Читать книгу Fest der Liebe - Elisa Scheer - Страница 5
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ОглавлениеGundler war es am nächsten Morgen auch wirklich ziemlich egal, was ich trieb; nur Dietlinde guckte leicht erstaunt, als ich mich trotz meines vollen Schreibtischs erhob und mich auf den Weg in den siebten Stock machte.
Der Drachen fauchte, als ich hereinkam. „Haben Sie einen Termin?“
„Nein. Aber ich bin sicher, dass Dr. Praetorius mich sehen möchte.“
„Glaube ich nicht. Er hat zu arbeiten und will nicht gestört werden.“
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie fragen ihn, und wenn er wirklich nicht gestört werden will, dann gehe ich wieder.“
Neue Dampfwolke. „Wenn er erfährt, dass Sie mich nicht vorgelassen haben, obwohl es wichtig ist, wird er auf Sie sauer werden.“
„Worum geht es denn?“ Dieses Misstrauen!
„Um ein wichtiges PR-Projekt.“ Direkt gelogen war das nicht. „Und was für ein Projekt soll das sein?“
„Das ist noch nicht spruchreif. Sie werden zu gegebener Zeit informiert werden.“ Herrlich arrogant – und da konnte sie dann lange warten! „Seit wann haben Sie denn etwas mit PR zu tun? Sie sind doch bloß eine aus Privat I, oder?“
„Wir brechen verkrustete Strukturen auf“, behauptete ich vergnügt und wartete. So, dazu fiel ihr wirklich nichts mehr ein. Unwillig erhob sie sich, der jerseyumspannte üppige Hintern strahlte Missbilligung aus, als sie klopfte.
Leise Verhandlungen, dann kam sie wieder. „Sie sollen reinkommen.“
Ich lächelte sie triumphierend an und schwebte ins Allerheiligste. Praetorius kam mir entgegen. „Frau Landmann – schön, dass Sie mich aufsuchen! Kommen Sie mit dem Projekt gut voran?“
Hinter mir schloss sich die Tür betont langsam und leise. „Setzen Sie sich doch. Und, haben Sie sich schon entschieden?“
„Nein“, bekannte ich, „ich weiß nicht, ob ich lieber vernünftig oder mutig sein will. Ich brauche mehr Informationen.“
„Kein Problem. Was möchten Sie denn wissen?“
„Welches Auftreten Sie von mir genau erwarten, was passieren wird, passieren soll und schlimmstenfalls passieren könnte, wie Sie verhindern wollen, dass sich das alles herumspricht, wie das Ganze überzeugend beendet werden soll – und wann – eben alles.“
„Puh! Ich glaube, das können wir kaum hier klären.“ Er warf einen misstrauischen Blick zur Tür.
„Der Drache lauscht wohl?“
„Das glaube ich auch. Passen Sie auf – haben Sie heute – äh, nein, Sitzung. Morgen Abend? Hätten Sie da Zeit?“
„Sicher. Hier?“
„Zu ungemütlich. Ich dachte, wir veranstalten eine Art Arbeitsessen.“
„Nichts dagegen – wo? Es muss ja ein Ort sein, wo uns niemand sieht, nicht?“
„Nur niemand aus der Firma“, korrigierte er mich freundlich.
„Das meine ich doch“, antwortete ich ungeduldig.
„Sie wohnen in Selling, oder?“
„Ja“, gab ich zu.
„Was gibt es dort im Moment Geeignetes?“
„Wenig. Den Dortmunder Hof, aber das Essen taugt eher wenig, glaube ich. Und das Venezia, mit der übelsten Pizza weit und breit. Und das Restaurant Stadt Essen. Keine Ahnung, aber es schaut teuer aus. Oder in der Stadt das Ratlos – nein.“
„Schlecht?“
„Nein, super, aber da kenne ich zu viele Leute.“
„Und Sie wollen nicht mit mir gesehen werden?“ Was grinste er denn so unverschämt? „Wollen Sie das vielleicht?“, konterte ich. „Wie soll ich das denn erklären, wenn ich doch Stillschweigen bewahren soll?“
„Doch nur innerhalb der Firma. Aber gut, nehmen wir die Stadt Dortmund. Um sieben? Soll ich Sie abholen?“
„Treffen wir uns dort“, schlug ich hastig vor. Meine eher schäbige Wohnung musste er ja nicht sehen – obwohl er sich sicher nichts anderes vorstellte, wenn er mich zu seiner Proletenbraut erkoren hatte.
Er grinste schon wieder. „Wie Sie möchten. Um sieben, ich bestelle einen Tisch. Codewort Drache!“ Ich musste lachen. „Gut, das kann ich mir gerade noch merken. Bis morgen dann – und noch frohes Schaffen!“
„Gleichfalls. Über die Arbeitsverteilung bei Privat I/II sollten wir auch mal reden.“ Ich feixte den Drachen an, der, kleine Rauchwölkchen ausstoßend, am Schreibtisch saß und mit gerunzelter Stirn in Praetorius´ Terminkalender starrte. Mir gönnte er nur einen abwesend-gereizten Blick, der sich in nackte Panik verwandelte, als die Stimme von drinnen sagte: „Frau Treml, kommen Sie bitte herein?“ Schadenfroh hüpfte ich die Treppen hinunter und schlüpfte wieder an meinen Platz. „Wo warst du denn?“, fragte Dietlinde leise, während ich hastig Umschläge aufschlitzte. „Beim Chef.“
„Immer noch das Geheimprojekt?“ Ich nickte und studierte das oberste Schreiben. „Du stehst auch auf ihn!“
„Nein, ich gönn ihn dir. Das ist rein beruflich.“
„Hat Rainer auch immer gesagt, und dann hab ich ihn auf seiner Assistentin erwischt. Rein beruflich!“
„Dietlinde, hör schon auf. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich bei diesem Projekt mitmachen will!“
„Kann ich da nicht auch mitmachen?“
Ich stellte mir Praetorius vor, wie er bei seinen Eltern vor der Tür stand, an jedem Arm eine Freundin. Sehr überzeugend!
„Nein“, ich musste lachen, „leider nicht. Komm, nun reg dich nicht auf, so toll ist das gar nicht. Bloß Mehrarbeit. Apropos Arbeit...“ Ich zeigte auf ihren überquellenden Schreibtisch. Routine, Routine – das einzig Aufregende in dieser Woche wäre dieses „Arbeitsessen“ in der Stadt Dortmund. Der Name klang irgendwie nach Kassler mit Kartoffelbrei und grünen Bohnen, fand ich. Hoffentlich kochten die ein bisschen raffinierter!
Ich schrieb mir eine lange Liste mit allem, was ich wissen wollte, und stand am Dienstagabend pünktlich um sieben vor dem Restaurant. War Praetorius schon da? Ich kannte seinen Wagen nicht – ihm stand ein Siebener laut Firmenhierarchie zu, aber ob er den überhaupt besaß?
Nein, kein Siebener auf dem Parkplatz – ein mehrfach überspritzter VW-Bus, zwei Golfs, einer sauber, einer dreckig, ein Alfa Spider (nettes Wägelchen, dachte ich anerkennend und hätte gerne mal unter die Haube geschaut) und ein klobiger mittelgroßer Mercedes. Das war er wahrscheinlich. Bei Autos hatte er schon mal keinen Geschmack.
Wenn schon, dachte ich und stieg die Stufen zur Bogentür hinauf, sein toller Plan zeugte auch nicht gerade von Verstand, also warum war ich überrascht? Drinnen war nicht gerade viel los, aber an einem Fenstertisch ganz hinten sah ich Praetorius, der grüßend die Hand hob.
„Guten Abend!“ Er erhob sich sogar, als ich mich näherte, und rückte mir den Stuhl zurecht. „Das ist nicht notwendig“, bemerkte ich sofort, „ich hab schon im Kindergarten gewusst, wie man sich alleine auf einen Stuhl setzt.“
Er grinste und setzte sich selbst wieder hin. „Nur weiter so! Sie sind perfekt!“
„Bitte?“
„Wenn Sie die hardcore-Emanze spielen wollen, fallen meine Eltern tot um. Meinen Segen haben Sie!“
Er reichte mir die Karte, und ich schlug sie ohne große Hoffnungen auf, weil mir das spießige Ambiente und die vielen leeren Tische schon verdächtig vorgekommen waren. Sehr viele Gerichte – zu viele, fand ich: Das konnten die doch nie alles frisch auf Lager haben? Ich entschied mich für eine Nudelpfanne mit Käse und Brokkoli, da konnte man eigentlich nichts falsch machen, und dazu für eine Orangenschorle. Die musste ich dem befrackten Ober allerdings erst erklären. Naserümpfend schob er ab.
„An die Arbeit“, verkündete ich dann und wedelte Praetorius´ Zigarettenrauch beiseite. „Jetzt sofort?“
„Dafür sind wir doch hier, oder? Ich glaube nicht, dass das Essen so eine Offenbarung sein wird.“
„Ich auch nicht. Aber wir könnten doch erst einmal ein bisschen plaudern und uns kennen lernen?“
„Das meine ich doch – das ist doch die Arbeit!“
Seine Augen verengten sich leicht. Jaja, der Rauch! Sollte er es eben aufgeben, wäre eh gesünder. „Was wollen Sie denn wissen?“
„Zunächst mal, was Sie eigentlich mit dieser Aktion genau anstreben."
„Zielbeschreibung?“
„Richtig.“
Praetorius überlegte. „Ich möchte, dass meine Eltern erkennen, dass mein Geschmack in punkto Frauen nicht ihrem eigenen entspricht.“
„Und welchen Geschmack möchten Sie präsentieren? Ich meine, wie soll ich auftreten?“
Er kräuselte einen Mundwinkel. „So wie Sie sind. Frech, rothaarig, in Jeans.“
„Ist das nicht stark übertrieben?“
„Warum?“
„Naja – ich denke mal... Sie kommen ja recht chefmäßig daher...“
„Danke“, war der trockene Kommentar. „Weiter?“
„Dann gehe ich davon aus, dass Ihre Eltern sozusagen was Besseres sind – oder sich dafür halten. Und Ihnen eine – also, eine Dame, was immer das ist, zugedacht haben. Bin ich da nicht ein zu starker Kontrast?“
„Warum denn? Sie sind nur ein bisschen flotter und deutlich intelligenter als die beiden Kandidatinnen, die meinen Eltern vorschweben. Sie haben Recht, die sind wirklich Society-Zicken, aber Sie kommen ja nun auch nicht gerade aus dem Slum, oder?“
„Na, Selling ist nicht gerade eine schöne Gegend.“
„Ich weiß, ich hab während des Studiums auch mal hier gewohnt. Ich fand es eigentlich ganz gemütlich. Ein bisschen spießig vielleicht, aber mir hat es ganz gut gefallen. Und die Miete war niedrig.“
Ach? Wie demokratisch... „Was machen Ihre Eltern?“
„Mein Vater ist Unternehmensberater, und meine Mutter spielt die Dame des Hauses. Meine Eltern leben in Rothenwald, kennen Sie das?“
„Ein paar Kilometer hinter Leiching, oder? An der Bundesstraße? Als nächstes kommt dann Unterfreiharting, glaube ich.“
„Sehr gut. Genau dort. Und meine Mutter glaubt, sie sei gleichsam die Herrin über den Ort, die Spitze der Gesellschaft. Sie würde es nie zugeben, weil es ja auch völlig lächerlich ist, aber sie bildet es sich insgeheim eben doch ein.“
„Und Sie wollen sie desavouieren?“
„Ach nein, den Leuten in Rothenwald kann sie ja vorspielen, was sie will. Sie soll nur verstehen, dass ich keine Lust habe, ihr bei ihrer Imagekampagne als Werkzeug zu dienen. Königliche Eheabsprachen und so – nicht mit mir!“
„Eins verstehe ich nicht: Warum sagen Sie ihr das nicht einfach?“
Praetorius schnaubte. „Glauben Sie, das habe ich noch nicht versucht? Sie ist dermaßen taub auf diesem Ohr, das ist schon gar nicht mehr wahr.“
„Aber kann sie Ihnen denn etwas? Ich meine, ich weiß nicht, wie alt Sie sind, aber volljährig doch auf jeden Fall -“
„Einunddreißig.“
„- und Sie haben einen recht anständigen Job. Wie kann sie Sie denn zwingen?“
„Zwingen kann sie mich nicht. Nur höllisch nerven.“
„Und warum fahren Sie dann hin? Ich kenne jede Menge Leute, die Weihnachten nicht zu ihren Eltern fahren. Oder nur ganz kurz und dann ins Ratlos gehen oder eine Alternativfete machen. Hängen Sie so an Ihrem Vater oder Ihren Brüdern?“
„Woher wissen Sie – ach so, das hab ich ja schon erzählt. Nein, es gibt ohnehin immer nur Streit. Meine Brüder sind dauernd verzankt, und wer in die Schusslinie gerät, ist verloren. Und man gerät unweigerlich in die Schusslinie. Meinem Vater ist alles egal, außer dass er mich unbedingt als Nachfolger sehen will, wozu ich keine Lust habe -“
„Sie sind der Älteste?“
„Ach wo, der mittlere Sohn. Albert ist der älteste, aber mein Vater ist mit ihm nicht zufrieden, keine Ahnung, warum. Und Wenzel ist ein kleiner Idiot.“
„Noch ein Kind?“
„Nicht direkt, er ist achtundzwanzig. Und dann gibt´s noch Tante Amalie, eine Tante meiner Mutter. Amalie von Hauenfeld, Mutters ganzer Stolz – damit hält sie sich nämlich für adelig. Amalie ist ein boshaftes altes Luder, aber manchmal ganz erheiternd – wenn sie gerade auf jemand anderem herumhackt.“
„Puh – da freut man sich ja wirklich auf besinnliche Festtage. Und wie erklären Sie Ihrer Familie, warum dann aus unserer Beziehung nichts wird?“
„Bitte?“
„Na, haben Sie geglaubt, ich komme zu jedem Familienfest mit und wir täuschen auch noch eine Hochzeit vor?“
Er sah mich wie vom Donner gerührt an. Ich sprach gleich weiter: „Obwohl – ich kenne einen, der kann herrlich Priester spielen, das macht er im Fasching immer... und später dann ein Sofakissen unters Sweatshirt – und ein Baby kann man sich sicher ausleihen. Hatten Sie sich das so vorgestellt?“
Er lachte schallend. „So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich fürchte, Sie haben Recht, da brauche ich noch eine Lösung. Aber die Sache mit dem Sofakissen und dem Leihbaby hat etwas.“
Die weitere Diskussion wurde vom Essen unterbrochen, das mehr oder weniger lauwarm und zu schwach gewürzt auf den Tisch kam. Immerhin konnte man es essen, das war mehr, als man von unserem Kantinenfraß sagen konnte. „Dass der Speiseplan ab Januar grundlegend geändert wird, hab ich Ihnen schon erzählt, oder?“
Ich nickte kauend und schluckte hastig herunter. „Ja, und das finde ich sehr gut. Prompte Reaktion.“
„Wir haben zu wenige Leute, die Missstände nach oben weiter geben. Viele Mitarbeiter meckern nur vor sich hin und beschweren sich nicht offiziell – und wir können nicht ändern, wovon wir gar nichts wissen.“
„Richten Sie einen Kummerkasten ein. Die Zettel Marke Sowieso telefoniert privat und arbeitet nichts können Sie ja immer noch wegschmeißen.“
„Gute Idee. Und die Arbeitsverteilung zwischen Privat I und II kann so auch nicht bleiben, das nehme ich mir nach Weihnachten vor.“
„Ihren Drachen könnten Sie auch mal umerziehen – oder wollen Sie so fanatisch abgeschirmt werden?“
„Großer Gott, nein! Macht sie sich so mausig?“
„Gewaltig. Man glaubt wirklich, man habe um eine Audienz beim Papst angesucht.“ Praetorius grinste wieder und sah dabei Jahre jünger aus. „Passt doch, oder?“ Ich musste auch lachen und hoffte, dass mir kein Brokkoli an den Zähnen klebte.
„Wie haben Sie sich jetzt den Ablauf vorgestellt?“
„Nun, wir fahren am Dienstagmittag hinaus, Mutter wird Sie frostig begrüßen, sich aber zusammenreißen, weil sie ja eine Dame von Welt sein will. Sollte sie eine der beiden Wunschschwiegertöchter eingeladen haben, muss sie sie wieder ausladen. Ist doch peinlich, wenn ich schon eine Freundin mitbringe, oder? Wir Buben schmücken unter viel Gezänk den Baum, es gibt reichlich zu essen, eine etwas verkniffene Bescherung, spitze Bemerkungen von Tante Amalie, eine kalte Nacht, das Haus ist schwer heizbar, Spaziergänge im Schnee -“
Ich gab einen höhnischen Laut von mir. „Haben Sie schon mal Weihnachten im Schnee erlebt? Regen, meinten Sie wohl!“
„Nein, im Schnee. Dieses Jahr wird es schneien. Und ich kann mich erinnern, als ich in der ersten Klasse war, konnte ich meinen neuen Schlitten am ersten Feiertag ausprobieren, also gab es – Moment – 1977 weiße Weihnachten.“
„Tolle Leistung. Jaja, das Langzeitgedächtnis hält sich ja immer am besten.“
„Genau diesen Ton, bitte! Meine Eltern können schlecht protestieren, aber im Stillen werden sie verzweifelt sein und wissen, dass sie mich keiner Frau von Rang mehr anbieten können. Hoffe ich wenigstens.“
„Und wenn sie echt sauer werden? Sie zum Beispiel enterben?“
„Schön wär´s! Ich pfeife auf das unheizbare Haus und die blöde Unternehmensberatung, aber das machen die nie! Und wenn, müsste man ihnen ja bloß mit der öffentlichen Meinung in Rothenwald drohen. Wo waren wir stehen geblieben – ach ja. Spaziergänge im Schnee, wieder viel zu essen, kleinere Wortgefechte – und am ersten Feiertag abends wird mich jemand anrufen, dass es einen Notfall in der Firma gibt, so bleibt uns eine zweite kalte Nacht erspart.“
Das war ja gar nicht so lange! Aber verlockend klang es wirklich nicht.
Praetorius musste mein Gesicht richtig gedeutet haben, denn er lachte etwas kläglich auf. „Sie haben keine rechte Lust, stimmt´s? Ihnen fällt bloß kein guter Grund ein, abzusagen. Sie haben ja Recht, schöne Weihnachten werden das nicht unbedingt. Ich habe wohl gehofft, dass Sie an diesem Maskenspiel ein bisschen Spaß haben würden.“
„Hätte ich wohl auch. Aber was, wenn uns jemand sieht? Wenn sich das in der Firma herumspricht?“
„Dass wir gemeinsam meine Eltern hereingelegt haben? Wäre das so schlimm?“
„Das auch, weil es dann Ihre Eltern erfahren können, und dann stünden Sie doch wieder genau da, wo Sie jetzt stehen. Nein, ich habe etwas Naheliegenderes gemeint – wenn jemand in der Firma herumtratscht, wir hätten was miteinander? Das schadet Ihrem Ruf genauso wie meinem.“ Und Dietlinde wäre stinksauer auf mich, aber das konnte ich schlecht laut sagen.
„Da haben Sie nicht Unrecht. Es wäre nicht wirklich schlimm, ich meine, wir tun nichts Verbotenes, aber sehr stilsicher ließe es uns nicht wirken.“ Ich warf ihm einen nachsichtigen Blick zu – er stand ja reichlich auf der Leitung.
„Wenn es mal um Ihre Beförderung geht und Sie haben Konkurrenz, wen nehmen die Oberen dann wohl? Den, der die Finger nicht von den Sachbearbeiterinnen lassen kann, oder den anderen? Und ich kann mir jede Zukunft in der Firma abschminken, man würde ja doch nur sagen, ich hätte mich nach oben gevögelt.“
Praetorius verschluckte sich an seinem Wasser und hustete mit hochrotem Gesicht. Ich klopfte hilfsbereit auf seinen Tweedrücken. „Geht´s wieder? Was war denn?“
„Äh – nichts. Nur schade, Ihre Wortwahl hätte unser Weihnachtsfest doch sehr
belebt.“
„Weil ich gevögelt gesagt habe? Ich bitte Sie – da fallen Ihre Eltern in Ohnmacht?“
„Und wie! Und Tante Amalie kräht vor Begeisterung – oder kippt tot vom Stuhl, das kann man nie so genau sagen.“
„Und warum hätte? Noch hab ich nicht nein gesagt.“
„Sie werden aber. Glauben Sie, ich merke nicht, wie Sie sich eine Rückzugsposition aufbauen?“
„Das sollte ich wohl“, seufzte ich, „aber auch wenn ich mich damit total in die Scheiße reite – ich kann einem guten Joke nicht widerstehen. Ich mach´s. Und Sie sind für alles verantwortlich, was daraus an Katastrophen entsteht!“
„Selbstverständlich.“
„Und das möchte ich bitte schriftlich!“
„Warum das denn?“
„Weil es garantiert einen Riesenärger gibt, und Sie mir dann die Schuld in die Schuhe schieben wollen. Ich hab früher genug Blödsinn angestellt, ich kenne das. Hinterher hatte ich immer den Dreck im Schachterl. Das möchte ich dieses Mal bitte vermeiden.“
„Gut, ich gebe es Ihnen schriftlich. Morgen. Und Sie machen wirklich mit?“
„Ja, ich mache mit. Ich hab sonst nichts vor.“
„Ihre Familie fährt Skilaufen, das haben Sie erzählt – und Ihr Freund? Hat der auch keine Zeit?“
„Ich hab im Moment keinen. Was ist mit Ihnen?“
„Mit mir?“
„Na, nahe liegend wäre doch, dass Sie Ihre reale Freundin mitnehmen – ist die genau, was Ihre Mutter sich wünscht? Oder noch furchtbarer als ich? Oder keine Freundin, sondern ein Freund?“ Er verschluckte sich schon wieder.
„Mit Ihnen essen zu gehen, ist ja lebensgefährlich“, japste er dann, „was meinen Sie denn damit? Glauben Sie, ich bin schwul?“
Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, das kann mir ja auch egal sein, nicht? Nur brauche ich die Fakten, und dazu gehört auch, warum Sie eine Leihfreundin brauchen.“
„Also, zu Ihrer Information“, begann er dann, und in seiner Stimme lag ein scharfer Unterton, „ich hin eindeutig hetero, aber ich habe zur Zeit keine Freundin. Die Gründe tun hier wohl nichts zur Sache.“
„Ist ja gut, regen Sie sich bloß nicht künstlich auf. Ich will doch nicht wissen, warum Sie keine Freundin haben, ich wollte auch nichts über Ihre sexuellen Vorlieben wissen – aber wenn plötzlich eine reale Freundin in Rothenwald aufgetaucht wäre, hätten wir ja doch etwas herumgestottert. Da sie nicht existiert, ist das Problem damit abgehakt. Zufrieden?“
„Zufrieden. Sie handhaben das Ganze recht geschäftlich.“
„Wie denn sonst?“, fragte ich erstaunt, „Sie sind doch der Chef, oder? Also ist es geschäftlich, auch wenn es sich in der Firma nicht herumsprechen sollte.“
„Heißt das, Sie betrachten die Angelegenheit als Überstunden?“
Ich grinste. „Klar. Als unbezahlte, keine Angst. Ich denke ja, dass ich Kost und Logis kriege, oder? Natürlich, wenn Ihre Mutter mich noch vor der Bescherung vor die Tür setzt, erwarte ich ein Zugticket von Ihnen. Zweiter Klasse genügt aber.“
„Nehmen Sie denn gar nichts ernst?“
„Ich hab´s durchaus ernst gemeint“, versicherte ich ihm und schob meinen halb leeren Teller beiseite. „Und wenn Sie mit Frau Schäfer abends was unternehmen, ist das dann auch geschäftlich?“
„Frau Schäfer ist eine Kollegin. Und eine Freundin. Natürlich ist das etwas anderes. Was wollen Sie denn eigentlich hören?“
„Weiß ich auch nicht so genau“, murmelte er. „Das jedenfalls nicht.“
„Tut mir Leid. Aber wenn Sie dachten, ich mache das aus einem fehlgeleiteten Helfersyndrom heraus oder so – sorry. Das ist aber doch auch reichlich irrelevant. Erzählen Sie mir lieber was über den Dresscode.“
„Dresscode?“
„Na, wie soll ich mich herrichten? Ich kann schon eine gewisse Bandbreite anbieten.“
„Was würden Sie vorschlagen?“
„Ich kenne doch Ihre Eltern nicht! Ganz durchschlagend wäre sicher ein Jogginganzug à la Erkan&Stefan, dazu Kaugummiblasen und dicke Turnschuhe. Ich kann aber auch die Kleinbürgertochter geben, die die feine Dame markiert. Leicht overdressed, Polyester statt Seide, Farben, die einen Hauch zu grell sind. Öko kann ich noch bieten, wenn ich diese Birkenstockdinger nicht weggeschmissen habe... Oder die klassenbewusste Proletarierin, Marke Parteivorstand der PDS. Was hätten Sie gerne?“
Er lächelte versonnen. „Können Sie sächseln?“
„Nein, so weit reicht es wieder nicht. Also, was soll es sein?“
„Nichts davon. Seien Sie ganz normal, ziehen Sie an, was Sie auch sonst an Weihnachten angezogen hätten.“
„Heißt das, das ist schon schlimm genug?“
„Unsinn. Aber wenn Sie im Jogginganzug auftreten – so sehr mich das reizen würde – wird meine Mutter nur misstrauisch. Ich will ja nicht zeigen, dass ich keinen Geschmack habe, sondern dass ich normale Frauen mag."
Ich schrieb das auf. „... normale Frau. Soll ich von Haushalt und Kinderchen träumen oder die Karrierefrau mimen?“
„Wie Sie wollen.“
„Dann werde ich nach Häuslichkeit lechzen. Mit meinem Job wirkt Karrieregeilheit auch ein bisschen albern.“
„Und, lechzen Sie in Wirklichkeit auch?“
„Ach wo. Ich weiß gar nicht, was ich will. Aber ich krieg das schon überzeugend hin, keine Sorge.“
„Ich mache mir keine Sorgen. Was wünschen Sie sich zu Weihnachten?“
„Bitte?“
„Na, wir brauchen doch Geschenke, oder?“
„Unsinn. Die haben wir uns natürlich schon am Morgen überreicht. Das werde ich mädchenhaft kichernd berichten. Was könnten Sie mir geschenkt haben – Moment... ist Ihre Mutter prüde?“
„Ziemlich.“
„Dann Wäsche, würde ich vorschlagen. Und was haben Sie gekriegt?“
Er dachte nach. Ziemlich lange, dann gab er auf.
„Keine Ahnung. Helfen Sie mir!“
„Mein Gott, was hat Ihnen Ihre letzte Freundin denn zu Weihnachten geschenkt?“
„Sich selbst, auf einem Silbertablett.“ Er errötete leicht.
„Nicht übel, aber das können wir nicht nehmen, dann kippt ihre Mutter aus den Latschen. Außerdem bin ich nicht der Typ, das kauft keiner. Was kriegen Sie sonst so?“
Er zuckte die Achseln. „Unter uns Brüdern haben wir die Schenkerei irgendwann eingestellt, meine Eltern – tja. Wertpapiere und so. Tante Amalie verteilt ausgewählte Stücke aus ihrem ererbten Silber. Das inspiriert mich nicht. Was bekommen Sie?“
„Das weiß ich doch noch nicht“, entgegnete ich empört. „Mein Bruder kriegt Oldtimermodelle, mein Vater etwas für seine Modelleisenbahn, mein Großvater eine Flasche Williamine – das hat er am liebsten. Haben Sie denn keine Hobbys? Notfalls ein erfundenes?“
„Hm – ich lese viel, aber Bücher? Von der Freundin?“
„Warum nicht? Gesammelte Werke in einer Prachtausgabe?“
„Okay, einen kompletten Tucholsky. Den hasst Mama, sie findet ihn zersetzend.“
„Hoppla – ist sie so drauf?“
„Wie drauf?“
„Na, so braun?“
„Nein, stockschwarz. Aber Sie wissen doch, Soldaten sind Mörder – und mein Urgroßvater war Feldmarschall oder was ähnlich Nutzloses. Und überhaupt, ich glaube, sie hätte gerne wieder einen Kaiser, dann könnte sie so lange taktieren, bis sie bei Hof empfangen wird.“
„Sie sollte eine bayerische Monarchistenpartei gründen, dann hätte sie es nicht so weit bis nach Hofe. Sie mögen Ihre Mutter nicht sehr, oder?“
„Nein. Merkt man das?“
„Och – ein ganz kleines bisschen, wenn man sehr genau hinhört.“ Ich sah ihn ernsthaft an, und dann mussten wir beide lachen.
Schließlich wurde er wieder ernst. „Sie haben wunderschöne Augen.“
„Ja? Soll ich mich an Weihnachten irgendwie besonders schminken?“ Ich griff wieder nach meinem Kugelschreiber.
„Wie Sie wollen. Das hatte jetzt gar nichts mit unserem Projekt zu tun.“
„Ach so. Gut, Geschenke sind erledigt – nein! Soll ich etwas mitbringen, Blumen, Christstern oder so was?“
„Nicht nötig.“
„Wirklich nicht? Um diese Zeit taucht man doch nirgendwo ohne eine Kleinigkeit unter dem Arm auf!“
„Bei uns schon.“ Ich merkte mir im Stillen Plätzchen vor. „Mir fällt ein, ich sollte lieber doch nicht nach Häuslichkeit lechzen, sonst muss ich beichten, dass ich nicht besonders kochen kann. Kann ich nicht einfach woanders arbeiten? Andere Abteilungen, ein paar Stufen höher, vielleicht so wie Gundler?“
„Klar. Niemand in Rothenwald interessiert sich für die Interna der Union Securé, also können wir denen alles erzählen.“
Ich schüttelte innerlich den Kopf. Ich fand alles spannend, was Achim aus seiner Firma zu berichten hatte, und Gundulas Schulgeschichten wären lustig gewesen, wenn sie nicht immer so weitschweifig und mit gelehrten Anmerkungen gespickt erzählt hätte. Was ich in der Versicherung erlebte, wurde ebenfalls mit Interesse angehört und nur etwa jedes dritte Mal mit „Willst du dir nicht mal einen anständigen Job suchen?“ quittiert.
Was hatte Praetorius nur für eine schaurige Familie? Immerhin hatten wir jetzt alles in etwa geregelt und tauschten sicherheitshalber noch unsere E-Mail-Adressen aus, um weitere Absprachen so erledigen zu können. Andernfalls hätte seinen Drachen sicher der Schlag getroffen. Und hier musste ich auch nicht noch einmal essen. Wir vereinbarten, dass er am Dienstag gegen elf bei mir klingeln würde, falls keine Änderungen mehr nötig würden, und ich winkte schon mal der Kellnerin.
„Lassen Sie, schließlich tun Sie mir ja einen gewaltigen Gefallen!“
„Danke schön“, fügte ich mich artig. So hoch war die Rechnung Gott sei Dank ohnehin nicht. Ich wusste nicht, was Leiter der Abteilung bei uns verdienten, aber dafür musste es noch reichen.
„Darf ich Sie nach Hause fahren?“
Hui, schon wieder so artig? „Nicht nötig“, antwortete ich hastig, „ich wohne fast direkt um die Ecke, und durch die Höfe ist es viel kürzer als über die Straßen, da müsste man dann außen herum fahren. Ich laufe schnell, das tut mir nach diesem Essen auch ganz gut.“
„Sie müssen doch nun wirklich keine Angst haben, zu dick zu werden!“
„Hab ich auch nicht. Aber eine gute Idee – ich kann die Diätbesessene spielen: Soll ich?“
„Nein!!“
„Warum so böse?“
„Ich bin nicht böse, aber warum fassen Sie denn jedes Wort von mir als Rollenvorschlag auf?“
„Weil wir ein Theaterstück planen – da ist das doch logisch!“
Er seufzte. „Ich geb´s auf. Gut, laufen Sie. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
„Danke gleichfalls“, antwortete ich wohl erzogen und schlüpfte in meinen Mantel. Dass Männer aber auch nie bei der Sache bleiben konnten! Und uns sagten sie dann, wir seien unlogisch, ärgerte ich mich, während ich unter Teppichklopfstangen und Kinderrutschen durchschlüpfte und unseren Hintereingang anpeilte.
Warum machte er immerzu Bemerkungen, die gar nichts mit dem Projekt zu tun hatten? Dass ich hübsche Augen hatte und ziemlich dünn war, wusste ich auch so, aber das war in diesem Fall doch irrelevant. Ich sollte mich ganz normal geben – sehr hilfreich! Ganz normal war ganz belanglos, damit konnte er seine Eltern jedenfalls nicht das Fürchten lehren.
Was brauchte ich denn? Etwas für die Fahrt, dort konnte ich mich ja wohl umziehen. Fahrt – ganz alltäglich, Jeans, Sweatshirt, Daunenjacke. Meinetwegen ein schönes Sweatshirt und ordentliche Jeans. Vielleicht grauer Cord und das graue Shirt mit dem bestickten Kragen. Heiligabend – das anthrazitfarbene Wollkleid, darüber leuchteten meine Haare auch besonders hübsch. Passende Strumpfhosen plus Reserve, schwarze Lackpumps. Nachtzeug – äh. Sittsam, scharf, schlampig? Im Klartext: Sleepshirt mit ordinärer Aufschrift, weiße Spitze oder Satinschlafanzug in Blau? Sicherheitshalber alles? Dann ging der Koffer nicht mehr zu. Und für drüber brauchte ich auch noch was. Den Schlafanzug, entschied ich und suchte nach dem Hausschlüssel, der sah am unangreifbarsten aus. Praetorius würde noch dumm schauen – wenn wir Pech hatten, hielten die Eltern mich für die ideale Schwiegertochter und nervten unter anderen Vorzeichen nahtlos weiter!
Und den Kimono, der war zwar doof, aber auch aus Satin. Und ebenfalls blau, wenn auch gemustert. Wo hatte ich den eigentlich? Hoffentlich hatte ich ihn nicht in einem Wutanfall in die Altkleidersammlung gegeben, weil er so fürchterlich knitterte! Oder immer noch im Koffer, seit dem Sommer? Hm... vielleicht lag er auch ganz, ganz unten in der Wäschetonne.
Für den ersten Feiertag – Hosen und Pullover Marke Spaziergang im Schnee. Praetorius war verrückt, es schneite garantiert nicht. Oder noch mal ein Kleid? Bei uns gab es mittags Gans in festlicher Kleidung – und dort? Okay, ein zweites Kleid, das silbergraue mit dem schwarzen Spitzenkragen.
Ich stellte fest, dass ich eine Garderobe besaß, als hätte ich mich seit Jahren auf diesen Event vorbereitet. Das verdankte ich Alex, der mich genötigt hatte, mir mehrere Theateroutfits anzuschaffen. Kein Kleid war besonders aktuell, aber das merkte man wohl nicht – ich jedenfalls hätte nicht sagen können, was man in dieser Saison nun Besonderes trug. Die Berichte von den Modeschauen, die ab und an nach den Nachrichten kamen, zeigten ja immer das Gleiche, zaundürre Mädels mit Chiffon über dem nackten Busen. Wer ging denn so zu einem Familienfest? Obwohl, der Gedanke... Nein, so hatte Praetorius das Ganze nicht bestellt, und ich sollte mich doch lieber an die Anweisungen halten.
Die Kleider waren auf jeden Fall noch brauchbar und ich hatte sie auch erst in der Reinigung gehabt. Strumpfhosen, hell- und dunkelgrau, mit Glitzer oder ohne? Sowohl als auch. Kosmetika, ein Buch – nein, zwei. Ein seichtes und ein hochgeistiges, je nachdem, womit ich mehr Effekt erzielen konnte. Im Krebsgang und – und genau, Im Taumel der Leidenschaft. Das hatte mal jemand bei mir vergessen – wer eigentlich? Egal, jetzt konnte es mal was arbeiten. Vielleicht noch eine Einführung in die Versicherungsmathematik? Klasse, aber das holte ich mir aus der Bibliothek, dafür schmiss ich kein Geld raus, ich würde es ja doch nie kapieren. Duschgel, Shampoo, Deo und den übrigen Kram, Schminkzeug... Sollte ich mich richtig gut schminken oder ein bisschen zuviel des Guten tun? Gerade einen Hauch, so, dass es nur so pingeligen Frauen wie Mutter Praetorius auffallen konnte? Ach, ich würde mich an seinen Befehl halten, und der lautete wie immer und ganz normal.
Je näher der Termin rückte, desto nervöser wurde ich. Dietlindes Versuche, herauszukriegen, was eigentlich los war, besserten meine Laune auch nicht, und der Kantinenfraß verdiente vorläufig immer noch einen täglichen Wutanfall. Immerhin wurde am Donnerstag ein ausrangierter englischer Postbriefkasten, feuerrot und schnörkelig verziert, in einer Nische unseres Gangs an die Wand geschraubt, und darauf prangte ein Schild Kummerkasten.
Ich grinste und schrieb sofort ein Zettelchen: Tolle Idee! B. Landmann.
Am Freitagvormittag wurde Dietlinde zum Chef gebeten. Was war jetzt los? Eignete sie sich doch besser für die Rolle? Dann würde ich aber sauer, ich hatte schon jede Menge Strumpfhosen und anderen Kram besorgt und meinen Kimono gefunden, gewaschen und gebügelt. Das wollte ich nicht umsonst gemacht haben! Ich nutzte die Gelegenheit und verehrte Gundler, der verzweifelt mit einer Akte kämpfte, die ihren Inhalt über den Boden verstreut hatte, sein Riesennikolausi.
„Das ist aber lieb von Ihnen. Und ich hab das gar nicht verdient!“
„Doch, haben Sie, Sie sind doch ein netter Chef!“
„Aber diese Akten! Wo ist denn jetzt wieder – ach, es ist zum Verzweifeln. Ich finde das Gutachten -“
„Ist es das hier?“ Ich fischte ein Blatt unter dem Tisch hervor.
„Gott sei Dank. Ach, ich schaffe das alles nicht mehr. Na, nur noch zwei Monate...“
„Zwei Monate? Was ist dann? Machen Sie dann Urlaub?“
„Nein, dann gehe ich in Rente. Aus gesundheitlichen Gründen. Haben Sie das gar nicht gewusst?“
„Nein...“ Ich war etwas benommen. War ein neuer Chef gut oder schlecht? Frischer Wind oder Kasernenhofton? Praetorius war offen für neue Ideen, das war schon mal positiv, aber vielleicht wurde ein echter Kotzbrocken neuer Chef? Oder gar so eine Schnarchnase wie Grasmeier, der schon wieder Zeitung las und wohl glaubte, man sähe es nicht, weil er eine solche Unordnung auf seinem Schreibtisch hatte? Mechanisch heftete ich alles in die Mappe und verschloss sie dann. „Hier, bitte. Ich finde es schon schade. Wir sind doch immer gut miteinander ausgekommen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, das wird Ihnen mit der neuen Leitung sicher auch gelingen. Und der Nikolaus, das ist wirklich lieb von Ihnen!“
Er packte mich und küsste mich kurz auf die Wange. Ich machte mich vorsichtig los und wünschte noch einmal Frohe Weihnachten, dann kehrte ich zu meinen Schadensfällen zurück.
Im Januar würde es wieder endlos Wachsflecken, Brandschäden und zerbrochene Geschenke geben – wenn man etwas nicht umtauschen konnte, schlug man es kurz gegen die Tischkante und ließ die Versicherung zahlen, das kannte ich schon.
Dietlinde kam ja ewig nicht zurück! Hatte sie ihn in die heiligen Hallen mit dem besseren Essen begleiten dürfen? Sogar Gundler musste noch in die normale Kantine, also kursierten zwar wilde Gerüchte über befrackte Kellner, Oben-ohne-Bedienungen (das hatte Tom von nebenan beigesteuert), Kerzenlicht und täglich Hummer, Kaviar und Champagner unter uns Fußvolk, aber niemand hatte das Casino je von innen gesehen.
Ich schrieb Mängellisten wegen fehlender Gutachten, Rechnungen, Bestätigungen und unklarer Tathergänge, warf immer wieder fertige Briefe in den Ausgangskorb und fragte mich, was Dietlinde wohl trieb. Erst kurz vor halb zwei kam sie zurück, ganz benommen wirkend. „Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“
„So ähnlich. Hast du schon gegessen?“
„Nein, ich wollte gerade. Dann warst du nicht im Casino?“
„Im Casino? Nein, warum?“
„Ich dachte nur – dann hätten wir doch endlich mal gewusst, wie es dort aussieht. Na komm, gehen wir. Und du erzählst mir, warum du so verwirrt bist.“
Als wir mit einer matschigen Salatmischung und je einem Rollmops, um den Freitag zu heiligen, an unserem Fenstertisch saßen, grinste sie unsicher. „Rate mal, was war?“
„Praetorius hat dir seine glühende Leidenschaft gestanden“, schlug ich vor.
„Was? Nein, der war so was von sachlich, das war schon fast beleidigend.“
Ach was? Bei anderen Leuten blieb er beim Thema, und mich nervte er mit Abschweifungen? „Dann weiß ich nicht. Habt ihr zusammen den neuen Speiseplan gemacht? Du verstehst ja mehr von ausgewogener Ernährung als ich.“
„Auch falsch. Hast du gewusst, dass der Gundler zum 28.2. aufhört?“
„Ja, hat er mir vorhin gesagt. Was hat das damit zu tun?“
„Rate, wer neuer Abteilungsleiter wird!“
Ich guckte blöde, dann fiel der Groschen und ich starrte sie mit offenem Mund an. „Du? Ehrlich?“
„Ja, ehrlich. Irre, was?“
„Wirklich. Herzlichen Glückwunsch, du kriegst das sicher hundertmal besser hin als der arme Gundler.“
Ja, das meinte ich ehrlich. Aber ich hätte es auch hundertmal besser hingekriegt! Glühender Neid durchzuckte mich, und sofort schämte ich mich, aber ich konnte es nicht ändern: Dietlinde kriegte einen besseren Job, und was kriegte ich? Einen peinlichen Auftritt vor seiner Familie! War ich sonst zu nichts zu gebrauchen? Um Himmels Willen, was für einen Eindruck hatte ich ihm denn vermittelt? Freche Klappe und nichts dahinter? „Kommt das von ihm oder von der Geschäftsleitung?“
„Ich glaube, er hat ein Vorschlagsrecht, und wenn nichts Gravierendes dagegen spricht, folgen sie seinen Vorschlägen, weil er die Abteilung ja kennt. Scheiße!“
„Was denn? Du wirst neue Abteilungsleiterin, mit Glaskabuff und allem, und beschwerst dich noch?“
„Nein, deshalb doch nicht, deshalb bin ich total happy, das hätte ich doch gar nicht zu hoffen gewagt. Ich hab mich ja nicht einmal beworben!“
„Ich auch nicht, ich wusste gar nicht, dass man sich bewerben konnte. Gundler hat mir erst vorhin gesagt, dass er aufhört. Wieso ärgerst du dich dann?“
„Ich hab Zement am Rock. Da oben ist eine obskure Baustelle, irgendwas wird neu gemacht, und ich muss im Vorbeigehen... ob das wieder rausgeht?“
„Mach´s lieber sofort, wenn Zement erstmal aushärtet, wird es schwierig.“
Dietlinde verschwand aufs Klo, und ich konnte mich meinem Frust widmen. Wäre es nicht fair gewesen, allen die Möglichkeit zu geben, sich um Gundlers Nachfolge zu bewerben? Der Job hätte mich auch gereizt. Jetzt durfte Dietlinde ins Glaskabuff, und ich saß immer noch draußen und schlitzte Briefe auf. Und die anderen waren doch so dumpfbackig! Grasmeier und die übrigen Deppen... Na, Heike war noch ganz nett, aber die wartete auch nur, bis es fünf wurde und außerdem, dass sie einer da wegheiratete. Für so blöde hatte ich Praetorius nicht gehalten, aber ich konnte ja nicht hinrennen und quengeln Mama, Mama, ich will auch einen besseren Job!
Mir traute er das also nicht zu: sehr aufschlussreich! Na, ich würde dieses dämliche Weihnachten hinter mich bringen – je näher es rückte, desto mehr grauste es mir davor – und ihn dann ignorieren. Und bis fünfundsechzig Briefe aufschlitzen. Verdammt! Die Abteilungsleitung wäre die einzige Chance gewesen, wenigstens etwas zu werden.
Dietlinde kam zurück, der Rock nass, aber sauber. Ich lächelte, bis mir das Gesicht wehtat. „Noch mal herzlichen Glückwunsch – du hast es wirklich verdient!“ Das hatte sie auch – aber ich hätte es eben auch verdient, wir waren beide gut in unserem Job. Vielleicht hatte ich keine Führungsqualitäten? Hatte Gundler sie empfohlen? Hätte ich früher mit dem Nikolaus rüberkommen sollen?
Ach, jetzt war es ohnehin zu spät! Zu Hause war ich immer noch extrem schlecht gelaunt – auch, weil ich mich über mich selbst ärgerte, dass ich mich nicht neidlos für Dietlinde freuen konnte. Irgendwas hatte ich falsch gemacht, mich nicht als künftige Führungskraft verkauft. Oder hatte sie die bessere Ausbildung? Nein, sie war genau so eine Studienabbrecherin wie ich, und sie hatte die gleichen paar Semester Jura hinter sich. Sie war ein Jahr älter, gut, aber das konnte es ja wohl nicht sein!
Trat sie als Dame auf? Lag es an meinem Pumucklkopf? Ich hatte die größte Lust, ihn umzufärben. Oder das Rot rauswachsen zu lassen. Die Originalfarbe war zwar auch rot, aber nicht so penetrant, eher mahagonifarben. Aber dann würde ich Praetorius die Show verderben. Nach den Feiertagen also? Andererseits hatte er es eigentlich verdient, dass man ihm die Show verdarb...
Nein, wenn ich mich jetzt als beleidigte Leberwurst präsentierte, bekam ich nie einen besseren Job. Welchen besseren Job auch? Den einzig möglichen hatte Dietlinde, und wenn sie in Pension ging, war ich vierundsechzig. Schauriger Gedanke... graue Haare, Stützstrümpfe, eine Katze – und immer noch Sachbearbeiterin. Ob ich von meiner Rente überhaupt leben konnte? Müssten meine erfolgreichen Geschwister mich durchfüttern? Die würden sich schön bedanken, Gundula würde mir von der Ameise und der Grille erzählen und Achim würde schallend lachen.
Übelnehmen konnte ich es den beiden nicht; ich war nach dem letzten versauten Schein mehr als Notlösung bei Union Securé reingerutscht und hängen geblieben, das war nun auch schon ... sechs Jahre her. Und immer noch auf dem gleichen Platz! Anfangs hatte ich meine Kommilitonen verachtet, die immer noch kellnerten, bei MacDonalds Pommes brieten – und entsprechend rochen – oder auf dem Marktplatz Passanten mit Umfragen belästigten. Ich hatte einen festen Job! Mittlerweile waren meine Kommilitonen Anwälte, Rechtsberater von Firmen und sogar Richter – und ich? Ich hatte immer noch einen festen Job. Und sonst nichts. Vielleicht wäre es noch spannender, sich in ein Vorzimmer zu bewerben, da war die Arbeit sicher weniger monoton. Aber so ganz ohne Kollegen? Chefs saßen ja gerne hinter verschlossener Tür, und wann kam schon mal jemand vorbei, außer dem Büroboten? Außerdem hatte ich kein so glückliches Händchen mit Kaffeemaschinen, und soweit ich wusste, war Kaffeekochen wesentlicher Bestandteil der Stellenbeschreibung.
Frust auf der ganzen Linie! Ich reagierte mich ab, indem ich die Wohnung auf
Hochglanz polierte und sogar die Fenster putzte, was in einer regnerischen Nacht besonders sinnvoll war: Ich konnte nicht sehen, ob ich den Dreck nur verschmiert hatte, dafür sah ich mehr als deutlich, dass die Rahmen dringend mal wieder gestrichen werden mussten – auch innen, was ich leider selbst finanzieren musste.
Als ich auch noch alles gewaschen und aufgehängt hatte, kam ich mir zwar sehr tugendhaft vor, aber immer noch schlecht behandelt, ja, verkannt. Meine Fähigkeiten wurden nicht anerkannt! Welche Fähigkeiten hatte ich denn? Ich konnte geringwertige Schadensfälle bearbeiten – das konnte auch ein Schimpanse, wenn man ihn einarbeitete. Und sonst? Das Übliche – Abitur, zwei Fremdsprachen (nicht wirklich flüssig), Computerkenntnisse, Führerschein – und ein paar unübliche Dinge: Autos reparieren, Plätzchen backen, Frechheiten von mir geben... Ich konnte ganz gut organisieren, fand ich, aber das wusste außer mir niemand, ich bekam ja nie Gelegenheit, mich zu profilieren.
Damit war Praetorius entlastet – ich hatte mich als allgemein unfähig präsentiert, also warum hätte er mir einen besseren Job geben sollen? Ich konnte nicht einmal anständigen Kaffee kochen, jedenfalls nicht mit den Büromaschinen. Vielleicht sollte ich mir wirklich einen anderen Job suchen. Nach Weihnachten würde ich mal die Stellenanzeigen studieren – und wahrscheinlich wieder in einer Versicherung landen, und wieder in der Schadenssachbearbeitung.
Ich gab auf und warf mich mit der Fernbedienung aufs Sofa. Längeres Herumzappen förderte zwei Serienkrimis zutage, bei denen ich schon den Anfang verpasst hatte, einen amerikanischen Teeniefilm (To Have Sex or Not To Have Sex, das Übliche), eine ziemlich blutrünstige Geschichte um einen Killerroboter, einen esoterischen Film um eine seltene Orchidee (aha, arte), eine verlogene Reportage darüber, wie oft als Nikolaus verkleidete Studenten es mit ihren Auftraggeberinnen trieben (RTL 2) und einen Bericht über Weihnachtsbräuche in der Innerschweiz, im Originalton. (3Sat). Ich verstand kein Wort. Auf TV 5 gab es eine in sprudelndem Französisch geführte Debatte über die Zukunft Europas – o Gott, nein.
Nun tat ich mir noch mehr Leid – nicht einmal Ablenkung war mir vergönnt! Und zu lesen hatte ich auch nichts, weil ich vergessen hatte, mir etwas auszuleihen. Sollte ich zum Bahnhof-? Trivialliteratur, ein paar Zeitschriften, diese edlen, teuren Chips mit Kräutergeschmack? Nein, ich konnte morgen auch ganz normal einkaufen, und jetzt noch mit dem Bus zum Bahnhof, wirklich nicht.
Und wenn ich mich richtig rundum pflegen würde? Pediküre, enthaaren, Maske, Haarkur? Tolle Idee!
Mein einziger Nagellack war eingetrocknet, die Haarkur war leer, und ich hatte nur noch einen ziemlich stumpfen Rasierer und keine Creme mehr. Morgen... ich könnte mir eine Einkaufsliste schreiben!
Mit diesem armseligen Amüsement verbrachte ich eine Viertelstunde, dann schaltete ich den Fernseher entschlossen aus und schnappte mir meine Jacke. Ging ich eben spazieren! Draußen hatte es begonnen zu schneien. Der Schnee blieb zwar nicht liegen, aber gegen den Nachthimmel sahen die Flocken, von den Straßenlaternen diffus beleuchtet, doch sehr romantisch aus. Meine Laune hob sich gleich etwas, obwohl es recht kalt war.
Ich lief eine Stunde durch die eintönigen Straßen und versuchte, die kalte Luft und die Schneeflocken zu genießen und nicht daran zu denken, dass ich keine Beförderung verdiente und mich an Weihnachten wahrscheinlich grauenvoll blamieren würde.
Danach hatte ich wenigstens die nötige Bettschwere.
Nach einem stressigen Samstag (Einkaufsschlacht und mäßig erfolgreiche Schönheitskur: Jetzt hatte ich Schnittwunden am Schienbein, schiefe Fußnägel und von der Kur klatschige Haare) stand ich am Sonntagmittag bei meinen Eltern auf der Matte. Dort herrschte wilde Hektik, weil sie schon dabei waren, viel zu viel Gepäck ins Auto zu quetschen. Meine Geschenke wurden mit Dankesworten und resignierten Seufzern entgegen genommen – die mussten ja auch noch transportiert werden!
Ich half ihnen ein bisschen, nahm enttäuscht zur Kenntnis, dass es kein bisschen nach Essen roch und die Küche blitzsauber war, schielte nach meinen Geschenken, die nirgendwo zu sehen waren, und flachste mit Achim herum, der fluchend den Skiträger montierte. Gundula studierte die Karte und versuchte, eine staufreie Route zu finden.
Ich hatte nachgerade das Gefühl, nur im Weg zu stehen, und verdrückte mich nach einer Anstandsfrist wieder; Achim sollte den anderen frohes Fest, gute Fahrt und Ski Heil wünschen. Achim winkte mir nach, als ich wegfuhr, aber ich kam nur bis zur nächsten Ecke, dann hielt ich, weil ich vor Tränen nichts mehr sah. Keine Beförderung, keine Zukunft – und meine Familie amüsierte sich prächtig ohne mich! Ich hatte sie heute nur irritiert. Und an Geschenke für mich hatte offenbar auch keiner gedacht. Keiner hatte mich lieb.
Meine Familie hatte mich total vergessen, Dietlinde säße bald im Glaskasten, meilenweit über mir, Hannah und Cora amüsierten sich sicher wunderbar und verschwendeten keinen Gedanken an mich, und Praetorius brauchte mich auch nur, um seine Eltern zu schockieren. War ich denn so unvorzeigbar?
Offensichtlich – ich musste ja nicht einmal eine Rolle spielen, nur ganz normal sein, dann war ich offenbar schon erschreckend genug. Wirklich ein schönes Kompliment! Gut, ich würde mein Bestes tun, bei den Idioten in Rothenwald. Und dann würde ich mir einen anderen Job suchen – und wenn es als Hilfstippse wäre! – und mich bei niemandem mehr melden, bis sie angekrochen kämen! Genau, jetzt waren die anderen mal dran!