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Er kam näher und warf das Tuch auf die Bar. „Ja, bitte? Kann ich etwas für Sie tun?“

„Das weiß ich nicht. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun? Sie suchen eine Bedienung? Kann ich mich mal umsehen?“

„Gerne. Ich bräuchte allerdings eine Kraft, die nicht nur stundenweise Zeit hat. Wenigstens vier Nachmittage und Abende in der Woche. Dienstags ist Ruhetag, aber sonst haben wir von vier Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts geöffnet. Schauen Sie sich aber ruhig erst einmal um.“

Ich begann bei den Toiletten. Sauber, aber schäbig! Seit Jahren nicht mehr ordentlich gestrichen, fast alles wirkte angeschlagen oder kaputt und ein Hektoliter Entkalker wäre auch notwendig. Die Küche war sauber und vernünftig, hier wischte eine entnervt aussehende Frau in mittleren Jahren. Die Kneipe selbst bestand nur aus einem Raum, eine dicke Nikotinschicht klebte an der Wand, das Mobiliar schien aus den Sechzigern zu stammen, und Dekorationen gab es gar keine, mit Ausnahme eines völlig vergammelten Blütenkranzes. Trübsinnig, wirklich! „Eine Bruchbude, was?“, fragte der Wirt. Ich warf ihm von der Seite einen Blick zu. Er sah nett aus, harmlos, ein bisschen rundlich, noch ziemlich jung. Sollte ich ehrlich sein? Nein, ich wollte doch den Job!

„Man kann sicher etwas daraus machen“, beschönigte ich also das Problem und erntete ein ungläubiges Lachen.

„Meinen Sie? Es sollte mich freuen, ich habe die Kneipe erst vor zwei Monaten übernommen und mich noch nicht recht entschieden, was es werden soll.“ „Welche Möglichkeiten schweben Ihnen denn so vor?“, fragte ich und ließ meinen Blick über die trüb bräunlichen Wände schweifen. „Was schlagen Sie vor?“, fragte er prompt zurück.

„Hm... So was wie eine etwas altmodische Künstlerkneipe vielleicht. Ein paar Poster an die Wand, vom Filmfest oder vom Theatersommer, vielleicht ein bisschen streichen, ein bisschen Kitsch dazu – ich weiß auch nicht. Hintergrundmusik auf alle Fälle. Kocht die Frau in der Küche?“

„Nein, die putzt bloß. Ich koche selbst. Können Sie kochen?“

Ich nickte. „Ich hab kein Zeugnis oder so was, aber bis jetzt hat es allen geschmeckt.“

„Ausgezeichnet. Wir sollten vielleicht auch mal über die Karte nachdenken, sie ist ein bisschen einfallslos, finde ich. Ja, und streichen, das scheint mir auch nötig.“

„Die Klos sind eine Katastrophe“, bemerkte ich beiläufig, nun schon weniger zurückhaltend, „aber ich glaube, den Laden könnte man in Schwung bringen.“

„Hätten Sie denn vier Nachmittage in der Woche Zeit? Vielleicht Freitag bis Montag? Dann suche ich für Mittwoch und Donnerstag noch jemand anderen.“

„Ganz schön viel. Moment mal!“

Ich kramte in meiner Tasche herum und fand tatsächlich in meinem winzigen Notizbuch einen Stundenplan. Die Pflichtseminare waren Mittwoch, Donnerstag und Freitagmorgen. Den Rest konnte ich notfalls auch streichen, denn ich wollte einfach hier arbeiten, die Herausforderung reizte mich.

„Ich glaube, das kriege ich hin, ich lasse einfach alles Nutzlose aus meinem Stundenplan weg. Freitag bis Montag von vier bis eins – das müsste gehen... Wie schaut es denn mit der Bezahlung aus?“

Er schaute verlegen drein.

„Naja, doll ist es nicht, fürchte ich. Fünfzehn Mark die Stunde plus Trinkgelder – brutto, leider.“

Ich überschlug das im Kopf. Sechsunddreißig Stunden à fünfzehn Mark, das waren 540 Mark in der Woche. Ohne Trinkgelder, aber ob die hier so reichlich flossen? „Sagen wir acht Euro ab Neujahr? Dann bin ich einverstanden.“

Er strahlte. „Sehr gut! Die letzte Bedienung ist vor zwei Wochen gegangen, und seitdem schufte ich hier fast ganz alleine, bis auf die Putzfrau. Sie können nicht zufällig heute schon anfangen? Ich öffne in einer Stunde.“ Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Ab morgen gerne, aber heute muss ich doch noch einiges organisieren. Ich hab ja nicht einmal eine Lohnsteuerkarte dabei!“

In den Ecken lag ziemlich viel Staub, so eifrig war die Putzfrau offenbar auch nicht. Der Wirt sah enttäuscht drein, aber dann fiel ihm etwas anderes ein. „Wie heißen Sie eigentlich? Das sollte ich vielleicht doch wissen, wenn ich Sie beschäftige.“

„Ach so, ja. Birgit Limmer, Maria-del-Pilar-Straße 26. Wie heißen Sie eigentlich?“

Er lachte und zeigte ziemliche Pausbäckchen dabei. Aß er immer alles auf, was er nicht hatte servieren können? Einen kleinen Bierbauch sah man auch unter der langen Schürze... „Rudi heiße ich, Rudi Seybert. Deshalb auch der Name, Rudis Rastplatz. Gefällt er Ihnen?“

Die Antwort konnte er meinem Gesicht offenbar ablesen. „Nicht? Ich fand ihn ganz witzig.“

Ich wand mich. Ich konnte meinem Chef doch nicht schon vor Arbeitsantritt erklären, dass sein Betrieb einen bescheuerten Namen hatte! „Naja, der Name ist schon okay, aber...“

„Aber?“ Er grinste noch mehr.

„Es klingt ein bisschen wie ein Kiosk am Autobahnrand.“

„Schlagen Sie was Besseres vor!“

Das konnte ich so spontan natürlich auch nicht, deshalb versprach ich, bei Gelegenheit darüber nachzudenken.

„Könnten Sie morgen vielleicht schon um zwei kommen? Dann könnten wir noch ein bisschen über Verbesserungen reden. Ich glaube, Sie könnten eine echte Bereicherung für die Kneipe sein.“

„Ja, gut“, stimmte ich zu, „das müsste gehen. Auf die Uni hab ich im Moment ohnehin keine rechte Lust.“

Ich konnte eine echte Bereicherung für die Kneipe sein? Toll, vor einer Stunde war ich mich noch wie jemand gefühlt, der wirklich zu gar nichts zu gebrauchen war. Das Lob freute mich ungemein, obwohl dieser Rudi doch noch gar nicht wissen konnte, ob ich nicht den Gästen das Bier über den Kopf kippen würde. „Haben Sie zufällig ein paar alte Poster zu Hause?“, fragte er mitten in meine wohligen Gedanken hinein.

„Poster?“, echote ich verblüfft. „Einen alten Starschnitt hab ich noch irgendwo, von Take That. Soll ich den mitbringen?“

„Warum nicht, als Witz kann man ihn sicher noch brauchen. Oder hängen Sie sehr daran?“

„Ach wo, ich bin doch nicht mehr in der Unterstufe.“ Ich sah mich prüfend um. „Vielleicht an die Wand dahinten?“

„Gute Idee. Dann kommen Sie morgen um zwei? Ich kann Ihnen erklären, wie die Kasse funktioniert und auch, wie man mit der Bar und der Küche umgeht. Ach ja, und bei Gelegenheit bräuchten Sie ein Gesundheitszeugnis, wenn Sie auch mal in der Küche arbeiten wollen.“

„Das hab ich, noch von einem anderen Job, vor einem Vierteljahr. Wenn Sie Küchentücher und eine Sprühflasche Glasklar haben, kann ich morgen auch mal die Fenster putzen, dann wird es hier sicher ein bisschen heller.“

Er lachte kurz. „Steht morgen alles bereit! Also, dann...“ Er reichte mir die Hand. Einen festen Händedruck hatte er, das kam wohl vom Biertragerlschleppen?

Vor der Tür schüttelte ich den Kopf. Wie schnell die Stimmung umschlagen konnte! Eben noch war ich unfähig, mir vorzustellen, wie mein Leben in zwei Jahren aussehen sollte – und jetzt blinkten Sätze vor meinem inneren Auge, RUDIS RASTPLATZ IST DIE INKNEIPE DER UNIGEGEND, ICH KASSIERE DIE FETTESTEN TRINKGELDER ALLER ZEITEN und vielleicht sogar DER MANN MEINES LEBENS KOMMT ALS GAST IN DIE KNEIPE. Noch besser wäre freilich ICH BIN SO GUT, DASS RUDI MIR EINE BETEILIGUNG ANBIETET, UND WIR MACHEN ÜBERALL FILIALEN AUF. Ich musste unbedingt nach Hause und das alles aufschreiben!

Anke war noch nicht zurück, wahrscheinlich fahndete sie noch nach den ultimativen Weihnachtsgeschenken. Umso besser, ich wollte alles zu Papier bringen, bevor sie es mir wieder ausredete! Ich verzog mich sofort an meinen Schreibtisch, wo mich die frustrierende Liste von vorhin angrinste. Nun, jetzt hatte ich doch etwas, was ich darauf schreiben konnte: ICH BIN DIE SEELE VON RUDIS RASTPLATZ UND VERDIENE GENUG ZUM LEBEN. Darunter setzte ich: RUDIS RASTPLATZ BRUMMT TOTAL. Leider war mir klar, dass Anke die Nase rümpfen würde, wenn sonst nichts auf dem eselsohrigen Zettel stand. Ich wollte mal nicht so sein: ICH HABE MEINE MAGISTERPRÜFUNG BESTANDEN. Die Note schrieb ich lieber nicht dazu, irgendwie bestanden reichte mir schon. Was noch? MEIN KONTO IST IM PLUS. Das wäre allein schon um meiner Nerven willen wünschenswert. Ich kaute ein wenig auf meinem Stift herum und schrieb dann fieberhaft weiter. RUDI DENKT ÜBER EINE BETEILIGUNG NACH. ICH HABE UNTER DEN SCHÖNSTEN GÄSTEN DIE FREIE AUSWAHL. Nein, Schwachsinn, das musste sofort wieder weg. ICH HABE EINE KOCHPRÜFUNG ABGELEGT, DAMIT ICH AUCH OFFIZIELL EINE KNEIPE FÜHREN KANN. Wenn das nicht zielstrebig klang!

Ich suchte ein neues Blatt und schrieb mir diese Visionen in einer sinnvolleren Reihenfolge noch einmal sauber auf, dann warf ich den Zettel mit der peinlichen FREIEN AUSWAHL zerknüllt in den Papierkorb und packte sorgfältig meine Unitasche für morgen. Wenn ich den ganzen Nachmittag putzen und servieren durfte, sollte ich doch wenigstens am Morgen meine wissenschaftlichen Ambitionen mit Anstand hinter mich bringen. Viel war es ohnehin nicht, ein Lektürekurs, Caesar, Bellum civile, eine Vorlesung über Tacitus, Annalen (nur einstündig) und eine Übersetzungsübung, glücklicherweise lateinisch-deutsch. Um eins wäre ich fertig, dann eine rasche Breze und ab in die Kneipe! Ich freute mich schon richtig!

Sollte ich für den Lektürekurs noch etwas tun? Oder nein, erst musste ich nach diesem uralten Take-That-Starschnitt suchen – und Tesafilm einpacken! Ich fand außerdem noch zwei ziemlich angejahrte Ausstellungsplakate, Picasso im Stadtmuseum (Juli bis Oktober 1997) und Ansel Adams in der Modernen Galerie, aus dem vorletzten Jahr. Als ich bis zur Taille in dem Schrank unter meinem wackligen unbehandelten Bücherregal steckte und gerade die Hand nach dem Plakat von den Filmkunstwochen (Thema: Expressionismus, ich erinnerte mich noch lebhaft an Das Kabinett des Dr. Caligari) ausstreckte, erschrak ich furchtbar, als ich Anke hinter mir hörte. „Suchst du nach Inspirationen?“

Polternd fiel ich aus dem Schrank und schlug mir den Ellbogen am Scharnier an. „Mensch Anke, warum schleichst du dich so an?“ Ich rieb mir heftig den Musikantenknochen. „Wie geht es deiner Vision?“

„Och, ganz gut“, antwortete ich betont lässig und krabbelte eher ungraziös wieder auf die Füße. „Ich hab einen Job.“

„Echt? Nicht übel! Wo denn?“

Anke fegte den Krempel von meinem ungemachten Bett und setzte sich, dann sah sie sich um. „Und dazu brauchst du den vergammelten Starschnitt?“

„Genau. Ich arbeite nämlich in einer Kneipe, und da brauchen wir noch ein bisschen Deko, es sieht alles noch nicht so perfekt aus.“

„Und was wirst du dort machen? Kochen? Du kochst ja wirklich genial, das muss dir der Neid lassen.“

„Ja, auch. Und servieren. Und den Wirt beraten. Ich bin praktisch das Mädchen für alles. Fünfzehn Mark plus Trinkgelder.“

„Für den Anfang ganz nett“, lobte Anke. „Aber nicht, dass du dich dort als Magd und Oma fürs Grobe ausbeuten lässt und dann nie dein Studium fertig kriegst! Ich sehe schon, ich muss dich weiterhin streng beaufsichtigen!“

„Keine Sorge“, verteidigte ich mich und meine glänzende Zukunft, „ich will auch in zwei Jahren fertig sein. Du kannst ja meine Vision lesen, wenn du willst!“

„Nein, die sollte nur für dich sein. Ich lasse dich meine ja auch nicht lesen. Heb sie dir gut auf und gucke täglich drauf. Ach ja – und vergiss nicht, dir Wege zu überlegen, wie du diesen Zielen näher kommst.“

„Wenn der Job okay ist, hab ich die meisten Punkte schon anvisiert, du wirst schon sehen. Wann willst du jetzt genau deine Party machen?“

„Ich dachte, nächsten Donnerstag, weil wir freitags alle erst später in die Uni müssen. Klappt das oder musst du da in deine Kneipe? Wie heißt die überhaupt?“

Rudis Rastplatz“, nuschelte ich beschämt, „nein, ich arbeite da von Freitag bis Montag, immer erst ab Mittag.“

„Ist das nicht ein bisschen viel? Wann willst du denn dann in die Uni gehen? Hast du nicht was von Magisterprüfung gesagt? Du musst dafür doch schließlich auch mal eine Arbeit verbrechen, und da sitzt du lange in der Bibliothek, das kann ich dir flüstern!“

„Weiß ich auch. Ich habe die Vormittage Zeit und Dienstag bis Donnerstag den ganzen Tag. Wo ist da das Problem?“

„Na, wie du meinst. Was gibt es heute eigentlich zu essen?“

„Minestrone und Käsetoast“, schlug ich vor – das ging schnell und ich wollte noch über meinen Plänen grübeln und vielleicht, wenn ich ganz tugendhaft war, ein bisschen Caesar übersetzen und die Übung für den Übersetzungskurs wenigstens flüchtig machen. „Gut, klingt lecker. Um sieben?“

„Ja, gut“, murmelte ich, schon wieder auf dem Weg in den Schrank. „Hast du noch ein paar alte Kunst- oder Filmplakate?“

„Hm, ja. Hast du vorhin wirklich gesagt Rudis Rastplatz? Wer hat sich denn den albernen Namen ausgedacht? Klingt wie ein Autogrill in Italien.“

„Hab ich ihm auch schon gesagt, den muss er ändern, das ist ihm auch klar.“

„Dem entnehme ich, dass der Wirt Rudi heißt? Erzähl doch mal! Wie alt? Noch zu haben?“

„Wie alt? So wie wir, oder ein bisschen mehr, weiß ich doch nicht. Ganz nett. Wenig Erfahrung mit einer Kneipe, glaube ich. Du kannst ja mal auf ein Bier vorbeischauen und ihn anmachen, wenn du Lust hast.“

„Ich doch nicht! Ich dachte, vielleicht ist er etwas für dich?“

„Sehe ich aus, als suche ich einen Kerl?“

„Sieht nicht jede Frau so aus, auch wenn sie es nicht zugibt?“

„Aus deinem Munde klingt das besonders überzeugend. Du bist doch die, die immer von der fetten, männerlosen Karriere redet? Also sehnst du dich im Innersten deines Herzens nach Mann und Kinderchen? Ist ja hochinteressant...“ Ich feixte, und Anke wurde tatsächlich ein bisschen rot.

„Blödsinn!“ verteidigte sie sich schwächlich, „ich brauch wirklich keinen Mann. Was denkst du denn von mir?“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll, wenn ich dein holdes Erröten so sehe.“ Ich lachte noch mehr, und Anke verließ erbost mein Zimmer.

Ich kehrte endgültig in den Schrank zurück und förderte noch eine Sammlung extrem kitschiger Postkarten zutage. In einem Rahmen könnten sie ganz lustig wirken, überlegte ich. Und das halbfertige Strickzeug ganz hinten im Schrank war jetzt wirklich reif für die Mülltonne! Ich zog die Nadeln heraus und entsorgte die verfilzte und angegraute Wolle. Überhaupt konnte ich hier mal so allerlei wegwerfen! Zunächst beschränkte ich mich aber darauf, das Bett kräftig aufzuschütteln und das Gemüse für die Minestrone aufzusetzen, dann übersetzte ich tatsächlich einen Übungstext und eine Seite Caesar und fühlte mich dabei ungemein tugendhaft.

Als ich schließlich sogar noch die Wäsche von gestern – wenn auch eher schlampig – gebügelt hatte, begann ich mir direkt Sorgen um meine geistige Gesundheit zu machen. Also verzog ich mich in die Küche und rührte in der Minestrone herum, die schon verheißungsvoll zu duften begann. Die Käsetoasts waren schnell vorbereitet; ich deckte den Tisch und setzte mich dann wieder mit Zettel und Stift hin. Was könnte man noch tun, um die finstere Kneipe netter aussehen zu lassen? Ich überlegte ein bisschen, dann schob ich den Suppenteller beiseite und begann eifrig zu kritzeln. DIE FENSTER PUTZEN, das war klar. POSTER AUFHÄNGEN, auch schon bekannt. Rudi sollte eine alte Schultafel haben, um die Tagesgerichte darauf zu notieren, überlegte ich mir, so etwas sah immer urig aus und war sicher viel billiger als dauernd neue Speisekarten zu tippen. Wenige, aber leckere Gerichte, Klassiker, wie Spaghetti Bolognese, Schinkennudeln, überbackenen Blumenkohl, Wurstsalat, kalten Braten, ein, zwei Salate, vielleicht auch ein, zwei Toasts... Ich hätte mir die Küche und die Karte noch genauer ansehen sollen!

Na, das konnte ich ja morgen alles gründlich nachholen. Und die Klos mussten schöner werden, die schmierige Ölfarbe musste erst einmal runter, und dann sollte alles frisch und bunt gestrichen werden. Das könnte man mal an einem Dienstag erledigen, dann könnte die Farbe bis Mittwochnachmittag trocknen. Und die stark nikotingelben Bistrogardinen müsste man unbedingt in einen Eimer mit brutaler Bleiche stecken, am besten gleich morgen Mittag! Und natürlich die Fenster putzen, dazu besorgte hoffentlich Rudi alles Notwendige. Dazu die Poster und die Tafel mit der Speisekarte.... Mir schwebte ein Ambiente vor wie im legendären Stockinger gleich neben der Uni – rustikal, leicht verschlampt, aber in. Dort hatte man immer das angenehme Gefühl, einerseits etwas für die kulturelle Bildung zu tun – beim Studium älterer Ausstellungsplakate – und andererseits kein Snob zu sein, sondern unbefangen in einer normalen Wirtschaft zu sitzen. Nur das Essen! Im Stockinger war es weitgehend ungenießbar, das mussten wir besser machen.

Ich rührte weiter in der Minestrone herum und schob schließlich die Käsetoasts in den Ofen. Toasts... da gab es auch die tollsten Möglichkeiten. Ich drehte den Zettel um und notierte mir die Zutaten für Champignontoast, Toast Hawaii, richtig lecker fettigen Ei-und-Speck-Toast. Man könnte auch im englischen Stil Mini-Chipstüten an der Bar verkaufen. Wenn man als Extraservice einen kleinen Teller dazu zur Verfügung stellte, kam das bestimmt gut an. Was noch?

Im letzten Moment riss ich die Toasts aus dem Ofen, der Käse war schon eher braun als goldgelb, und trug das Essen auf. Anke schnupperte anerkennend.

„Das solltest du auch in der Kneipe servieren, finde ich. Bloß: Rudis Rastplatz – also nee, das kann nicht so bleiben. Das muss er unbedingt ändern.“ Sie füllte sich den Teller und schmatzte genüsslich. „Du isst wie ein Ferkel“, tadelte ich.

„Bloß hier. Ich will dir doch zeigen, dass es mir schmeckt!“

„Ich dachte, du wärst der Sprache mächtig?“

Warum rülpset und pforzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmecket?“

„Woher hast du das denn?“

„Martin Luther!“, antwortete sie triumphierend.

„Ach – und wenn der das darf, darfst du es auch?“

„Klar“, meinte sie vergnügt und biss krachend in ihren Toast.

Quod licet Iovi, non licet bovi“, zitierte ich dagegen.

Anke kicherte. „Du kannst ja tatsächlich noch ein bisschen Latein! Ich bin beeindruckt!“

„Heißen Dank! Übrigens sagen die Benimmregeln zu Luthers Zeiten auch, dass man sich möglichst nicht ins Tischtuch schneuzen soll. Willst du das auch imitieren?“ Sie sah mich todernst an. „Wir haben kein Tischtuch.“

„Tolles Argument! Noch Suppe?“

„Her damit! Ach, nächste Woche bin ich wieder dran, dann gibt es wieder Fraß. Wir könnten doch deine Miete ein bisschen reduzieren und dann kochst du immer? Ich spüle auch hinterher ab.“

„Gerne, nur bin ich vier Tage in der Woche zum Abendessen gar nicht da. Wir müssten also mittags warm essen. Wenn dir das nichts ausmacht?“

„Kein Problem, wir vergleichen nachher unsere Stundenpläne. Wie ich dich kenne, hast du ohnehin freudig alles Mögliche rausgestrichen, um irgendwelchen Suffköpfen Bier zu bringen.“

„So faul bin ich wieder auch nicht, ich habe vorhin schon fast eine Stunde gelernt“, prahlte ich.

„Braves Mädchen! Dann gehst du morgen tatsächlich in die Uni und sitzt dort nicht nur bräsig in der letzten Reihe?“

„Ich bin voller guter Vorsätze“, bekannte ich, „aber wie lange ich das durchhalte, weiß ich natürlich auch nicht.“

Anke grinste. „Gute Vorsätze, das kenne ich. Völlig sinnlos, typischer Neujahrsblues. Vergiss das sofort, es reicht doch erst mal, wenn du morgen alles schaffst, was du machen wolltest. Wenn das klappt, fühlst du dich gut, dann nimmst du umso leichter den Samstag in Angriff, und so weiter. Lebe von Tag zu Tag. Dieser ganze Schwachsinn, von wegen Ab morgen wird alles anders, der klappt doch ohnehin nie. Isst du den letzten Käsetoast noch?“

Ich schob ihn ihr rüber. „Wie machst du das eigentlich? Du frisst wie eine neunköpfige Raupe und bist total dünn. Wenn ich so futtern würde, bliebe ich mit den Hüften in jeder Tür stecken.“

„Was für ein Unsinn“, schnaubte Anke, noch mit dem letzten Bissen im Mund. Ich wischte mir die Krümel vom Sweatshirt. „Wieso Unsinn? Ich neige eben zum Dickwerden. Manche sind so, und du eben nicht. Sei doch froh!“

„Bin ich auch. Aber du bist kein bisschen dick. Wir passen doch in dieselbe Jeansgröße!“

„Ja, aber du bist zehn Zentimeter größer als ich! Darf ich dich daran erinnern, dass du meine Jeans immer in die Stiefel stecken musst, damit man das Hochwasser nicht sieht?“

„Jetzt tu nicht so, als seist du ein kleiner Pummel! Ich nehme nur nicht zu, weil ich so viel herumsause. Glaubst du, wenn ich dauernd mit einem Krimi auf dem Bett läge, würde ich noch in deine Jeans passen? Apropos – kann ich mir die roten Cordjeans morgen ausleihen? Sie müssten zu dem grauen Mohairpulli toll aussehen.“

„Stimmt, aber du bürstest nachher die Mohairfusseln wieder ab! Sie liegen in meinem Schrank. Ich werde wohl eher etwas Putztaugliches für morgen aussuchen. Und beim Servieren hab ich ja hoffentlich sowieso so eine lange Schürze an, wie in einem schicken Bistro.“

„Und echt bequeme Schuhe, ich hab schon mal gekellnert, da fallen dir irgendwann die Füße ab. Richtige Latschen, und für den Notfall Heftpflaster und ein Paar Ersatzsocken. Das tut gut, wenn die Füße total brennen, frische kühle Socken. Am besten wären ja diese Gesundheitssandalen.“

„Um Gottes Willen! In denen möchte ich nicht mal tot aufgefunden werden!

Ich nehme die alten ausgelatschten Turnschuhe, in denen hatte ich noch nie wehe Füße.“

Wir unterhielten uns noch ein bisschen über die Möglichkeiten, die mein neuer Job bieten konnte, dann verzog Anke sich wieder an ihren Rechner, um weiter Tippfehler zu jagen, und ich räumte die Küche auf. Danach hatte ich die Wahl: noch eine Aufgabe für den Stilübungskurs oder eine alte Folge von Kommissar Rex. Natürlich landete ich vor dem Fernseher, und das fand ich sehr beruhigend – also war ich doch noch nicht so tugendhaft, dass man eine Gehirnwäsche befürchten musste!

Zwar war am Freitag wie immer die Versuchung groß, doch einfach im Bett zu bleiben, aber ich dachte an Ankes Worte und nahm mir vor, mich wenigstens heute zu ermannen – oder zu erfrauen? Also erhob ich mich ächzend und legte mir schon einmal meine Kleidung zurecht, während Anke noch unter der Dusche herumplätscherte. Nach den bequemen Turnschuhen, deren Lob ich gestern so laut gesungen hatte, musste ich erst einmal länger suchen, schließlich fand ich sie auf dem Boden des Kleiderschranks, von einem Haufen Schmutzwäsche bedeckt. Da war ja mein schönes rosa Sweatshirt! Und die hellgrauen Jeans, die ich schon fast vergessen hatte! Ich zog alles heraus und warf es auf einen Haufen vor dem Bett – morgen müsste das alles mal in die Waschmaschine. Kein Wunder, dass ich so wenig anzuziehen hatte, wenn ich die schönsten Sachen wochenlang zu waschen vergaß!

Schließlich huschte eine muntere Anke mit feuchtem Haar an meiner Tür vorbei und ich konnte ins Bad. Nach einer Dusche und einer Haarwäsche – auch das schien mir ziemlich nötig – wachte ich auch langsam auf, jedenfalls so weit, dass ich mich ordentlich anziehen konnte, ohne verschiedenfarbige Socken zu erwischen oder verkehrt herum ins Sweatshirt zu schlüpfen. Meine schulterlangen mausbraunen Haare kämmte ich einfach aus, fischte mechanisch die losen Haare heraus und warf sie aus dem Fenster und klippte sie schließlich mit einer Spange zusammen. Ein bisschen getönte Tagescreme verdeckte meine zwei Pickel am Kinn und ließ mich nicht ganz so käsig wirken, etwas brauner Lidschatten betonte das Türkis meiner Augen. Ach, schokoladenbraune Augen zu haben! Nun, dieser Seufzer war jetzt auch nicht mehr sehr hilfreich. Zumindest sah ich ordentlich und kompetent aus – und das reichte ja wohl!

Das Frühstück machte bei uns immer Anke, wahrscheinlich gab ihr das das Gefühl, wenigstens eine Mahlzeit im Griff zu haben. Ich verspeiste zwei Scheiben trockenen Toast und trank Tee dazu, während Anke Schinken und Käse gleichzeitig auf ihr Brot häufte. Egal, was sie sagte, ich war eben doch dicker als sie, auf meinen Hüften saßen hübsch verteilt auf jeder Seite mindestens vier Kilo zuviel und weitere zwei auf jeder Hinterbacke, während der Rest eigentlich akzeptabel war – von Körbchengröße AA mal abgesehen. Ein Brett mit zwei Mückenstichen, hatten die gehässigen Vollweiber in der Schule immer gesagt, wenn sie nach dem Sport meiner mageren Reize ansichtig wurden. Wahrscheinlich baumelten denen die Möpse mittlerweile in Taillenhöhe, dachte ich mindestens ebenso gehässig zurück. Aber wenigstens Größe B hätte ich ja doch gerne gehabt!

Gemeinsam räumten wir den Tisch flüchtig ab, das Spülen blieb Anke, wenn sie am Nachmittag nach Hause kam. Sie schwor, dass sie heute auch ohne warmes Essen auskäme. Als ich schon um halb neun die Uni betrat – und eindeutig in nicht komatösem Zustand – war ich sehr stolz auf mich. Ich meldete mich sogar einmal in der Caesarübung und kam tatsächlich dran – und die Übersetzung stimmte obendrein! Naja, ungefähr wenigstens. Allerdings sah mich der Kursleiter hinterher stirnrunzelnd an. „Frau – Limmer, nicht?“ Er blätterte in seinen Unterlagen herum. „Ich müsste Sie nach der Sitzung kurz sprechen.“

Ich nickte beklommen, während einige dumme Hühner kicherten. Was dachten die denn schon wieder? Der Kerl war ungefähr fünfzig, lang und traurig. Wer in dem Alter noch Akademischer Rat war, wurde wohl Zeit seines Lebens nicht mehr mehr. Und wie so jemand bezahlt wurde, konnte ich mir auch vorstellen. Was wollte er wohl? Wie oft hatte ich denn hier schon gefehlt? Während die anderen sich weiter durch den Text arbeiteten, begann ich im Kopf zu rechnen. Das war jetzt die fünfte Semesterwoche, letztes Mal war ich dagewesen, beim ersten Mal garantiert auch, schon wegen der Teilnehmerliste... Hatte ich also schon zweimal gefehlt? Hatte ich letztes Mal gewusst, wo wir waren? Und woher? Doch, ich hatte bis jetzt nur einmal gefehlt, ich war mir ziemlich sicher. Etwas abgelenkt verfolgte ich den Text weiter und meldete mich gleich noch einmal, war aber doch froh, als die Stunde beendet war. Brav wartete ich neben dem Pult, während der Kursleiter seine Bücher in eine richtige uralte Schülerschultasche einräumte. Ich schielte, aber da stand leider doch nicht sein Name samt Klasse 5 a mit Tintenstift auf der Innenseite der Klappe. Das hätte wirklich gerade noch gefehlt! „Sie wollten mich sprechen?“

„Ja, Frau – Limmer. Sie haben vor zwei Wochen gefehlt, nicht wahr?“

„Ja, das tut mir Leid, in der Woche ging es mir wirklich schlecht, ich hatte eine Art Darmgrippe.“ Darmgrippe war prima, alle Welt war sofort voller Mitleid, weil man damit ja wirklich an sein Badezimmer gefesselt war. Mit dieser Entschuldigung erweckte man nie Misstrauen, eher Bewunderung dafür, dass man eine so peinliche Krankheit ehrlich gestand. Überhaupt – je weniger dekorativ die Krankheit, desto überzeugender die Ausrede! Mit so etwas Malerischem wie Migräne (ohne Kotzen) konnte man keinen Eindruck schinden, aber mit einer Nacht, in der man sich pausenlos übergeben hatte, schon.

„Nun, das kann ja mal passieren“, meinte er dementsprechend gnädig, „aber da haben Sie wahrscheinlich nicht mitbekommen, dass wir in der nächsten Woche eine Zwischenklausur schreiben, die auch zur Note des Scheins beiträgt. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen.“

Ich bedankte mich artig für den Tipp. Mist, da musste ich ja richtig lernen!

„Was habe ich denn in dieser Stunde verpasst?“, erkundigte ich mich sicherheitshalber. Er lächelte beruhigend. „Das können Sie alles nachlernen, lesen Sie Zörner, Das Wesen der Commentarii, dann wissen Sie alles Nötige.“

Wahrscheinlich wieder so ein Schinken, der überall ausgeliehen war, überlegte ich mir ärgerlich, zwang ein falsches Lächeln in mein Gesicht und verabschiedete mich. Bis zur Tacitus-Vorlesung hatte ich noch zwanzig Minuten – genug für die Bibliothek? Ich rannte die Treppen hinunter in den muffigen Kellerraum und wühlte mich durch den altmodischen Karteikarten-Katalog. Wann stellten die endlich mal auf Computer um? 2Cae27, murmelte ich vor mich hin und sauste die Regale entlang. Da, tatsächlich – und es war nur ein Artikel, den konnte ich sofort kopieren.

Ich kassierte zwar einen Anschnauzer von der Aufsicht, als ich flüsternd die anderen Benutzer belästigte, ob sie mir fünf Mark wechseln konnten, aber schließlich hatte ich das passende Kleingeld, und – oh Wunder – der altersschwache Kopierer war nicht defekt. Ich kopierte siebzehn Seiten und raffte alles glücklich an mich, stopfte das Buch ins Regal zurück, fischte meine Benutzerkarte aus dem Kästchen, schnappte meine Tasche und rannte wieder hinauf in den kleinen Hörsaal neben dem Hinterausgang. Ich schaffte es sogar noch, auf einen Platz zu schlüpfen und meinen Block aufzuschlagen, bevor der Professor eintrat. Anscheinend war das Glück doch mit den Tüchtigen! Ich kritzelte ganz klassisch gebildet fortes fortuna adiuvat quer über meinen Block und schrieb dann eine Stunde fieberhaft mit. Zwischendurch gelang es mir sogar, meiner Nachbarin abzuhandeln, dass sie mir ihre Notizen von letzter Stunde kopieren wollte. Dann wäre die Vorlesung – bis jetzt wenigstens – regelrecht vollständig, so etwas war schon länger nicht mehr vorgekommen. Voller Selbstzufriedenheit gönnte ich mir eine Breze am Imbissstand in der Katharinenstraße und kaufte im Drogeriemarkt nebenan noch eine Flasche Gardinenwaschmittel Marke Superweiß. Die vielen Warnhinweise, die auf brutalste Chlorbestandteile hinwiesen, erschienen mir sehr viel versprechend.

Die Kassiererin musterte mich zweifelnd. „Wollen Sie das Zeug wirklich? Es ist umweltschädlich und hochgiftig, wir haben auch viel verträglichere Mittel in unserem Sortiment.“

„Ich glaub´s Ihnen, aber ich muss Kneipengardinen waschen, ich glaube, die hängen schon seit Jahren.“

Sie lachte. „Na, damit kriegen Sie sie sicher weiß, aber es kann sein, dass das Zeug Löcher hineinfrisst. Achten Sie genau auf die Dosierung, nehmen Sie ja nicht mehr! Eine Kundin hat sich schon mal beschwert, dass sie damit ihre Wäsche ruiniert hat. Wir sollten den Mist gar nicht mehr führen, das eignet sich besser zum Kloputzen als zum Gardinenwaschen.“

„Ausgezeichnet, dann kippe ich die gebrauchte Lauge ins Klo und habe gleich noch etwas erledigt“, flachste ich und zahlte. Sicherheitshalber verbarg ich die Flasche aber ganz unten in meiner Tasche – nicht, dass mich in der Stilübung arglos-tugendhafte Augen über Latzhosen und Lamapullis vorwurfsvoll musterten.

Die Stilübungen waren wie immer eher langweilig, aber wenigstens konnte ich meine Übungsaufgaben mitkorrigieren und feststellen, dass es bei mir – wie immer – an der Zeitenfolge, am Konjunktionengebrauch und an der Sicherheit in den Konstruktionen haperte. Wieso war das hier gar kein ablativus absolutus? Fragen wollte ich nicht so gerne, vielleicht war das etwas ganz Elementares, und ich würde mich als völlige Idiotin outen – oder doch wenigstens als jemand, der in den vergangenen Stunden nur physisch oder überhaupt nicht dagewesen war. Ich verbesserte mit Rot und hoffte, dass ich mich später aufraffen konnte, diese Lücken auch zu schließen, ein Übungsbuch zur Syntax hatte ich ja zu Hause, gerade, dass ich es aus seiner Folie genommen hatte.

Endlich war auch diese Veranstaltung vorbei und befreit eilte ich aus dem Hörsaal. Wenigstens fragte hier niemand, warum ich in der letzten Woche gefehlt hatte – dieser Kursleiterin war egal, wer kam, jeder durfte die Klausur mitschreiben. Wer nie mitgearbeitet hatte, würde sie wohl ohnehin nicht bestehen... Hoffentlich ging es mir nicht so, aber bis Februar müsste ich die gröbsten Lücken doch noch schließen können!

Ich trabte flott nach Hause, um meine Unitasche loszuwerden und außer der Brutalbleiche noch einiges mitzunehmen, was mir beim Putzen nützen konnte. Ach ja, die Poster brauchte ich auch noch – und Schere und Tesafilm – oder besser diese Posterklebestreifen, wo waren die schon wieder? Hatte ich die nicht in die oberste Schublade-? Schließlich hatte ich alles gefunden und in meine Tasche geworfen, mich noch einmal flüchtig gepudert und parfümiert und eilte wieder aus der Wohnung. Von Anke war nichts zu sehen, die hatte bis drei eine Examensübung in Französisch. Ich legte ihr einen Zettel hin, auf dem ich ihr das tiefgefrorene Frikassee empfahl und den vorgekochten Reis, alles ganz vorne im Gefrierfach, und mit der Mikrowelle musste doch sogar Anke zurechtkommen?

Kurz vor zwei betrat ich Rudis Rastplatz. Wirklich, der Name musste weg!

Rudi polierte Gläser hinter der Theke und strahlte, als er mich sah. „Schön, dass du schon da bist!“ Ach, waren wir jetzt per du? Na, wenn er das wollte, er war schließlich der Chef.

„Das hatten wir doch so ausgemacht?“, antwortete ich nur.

„Hast du eine Ahnung, wie viel Termine ich schon ausgemacht habe, die dann nie eingehalten wurden. Willst du wirklich die Fenster putzen?“

„Wir könnten natürlich auch stärkere Birnen einschrauben, aber Fensterputzen ist billiger. Hast du zufällig einen Putzeimer? Ich würde gerne die Gardinen bleichen. Bis wir aufmachen, hängen sie schon wieder, versprochen!“

„Tolle Idee!“ Er rannte in die Toiletten und holte einen Eimer und einen Holzstock zum Umrühren.

Ich rückte währenddessen die halbtoten Blattpflanzen beiseite – die brauchten auch einmal ein Tauchbad, obwohl, sie waren total hässlich, es war einfach zu dunkel hier. Dann hob ich die Vitragestangen an und ließ die Gardinchen heruntergleiten, die vor lauter Dreck und Nikotin schon ganz steif waren und entsetzlich rochen, sogar für eine Raucherin wie mich. Alle Pflanzen wanderten auf einen der Tische, so konnte ich nachher gleich richtig die Fenster putzen. Rudi verfolgte gebannt, wie ich den Eimer mit möglichst heißem Wasser füllte und einen ordentlichen Schuss Bleiche hineinkippte. Die zusammengeknüllten Gardinchen tauchte ich mit dem Stock unter, in diese Lauge wollte ich nicht fassen, weder mit der bloßen Hand noch mit Gummihandschuhen, die ich im Übrigen auch gar nicht hatte. Ich stocherte ein bisschen in dem Eimer herum und beobachtete, wie die Lauge sich braun färbte.

„Schau mal, Rudi!“

Rudi beugte sich über den Eimer. „Scheiße, wie peinlich! Die hingen zwar schon, als ich den Laden übernommen habe, aber ich hätte sehen müssen, wie siffig die sind.“

„Das sieht man doch jetzt viel deutlicher“, tröstete ich ihn und stellte den Eimer in die Ecke. Mit einer neuen Rolle Küchenkrepp und einer großen Sprühflasche bewaffnet, nahm ich die Fenster in Angriff. Erstaunlich, wie gelbbraun verfärbt das Papier sofort aussah! Hier lohnte sich das Putzen wenigstens wirklich… Ich kicherte leise vor mich hin und putzte weiter; als alle Fenster einen einigermaßen ordentlichen Eindruck machten – von innen und außen – putzte ich auch noch schnell draußen über den Schaukasten. Dann füllte ich das Waschbecken in der Damentoilette und stellte die ersten beiden Pflanzen hinein. Rudi polierte währenddessen die Bar und verschwand immer wieder in der Küche, wo er in diversen Töpfen herumrührte.

Ich goss die braune Brühe in das erste Klo, wobei ich die Gardinen mit dem Stock zurückhielt, und füllte dann in der Küche heißes Wasser und noch etwas Bleiche nach. Dieses Mal wurde die Lauge nur noch blassgelb, eindeutig ein Fortschritt! Ich ließ den Eimer erst einmal stehen, holte mir den Staubsauger aus dem Abstellkämmerchen neben den Toiletten, das Rudi mir gezeigt hatte, und saugte die Staubmäuse in den Ecken auf. Diese Putzfrau hatte anscheinend wirklich nur in der Küche gewirkt! Rudi kam aus der Küche und zeigte mir, wie man die einzelnen Posten in die Kasse eingab und wie man sich die Tischnummern merkte.

„Obwohl das nicht so furchtbar anstrengend ist, weil der Laden noch nie richtig voll war.“

„Kommt alles noch“, behauptete ich zuversichtlicher, als ich mich fühlte. Ich lernte noch, wie man richtig Bier zapfte – am Weißbier scheiterte ich zunächst, das Glas enthielt fast nur Schaum.

„Erst ausspülen und dann das Glas ganz schräg halten“, erklärte Rudi geduldig. Als ich es endlich konnte (schade um das Bier, das keiner von uns jetzt trinken wollte), wässerte ich die nächsten beiden Topfpflanzen und wischte die alten hölzernen Fensterbretter feucht ab. Mir kam es schon so vor, als sei es in der Kneipe deutlich heller geworden.

Als sehr mühsam erwies es sich, die Gardinen auszuspülen, ohne sie anzufassen. Für das giftige Zeug konnte ich die Küchenspülen nicht benutzen, also musste ich das alles im Männerklo machen, denn bei den Damen weichten ja noch die Blumentöpfe ein. Schließlich waren die Gardinen soweit gespült, dass ich mich traute, sie anzufassen und kräftig auszuwringen. Schon kurz vor drei, so viel Zeit hatten wir gar nicht mehr!

Rudi beruhigte mich. „Um Punkt vier machen wir zwar auf, aber da kommt meist noch gar niemand. Wir haben noch genügend Zeit!“

„Ich habe einige Poster dabei“, fing ich an und reichte ihm die Rollen und die Klebestreifen, „und diesen albernen Starschnitt.“

Rudi stieg auf eine der Holzbänke, und nahm den Strohblumenkranz von der Wand, der unter seiner Berührung den größten Teil seiner staubigen Blüten verlor. „Ab in den Müll damit!“

Er hängte den Starschnitt schön gerade an die hintere Wand, wo er richtig gut wirkte. Ich dirigierte ihn mit kritischen Bemerkungen, aber schließlich waren wir beide sehr zufrieden. Die Poster landeten gleichmäßig verteilt an den anderen Wänden. „Was gibt es heute eigentlich zu essen?“

„Das übliche. Und Erbsensuppe mit Würstchen.“

„Als Tagesgericht?“

„Tagesgericht? Keine schlechte Idee, zum Sonderpreis. Immer nur eins, dann ist die Vorbereitung überschaubar...“ Er sinnierte.

„Chili vielleicht, oder Tagliatelle all`Arrabiata, Lasagne, dicke Minestrone – da hab ich ein super Rezept. Nein, Minestrone darf nicht zu lange kochen, sonst wird das Gemüse matschig. Schinkennudeln mit Erdnüssen...“, schlug ich vor.

„Klingt toll, aber jeder zweite hat ja eine Nussallergie. Lieber ohne. Aber der Vorschlag gefällt mir. Ich sollte eine Tafel neben der Bar aufhängen und die Speisekarte darauf schreiben...“

Ich lachte. „Das hab ich mir auch schon überlegt. Ein bisschen wie im Stockinger, nur mit besserem Essen. Und was ist mit Musik?“

„Was für Musik?“

„Also stilecht wäre natürlich eine Musicbox, Wurlitzer und so, aber ich denke, für den Anfang tut es auch ein Radio mit einem flotten Sender. Einfach, damit es hier nicht so still ist.“

Ich fädelte die feuchten Gardinen wieder auf die Stangen und merkte, dass ich die Stangen wohl besser vorher gründlich abgewischt hätte. Egal, bei Gelegenheit sollten die Gardinen mal in die Waschmaschine. Wenigstens waren sie fast weiß geworden! Draußen schien eine schwächliche Sonne, nur leider nicht durch die Fenster, dazu war die Straße zu schmal, aber immerhin fiel das Licht recht ansprechend durch die Gardinen.

Ich setzte die Pflanzen wieder auf ihre hässlichen grünen Plastiktellerchen und arrangierte sie – auf jeder Fensterbank eine. Dann sah ich mich zufrieden um. Nicht übel! „Eine derartige Veränderung hätte ich nicht für möglich gehalten!“, staunte Rudi. „Ich wusste doch, dass du ein Gewinn für den Laden bist!“

„Ja, zum Putzen und Dekorieren – aber vielleicht bin ich ja zu doof zum Servieren!“

„Sehr unwahrscheinlich. Hier, magst du Besteck wickeln?“

Ich wickelte brav Messer und Gabel in Papierservietten, bis der große Becher auf der Bar ganz voll war, dann verteilte ich Aschenbecher und Bierdeckelstapel auf den einzelnen Tischen, saugte die Reste des verstorbenen Blumenkranzes auf und verräumte den Staubsauger. Rudi bestand darauf, mir jetzt die Küche zu zeigen, damit ich wusste, wo alles war. Im Gegenzug gab ich ihm eine Kopie meiner Gesundheitsbescheinigung und meine Lohnsteuerkarte samt einem Zettel mit meiner Bankverbindung. Er legte alles in das kleine Büro hinter der Bar.

Noch eine Viertelstunde... „Ich komme gleich wieder!“, rief er mir zu und verschwand durch die Küche ins Treppenhaus.

Nun gut, ich musste ohnehin noch die Toiletten kontrollieren. Sauber waren sie, aber Klopapier fehlte und die Spiegel waren halb blind. Ich verteilte Klopapier, schaute nach, ob die Hygienebehälter leer waren – wenigstens etwas! – füllte die Seifenspender auf und putzte die Spiegel. Viel nützte es nicht mehr. In der Herrentoilette musste man die Pinkelrinne putzen; in der Abstellkammer fand ich eine entsprechende Flasche und schrubbte eifrig. Gut, so waren die Toiletten zwar nicht schön, aber doch immerhin benutzbar, ohne dass die Gäste schaudern mussten.

Als ich aus dem Klo kam und mich heftig nach einer Handcreme sehnte, stöpselte Rudi gerade einen Ghettoblaster mit CD-Deck ein und legte einen Stapel CDs bereit. Ich sah sie interessiert durch. „Kannst du den Falco auflegen? Den mag ich.“

„Ich auch. Hier, nach der Putzerei brauchst du das sicher!“ Er reichte mir eine Dose Hautcreme. Besser als nichts. Ich bedankte mich und massierte sie großzügig ein. Vier Uhr. Kein Gast in Sicht.

Ich setzte mich an die Bar, Rudi spendierte mir einen großen Spezi, wir hörten Falco und genossen die Ruhe. Erst gegen fünf kamen drei Mädchen, offenbar direkt aus der Uni, und belegten einen Ecktisch, wo sie sofort kichernd die Köpfe zusammensteckten. Ich eilte hin und nahm die Bestellung auf. Zwei Spezi, eine Apfelschorle, einmal Erbsensuppe, einmal kalter Braten, einmal Wurstsalat. Ich servierte die Getränke, während Rudi in der Küche verschwand.

Probleme hatte ich wenig später nur damit, alles gleichzeitig zu servieren, das Balancieren der Teller verlangte wohl noch etwas Übung. Ein Tablett wäre hilfreich! Rudi bedauerte, er würde gleich morgen eins besorgen.

Sobald die drei Mädchen mit ihrem Essen beschäftigt waren, legten wir eine Liste an, was Rudi morgen alles im Großmarkt besorgen sollte. Bessere Flüssigseife, zwei neue Spiegel in der exakt gleichen Größe, Kerzenhalter und Kerzen für die Tische, Zutaten für Chili und Schinkennudeln... Ich trug ihm meine Idee vor, kleine Knabbereien zu verkaufen, das gefiel ihm und er wusste auch, wo man kleine Tüten Chips und Nüsse günstig bekam. Dazu einen Stapel Schälchen, damit die Gäste nicht immer in die fettigen Tüten fassen mussten. Keine Tischtücher, das passte nicht hierher.

Zwei mittelalterliche Männer mit Kunstlederaktenkoffern und schütterem Haar kamen herein und verzogen sich in die andere Ecke, wo sie sofort ihre Koffer auspackten und sich in ihre Unterlagen vertieften. Verhandlungen? Bilanzen von Vertretern? Sie orderten zwei große Helle und den gebackenen Fisch mit Kartoffelsalat und Remoulade und wirkten zufrieden mit dem Service. Die Mädchen auf der anderen Seite verlangten nun drei Gläser Prosecco – sehr gut, so etwas brachte Umsatz, soviel wusste sogar ich schon.

„Gibt´s was zu feiern?“, fragte ich, als ich den Prosecco servierte.

„Klar, wir haben unsere letzten Scheine gekriegt – jetzt kommt das Examen!“

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich, nicht ohne Neid.

„Sie sind neu hier, nicht?“

„Ja“, gestand ich, „das merkt man wohl noch?“

„Nein, Sie machen das schon richtig, aber Sie sind viel netter als die vorige Bedienung. Und irgendwie sieht der Schuppen auch besser aus als sonst.“

„He!“, rief ihre Nachbarin da, „sind das etwa Take That? Ich lach mich tot, meine große Schwester hat damals so geweint, als Robbie Williams abgehauen ist – oder haben die anderen ihn rausgeworfen?“

„Weiß ich auch nicht mehr“, musste ich gestehen und tauschte den Aschenbecher gegen einen sauberen aus, „obwohl ich damals auch Rotz und Wasser geheult habe. Da sieht man, wie wichtig das ist, was man sich in der Unterstufe so einbildet!“

Alles lachte, und ich ging, um die beiden Vertreter zu fragen, ob alles nach Wunsch sei. Sie wollten jeder noch ein Bier, und, ja, der Fisch sei sehr lecker. Im Lauf des Abends tauchten in kleinen Gruppen noch ungefähr zwanzig Gäste auf, und zu meiner großen Erleichterung kippte ich niemandem Bier über den Kopf oder Essen in den Schoß. Allen schmeckte es – Rudi konnte offenbar wirklich kochen -, alle waren zufrieden, ich flachste mit den Gästen, außer mit einem einzelnen Herrn, der mich sehr unerfreulich beäugte, und kassierte im Lauf des Abends rund dreißig Mark an Trinkgeld. Und bis Mitternacht hatte ich immerhin zehn Stunden gearbeitet und damit hundertfünfzig Mark verdient. Allerdings waren auch meine superbequemen Turnschuhe mit zehn Stunden auf den Beinen etwas überfordert, und so war ich nicht allzu traurig, als Rudi sich umsah und meinte: „Jetzt kommt auch keiner mehr, machen wir für heute zu.“ Er stellte die Stühle auf die Tische, ich räumte die Spülmaschine ein und startete sie. Die Klos kontrollierte ich heute nicht mehr, mir reichte es.

„Kannst du morgen auch wieder um zwei kommen? Dann reden wir über die Sache mit dem Tagesgericht. Aber putzen soll morgen die Frau Treible, wenigstens durchsaugen und die Tische abwischen. Und die Toiletten, natürlich. Einverstanden?“

„Einverstanden“, antwortete ich, todmüde, aber sehr zufrieden und verabschiedete mich. Der Heimweg war zwar kurz, aber mühsam, doch ich tröstete mich damit, dass meine Füße sich schon an die Arbeit gewöhnen würden. Gegen halb eins war ich daheim, schlich in mein Zimmer, ließ meine Klamotten fallen und sackte ins Bett, ohne mich noch abzuschminken oder mir die Zähne zu putzen. War ich fertig! Ich schlief ein, noch bevor ich mich richtig in meine Decke gemummelt hatte.

Geklapper und Kaffeeduft weckten mich am nächsten Morgen. Äh – wie spät? Ich rollte zur Seite und warf einen missmutigen Blick auf die Leuchtziffern meines Weckers. Halb acht... Na, das ging doch, und ich hatte heute einiges vor. Zähneputzen, zum Beispiel – der Geschmack auf meiner Zunge war schauderhaft. Und waschen. Und gucken, was sich noch alles hinten in meinem Kleiderschrank herumtrieb. Und vielleicht sogar den schönen lavendelblauen Baumwollpulli wiederfinden, der musste doch irgendwo sein? Und über die Tagesgerichte nachdenken. Und, wenn mir ganz furchtbar langweilig sein sollte, vielleicht sogar die Ausbeute von gestern überarbeiten und ein bisschen übersetzen üben... Als ich aus dem Badezimmer kam, ein feuchtes Handtuch umgewickelt, grinste Anke mir entgegen. „Na, lebst du noch? Erzähl, wie war´s?“

„Super. Nur meine Füße fallen mir fast ab. Rudi ist total nett, und die Kneipe sieht schon gar nicht mehr so furchtbar aus. Aber mehr Gäste bräuchten wir. Immerhin, rund dreißig Mark Trinkgeld, nicht schlecht, was? Und ich war gestern in der Uni total brav. Bitte lobe mich!“

Anke strich mir über das verstrubbelte Haar. „Gutes Kind! Bist du zufrieden mit dir?“

„Ziemlich“, gab ich zu und schenkte mir Tee ein.

„Na, dann gönn dir das tolle Gefühl heute auch noch.“

„Hab ich vor. Aber heute koche ich was Ordentliches zu Mittag, versprochen. Und ich hab eine lange Liste im Kopf, was ich alles machen will.“

„Sag bloß – dann müssen deine Schmöker heute ohne dich auskommen?“

„Der nächste Band mit dem Kommissar und seiner heißen Assistentin kommt erst im Januar raus, bis dahin kann ich genauso gut was arbeiten. Magst du heute Mittag Scaloppine mit Spaghetti?“

„Au ja! Ich gehe nachher noch kurz in die Stadt, soll ich dir was mitbringen?“

Ich überlegte, aber wenn ich an meinen Kontenstand und an mein unordentliches Zimmer dachte... „Nein, ich hab genug Schotter herumliegen. Höchstens blaue Patronen, aber dringend ist das auch nicht. Ich werde waschen, aufräumen, vielleicht ein bisschen lernen – und um zwei gehe ich wieder in die Kneipe, wir wollen über Tagesgerichte nachdenken.“

„Sag mal“, begann Anke und strich sich Schmelzkäse auf eine sorgfältig halbierte Breze, „wäre dieser Rudi wirklich nichts für dich?“

„Man fängst nichts mit seinem Chef an“, belehrte ich sie von oben herab, „und er ist zwar nett, aber kribbeln tut da nichts. Außerdem hab ich mit dem Ärger in der Uni und dem Pleitegeier und der Kneipe wirklich genug am Hals, einen Mann brauche ich nicht auch noch.“

„Wie lange bist du jetzt solo?“

„Zwei Jahre, warum?“

„Ganz schön lange. Vermisst du nichts?“

„Nein. Gut, das bisschen Sex – aber wenn man dafür dieses Gockelgehabe und das dumme Gewäsch ertragen muss? Denk doch mal an Tobias – die ganze Welt hat sich nur um ihn gedreht. Wenn er nicht abgehauen wäre, hätte ich mit ihm Schluss gemacht. Dass ich nicht schneller war, ist das Einzige, was mich heute noch fuchst“, gab ich schief lächelnd zu. „Also kein Liebeskummer, nur Ärger über den Prestigeverlust?“ Anke schaute mich spöttisch an.

„Stimmt. Glaubst du ernsthaft, das brauche ich so bald wieder?“

„Es sind doch nicht alle Kerle gleich!“

Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu und strich mir Brombeermarmelade auf eine Scheibe Toast. „Hatten wir das Thema nicht erst kürzlich? Warum willst du mich eigentlich unbedingt unter die Haube bringen? Glaubst du, alleine schaffe ich es nicht im Leben? Oder willst du davon ablenken, dass du selber einen im Auge hast?“

Anke wurde rot und ärgerlich. „Unsinn. Ich doch nicht! Ich kann mir das zeitlich doch schon gar nicht leisten!“

Naja, wenn sie meinte... Aber ich brauchte wirklich auch keinen Kerl! Sie sah mich schon wieder prüfend an. „Wolltest du nicht in die Stadt?“, schlug ich pampiger vor als ich wollte. Gott sei Dank, sie stand auf und suchte ihre Siebensachen zusammen. Bei Anke ging das immer schnell, sie wusste stets, wo Geldbeutel und Schlüssel waren, und sie schrieb sich auch Einkaufslisten, die sie dann tatsächlich mitnahm. So weit hatte ich es noch nie gebracht! Ich beobachtete, wie sie aufbrach, zog mich an und putzte dann gemütlich die Küche. Neun Uhr... Noch viel Zeit!

Im Kleiderschrank hatten nicht nur das rosa Sweatshirt und die grauen Jeans gelegen, sondern auch eine entzückende rosa Wäschegarnitur, die ich schon fast vergessen hatte, mehrere Socken, deren Verschwinden ich bereits der Waschmaschine angekreidet hatte, und zwei graumelierte T-Shirts, die man immer brauchen konnte. Von dem Baumwollpulli leider keine Spur! Ich stopfte alles in die Maschine, räumte den Schreibtisch ein bisschen auf, bezog mein Bett frisch und stocherte mit dem umgedrehten Besen unter dem Bett herum. Erstklassige Ausbeute! Zwei Fernsehzeitschriften, eine vom Juli, eine vom September, eine Mahnung der Bank, zwei Krimis, flauschig von Staubmäusen umrahmt, noch ein Socken, ein einzelner Handschuh, ein uralter Playboy...

Ich schob die Krimis ins Regal, nachdem ich heftig mit ihnen gewedelt hatte, warf die Wäsche auf einen neu anzulegenden Haufen, schmiss die Zeitschriften ins Altpapier und suchte weiter. Vielleicht im Schrank unter dem Regal, wo ich das tote Strickzeug entdeckt hatte? Zwei Spielesammlungen, ein Stapel unsortierter Papiere, noch mehrere Bücher, ein Schein, sogar gestempelt (sofort in die Scheinmappe damit! Vielleicht brauchte ich den noch einmal dringend!).

Hinter dem Vorhang stand eine leere Kiste für Kopierpapier; ich stellte sie auf den Schreibtisch und warf alles herumliegende Papier hinein. Bei Gelegenheit musste ich dringend richtig abheften – oder wegschmeißen, das meiste war wahrscheinlich längst überholt. Aber wo konnte der Pullover sein? Mein bestes Stück! Auf dem Kleiderschrank? Ich schleifte den Stuhl vor den Schrank und stieg darauf. Nein – eine beeindruckende Staubschicht, zwei noch viel ältere Zeitschriften, das war´s. Ich fuhr mit der Hand über die Schrankoberfläche und wischte mir die graue Hand dann an den Jeans ab. Klasse, vielleicht sollte ich doch mal zu Staubtuch und Staubsauger greifen? Und wo konnte der Pullover sein? Frustriert kehrte ich in die Küche zurück, rauchte eine Zigarette und schrieb mir auf, welche Tagesgerichte leicht vorzubereiten und warmzuhalten waren. Auf jeden Fall Chili, das wurde vom Warten nur noch besser. Spaghetti Bolognese auch, aber das war leider fast das gleiche... Freitags war Fisch mit Kartoffelsalat das Optimum, und ich konnte einen exzellenten Kartoffelsalat mit roten Zwiebeln machen.

Schinkennudeln, wie gestern besprochen, waren einfach das klassische Kneipenessen, Erbeneintopf mit ordentlich Rauchfleisch und Semmeln – wie im legendären Aschinger in Berlin. Was noch? Wir hatten sechs Tage in der Woche geöffnet. Zunächst fiel mir weiter nichts ein, also räumte ich die Maschine wieder aus und hängte die Wäsche auf. Ich konnte mal den Boden des Kleiderschranks auswischen. Erstaunlich, was für ein Staub sich dort angesammelt hatte! Und warum sah das Fach daneben so unordentlich aus? Was war da eigentlich drin – außer einigen extrem ungebügelten T-Shirts? Hochinteressant: zwei Paar Ballerinas, leicht verknautscht, noch eine Wäschegarnitur – und der vermisste Pullover! Dann konnte ich ja gleich noch eine Ladung waschen! Während das Wasser erneut zischend einlief, wischte ich den Schrank feucht aus und schichtete die vorhandenen Klamotten ordentlich auf – bis auf den senfgelben Chenillepullover, der war derartig ausgeleiert und abscheulich, der konnte in die Altkleidersammlung.

Als ich die zweite Ladung noch mit Mühe und Not auf dem sich biegenden Wäschegestell unterbrachte (nasse Jeans und Pullover überforderten die dünnen Drähte eindeutig), fiel mir auch noch ein weiteres Tagesgericht ein: Gemüselasagne (auch dafür hatte ich ein wunderbares Rezept) und fetagefüllte Hackfleischbällchen mit Tsatsiki. Damit hatten wir doch eine nette Auswahl!

Während ich mein Zimmer endlich einmal gründlich staubsaugte und eine gewaltige Menge Müll hinuntertrug (eigenartig, meine Füße taten mir gar nicht mehr weh), dachte ich weiter über die Speisekarte nach. Vielleicht eine kleine Sandwichauswahl? Mir schwebte etwas Pubartiges vor, richtige Sandwichs aus Weißbrot, mit Gurkenmayonnaise, Schinken, Käse und hartem Ei, selbstverständlich auch mit dem unvermeidlichen Salatblatt. Und vielleicht sogar täglich einen leckeren Partysalat – mit Geflügel, Thunfisch oder Tortellini? Nudeln, Käse, Mais und Erdnüsse? Hering mit roten Beeten und Kartoffeln? Dazu richtig gute Vollkornsemmelchen? Ich sollte mal das Angebot der umliegenden Bäcker studieren... Ach was, das konnte Rudi eigentlich ruhig selbst machen! Aber ich setzte mich doch hin und schrieb alle meine Ideen sauber auf, um Rudi später den Zettel geben zu können. Mal sehen, was ihm davon gefiel! Und ob er wohl die Tafel und Kreide gekauft hatte?

Ich hatte eine tolle Idee – in der Florianstraße gab es doch diesen Sci-fi-Laden, der gerade Räumungsverkauf hatte (war wohl nix mit den Star Wars- und Startrek-Fans), dort gab es sicher krasse Poster für ein Spottgeld! Vielleicht sollte Rudi noch ein, zwei Poster mitnehmen? Und vielleicht kamen ja auch Leute vorbei und fragten, ob sie etwas aufhängen konnten?

Wie war es mit Veranstaltungen? Schafkopfrennen, Auftritte von Chansonnieres? Ein Weihnachtsbazar? Oder brauchte man dafür wieder eine extra Genehmigung? Das musste Rudi ja wohl wissen, nicht ich! Und über Weihnachten konnten wir vielleicht wirklich mal die Toiletten anständig renovieren. Was zahlte Rudi wohl an Pacht? Wahrscheinlich eine ganze Menge, die Lage war schließlich so übel nicht. Andererseits war das Haus in nicht gerade glänzendem Zustand...

Ich wischte kräftig Staub und putzte sogar das Fenster, durch das eine kraftlose Novembersonne schien, dann bügelte ich den Teil der Klamotten, der schon einigermaßen trocken war. Mein Zimmer sah nun direkt so aus, als hätte ich mein Leben im Griff, und ich war tief von mir selbst beeindruckt. Um eins wollte Anke zum Essen wieder da sein, und jetzt war es erst Viertel nach elf... Die Küche glänzte, soweit das bei der vergammelten Sechziger-Jahres-Einrichtung möglich war; ich trug noch das gesammelte Altpapier zum Container, dann blieb mir wirklich nichts mehr zu tun, als meine Mitschriften abzuheften und einen schönen Ordner für das laufende Semester anzulegen. Ich quälte mich sogar durch eine Übung zu den Feinheiten der Kasuslehre und bestellte mir telefonisch einige Bücher für die Terenz-Seminararbeit, spitzte Bleistifte, warf allerlei Papier aus der Kiste weg, die ich vorhin gefüllt hatte, und trieb mich schließlich ruhelos in der Wohnung herum. Am liebsten wäre ich schon wieder in die Kneipe gegangen, aber das war lächerlich; Rudi erwartete mich erst um zwei und ich hatte auch gar keinen Schlüssel. Außerdem hatte ich Anke schließlich ein Mittagessen versprochen. Lustlos übersetzte ich ein Stückchen Xenophon und schrieb mir auf, welche Stunden von welchen Vorlesungen mir noch fehlten, dann rief ich meine Eltern an und sagte mich für morgen bei ihnen zum Mittagessen an. Wie üblich klang meine Mutter, als täte sie mir einen Gefallen, wenn sie mich durchfütterte, dabei wusste ich, wie säuerlich die beiden wurden, wenn ich nicht regelmäßig bei ihnen auftauchte. Wirklich typisch! War ich nicht da, war ich undankbar und pflichtvergessen, war ich da, stand ich nur im Weg und war eigentlich eher lästig. Ich beschloss, nach dem Essen mit dem Hinweis auf berufliche Verpflichtungen schnell wieder zu verschwinden. Leicht verärgert legte ich auf. Und ob Sandra oder Daniel da sein würden, hatte ich zu fragen vergessen! Und dafür musste ich mich morgen mit dem Bus nach Mönchberg hinausquälen, wirklich eine geniale Idee! Geld gab es dort garantiert auch nicht.

Unzufrieden stromerte ich durch die Wohnung – jetzt einen spannenden neuen Krimi! Und Hunger hatte ich allmählich auch, aber ich beschloss, das zu ignorieren, solange die Jeans um den Hintern herum noch so stramm saßen. Wenn Anke kam, war es noch immer Zeit, etwas zu essen!

Kurz nach zwölf... Ich deckte den Tisch und packte schon einmal die Unitasche für Montag – obwohl ich montags gar keine Veranstaltungen hatte, nur eigentlich in die Bibliothek gehen sollte. Warum hatte ich montags eigentlich nichts? Wo war das Vorlesungsverzeichnis? Ich wühlte in meinem Zimmer herum, fand aber nichts. Wahrscheinlich hatte Anke es, aber in ihr Zimmer wollte ich in ihrer Abwesenheit nicht gehen. Wann kam sie denn endlich zurück?

Anke kam um zwanzig vor eins, mit haufenweise Tüten in beiden Händen und einem Bärenhunger. Ich setzte sofort Spaghettiwasser auf und wälzte die Scaloppine in Parmesanpanade. Anke schob die Teller auf dem Küchentisch beiseite und begann auszupacken: für ihren Vater einen richtig schönen Pullover, außerdem Bücher, Knabbereien, Schaumbad, zwei CDs, ein Snackkochbuch, ein neues Wunderputzmittel und die aktuelle Fernsehzeitschrift. Zurzeit war sie in Kaufrauschstimmung. „Du musst wirklich zuviel Geld haben“, tadelte ich sie halbherzig und musterte ihre Beutestücke. „Da! Das ist für dich“, entwaffnete sie mich und überreichte mir das Snackkochbuch. Ich war gerührt. „Ehrlich? Zu Weihnachten? Jetzt schon?“

„Nein, bloß so. Weil ich so froh bin, dass du wieder Schwung gekriegt hast. Auch wenn es bloß die Kneipe ist – ich hatte einfach Angst, dass du total in Lethargie versinkst. Und jetzt bist du so aktiv, Respekt!“

Ich lachte verlegen. „Ich bin erst einen Tag lang so aktiv. Warte ab, ob ich es durchhalte!“

„Ich würde sagen, es sind schon zwei Tage. Als ich heimgekommen bin, warst du nicht auf deinem Bett in einen Schmöker vertieft.“

„Ich hab auch gewaschen und mein Zimmer geputzt und Bücher bestellt!“, protzte ich und fischte die Spaghetti aus dem Wasser. Als ich Anke ihren Teller reichte, vergaß sie ihre Einkäufe und vertiefte sich gierig in ihr Essen. Mir schmeckte es auch, wenn ich auch im Gedanken an meinen Hüftumfang mehr Nudeln und Salat und nur ein ganz kleines Schnitzel nahm. Anke bemerkte das. „Abnehmen willst du jetzt auch noch? Oder was soll dieses Kaloriensparmenü bedeuten?“

„Naja, ein bisschen“, gab ich zu. „Ich hab so einen Rossarsch, finde ich.“

„Genau, worauf die Männer stehen“, grinste Anke mit vollem Mund. „sei doch froh! Ein echter Hingucker.“

„Toll, was hab ich davon, wenn mir die Kerle auf den Arsch glotzen oder womöglich noch darauf herumtatschen! Ich würde lieber in kleinere Jeans passen“, murrte ich und nahm mir den Rest Salat.

„Dann können wir ja nicht mehr tauschen“, protestierte Anke.

„Ach komm, wegen einer Größe, das geht schon noch. Bist du fertig? Ich wäre gerne um zwei wieder in der Kneipe.“

„Das scheint ja süchtig zu machen! Na, hau ab, ich mach die Küche.“

Ich stand auf und umarmte sie kurz. „Du bist wirklich die Beste. Vielen Dank! Wir sehen uns morgen beim Frühstück. Danach muss ich mal in Familie machen, mir graut schon. Schönen Nachmittag wünsche ich!“

Ich sammelte die Zettel ein, die ich für Rudi bekritzelt hatte, stopfte alles in die Tasche, puderte mich noch ein bisschen – die Pickel waren schon deutlich kleiner geworden, eigenartig! – und eilte davon. Erst kurz vor der Kneipe merkte ich, dass ich die falschen Schuhe anhatte. Egal, das würde schon gehen, man gewöhnte sich ja bestimmt schnell daran, so lange auf den Beinen zu sein. Und was das an Kalorien verbrauchte! Herrliche Bilder von gertenschlanken Hüften und einem winzigen, eleganten Hintern tauchten vor mir auf.

Rudi stand wieder hinter der Theke und polierte Gläser. Das schien seine Lieblingsbeschäftigung zu sein. Er lächelte mir freundlich zu. Nette Pausbäckchen hatte er! Und tatsächlich hing eine Tafel neben der Bar. Rudi bemerkte meinen anerkennenden Blick. „Und, was sollen wir draufschreiben?“

„Was hast du denn schon fertig?“

„Wurstsalat und Chili. Kalter Braten ist noch da. Was schlägst du vor?“

„Vielleicht ein Sandwich? Kann ich mal schauen, was du da hast?“

„Geh nur. Übrigens, Knabberzeug hab ich gekauft. Was kann man dafür verlangen, was glaubst du?“

Ich warf einen Blick auf die kleinen Tütchen. „Was hast du bezahlt?“

Er überlegte kurz. „Im Schnitt siebzig Pfennig, glaube ich.“

„Nimm einsfünfzig. Und ab Januar fünfundsiebzig Cent, das sieht dann noch nach Preissenkung aus.“

Ich verschwand in der Küche. Die Riesenkühlschränke waren gut gefüllt. Ich warf Rudi, der in der Tür lehnte, einen anerkennenden Blick zu.

„Ich war doch gerade im Großmarkt!“

Mayonnaise, Schinken, Eier, Salat, Grahambrot – für Sandwichs war gesorgt. Ich packte die Zutaten zusammen in ein Fach und erklärte Rudi kurz, wie ich mir das Sandwich vorstellte. Er feixte.

„Entschuldige“, sagte ich verlegen, „du hast ja sicher schon mal ein Brot geschmiert, nicht? Aber das könnte gut gehen. Vier Mark? Das Grahambrot kann man auch ziemlich gut toasten...“ Ich wühlte weiter im Kühlschrank herum und entschied mich schließlich noch für Toast Hawaii. Nicht originell, wurde aber bestimmt gerne gegessen.

„Okay. Die meisten Kunden kommen ja ohnehin wegen des Biers und essen bloß eine Kleinigkeit dazu.“

Er schrieb die „neuen“ Gerichte auf die Tafel, die nun nicht mehr ganz so kläglich aussah, und da er auch noch eine Riesenkiste tiefgefrorene Apfelküchlein gebunkert hatte, gab es auch ein Dessert.

Wir verteilten Kerzen auf den Tischen, hängten die beiden Poster auf, die Rudi noch aufgetrieben hatte, ich wies ihn auf den Sci-fi-Laden hin, und dann brüteten wir über der Liste mit den Tagesgerichten. Rudi billigte alles.

Mittlerweile war es erst halb drei und wir hatten schon gar nichts mehr zu tun. Rudi legte die Liste auf seinen Schreibtisch und ich strich unruhig durch die Kneipe. Im Moment war wirklich nichts zu tun, und vor vier kamen keine Gäste. Die Gestalten, die an einem Samstagnachmittag um vier ein Bier brauchten, konnte ich mir außerdem schon vorstellen!

„Kann ich einen Kuchen backen? Darauf hätte ich jetzt Lust“, bekannte ich.

„Auf Kuchenessen?“

„Nein“, wehrte ich mich, „auf das Backen. Vielleicht verkaufen wir was davon, und wenn nicht, können wir ihn immer noch essen, oder du nimmst ihn mit nach Hause.“

„Nach oben, meinst du?“

„Was?“

„Ich wohne direkt über der Kneipe, die Wohnung gehört dazu“, erklärte er.

„Praktisch.“ Was sollte ich sonst schon sagen? Wohnte er wohl alleine dort? Ich schielte unauffällig auf seine Hände: Keine Ringe, aber ein Koch konnte ja auch schlecht welche tragen, oder?

Ich suchte nach Schüssel, Mixer und Zutaten und begann den Teig anzurühren. Rudi butterte ebenso wortlos eine geeignete Form aus. „Wohnst du schon lange hier?“, fragte ich dann schließlich und merkte sofort, dass diese Frage dumm war. Er konnte ja kaum länger hier wohnen, als er die Kneipe hatte, und das hatte er schließlich schon erzählt. Taktvoll war er aber, das musste man ihm lassen – er wies mich nicht auf meine Blödheit hin, sondern antwortete ganz unbefangen: „Seit zwei Monaten. Alles steht noch voller Kisten.“

„Was hast du vorher gemacht?“

„Mit einem Kumpel ein Bistro in der Altstadt geleitet, aber das lief nicht so besonders. Und davor war ich in einem Hotel tätig, in der Küche.“

„Wolltest du immer schon Koch und Wirt werden?“, fragte ich und schob die Form in den mittlerweile aufgeheizten Ofen.

„Eigentlich schon. Meine Mutter hatte mich zuerst zu BWL genötigt, aber nach ein paar Semestern hab ich das aufgesteckt. Völlig sinnlos. Die Buchführung kriege ich zwar hin, ich hab ein gutes Programm dafür, aber sonst finde ich Wirtschaft so furchtbar spannend nicht – Wirtschaften schon eher.“

Er lächelte, und ich erwiderte sein Lächeln unwillkürlich. „Ich glaube, mir macht das hier auch mehr Spaß als mein Studium. Aber jetzt hab ich schon zwölf Semester, jetzt muss ich wohl den Magister auch noch hinter mich bringen, was? Kann doch nicht alles für die Katz gewesen sein.“

„Und es kann ja nicht mehr lange dauern, oder?“

„Stimmt.“ Ich schloss die Ofentür und richtete mich wieder auf. Die Haare hingen mir in die erhitzte Stirn. „Der Job hier gibt mir direkt Auftrieb, ich hab heute Morgen sogar schon ein bisschen gelernt.“

„Sehr gut. Dann machen wir hier einen boomenden Laden und du erledigst nebenbei dein Examen. Was studierst du gleich wieder?“

„Latein, Griechisch und Alte Geschichte.“

„Ideale Ausbildung für die Gastronomiebranche“, schmunzelte er und bereitete Salate vor. Ich beobachtete fasziniert seine Handbewegungen. Wenn man ihn schnippeln und mischen sah, merkte man doch den Unterschied zwischen einem Profi und einer Amateurin wie mir. Das sagte ich ihm auch, und er lachte kurz. „Klar, das hab ich ja schließlich gelernt. Aber weißt du, woran es mir fehlt?“

„Nein, woher sollte ich?“

„Ich hab zu wenig Phantasie. Ich kann alles kochen, was man mir sagt, aber ich kann mir keine Rezepte ausdenken. Dafür kann ich dich gut brauchen, ich glaube, du hast viel mehr Ideen.“

„Das sollte mich freuen“, antwortete ich höflich und inspizierte weiter die Vorräte. „Wir könnten auch am Wochenende einen Nudelsalat anbieten, vielleicht mit Geflügel oder so, ich hab da ein paar ziemlich gute Rezepte.“

„Stand das nicht auch auf deiner Liste? Schreib mal auf, was für dafür brauchen, dann besorge ich alles beim nächsten Mal.“ Ich brummte zustimmend und guckte in den Ofen. „Hast du irgendwo Kuchenglasur?“

„Schau mal in den großen Schrank neben der Hintertür.“

Ich fand tatsächlich die gute Haselnuss-Nougat-Glasur, die ich selbst am liebsten aß, und bereitete schon einmal das Wasserbad vor. Dann hatte ich wieder endgültig nichts mehr zu tun, lehnte an der Arbeitsfläche und sah Rudi beim Salatanmachen zu. Nachdem ich ihm noch mit Würztipps für die Saucen lästig gefallen war, fiel mir etwas anderes ein. „Wer serviert eigentlich mittwochs und donnerstags?“

„Da suche ich noch. Der Ruhetag am Dienstag ist auch eigentlich schwachsinnig, gerade unter der Woche haben wir mehr Zulauf, von der Uni her. Aber sieben Tage in der Woche – wirklich nicht, ich möchte auch mal einen Tag etwas anderes machen.“

„Kann ich verstehen. Wäre Sonntag nicht ein geeigneter Ruhetag? Oder brummt da der Laden erst richtig?“

„Brummen tut er überhaupt noch nicht, und sonntags schon gar nicht. Du wirst es morgen ja sehen.“

„Ach ja – reicht es, wenn ich morgen um halb vier komme? Ich müsste mal meine Eltern besuchen, und das geht traditionell nur zum Mittagessen.“

„Kein Problem, wir können ja heute überlegen, was es morgen geben soll.“ Er füllte die fertigen Salate in verschließbare Behälter und stellte sie in den Kühlschrank; für gemischten Salat zu allen Angeboten war damit gesorgt.

„Schinkennudeln mit Kräutern und einem Hauch Parmesan wären lecker.“

„Mach ich lieber am Montag, soviel Schinken ist gar nicht da. Was hältst du von Spaghetti mit Pesto und Tomatensalat?“

„Auch gut“, antwortete ich friedlich und verließ die Küche, um Besteck in Servietten zu rollen. Danach war es schon fast Zeit, den Kuchen wieder aus dem Ofen zu nehmen. Ich suchte nach einem Auskühlgitter und einem Glasurmesser; allmählich kannte ich mich in dieser Küche schon ziemlich gut aus, und das nach zwei Tagen! Schließlich holte ich die Form aus dem Ofen, lockerte den duftenden Kuchen mit dem flachen Messer und stürzte ihn auf den Rost.

„Mhm“, schnupperte Rudi. „Kann ich ihn auf die Tafel schreiben?“

„Klar. Kirsch-Nusskuchen. Das Stück einsfünfzig?“

„Zwei Mark“, widersprach er sofort und verließ die Küche. Ich hörte die Kreide quietschen, als er die Speisekarte weiter anreicherte. Gut, dass die Tafel nicht besonders groß war, so hatten wir mit wenigen Gerichten eine volle Speisekarte!

„Wir könnten hier das aktuelle Kino- und Theaterprogramm aufhängen, ich glaube, das kriegen wir beim Kulturbüro. Soll ich am Montag mal fragen?“

„Tolle Idee“, lobte Rudi. Anscheinend fand er alle meine Ideen toll – hatte er selbst denn so wenige? Andererseits hatte er ja selbst gesagt, dass es ihm an Phantasie mangelte. Nun, Phantasie hatte ich wirklich genug, mehr als Realitätssinn auf jeden Fall. Sonst hätte ich es ja wohl auch nicht geschafft, mich so lange aus der Wirklichkeit meines verpfuschten Studiums zu träumen! Ich dachte einige Minuten stumm darüber nach und schrubbte die Kuchenform sauber. Dann löste ich die Glasur im Wasserbad auf und bestrich den lauwarmen Kuchen vorsichtig damit. Rudi brachte mir noch eine Dose grob gehackte Haselnüsse, mit denen ich den unteren Rand des Kuchens verzierte. Lecker sah er aus! Das fand Rudi offenbar auch, jedenfalls strich er in äußerst verdächtiger Weise mit einem großen Messer um den Kuchen herum.

„Denk nicht mal dran“, spottete ich, „der ist für Gäste. Wenn etwas übrig bleibt, kannst du den Rest haben.“

„Wie gnädig. Gut, ich warte noch ein bisschen, er soll ja noch fertig abkühlen. Aber den Anschnitt kann man doch ohnehin nicht servieren, oder?“ Er schaute mich betont harmlos an. Ich musste kichern. „Na gut, wenn er kalt ist. Müssen wir nicht sowieso bald aufmachen?“

Er sah auf die Uhr. „Stimmt, kurz vor vier. Ich schließe die Tür auf.“

Während er draußen Licht und Musik einschaltete und die Tür öffnete, räumte ich die Küche fertig auf und stellte den Kuchen, das Messer und einen Stapel Dessertteller auf die lange Anrichte. Dann folgte ich Rudi nach draußen und setzte mich an die Bar. Gut, der Laden war offen, aber der Andrang hielt sich stark in Grenzen. Genau genommen gab es gar keinen Andrang. Ich zündete mir eine Zigarette an, Rudi spendierte mir einen Spezi und nahm sich selbst auch einen. „Wir brauchen einen besseren Namen“, sinnierte er dann und griff nach einer Zigarette. Wir? Sah er mich schon als Teilhaberin? Wenigstens, was den phantasievollen Beitrag betraf?

„Da hast du Recht. Rudi muss drin sein, ja?“

„Eigentlich schon“, meinte er, leicht beleidigt.

Rudi RüsselRudi RatlosRudi Rollmops, der Rächer von RatzeburgRudy ValentinoKaiser RudolfKronprinz RudolfMayerling – mir fällt nur Blödsinn ein“, bekannte ich entmutigt.

„Manches war doch ganz lustig“, lobte er matt.

„Ja, wahrscheinlich die Namen, an denen jemand die Rechte hat!“

„Wer soll denn daran die Rechte haben?“

„Der, der das Buch über dieses Schwein geschrieben hat, Udo Lindenberg, Otto, die Habsburger – weiß der Henker, wer noch. Fällt dir nichts ein?“

„Ich bin doch der phantasielose Koch, schon vergessen?“

„Übertreib nicht so. Einfach nur Rudi?“

„Nein, das ist öde. Bei Rudi? Nein, auch nichts...“

„Besonders blöde ist Rudis Treff. Klingt irgendwie nach Neufünfland.“ Ärgerlich zerquetschte ich meine Zigarette im Aschenbecher. Glücklicherweise kamen in diesem Moment Gäste herein, eigenartigerweise ein biederes Ehepaar in mittleren Jahren, das eigentlich um diese Zeit beim Nachmittagskaffee sitzen sollte. Beide leicht übergewichtig, sie der Typ, der im Restaurant den Hut aufbehält, damit auch alle den Pelzrand sehen können. Ich wartete, bis sie sich am Fenster installiert hatten, und fragte dann nach ihren Wünschen. Mein erster Eindruck hatte nicht getrogen – sie bestellten zwei Portionen Kaffee und fragten nach Kuchen. Ich empfahl wahlweise Kirschnuss oder heiße Apfelküchlein (was hätte ich sonst tun sollen?) und enteilte wieder. Rudi hatte die Friteuse schon angeworfen. Ich servierte Kaffee, suchte nach der Sprühsahne und brachte schließlich die beiden Teller.

Kaum hatten sie ihre Gabeln in den Kuchen versenkt, ging die Tür schon wieder auf, die drei Mädchen von gestern kamen wieder, stürzten sich auf den gleichen Tisch und bestellten sofort Prosecco und die Karte. Ich wies auf die Tafel und eilte um den Prosecco. Die hatten ja wohl täglich etwas zu feiern!

Das ältere Ehepaar unterhielt sich angeregt – so lange waren die wohl noch nicht verheiratet? Jetzt küsste er auch noch ihre Hand, eine gepflegte, mollige Hand mit orange lackierten Nägeln und auffälligen Ringen. Waren die wirklich verheiratet oder auf Abwegen? Ich fragte nach weiteren Wünschen und versuchte, etwas von der Unterhaltung mitzukriegen, zunächst vergeblich. Sie orderten eine Flasche Sekt und noch zwei Portionen Kuchen.

„Sehr gerne“, antwortete ich professionell, und unter dem Pelzhut blitzten die Augen. „Wir haben nämlich heute unseren dreiunddreißigsten Hochzeitstag – ist das nichts?“

„Phantastisch! Wirklich ein Erfolg, das schafft nicht jeder. Herzlichen Glückwunsch!“ Ich holte schnell den Sekt, aber den musste Rudi öffnen, er machte einfach mehr her. Ich bereitete währenddessen den Kuchen vor und brachte einem einsamen Vertreter ein Bier und eine Portion Chili. Wieso saß der an einem Samstagnachmittag noch hier herum? Wen wollte er besucht haben? „Sind die nicht süß?“, flüsterte Rudi mir zu, als wir aneinander vorbeigingen, „dreiunddreißig Jahre!“

„Unvorstellbar“, murmelte ich zurück. Die drei Mädels bestellten ebenfalls Apfelküchlein und machten sich dann entschlossen daran, sich einen anzuschickern. „Was feiern Sie denn heute?“, erkundigte ich teilnehmend, als ich die zweite Proseccorunde und die Apfelküchlein brachte.

„Feiern?“, schnaubte die eine. „Naja, warum nicht... Ich feiere, dass sich dieser verlogene Arsch endlich als das entpuppt hat, was er ist – das letzte Schwein.“

„Oh.“ Ich tauschte den Aschenbecher aus. „Es wird Sie nicht trösten – aber es gibt überall bessere Kerle, wenn man den Ausschuss erst einmal beiseite geräumt hat.“ Sie lachte bitter. „Ja, vielleicht. Aber im Moment ist mein Interesse gleich Null.“

Bevor ich etwas antworten musste, stürzten die anderen beiden sich mit tröstenden Umarmungen auf sie und ich konnte verschwinden. „Tisch zwei hat Liebeskummer“, murmelte ich Rudi hinter der Bar zu, „alle Männer sind Schweine und so.“

„Eine Runde Obstler auf Kosten des Hauses?“, fragte er leise zurück. Ich nickte. Er zauberte drei geeiste Gläschen und ein winziges Tablett unter der Bar hervor und goss ein. Ich trug alles brav zu den drei zornigen Frauen.

„Das geht aufs Haus. Trinken Sie auf die Abschaffung der Männer!“ Ich zwinkerte und erntete Gelächter, auch von der Hauptbetroffenen. Die würden wohl noch länger hier sitzen und dann sicher nur unter Schwierigkeiten durch die Tür nach draußen stolpern. Warum nicht, morgen war bloß Sonntag. Im Lauf des frühen Abends füllte sich das Lokal tatsächlich fast bis auf den letzten Stuhl, das Chili ging uns gegen elf Uhr aus, der Kuchen und die Apfelkücherl hielten auch nicht ewig vor und wir verkauften nicht nur eine Menge Sandwichs, sondern auch fast die Hälfte der Knabbereien, die wenig Arbeit machten und doch ganz nett Geld einbrachten. Vierundsechzig Portionen hatten immerhin sechsundneunzig Mark eingebracht, netto die Hälfte. Im Verlauf des späteren Abends flaute das Interesse am Essen ab, dafür wurde mehr Bier und Schnaps umgesetzt, die drei Frauen tranken immer noch Prosecco, aber auf meinen Vorschlag hin mittlerweile flaschenweise, das kam billiger. Sie kicherten hektisch über einem Zettel, auf dem sie offenbar aufschrieben, was sie dem treulosen Lover alles antun wollten. Beim Aschenbechersäubern bekam ich Vorschläge wie Kastration und Anmeldung bei diversen Talkshows zu hören und berichtete alles grinsend Rudi, der die hartgesottenen Trinker an der Bar versorgte, sich Beziehungsprobleme anhörte und einen Streit darüber schlichtete, ob die Spieler von Bayern München Fußballgötter oder verzogene, unfähige Millionäre waren. Wenn mir alles so egal wäre, dachte ich mir, als ich ein neues Tablett Getränke holte und versuchte, meine Füße zu ignorieren, die es mittlerweile übel nahmen, dass ich die alten Latschen nicht angezogen hatte.

Schließlich legte Rudi wieder Falco auf, und die Zecher am Tresen sangen Out of the Dark mit, was kein unbedingter Hochgenuss war. Die Stimmung war aber glänzend, und ich hatte schon vor Mitternacht über vierzig Mark an Trinkgeld kassiert. Endlich torkelten die Bargäste nach draußen, die Mädels kamen mit mehreren Anläufen schief, aber doch irgendwie in ihre Mäntel, stießen nicht übermäßig oft miteinander zusammen, als sie die Tür nach draußen anpeilten, und verzogen sich, nachdem sie eine horrende Rechnung bezahlt und auch noch großzügig aufgerundet hatten – fast zehn Mark mehr!

An den kleinen Fenstertischen turtelten einige Pärchen miteinander, in einer Ecke berieten sich zwei jüngere Männer, die Taschenrechner, Handy und Laptop um sich aufgebaut hatten und gelegentlich hektisch in Börsenzeitschriften herumsuchten. Es wurde still im Lokal, Rudi legte ganz leise Musik auf, die Pärchen flüsterten, die Laptoptasten klackten ab und an leise, ich schwang mich auf einen der Barhocker und entspannte meine Füße. „Hast du keinen Hunger?“, fragte Rudi, der sich gerade das letzte Stück Kuchen einverleibte und ihn dann auf der Tafel durchstrich. Ich schüttelte den Kopf und fischte eine Zigarette aus der Tasche. Zu tun war gerade nichts, alle Gläser waren noch gut gefüllt, alle Aschenbecher weitgehend sauber, alle Teller abgeräumt und in die Spülmaschine geschichtet. Saugemütlich, wirklich! „Hast du seit heute Mittag überhaupt etwas gegessen?“

„Nein, aber ich hab wirklich keinen Hunger. Wir hatten mittags Spaghetti und Scaloppine alla Parmigiana, das hält vor.“

„Kann ich mir denken.“ Er griff nach dem Schwammtuch und begann, die Theke zu polieren. „Wir?“, fragte er dann beiläufig.

„Ja, Anke und ich. Ich wohne mit einer Freundin zusammen, und meist koche ich, dann schmeckt es uns besser. Anke kocht schrecklich.“

„Eine gute Freundin?“ Er warf mir einen kurzen Blick zu.

„Eine sehr gute“, versicherte ich ihm sofort. „Vielleicht schaut sie hier mal vorbei, dann lernst du sie kennen. Und sie möchte ja auch wissen, wo ich arbeite. Sie hat immer Angst, dass ich versumpfe und nichts mehr für die Uni tue. Sie ist viel fleißiger und erfolgreicher als ich, aber sie will ja auch Lehrerin werden, das ist ein klares Ziel. Mangels Objekt erzieht sie im Moment an mir herum und fragt mich Vokabeln ab.“

Rudi brummte vor sich hin, fragte aber nicht weiter, sondern dreht mir den Rücken zu und rückte die Flaschen in der Bar so zurecht, dass alle Etiketten schön symmetrisch nach vorne zeigten. Ich ließ den Blick schweifen und versuchte, auf die Distanz auszumachen, ob noch jemand meiner Dienste bedurfte. Es sah eigentlich nicht so aus, alle waren ins Gespräch vertieft und hatten noch genügend in ihren Gläsern.

Viertel vor eins... ich rutschte nun doch vom Barhocker und erkundigte mich, ob noch jemand von den Gästen einen Kaffee wünschte – das hatte Rudi mir als elegante Rausschmissankündigung empfohlen, und es funktionierte wie gewünscht – alle Antworten waren gleich: „Nein danke, aber ich würde gerne zahlen.“ Freudig zückte ich meine übrigen Kassenbons und rechnete ab. Und wieder hatte ich ordentlich Trinkgeld kassiert! Sobald auch das letzte Pärchen, zusammen mit den beiden Tradern, verschwunden war, schloss ich erleichtert ab und räumte die Tische leer. Rudi rechnete ab, während ich die Spülmaschine neu belud und sie startete.

„Soviel hab ich an einem Samstag noch nie umgesetzt“, staunte er schließlich.

„Vielleicht hat irgendeine andere Kneipe in der Nachbarschaft heute zu?“, schlug ich vor und leerte die Aschenbecher in den Metallkübel. Ein Mief war hier drin, da musste man wohl jede Woche die Gardinen waschen! Vielleicht half kurzes Lüften ein bisschen? Ich riss die Fenster auf und begann damit, die Tische abzuwischen und die Stühle hochzustellen. „Nein, ich glaube, jetzt kommt eine Glückssträhne“, behauptete Rudi, kam hinter der Theke vor und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich lachte geschmeichelt, schwang mich wieder auf den Barhocker und zählte mein Trinkgeld – sechsundfünfzig Mark und siebzig! Und das Gehalt für elf Stunden hatte ich auch noch zu kriegen. Die Tatsache, dass ich bei meiner Wochenarbeitszeit sozialversicherungspflichtig war, ärgerte mich, aber ein kleiner Rentenanspruch konnte schließlich nicht schaden.

Ich rauchte nachdenklich vor mich hin und rechnete im Kopf. Wenn ich im Schnitt fünfzig Mark Trinkgeld pro Abend... dann käme ich auf zweihundert Mark in der Woche, das müsste für den Kleinkram reichen, dann könnte ich von meinem offiziellen Gehalt Miete, Krankenversicherung und den sonstigen Aufwand bezahlen. Ich dachte an meine Vision: ausgeglichenes Konto, genug Geld für notfalls eine eigene Wohnung, Erfolg in der Kneipe... Es ließ sich gut an!

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