mandeln, gehackte Nüsse, ganze Mandeln und ganze Nüsse, Schokostreusel, Liebesperlen, bunten Zucker, Marzipanrohmasse, Kuchenaroma, Oblaten, Ausstechförmchen, extra feine Marmelade, Backpapier, Nudelholz, extra Mehl und die Zutaten für Makronen und andere Leckereien. Außerdem alle frisch gespülten Blechdosen aus dem Keller.

Dann drehte ich das Radio so laut, dass ich es auch noch in der Küche hören konnte, und ging an die Arbeit, bald voller Mehl, klebrig und schwitzend. „Es ist vierundzwanzig Uhr. Sie hören eine Zusammenfassung wichtiger Nachrichten des Tages. Berlin...“

Was?? Mitternacht? Ich sah mich verstört um und spürte erst jetzt, dass mir der Rücken wehtat. Immerhin war alles voll, Küche, Wohnzimmer, Flur. Voller Bleche, Auskühlgitter und halb gefüllter Dosen. Und es roch mehr als penetrant nach Plätzchen. Jetzt konnte ich aber nicht ins Bett gehen, die Spitzbuben brauchten noch Puderzucker, bevor sie ausgekühlt waren, die Marzipansterne hatten noch keine Marzipanschicht, und die Monde mit rosa Glasur und Liebesperlen waren auch noch ganz nackt.

Also setzte ich mich wieder hin und verzierte in mühevoller Kleinarbeit alle Plätzchen fertig; den Rest Marzipanrohmasse aß ich schließlich einfach auf, weil ich plötzlich brüllenden Hunger verspürte.

Immerhin hatte ich die ganze Zeit nicht an diesen Weihnachtsplan gedacht, nur an die Plätzchen, daran, wem welche am besten schmeckten und welche Songs im Radio ich gut genug kannte, um mitzupfeifen. Ich überzog die Kokosmakronen noch mit Vollmilchcouverture und schichtete alles, was trocken war, in die Blechdosen. Der Rest konnte erstmal stehen bleiben – ich musste ins Bett, mittlerweile war es kurz vor zwei!

Alle Weihnachtspflichten erledigt, dachte ich zufrieden – nein, eine Entscheidung stand noch aus. Heute nicht mehr! Entschlossen drehte ich mich zur Wand und machte das Licht aus.

Am Sonntag war das Problem leider sofort wieder da. Sollte ich? Sollte ich nicht? Brauchte ich mehr Informationen? Wäre ich feige? Oder leichtsinnig? Was konnte Praetorius passieren? War das mein Problem? Der Kerl war schließlich erwachsen! Oder war das eine Variante von Soll ich meines Bruders Hüter sein? Musste man den durchgeknallten Kerl nicht vor sich selbst bewahren? Vielleicht hatten die anderen ja Recht, und ein riesiges Erbe ging ihm so verloren?

Das Telefon riss mich aus diesen Überlegungen, die ich so ähnlich nun weiß Gott schon oft genug angestellt hatte. Fluchend stieg ich aus dem Wasser, wickelte mich in ein Handtuch und tappte, nasse Spuren hinterlassend, ins Wohnzimmer.

Achim war´s. „Hab ich dich geweckt?“ Das klang reichlich spitz, fand ich.

„Nein, aus der Wanne geholt. Ich hab die halbe Nacht gebacken.“

„Au, super – kriegen wir welche, auch wenn wir dich alleine lassen?“

„Klar, ich bringe nächsten Sonntag welche vorbei. Was gibt´s denn?“

„Beim Haberecker soll es eine Tür geben. Hol mich in einer halben Stunde ab, dann schauen wir, ob sie was taugt, okay?“

„Klar. Langsam wird es echt nötig, die alte ist schon total undicht.“

„Zieh dir was an und schwing deinen Hintern rüber!“

Eine neue Tür! Wenn ich Glück hatte, musste man sie nicht einmal umspritzen!

Lieber Gott, mach, dass sie passt! Und mach, dass sie schwarz ist! Und keine Rallyestreifen hat, fügte ich nach kurzem Nachdenken noch hinzu, während ich in herumliegende Jeans fuhr und mir irgendeinen Pullover über den Kopf zerrte. Achim stand schon auf der Straße, glücklicherweise, denn er wohnte in einer ähnlich miesen Gegend wie ich, und da waren immerzu alle Parkplätze belegt, zum Teil mit Fahrzeugen, die schon den roten Punkt trugen. Ihre klapprigen Balkone aufräumen konnten die Leute nicht, aber Autos mussten sein! Wer war ich, ihnen das übel zu nehmen?

Er stieg ein, wir röhrten davon. „Wir sollten uns mal deinen Auspuff anschauen“, meinte er nachdenklich, nachdem er dem sonoren Sound eine Zeitlang gelauscht hatte. „Nach eurem Skiurlaub.“

Beim Haberecker sah es schaurig aus. Er hatte den wüstesten Schrottplatz weit und breit und scherte sich um keine Auflagen. Immer wieder nahmen wir uns vor, ihn zu boykottieren, weil er sicher auch Altöl einfach in eine Ecke kippte, aber gerade, weil er so einen Saustall hatte, fand man bei ihm die besten Sachen. Ein anderer hätte die Tür längst entdeckt, gesichert und für teures Geld an einen Liebhaber verscheuert.

Ich parkte in sicherem Abstand – nicht, dass jemand anfing, mein Prachtstück auszuschlachten! – und folgte Achim, der zielstrebig an den Pressen vorbei auf den hinteren Zaun zusteuerte, wo ein übel zugerichteter BMW (gleiches Baujahr!) mehr lag als stand – die Reifen waren schon weg. Die Motorhaube, der linke Kotflügel und die Fahrertür waren recht faltig, da musste ihm einer reingebrettert sein, aber die rechte Seite war tadellos. Natürlich war er nicht schwarz, sondern feuerrot.

„Man kann nicht alles haben“, murmelte ich und öffnete die Tür.

Haberecker kam angestiefelt. „Was brauchen Sie denn?“

„Die Beifahrertür“, antwortete ich. „was wollen Sie denn dafür?“

„Zwanzig Euro?“ Ich drückte ihm den Schein in die Hand.

„Wie schaut´s mit der Auspuffanlage aus?“, fragte Achim.

„Die ist hin“, war die lakonische Antwort. Wahrscheinlich war das gelogen, er wollte bloß nicht, dass wir den Wagen auf die Seite legten – aufbocken konnte man hier nichts mehr. Aber diskutieren konnte man mit dem Haberecker nicht. Wir gingen daran, die Tür auszubauen, Achim überlegte, wer von seinen Kumpels Beziehungen zu einer Lackiererei hatte und kam schließlich auf Klausi. „Pass auf, ich lass sie schwarz spritzen. Kostet noch einen Zwanziger, denke ich. Und nächsten Sonntag bauen wir sie ein, okay?“

„Okay. Danke!“

„Und dafür krieg ich eine Dose Plätzchen ganz für mich allein!“

„Eine heute und eine nächsten Sonntag. Schau mal auf den Rücksitz!“

Er guckte und strahlte. Wahrscheinlich hatte er wieder überhaupt nichts zu essen im Haus – mit Einkaufen (außer Enteisungsspray, Lackpflege, Motoröl und ähnlichem) hatte er es gar nicht.

Wir wuchteten die Tür auf den Rücksitz und nahmen noch schnell die Klappe vom Handschuhfach mit (meine schloss nicht mehr richtig), dann fuhr ich Achim wieder nach Hause, wo wir die Tür in seinem Wagen verstauten, der auch nur geringfügig jünger war als meiner und mal einen neuen Kotflügel hinten links vertragen konnte.

Achim verschwand mit der Plätzchendose, und ich fuhr nach Hause, parkte direkt vor dem Haus und wechselte gemütlich die Handschuhfachklappe aus. Bei der Gelegenheit fand ich auch gleich drei Eiskratzer, mein Türschlossspray, mehrere müllreife Lappen und zwei verbogene Parkscheiben wieder, außerdem einen Stadtplan von Passau, der mich zunächst vor ein Rätsel stellte: Wann war ich denn in Passau – ach ja, Pfingsten, Regina und Sebastian besuchen und das neue Baby bewundern.

So, das Auto war einigermaßen vorzeigbar. Und bald würde es richtig schön werden, mit der neuen Tür. Hoffentlich traf Klausi die Farbe – auch Schwarz war nicht gleich Schwarz.

Tja, Mittag – und wie sollte ich mich nun entscheiden? Vernünftig oder feige?

Ich hatte einfach nicht genügend Fakten, das war das Problem! Dr. Praetorius sollte mir erst einmal genauer erklären, was er sich vorstellte, was dabei herauskommen sollte und wie er sicherstellen wollte, dass man in der Firma nichts davon erfuhr.

Also sollte ich ihn morgen um ein Gespräch bitten. Unter welchem Vorwand für Gundler? Ach, da fand sich schon irgendein strittiger Fall. Außerdem war Gundler extrem zahm, seitdem wir ihm sein Kabuff aufgeräumt hatten.

Fest der Liebe

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