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Sie drehte sich langsam um und hob die Pistole... Nein, Blödsinn. Wo sollte sie die denn so plötzlich herhaben? Eine Tasche vielleicht – und wieso hatte die Gute dann keine Dokumente bei sich? Und hatte dieser miese Kerl von vorhin, der im Nikolauskostüm, ihr die Tasche nicht geklaut? Was hatte ich denn eben geschrieben?

Verdammt, ich musste mich wirklich besser konzentrieren! Wütend sah ich von meinem Laptop auf, und mein Blick fiel auf den Kalender, auf dem der 31. August rot umringelt war. Abgabetermin - hässliches Wort, weiß Gott!

Weiter im Text! Verdammt, warum war es auch so entsetzlich heiß? An solchen Tagen bereute ich es, direkt unter dem Dach zu wohnen: Augusthitze und dazu der Auftrag, eine Kurzgeschichte zum Thema Mörderische Weihnachten zu schreiben - üble Kombination.

Einen schönen Titel hatte ich schon, Ihr Mörderlein kommet. Oder vielleicht doch lieber Lauter die Kugeln nie pfeifen? Egal, tolle Titel waren das geringste Problem – ein Königreich für eine Story, die dazu passte!

Im Mittelpunkt sollte ein mörderischer Kaufhaus-Nikolaus stehen (die Geschichte spielte sicherheitshalber in den USA), aber wen sollte er warum umbringen? Und warum war meine Heldin so bescheuert? Wie sollte die überhaupt an eine Waffe – ach so, ja USA, National Rifle Association, da hatten ja alle immerzu eine Knarre parat. Oder sollte ich die Geschichte lieber doch nicht in den USA -? Ich wusste verdammt zu wenig darüber! Und bei diesem knappen Vorlauf war auch keine Zeit mehr für ausgiebige Recherchen. Kurz stellte ich mir vor, wie ich im August nach New York jettete und das Personal bei Macy´s oder Bloomingdale´s damit elendete, welche Gepflogenheiten ihre Nikoläuse zu gegebener Zeit hatten. Crazy Kraut wäre wohl noch der freundlichste Kommentar.

Ich strich den Nikolaus und außerdem die Schusswaffen. Von Kalibern und ballistischen Vergleichen wusste ich so gut wie nichts, und solche Geschichten waren auch nicht mein Markenzeichen, eher sah ich mich in der Nachfolge Agatha Christies, raffinierte Whodunits, die aber mehr Platz brauchten, als mir für eine Kurzgeschichte in dieser dämlichen Anthologie zur Verfügung stand.

Ich brauchte eine raffinierte Minigeschichte... Warum mordete jemand an Weihnachten? Weil ihm seine Familie tierisch auf den Keks ging, das wusste sogar ich. Aber tragisch sollte die Geschichte nicht sein, kein Blutbad im Kinderzimmer oder so, weil die beleidigten Zwerge das falsche Computerspiel bekommen hatten.

Oberste Regel: Der Tote musste unsympathisch sein. Der Leser sollte seine Zeit nicht mit Mitleid verschwenden, sondern fieberhaft weiterlesen und auf Spuren achten. Ach ja, jede Menge falsche Fährten brauchte man natürlich auch noch. Reizend, ich hatte ja nicht einmal eine echte Fährte!

Zurück zum Thema! Wer könnte das Opfer sein? Jemand, der allen Leuten das Falsche zu Weihnachten schenkt? Oder gar nichts? Ein Weihnachtsmuffel? Oder ein absoluter Weihnachtsfanatiker? So was konnte ja auch extrem nervend sein, man musste bloß an Heinrich Böll denken, Nicht nur zur Weihnachtszeit... Nein, das würde man sofort als Plagiat erkennen! Allerdings, wenn man genügend Änderungen vornahm... Vielleicht konnte es a) ein Mann sein und b) jemand, der nur vom ersten Advent an so überschnappte? Aber das mussten die anderen doch aushalten können, ohne zum Messerchen zu greifen?

Ach, das war alles nichts! Und diese Küchenzeile sah schon wieder so schlampig aus... Nein, sitzen geblieben, keine Frustputzerei! Aber wenigstens abspülen könnte ich doch, sonst lenkte mich die Unordnung nur von meiner eigentlichen Arbeit ab. Wirklich nur abspülen!

Eine Stunde später ertappte ich mich dabei, dass ich Gewürze sortierte und die abgelaufenen wegwarf. Das Geschirr war gespült, abgetrocknet (das machte ich sonst nie) und verräumt, die Granitarbeitsplatte schimmerte makellos in der gleißenden Augustsonne, und mir lief der Schweiß in Strömen herunter. Nein, ich konnte diese Gewürzaktion jetzt nicht halbfertig liegenlassen, wie sah das denn aus! Also, das sollte ich jetzt noch fertigmachen, dann duschen und etwas Frisches anziehen, und dann zurück an die Arbeit. Wie spät – oh, schon halb zwei? Seit heute Morgen saß ich an meinem Weihnachtsmord, und was hatte ich bis jetzt geschafft? Absolut gar nichts, nur die Küche war ordentlich. Reizend, wirklich! Sicher, ohne einen anständig engen Abgabetermin wäre meine Wohnung wahrscheinlich längst knietief zugemüllt, aber so konnte es doch wirklich nicht weitergehen!

Hastig sortierte ich die Gewürze fertig, verräumte alles, trug schnell den Müll nach unten (bei dieser Hitze musste man das gleich tun, sonst begann er zu stinken, und auf diese Scharen von winzigen Fruchtfliegen legte ich auch keinen gesteigerten Wert) und duschte ausgiebig. Frisches T-Shirt, frische Shorts – mich sah hier ja keiner.

Jetzt aber!

Am besten machte ich mir zuerst ein Handlungsgerüst. Oder zuerst eine recht weihnachtliche Mordmethode? Vergiftete Lebkuchen? Vom Christbaum erschlagen? Von einer schön langen Christbaumkugelscherbe aufgespießt? Mit O du fröhliche in den Wahnsinn getrieben?

Verdammt!

Zurück zum Opfer! Ein älterer Familienvater, Typ Haustyrann. (Agatha Christie, Hercule Poirots Weihnachten) Allen würde es besser gehen, wenn er nicht mehr da wäre. Er schikaniert die Tochter, die noch zu Hause lebt und eine lange Pflege vor sich sieht, er schikaniert die anderen Kinder, die nur zu Weihnachten kommen, macht ihre Ehepartner herunter, blafft ihre Kinder an, besteht auf weihnachtlichem Getue... Das war doch alles kein Mordmotiv! Am zweiten Feiertag ist schließlich alles vorbei und man kann aufatmend wieder in sein Auto fallen...

Wie war das bei uns, an Weihnachten? Daddy freute sich, uns zu sehen, hatte den Baum mit all dem Schrott geschmückt, den wir früher gebastelt hatten, aus Goldpapier, das vor lauter Uhu-Flecken ganz blind geworden war, beschenkte uns reich und nicht immer passend, kochte passabel und nervte nur, was den spannermäßigen Weihnachtsspaziergang betraf. Da mussten wir nämlich bei allen Leuten durch die Fenster spähen, was die für einen Weihnachtsbaum hatten – womöglich schöner als unserer? Und wenn man dann gemein war und feststellte, dass ein monochrom in Gold oder Creme geschmückter Baum einfach edler aussah als unser Kindergartensammelsurium, hielt Daddy den Standardvortrag über emotionale Werte vs. kalten Ästhetizismus. Jaja.

Ich konnte die zwei Tage gut aushalten, und Angela und Matthias wohl auch. Matthias schätzte seinen Schwiegervater offenbar sehr, jedenfalls war er nie der, der genervte Geräusche am Telefon von sich gab, wenn wieder einmal ein Besuch anstand – das war nur meine kleine Schwester, die Reiseziele im Inland als öde empfand. Und Daddy wohnte in einem Vorort von München, das war nicht einmal eine Stunde mit dem Auto, also völlig unter ihrer Würde. Sicher, mit Kenia, Feuerland oder schicken vier Tagen Hongkong konnte das nicht mithalten, aber zwei Tage Forstenried waren ja wohl das Schlimmste nicht. Weit und breit kein Mordmotiv – höchstens ein Motiv, auf dem Rückweg gleich beim Wertstoffhof vorbeizufahren, weil Daddy keiner neuen Küchenerfindung widerstehen konnte und seine Patentputzmittel, Wunderhobel, Garniermaschinchen, Spezialtoaster und Fettfreigrillpfannen uns dann andrehte. Früher war er nur an jedem Straßenverkäufer in der Neuhauser Straße hängen geblieben, mittlerweile hatte er leider das Teleshopping entdeckt und so den Wareneingang mindestens verdreifacht. Letztes Mal kriegte Angela einen Satz Plastiknäpfe, mit denen man dreimal so viel geruchsneutral im Kühlschrank aufbewahren konnte, und ich bekam Patentkleiderbügel, um Ordnung im Schrank zu schaffen.

Wir tauschten unauffällig, aber wirklich brauchen konnten wir die Teile aus minderwertigem Kunststoff trotzdem nicht. Matthias dagegen hatte einen Satz von vier CDs bekommen, Die größten Hits des Rock‘n Roll („Nicht im Handel erhältlich!“) und wurde von uns heftig beneidet.

Nein, kein Mordmotiv. Und jetzt war es glücklich fast vier.

Weiter im Text! Weiter war gut... ich hatte ja immer noch nichts! Noch drei Wochen... vielleicht pennte meine Muse heute einfach? Aber die schien mir eher in Urlaub gefahren zu sein, jedenfalls hatte sie keinen Pieps von sich gegeben, seitdem ich an diesem Auftrag saß. Auf Inspiration warten – das konnte dauern. Und ein leerer Bildschirm hatte etwas sehr Deprimierendes an sich. Ich sollte etwas hinschreiben, irgendwas.

Eine Frau erschießt den Nikolaus.

Na gut, aber warum? Wenn er einer von unseren Nikoläusen war, dann kam er vom Jobdienst der Uni, ein harmloses Drittsemester oder so. Wie wär´s mit einem Hauch Verhängnisvolle Affäre? Nicht schlecht. Sie hatte was mit ihm, als er im Sommer als Surflehrer gejobbt hat – und nun will er nicht loslassen und kommt extra zu ihnen als Nikolaus und macht Andeutungen, die nur sie versteht. Und ihr Mann ist steinreich (deshalb ist auch eine Waffe im Haus) und sie will weder das Geld noch die beiden wohl erzogenen Kinder verlieren, nur weil sie sich mal mit einem Surflehrer amüsiert hat.

Ja, stimmig war das schon – aber wie sollte ich daraus ein Rätsel basteln? Sicher, das Motiv lag nicht auf der Hand, aber meine altbewährte Kommissarin Gabriele Gärtner kriegte das doch im Handumdrehen heraus!

Ich brauchte falsche Fährten. Und eine weniger offensichtliche Mordmethode. Aber vergiftete Lebkuchen? Mit naschhaften Kindern im Haus? Natürlich könnte der reiche Ehemann aus Versehen so einen Lebkuchen... sie bricht zusammen, ihr geliebter Mann! Nein, Blödsinn, da war ihr Motiv doch noch viel offensichtlicher!

Man könnte eine richtige Nikolausparty veranstalten... Mehr Gäste, mehr Motive? Aber dass alle Gäste diesen zufällig aufgetauchten Nikolaus kennen sollten – waren sie alle bei diesem Surfurlaub?

Ich hatte schon wieder keine Lust mehr. Halt – die Gastgeberin erzählt ihrer Freundin, wer der Nikolaus ist, und die kann mit dem Namen etwas anfangen, weil er ihre kleine Schwester geschwängert hat und dann verschwunden ist...

Ich begann hektisch zu tippen. Und der Ehemann ist eifersüchtig, weil der Nikolaus einen Kopf größer ist und muskulös wirkt (unter der roten Kutte??) und seiner Frau so zweideutige Blicke zuwirft... Drei Verdächtige – reichte das nicht für eine Geschichte von fünfundzwanzig Druckseiten? Ich amüsierte mich köstliche fünf Minuten lang damit, die Seite so einzurichten, dass eine getippte exakt einer gedruckten Seite entsprach.

Los, einen Verdächtigen noch! Eine weitere Mutter hat einen erwachsenen Sohn, dem dieser Nikolaus einen wissenschaftlichen Hilfsjob weggeschnappt hat. Erstklassiges Mordmotiv, diese Jobs wurden doch so grausig schlecht bezahlt! Ich speicherte den bisher verfassten Schwachsinn, klickte so lange auf ENTER, bis ich den Kram nicht mehr sehen musste, und begann von neuem. Nix mit ermordetem Nikolaus!

Zickenalarm? Böse junge Frau, die die einen verführt, die anderen erpresst und überhaupt nur aufs Geld schaut... Sie könnte in ihre eigene Falle laufen... Und wie sollte die Falle aussehen?

Fünf.

Nichts Brauchbares geschrieben, nichts eingekauft, nicht in der Sonne gelegen, den herrlichen Sommertag nicht genossen. Ich war doch wirklich die Allerärmste weit und breit, alle anderen lagen jetzt an irgendeinem Sandstrand.

Könnte ich auch, wenn ich die doofe Geschichte gleich im Juni geschrieben hätte! Und irgendwann musste ich Mord pauschal für die zweite Auflage noch einmal durchsehen... Meine Steuererklärung war auch noch nicht gemacht... Nichts mehr zu trinken im Haus...

Erstmal einkaufen! Im Hochsommer war die Innenstadt zwar ekelhaft, heiß, staubig, alle netten Läden hatten Betriebsurlaub, die Ozonwerte waren schauerlich, in den Straßen stand die Hitze – aber wenigstens waren die Wege kurz. Ich holte mir einige Flaschen Diätcola, Zigaretten, ein paar Tüten Chips und einige Mikrowellenmenüs – kochen konnte ich bis heute noch nicht, mit vierunddreißig war das auch keine besondere Leistung.

Das San Carlo sah viel versprechend aus. Hatte ich mir nicht ein leckeres Eis mit Früchten verdient? Eigentlich nicht, musste ich zugeben. Ach, egal, vielleicht regte das Eis mich ja an! Ich stapelte meine Einkäufe im Schatten des Tisches auf, setzte mich und zückte mein Notizbuch, in dem ich Ideen, wenn sie denn mal kamen, sofort zu notieren pflegte. Im Allgemeinen so kryptisch formuliert, dass ich später nicht mehr viel damit anfangen konnte.

Die Kellnerin nahm meine Bestellung entgegen; ich zündete mir eine Zigarette an und starrte auf die jungfräulich weiße Seite.

Eis – Schnee und Eis – eingeschneit – Hüttenkoller – Aggressionen kochen hoch – Freundeskreis mit alten offenen Rechnungen – in die Wunde am Hinterkopf passt genau die Skibindung des Oberverdächtigen, aber der war´s natürlich nicht, sondern jemand, der ihn reinreißen wollte... und am Ende war´s dann noch jemand anders, und die Wahl der Waffe war der nackte Zufall, weil das die einzigen Ski waren, die nicht weggeschlossen waren... wer hatte zum Skischuppen keinen Schlüssel?

Gar nicht so blöde!

Aber jetzt musste ich diesen Freundeskreis skizzieren – knapp (fünfundzwanzig Seiten!), aber signifikant (sonst waren für den geübten Leser die Motive zu unklar). Konnte das Opfer wunde Punkte getroffen haben? Lebenslügen aufgedeckt?

Mein Eis kam. Schokolade, Nuss, Kokos – und dazu dieses hinreißende Waldbeerenkompott, das es nur hier gab.

Ich löffelte und spürte, wie sich meine Laune hob. Extrem lecker, wirklich. Man könnte einem Diabetiker Zucker ins Essen – fiel der dann ins Koma, oder brauchte er bloß eine Insulinspritze? Das ließ ich lieber, davon verstand ich rein gar nichts. Müsste man alles mal recherchieren – aber dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit.

Alle meine Entwürfe waren blöde, dämlich wie der Schicksalsfilm der Woche! Wenn ich so weiter machte, endete ich noch als Drehbuchschreiberin bei einem der minderen Privatsender. Fette Kohle gab das ja vielleicht, aber der schlechte Ruf... Nein, ich wollte meinen Namen richtig gedruckt sehen, auf den schönen schwarzen Krimis von Winkler & Lange.

Los, an die Arbeit. Weihnachtsfeier in einer Firma? Gift im Punsch aus dem Plastikbecher? In einer Firma gäbe es wenigstens Motive satt, vielleicht will einer rationalisieren und Leute rausmobben, überlegte ich. Verstand ich was von Firmenabläufen? Nein, aber ich wusste, wen ich da fragen konnte.

Hm. Das gefiel mir auch nicht so recht. Gab es denn nicht irgendeine wirklich zündende Geschichte? Einen Plot, der sich praktisch von selbst schrieb?

Mein Eis war gegessen und mein schlechtes Gewissen regte sich wieder. Jetzt hatte ich den Nachmittag wirklich komplett vertrödelt – mehrere unbrauchbare Plots mit gigantischen Löchern in der Logik waren wirklich keine Ausbeute, ein gut gekühlter Magen und eine aufgeräumte Küche auch nicht.

Mist, wirklich! Wütend auf mich selbst, zahlte ich, sammelte meine Tüten ein schlurfte nach Hause.

Fast sieben. Und noch hatte es kein bisschen abgekühlt. In den engen Altstadtgassen staute sich die Hitze, und es stank nach Autoabgasen, Döner, Pizza und angegammeltem Gemüse, ganz abgesehen von den Leuten, deren Deodorant vor der Sommerhitze kapituliert hatte.

An Tagen wie diesen hätte ich mir ein biederes Reihenhäuschen irgendwo draußen – Waldstetten, Kirchfelden, Mönchberg richtig gut vorstellen können. Andererseits...Summer in the City: draußen sitzen, nächtliche Spaziergänge, Biergärten, das Helenenbad, in zehn Minuten in allen Kinos, Theatern und Museen (abgesehen von Ludwigskron). Mit vierzig konnte ich immer noch über ein Reihenhäuschen nachdenken – wenn ich bis dahin genügend Krimis geschrieben hatte und genügend Leute sie auch gekauft hatten. Wenn ich natürlich so weitermachte wie heute, konnte ich froh sein, wenn ich mein kochendheißes Möchtegern-Loft nicht verkaufen musste, dachte ich finster und wartete auf den knarrenden Lastenaufzug. Wie in einem Avantgarde-New York-Film...

Die Hitze traf mich wie ein Schlag, als ich meine Tür aufgeschlossen hatte. Grauenvoll! Und alle Fenster gingen auf die gleiche Seite raus (Südwesten, was sonst), also konnte man keinen Durchzug machen. Ich verräumte meine Einkäufe, knackte gleich das erste Cola und ließ fast einen halben Liter durch meine Kehle laufen. Lauwarm, äh. Ich setzte die Flasche ab, rülpste kunstvoll und lautstark und stellte die Flasche in den Kühlschrank.

Das Laminat unter meinen nackten Füßen klebte. Schweißfüße oder dreckiger Boden? Schweißfüße, ermahnte ich mich streng, jetzt wurde geschrieben und nicht etwa gründlich feucht aufgewischt!

Ich scrollte wieder weiter, bis ich die bisherigen Peinlichkeiten nicht mehr sehen musste, und dachte intensiv nach. Der bisherige Ansatz war ohnehin total falsch, ich sollte besser von einer Person ausgehen – von der Person des Opfers natürlich.

Hm – also das Opfer. Ja.

Das Opfer. Eine Frau, das zieht besser. Eine Exfrau... ohne Kinder, sonst taten die mir nachher wieder Leid, die mutterlosen Lämmchen. Ich war für Krimis zu weichherzig, jedenfalls hätte ich nie diese gruseligen Serienkillerdinger schreiben können, bei denen man schon glauben konnte, die Autorin (es gab wirklich grausame Frauen) sei ein bisschen krank im Kopf. Ja, aber so etwas sollte ich jetzt ohnehin nicht verbrechen, also konnte ich nicht endlich mal bei der Sache bleiben?

Der Fußboden war wirklich ganz schön schmierig, und man sah, wo ich vorhin mit schweißfeuchten Füßen gestanden hatte.

Das Opfer. Eine Exfrau. Jetzt musste sie erst einmal einen Namen kriegen, dann konnte ich sie mir doch gleich besser vorstellen. Ein bisschen Jetset, ein bisschen gewöhnlich. Blondgesträhnt, vielleicht sogar geliftet... Priscilla. Nein, so hieß hier wirklich keiner. Am besten etwas Bodenständiges, das sich hip aufmotzen ließ. Franziska -> Frances, tippte ich. Nein, Franziska war ein netter Name, ich brauchte was, das mir selbst unsympathisch war. Wie hatte diese dusselige Kuh im Deutsch-LK geheißen, die, die immer so esoterische Interpretationsversuche gestartet hatte? Wo sogar die arme Kursleiterin unwillkürlich die Augen zum Himmel verdreht hatte, sobald die - die Gerlinde, genau! sich wieder fingerschnipsend gemeldet hatte und anfing: „Ich würde ja meinen, dass...“

Die Charakteristik in der Abizeitung war nur knapp am Tatbestand von Verleumdung und Beleidigung vorbeigeschrammt – nein, nach der Abizeitung suchte ich jetzt nicht! Auch nicht zur Entspannung! Na gut, wenn ich das Personengerüst hatte, dann vielleicht. Also, Gerlinde. Gerlinde war ziemlich prima. Natürlich würde sie sich Linda nennen, das hatte etwas angenehm Internationales.

Gut, Linda, Nachname später, Ende dreißig, blondgesträhnt, geldgeil (natürlich), kleineren Drohungen und Erpressungen nicht abgeneigt. Einen Job musste sie natürlich auch haben, etwas Schickes und zugleich Bescheuertes – Klamotten? Nagelstudio? Permanent Make-up? Oder etwas Besseres? Anwältin? Unternehmensberatung? So eine hatte doch dann wohl genug Geld... Brokerin? Und ein paar Kunden falsch beraten?

Boutique gefiel mir noch am besten. Wie konnte man da vergrätzte Kundinnen einbauen? Die gute Linda konnte sich verplappert haben, wenn eine Kundin sich von verschiedenen Herren hatte beraten und vielleicht sogar beschenken lassen. Das war gar nicht so schlecht!

Und dann war da natürlich noch der Exmann, dessen neues Glück sie gefährdete. Wer hatte wen verlassen? Am besten sie, wegen eines Jüngeren, Fitteren, der aber dann die Fliege gemacht hatte – ein Klischee am anderen. Und nun wollte sie den Ex zurück, und weil sie viel glamouröser war als Nummer zwei, hatte die einen Heidenschiss vor ihr. Auch ein Motiv... Mehr! Diese Linda musste stellenweise ein bisschen dumm sein, so dass sie nicht merkte, wenn sie dem Falschen etwas Verräterisches erzählte, zugleich aber gewitzt genug, manche Leute gezielt zu erpressen. Ihr Bruder vielleicht noch – Erbprobleme?

Und wieso sollten die alle sich auf einer Weihnachtsfeier versammeln? Die müsste ja dann schon sie selbst veranstalten – Nummer zwei würde weder sie noch die Kundin noch den Bruder einladen.

Gut, die Kundin könnte zugleich geschäftlich mit dem Ehemann zu tun haben, und der Bruder ist vielleicht ein netter Kerl und immer noch mit seinem Schwager befreundet. Aber wer würde Linda einladen?

Jemand müsste sie mitbringen, und dann sind alle zu höflich, sie rauszuschmeißen... Dann könnte der Mord aber doch eigentlich nicht mehr geplant sein? Hm.

Dann brauchte ich eine Waffe, die immer schon da war. Und natürlich noch eine/n Verdächtige/n, der es dann auch war. Viel Zeit hatte ich schließlich nicht, das alles auszuarbeiten.

Apropos Zeit – jetzt war es Viertel nach acht, und ich musste meinen Freitagskrimi gucken. Das war schließlich streng dienstlich, vielleicht kam ich ja auf gute Ideen. Und um zwanzig nach zehn kam noch ein Krimi... Mal schauen, was ich abkupfern konnte!

Ich speicherte meine schrägen Notizen, lümmelte mich auf mein fast authentisches Fifties-Sofa mit der nierenförmigen Rückenlehne und den dünnen gespreizten Beinchen und griff zur Fernbedienung.

Nichts gegen die Fünfziger, Nierentische, Petticoats, Heinz-Erhard-Filme... aber einen Fernseher von damals hatte ich dann doch nicht gewollt. Ein Riesengehäuse und ein winziger Bildschirm? Nur ein Programm? Nein, für mich musste es schon ein 16:9 Flachbildschirm sein. Leider hatte das Finanzamt mir nicht abgekauft, dass ich ihn nur zu beruflichen Zwecken brauchte. Rechner ja, Fernseher nein, da war die Tante hinter dem Schreibtisch unerbittlich geblieben: Sie behaupte ja auch nicht, sie sehe sich nur WiSo an!

Der Krimi war das Übliche, und der fiese Geschäftsmann (den spielte ja auch immer derselbe, oder? Ein Blick auf ihn und man wusste: Du bist gleich tot, Süßer) war bloß erschossen worden. Das konnte ich nicht gebrauchen. Aber die Schwester der Ehefrau, die mit diesem fanatischen Blick – aus der könnte man vielleicht etwas machen. Einen fanatischen Blick sollte ich auch verwenden. Andererseits verlangten die klassischen Regeln, keine Wahnsinnigen einzubauen. Gut, nicht wirklich durchgeknallt, nur so ein bisschen, und der (oder die) Betreffende durfte das gelegentlich schon mal anklingen lassen. Dann war ich doch fair, oder?

Ich kritzelte einige Stichpunkte in mein Notizbuch und war eigentlich schon recht zufrieden mit mir. So viel fehlte doch gar nicht mehr? Mordmethode? Mordmotiv? Handlung? Aufbau? Die übrigen Charaktere? Naja, schon noch so einiges...

Bis zum Einunddreißigsten wäre ich noch gut beschäftigt, eindeutig.

Der nächste Krimi spielte in einem düsteren Milieu – Downtown L.A.? – und gab für meine Zwecke schon gar nichts her. Außerdem verstand ich ihn nicht, und dass der ermittelnde Beamte mit der Hauptverdächtigen etwas anfing, erschien mir dann doch leicht unrealistisch. Aber spannend war das Ganze, auch wenn es als Flop des Tages abqualifiziert wurde. Und danach gab es noch einen Spionagethriller aus dem Fünfzigern, schwarzweiß – in jeder Hinsicht: edle Amis und böse Russen, die alle aussahen wie Stalin persönlich.

Oh – zehn nach zwei! Ich fuhr mir gerade noch matt mit einem Abschminkpad übers Gesicht, putzte mir flüchtig die Zähne und fiel ins Bett.

Dass der Wecker um acht Uhr loströtete, freute mich wenig. Acht Stunden Schlaf war doch wohl das Mindeste, was ich vom Leben erwarten konnte! Und das waren nur - äh – weniger als sechs, jedenfalls. Und auf dem Tisch stand mein Laptop. Zugeklappt, aber trotzdem der personifizierte Vorwurf.

Nach dem Zähneputzen setzte ich mich schicksalsergeben an den Schreibtisch. Also, weiter im Text!

Das Nachthemd war auch nicht mehr das Frischeste. War wohl die Hitze – um halb neun Uhr morgens hatte es schon mindestens fünfundzwanzig Grad, und diese Luftfeuchtigkeit... Nein, ich durfte an Waschen, Bettbeziehen und ähnlich schöne Dinge gar nicht denken.

Linda, die Böse.

Ich las mir durch, was ich zu ihr notiert hatte, und schnaufte angewidert. So ein Schwachsinn! Aber löschen wollte ich das auch nicht, vielleicht konnte ich noch irgendetwas davon verwenden? Also scrollte ich wieder weiter und starrte auf den frustrierend leeren Bildschirm.

Mörderische Weihnachten... Verdammt, dazu musste sich doch etwas finden lassen – und zwar etwas, das ich nicht irgendwo geklaut hatte.

Und wenn der Christbaum abbrannte? Und genau der Richtige in den Flammen umkam? Wer sollte vermuten, dass das kein Unfall war?

Nein, das war auch Blödsinn. Ich brauchte ein kleines, feines Familienverbrechen. Und wie wäre es denn mit dem alten Alibi-Trick? Die Ich-Erzählerin war es am Ende selbst?

Uralt. Und wenig originell, wirklich.

Musste es eigentlich überhaupt ein Mord sein? Konnte gerade an Weihnachten nicht etwas Harmloseres Genügen – verschwundene Geschenke oder so? Mörderische Weihnachten – da konnte ich es nicht billiger geben. Mord musste sein, ganz klar.

Der Nikolaus kommt doch. Und er hat ein Engelchen dabei, das auch richtig engelhaft aussieht – und das ist dann die Mörderin (lange offene Rechnung). Gar nicht so übel...

Und das Engelchen brauchte sofort einen Namen, etwas Girliemäßiges vielleicht – nein, dann wusste jeder sofort, dass es nicht so engelhaft war wie es aussah... Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin. Sehr wahr...

Nein, etwas Harmloses wäre besser. Viel besser.

Hm.

Ach, Quatsch. Engelchen, bäh!

Entnervte Schwiegertochter zieht der Schwiegermutter beim Gansbraten eins über. Klang nach Schlagzeile und vor allem nach einem glasklaren Fall. Zu offensichtlich.

Weihnachten im WG-Milieu? Da konnte ich wenigstens mitreden, während des Studiums hatte ich kurz in einer WG gewohnt, in Westschwabing, dort, wo Schwabing nicht mehr so schön und touristisch ist, dafür aber auch nur noch halb so teuer. Aus den Dauerkrisen dort müsste man doch was machen können?

Aber die mussten Weihnachten immer nach Hause zu ihren Alten, und auch ich hatte mich damals immer brav nach Forstenried aufgemacht, mit einer Plastiktüte voller Geschenke.

Aber der WG-Gedanke gefiel mir. Man könnte das Ganze am ersten Feiertag nachmittags spielen lassen, wenn alle satt und leicht gereizt vom elterlichen Gänsebraten (wahlweise Karpfen) zurückkehren, seltsame Geschenke in der Tasche und, angefeuert vom Glühwein, erzählen, welche Pannen es dieses Mal gegeben hat. Und dabei sagt einer etwas Falsches...

Das sollte ich mal schnell festhalten. Und danach musste ich wirklich dringend unter die Dusche!

Dringend waren noch ganz andere Dinge, stellte ich im Badezimmer fest, zum Beispiel ein Peeling, eine Feuchtigkeitsmaske und vor allem ein Termin beim Friseur. Knapp schulterlange dunkelblonde Haare sahen zwar nicht so aus, als bräuchten sie die Hand eines Könners, aber wenn ich sie selber schnitt, wurden sie erstens schief und weigerten sich zweitens, sich nach innen zu drehen.

Nichts gegen braune Augen, aber die Ringe darunter! War das das Alter? Die Hitze? Hormonelle Wassereinlagerungen? Nein, das hatten wir gerade erst gehabt. Wahrscheinlich mangelnde Pflege.

Ich kramte nach dem Peeling-Gel und schrubbte mir das Gesicht, dann band ich mir die Haare streng zurück und trug die Reste der Gratispackung Honig-Mandel-Maske auf. Hatte ich gelbe Zähne? Nein, das lag an dieser bläulichen Maske.

Die Fingernägel sahen aus wie Fingernägel eben aussehen, wenn man die ganze Zeit tippt – auch wenn es nur Schwachsinn ist. Diese Nagelhaut!

Also trug ich noch dick Nagelhautentferner auf und ließ Wasser in die Badewanne laufen, eher lauwarm, um mich zu erfrischen.

Sobald ich den Nagelhautentferner wieder abgewischt und die überschüssige Maske vorschriftsmäßig mit einem Kosmetiktuch (gut, eigentlich war es ein Stück Klopapier) abgenommen hatte, zog ich mich mit der Nagelfeile in die Wanne zurück, kippte etwas Öl ins Wasser und aalte mich. Herrlich! Und niemand sagte schließlich, dass man alt und hässlich werden musste im Dienst der Schriftstellerei, oder? Vielleicht landete ich ja mal einen richtigen Bestseller, nicht nur solide Verkaufszahlen, und dann musste ich ja medientauglich aussehen. All diese Talkshows, Buchmessen und so. Das Ölbad war also praktisch dienstlich.

Leider konnte ich es aber nicht ewig hinziehen, ich musste, völlig aufgeweicht, doch mal aus der Wanne raus. Sicher, mit sorgfältigem Abtrocknen und ebenso sorgfältigem Eincremen konnte man wieder etwas Zeit schinden – und dann musste man ja auch noch einen geeigneten Bikini und einen Pareo auswählen.

Schließlich blieb mir aber nichts anderes übrig, als mich doch wieder vor den Rechner zu setzen. Der Balkon lag noch im Schatten, und diese WG-Variante war noch sehr arm an Details.

Vielleicht zuerst den Zeitplan? Am Nachmittag des ersten Feiertags kommen alle zurück, latente Gereiztheit breitet sich aus, man wirft sich Heuchelei und/ oder Herzlosigkeit vor, der Streit eskaliert, alle gehen wutschnaubend und ziemlich angetrunken ins Bett.

Am nächsten Morgen findet man einen Mitbewohner in der Küche, tot. Mit der Kaffeemaschine erschlagen? Das konnte ich später regeln.

Kommissarin Gärtner kommt (etwas knatschig, sie hat Weihnachten auch etwas Besseres vor) und verhört alle. Schließlich stellt sich heraus, dass zwar alle ein Motiv hatten, dass aber jemand ganz anderes der Schuldige war (oder die? Wie wär´s mit einem reinen Übernachtungsgast, der diese Debatten vielleicht sogar noch angeheizt hat, damit alle verdächtig sind?)

Gar nicht so übel!

Ich tippte diesen Entwurf schnell in den Laptop, bevor ich wieder alles vergaß. Schon sieben Seiten, und noch keine Story, nur ein paar lumpige Plots.

Aber damit hatte ich mir doch wohl wieder eine kleine Pause verdient?

Also wischte ich den Fußboden, wonach ich ja schon gestern gegiert hatte, schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen, schließlich war schon Mittag, und legte mich aufs Sofa. Nicht zum Dösen, nein! Um über passende Namen nachzudenken!

Also, das Opfer... Thomas? Nachnamen brauchten die alle ja gar nicht, oder? Doch, die Polizei hatte bestimmt nicht vor, die ganze Bande zu duzen. Thomas Mühlbauer.

Seine böse, so harmlos wirkende Freundin: Sandra (auch so ein Hassname, da hatte es so eine im Kindergarten gegeben, die mir immer die wichtigsten Legoteile weggenommen hatte) Preußler. Preußler war gut.

Und die anderen... noch zwei Frauen und ein Mann, eine Vierzimmerwohnung mit Wohnküche, Bad und Gästeklo, renovierungsbedürftiger Altbau. Ich konnte es in München spielen lassen, da kannte ich mich immer noch ganz gut aus. Schwabing? Oder Haidhausen? Oder – schäbig, aber absolut trendy: Giesing? Das war noch zu regeln.

Eine Frau sollte eine strikte Veganerin sein, dann konnte man schon um den Gänsebraten Terror inszenieren. Die kriegte einen Birkenstocknamen, Johanna oder Maria. Nachname? Später. Die andere ist mehr von der flotten, aber zielstrebigen Sorte (Jura?), Typ höhere Tochter, aber ohne viel Kohle, sonst würde sie ja kaum in einer WG mit so durchgeknallten Typen hausen.

Dann noch Leonard, der Softie, von den Frauen nicht ernst genommen, von Thomas, dem Macho, verachtet und als schwul beschimpft (wieso beschimpft? Dazu konnte dann der schwule Assistent der Kommissarin weise Worte sprechen).

Ja, das war bis jetzt eindeutig die beste Geschichte. Ich fügte die Ergänzungen an und fischte die fertige Pizza aus dem Ofen. Sie stank durchdringend nach Thunfisch. Ich schnitt sie in acht Stücke, warf den Fernseher an und suchte nach dieser hinreißend wirren Telenovela. Auf dem Sofa lümmeln, verfolgen, wie Don Miguel seine Tochter Clararosa daran hindern will, einen Windhund zu heiraten, wo der brave Enrique doch schon in den Kulissen lauert, Pizza essen: So sollte jeder Tag sein!

Ich fegte die Krümel nachlässig auf den frisch geputzten Boden und begann den Verdacht zu hegen, dass der Windhund Alejandro nicht so windig und der brave Enrique nicht so brav war, wie Papa glaubte. Clararosas liebendes Herz hatte wohl den besseren Instinkt... Man traf sich in Acapulco und es gab eine Schlägerei zwischen den beiden Rivalen – Abspann.

Heuchelei... auch kein schlechter Streitpunkt, dazu Tiermord, Frauenfeindlichkeit, Zickengehabe, die Frage, wer die Klobrille nie runterklappte (Stehpinkler sterben eher?), Religion und Weihnachten als Kommerzveranstaltung – das reichte doch für den Krach des Jahres mit Generalabrechnung und der Aufzählung aller alten Sünden, nach dem Motto und als wir damals nach Sizilien getrampt sind, hast du auch immer... und ich krieg von dir noch tausend Lire wegen damals, in Rom... Mit dir hat man sich auf jeder Reise schämen müssen, verlangt in der Provence eine Maß Bier...

Ja, hier konnte ich fündig werden. Gott, war das Sofa bequem... Und worum ging es in dieser Serie? Irgendwie Mode... eine verschwundene Kollektion... die sahen alle so chirurgisch gestylt aus... und diese Blonde, die war ja wohl ein bisschen -

Das Telefon weckte mich. Was, halb vier? Ich rappelte mich auf, schmeckte Thunfisch im Mund, fühlte Schweiß im Nacken und stolperte zum Telefon.

„Seeger?“

„Na gut, dass ich dich mal an die Strippe kriege!“

Oh Scheiße – Kathrin, meine Lektorin! Dafür hatte ich seit Tagen den Anrufbe-

antworter drangehen lassen, dass sie mich jetzt im Halbschlaf erwischte?

„Hallo, Kathrin“, murmelte ich unlustig.

„Wie geht´s voran?“

„Ach, ganz gut“, log ich rasch.

„Sehr schön! Pass auf, komm doch am Montag vorbei und zeig mir, was du schon hast. Du weißt ja, wie eng wir die Termine für das Lektorat und den Druck gemacht haben, also muss ich schon hinterher sein, dass alle pünktlich abgeben. Am Einunddreißigsten, das geht doch klar?“

„Natürlich“, antwortete ich benommen, weil ich mir erschrocken den Montag vorstellte, an dem ich meine zahlreichen verworfenen Versionen vor Kathrins kritischem Auge ausbreiten musste.

„Gut, dann sagen wir doch gleich am Montag um neun, ja?“

„Lieber nachmittags“, versuchte ich das Unvermeidliche etwas hinauszuzögern, „am Vormittag muss ich zum Zahnarzt.“

„Ach, du Arme! Was Schlimmes?"

Ich überlegte einen Moment. Ein bisschen schlimm, vielleicht? Das konnte man noch als Ausrede verwenden, falls notwendig. „Naja, geht so, ein Loch im Backenzahn. Bohren und Füllen, du weißt ja.“

„Beileid. Gut, dann um zwei, nach der Mittagspause?“

„Okay, um zwei“, stimmte ich schwächlich zu und legte auf.

Verdammt! Bis Montag um zwei musste ich etwas vorzuzeigen haben! Das waren nur noch sechsundvierzig Stunden, und wenn ich zweimal acht Stunden Schlaf abzog, sogar bloß noch dreißig. Und jetzt hatten die Läden zu!

Egal, ich konnte ja später den Pizzaservice anrufen, aber jetzt musste ich etwas arbeiten. Am besten machte ich mir eine Liste aller Streitpunkte.

* Johanna ist sauer auf Thomas, weil er von dem leckeren Gänsebraten zu Hause erzählt hat.

* Die Juristin ist sauer auf Thomas, weil er behauptet, sie wird es nie zu was bringen, weil ihr die Babypausen dazwischen kommen.

* Der Softi, Leonard, fühlt sich von Thomas verscheißert

* Die Freundin verteidigt Thomas dauernd, aber sie weiß, dass er sie abservieren will, und wenn sie ihn nicht haben kann, dann soll ihn keine haben.

Was waren das denn für bescheuerte Motive!

Nur die Freundin – ach ja, Sandra – hatte ein einigermaßen brauchbares Motiv.

Und wenn man es noch koppelte? Vielleicht versetzt ihm einer nachts nur einen leichten Messerstich, aber er verblutet, weil ihm zu Hause jemand einen Gerinnungshemmer verpasst hat? Erbsüchtiger Bruder, der selbst auf Sandra steht?

Nein, das Eifersuchtsmotiv konnte ich streichen, Sandra war ja schon wieder so gut wie verfügbar. Also nur Erbschaft? Oder Rache, vielleicht hatte Thomas seinen Bruder bei den Eltern irgendwie schlecht gemacht – oder dessen Freundin angemacht?

Genau! Das würde auch Sandras unterdrückte Wut erklären. Und die Eltern würden natürlich behaupten, ihre beiden Söhne hätten sich immer gut verstanden, es habe nie Meinungsverschiedenheiten gegeben... Eltern behaupteten doch immer so etwas, nicht? Damit wäre diese Spur doch schon ganz gut getarnt.

War das nicht fast ein bisschen viel für fünfundzwanzig Seiten? Nein, wenn man ökonomisch erzählte, dann nicht.

Aber jetzt brauchte ich erst mal wieder eine Pause. Die Sonne schien gerade so verlockend auf meinen Balkon, also ließ ich den Pareo fallen und drapierte mich auf der Sonnenliege, wo ich prompt wieder einschlief.

Die Abendkühle weckte mich wieder – was, fast zehn? Dann hatte ich nur noch vierundzwanzig Stunden Zeit, bis Kathrin mit verächtlicher Miene mein klägliches Ergebnis studieren würde. Aber heute Abend ging wirklich nichts mehr. Und meine linke Seite brannte ziemlich. Ich studierte sie im Badezimmerspiegel und trug dann dick Dopposolare auf. Hoffentlich gab das bis morgen die ersehnte Bräune!

Eigentlich wurde ich sehr schnell braun, aber wenn ich mich uneingecremt in die Augustsonne legte, konnte ich ja auch nichts Besseres erwarten.

Wenigstens erwachte ich am Sonntag ziemlich früh und voller guter Vorsätze, die schon fast an Tatendrang grenzten. Ich duschte, warf mich in einen anderen Bikini, wusch den von gestern durch, räumte etwas auf und setzte mich dann entschlossen vor meinen Rechner. Also, die Idee stand. Oder war das auch wieder Schwachsinn? Nein, eigentlich ging es – einigermaßen.

Zeitablauf? Beginn mit dem ersten Feiertag, am Nachmittag. Schließlich brauchten ja wohl alle noch ein Schläfchen, nach dem fetten Weihnachtsessen. Frisch ans Werk!

Erleichtert schloss Johanna die Wohnungstür auf und stellte die Tüte mit den eher seltsamen Weihnachtsgeschenken ab. Noch niemand zu Hause? Die anderen machten wohl noch in Familie? Umso besser, dann konnte sie ihre Ausbeute ohne spöttische Kommentare verräumen, sich einen Tee kochen und an dem Flugblatt arbeiten, das sie nächste Woche zum AK mitbringen sollte.

AK oder Arbeitskreis? Wusste der gemeine Leser mit der Abkürzung etwas anzufangen? Aber Johanna konnte ja schlecht in ihre Gedanken überflüssige Erklärungen einbauen, oder?

Warum bekam man zu Weihnachten immer so sinnloses Zeug? Spitzenverzierte Wäsche, mit Elasthan darin? Als ob sie jemals solchen Kunstfaserkram tragen würde – was da an Schadstoffen bei der Produktion anfiel! Und diese Pantoffeln – was hatten ihre Eltern eigentlich gegen Birkenstock? Dass Frank ihr eine CD geschenkt hatte, ging ihr eigentlich auch gegen den Strich, denn das Abspielen würde wieder nur unnütz Strom verbrauchen.

Aufatmend sah sie sich in ihrem Zimmer um – naturbelassene Kiefer, Sisalteppich (ungefärbt), Kissen und Vorhänge aus ungebleichter Baumwolle – perfekt! Wer so lebte, verursachte so wenig Schaden wie möglich an dieser sterbenden Welt. Andere dagegen... Es gab wirklich Leute, die man liquidieren sollte, um die Gemeinschaft und damit die ganze Erde zu schützen...

Prima, da hatte ich ja schon ein Mordmotiv angedeutet! Oder war das zu plump? Dachte der Leser später Wenn sie so dick aufträgt, war die es schon mal bestimmt nicht, und wenn nur diese Sandra einen auf lieb macht, muss sie die Mörderin sein? Andererseits dachte man schnell an Mord und tat es dann doch nicht. Wer sollte als nächstes nach Hause kommen? Am besten der Softi.

Kaum hatte Johanna sich an ihren Schreibtisch gesetzt, zwei Bienenwachskerzen entzündet und ihr schönes neues Schreibpapier zurechtgelegt, das sie sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte (Sonderangebot vom Ökoversand), klirrte wieder ein Schlüssel an der Wohnungstür.

Leonard schloss die Tür leise hinter sich und blieb dann erst einmal erschöpft im Flur stehen. Warum lud seine Mutter immer irgendwelche Frauen ein, die gar nicht sein Geschmack waren? Und die heute erst! Aufgebrezelt bis zum Gehtnichtmehr, und dann redete sie die ganze Zeit davon, wie gerne sie einen lieben Mann verwöhnen würde, wie gut sie kochen konnte und wie gerne sie Kinder hätte. Sollte er da den markigen Ernährer spielen? Als er beiläufig erwähnt hatte, er sei Sozialarbeiter, aber seine Stelle werde wahrscheinlich zum ersten März gestrichen, ließ das Interesse dieser – dieser –

Ja, wirklich: Wie sollte die Frau heißen, die daherredete wie das Lockangebot eines Eheanbahnungsinstituts? Sabine? Angelika? Petra? Petra war nicht übel, das reichte vorerst.

- Petra fühlbar nach. Solche Frauen wollte er nicht. Und das Fitnessbuch war auch ein blödes Geschenk. Warum schenkten die Leute nicht das, was man wirklich wollte, sondern immer das, was man wollen sollte? Warum wollte seine Mutter immer noch Arnold Schwarzenegger aus ihm machen, den Traum der Nachbarstöchter? Er war nun einmal dünn und hielt sich ein bisschen krumm, und gut, die randlose Brille mit den runden Gläsern war aus der Mode, aber sie war ein Statement.

Er schlurfte deprimiert in sein Zimmer, legte Meditationsmusik auf und warf sich auf sein Bett.

Toll! Redeten die eigentlich miteinander oder litt jeder still vor sich hin? Später mussten sie aber miteinander reden, sonst kam es nicht zu dem großen Krach, der dann zu Thomas´ Ermordung führte.

Silvia –

Moment! Hatte ich die toughe Juristin wirklich Silvia getauft? Nein, die hatte noch gar keinen Namen, aber Silvia war okay. Nachnamen erst, wenn ich die Leute besser kannte. Ich hatte meine Personen ohnehin nicht immer im Griff. Manchmal schrieb ich wie ferngesteuert und staunte dann beim Durchlesen, was da alles gesagt und getan wurde. Komischerweise passte es aber meistens zum Gang der Handlung. Personal mit Eigenleben – war ich ein Genie oder zu schwach, meine Story im Griff zu behalten?

Silvia war heilfroh, als sie wieder zu Hause war. Zwei Themen hatten die große Familienrunde beherrscht – die grundsätzliche Amoral von Anwälten, untermauert mit Beispielen aus amerikanischen Gerichtssoaps, und die Frage, warum die Frauen von heute nicht mehr ihren regenerativen Pflichten nachkommen wollten. Dabei richteten sich die anzüglichen Blicke diverser ältlicher Tanten streng auf Silvia, die, vom Rheinwein befeuert, sofort fragte, wann diese Tanten denn etwas zum Fortbestand der Menschheit beigetragen hätten. Da sie alle „keinen abgekriegt“ hatten, wie ihr Vater abfällig zu bemerken pflegte, verstummten sie sofort beleidigt, aber ihr Vater fühlte sich bemüßigt, das Thema zu vertiefen: Wenn sie weiterhin so albern auf Karrierefrau mache, werde sie auch keinen abkriegen – Männer schätzten so etwas nicht.

Das provozierte Silvia zu einer flammenden Tirade über das schwache Geschlecht, das, komplexbehaftet und nicht mit dem Hirn denkend, nichts auf die Reihe kriegte und trotzdem immer als Held dastehen wollte, und endete damit, dass sie türenknallend aus dem Haus rauschte und ihre ganzen dämlichen Geschenke einfach stehen ließ.

Jammerschade, dass für dieses Gespräch kein Platz war – es hätte mir großes Vergnügen gemacht, das ausführlicher zu gestalten!

Ihr Jähzorn würde ihr irgendwann einmal Ärger machen, das wusste sie. Gut, heute war es gleichgültig, denn in der Geschenketüte befand sich nichts, was sie wirklich haben wollte. Außer vielleicht „Die erfolgreiche Frau“, unveränderte Neuauflage eines Klassikers von 1962 – das wäre wenigstens ein richtiger Lacherfolg gewesen... man hätte sich gegenseitig daraus vorlesen und dann prustend zurück ins Sofa fallen können. Notfalls kaufte sie sich den Schmöker eben selbst, aber zu ihren Eltern (Mama hatte den ganzen Tag in der Küche verbracht und war kaum zum Vorschein gekommen) würde sie so bald nicht mehr fahren.

Hoffentlich rastete sie nicht eines Tages im falschen Moment aus, etwa während eines wichtigen Plädoyers!

Oder weil der böse Thomas so viel dummes Zeug redete, plante ich weiter. Mist! Aus Symmetriegründen musste jetzt auch noch Leonard, der sicher gerade dabei war, zu seiner Meditationsmusik wegzuknacken, mit seinen üblen Gefühlen hadern. Ich blätterte mit der Pfeiltaste zurück und setzte den Cursor neu.

Solche Weibchen hasste er besonders, aber noch mehr regten ihn diese markigen Kerle auf, die den tollen Macho gaben und so taten, als hätten sie die Welt im Griff und alle Mädels lägen ihnen zu Füßen. Blöde Angeber, da hätte er manchmal am liebsten zugeschlagen!

Ja, das war ziemlich stimmig. Gut, an den Details sollte ich noch feilen, aber es schien doch voranzugehen, oder?

Über die Wohnung senkte sich Stille; Silvia erfrischte sich mit den neuesten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Hamm, Leonard war beim Meditieren eingenickt, und Johanna entwarf ein flammendes Plädoyer gegen Tiertransporte. Der Störenfried war noch nicht da. Alle drei fragten sich, warum sie das vierte Zimmer an diesen Kerl vermietet hatten. Gut, damals hatte er sehr nett gewirkt, charmant und jungenhaft – aber eigentlich passte er nicht zu ihnen, und jetzt fanden sie keinen Grund, ihn rauszuwerfen.

War das nicht ziemlich platt? Da war doch sofort klar, dass der ermordet werden musste!

Und wenn jemand anderes das Opfer wäre? Und der böse Thomas Hauptverdächtiger? Und dann war er´s doch nicht? Jetzt hatte ich auf jeden Fall keine Lust mehr. Der doofe Thomas mit seiner Sandra, die mühsam ihren Zorn verbarg, konnte auch später kommen.

Gab´s nicht was im Fernsehen? Nein, nur Blödsinn. Aber da lag noch ein Krimi herum – sollte ich den lesen oder würde er mich nur von meiner Linie ablenken? Ich beschloss es zu riskieren und legte mich mit dem Schmöker auf den Balkon. Nein, der würde mich nicht beeinflussen, das war wieder mehr die Serienmörder-Schiene, die mir ohnehin nicht besonders lag. Immerhin war der Krimi außerordentlich spannend, und das genügte, ich brauchte jetzt Ablenkung von der Tatsache, dass mein Entwurf irgendwie platt und vorhersehbar war. Es sei denn, ich drehte die ganze Sache wirklich noch –

Das Telefon läutete. Nicht schon wieder Kathrin! Wenn sie mir so im Nacken saß, kam ich doch nie voran! Ich wartete, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete, und hörte Jörgs Stimme. Eilig rannte ich hin und riss den Hörer von der Gabel. „Ich bin schon da!“

Leises Lachen. „Versteckst du dich wieder vor deiner Domina?“

„Ja“, grollte ich, „sie nervt, wegen dieser dämlichen Weihnachtsgeschichte. Morgen muss ich ihr was zeigen.“

„Und du hast nichts“, folgerte Jörg, der mich etwas zu gut kannte.

„Doch, schon, aber das ist der letzte Scheiß, ehrlich. Ich wüsste als Leser schon nach den ersten zwei Sätzen, wer wen warum umgebracht hat.“

„Das glaubst du doch immer. Soll ich dich ein bisschen ablenken? Wir könnten kurz an den Mönchensee fahren. Da ist es zwar total voll, aber du musst wenigstens nicht an Weihnachten denken. Ist ja pervers, bei dieser Hitze.“

Dankbar stimmte ich zu, ich musste jetzt wirklich hier raus. Und zu meiner bescheuerten WG fiel mir im Moment ohnehin nichts mehr ein.

Jörg holte mich zehn Minuten später ab; ich hatte gerade noch Zeit gehabt, den Laptop zuzuklappen und mir ein Kleid überzuziehen.

Am Mönchensee war es so voll, als gebe es dort etwas Besonderes, nicht nur einen künstlichen und dafür ziemlich schlammigen und mittlerweile auch lauwarmen See. Etwas dünner war die Menschentraube nur am jenseitigen Ufer um dieses Bootshaus, in dem im Frühsommer eine junge Frau ermordet worden war; anscheinend war das den meisten Leuten noch unheimlich.

Wir fanden mit Mühe und Not noch einen Platz für unsere Handtücher und streckten uns aus. „Man sieht, wie fleißig du warst“, spottete Jörg.

„Woran?“, fragte ich träge. War das heiß! „Du bist verdächtig braun. Bist du sicher, dass du schon was geschrieben hast?“

„Ja, verdammt. Ungefähr zehn Entwürfe, einer dümmer als der andere. Höhne nicht, schmier mich lieber ein!“

Ich hielt die Flasche hoch; Jörg rieb mir rasch und geschickt den Rücken und die Beine ein und gab mir einen liebevollen Klaps auf den Hintern.

„Tausend Dank. Wie geht´s denn bei dir voran?“

„Ganz ordentlich. Ich bin schon beim letzten Kapitel.“

„Kunststück“, murrte ich und ließ den Kopf auf die verschränkten Arme fallen, „so was könnte ich auch schreiben. Tastenkombinationen, Pull-down-Menus... du musst dir wenigstens nichts ausdenken. Textverarbeitung ist einfach so, wie sie eben ist.“

„Stimmt. Weißt du noch, als die Dammerer in der K 13 plötzlich mit dem Kreativen Schreiben angefangen hat? Ich war so was von fertig und musste dir eine Story abkaufen. Da hattest du doch jede Menge Geschichten?“

„Es ist ein Unterschied, ob bloß die Dammerer den Quatsch gelesen hat oder Kathrin. Die ist so was von streng! Und wenn sie mir was durchgehen lässt, muss es der Falkenstein noch lange nicht tun. Der schreibt selbst, der weiß wirklich, was er sagt.“

„Und wenn die Kritik berechtigt ist, tut sie am meisten weh“, bestätigte Jörg und drehte sich auf den Rücken. Ich legte mich auf die Seite, um ihn ansehen zu können.

„Da hast du verdammt Recht. Und gerade so Worte wie unoriginell oder vorhersehbar sind besonders niederschmetternd. Man möchte doch gerne das ganz Neue und Unerwartete produziert haben.“

„Ja... Oder dass jemand sagt Endlich mal ein Handbuch, mit dem man etwas anfangen kann! Was ich schreibe, ist immer nur eins von vielen – aber man kann davon leben.“

„Leben kann ich davon auch. Und wenn ich noch drei, vier richtig gute Romane nachschiebe, dann kann ich sogar gut davon leben. Ein Roman ist einfacher, finde ich.“

„Ehrlich?“

„Ja, ich hab doch nur fünfundzwanzig Seiten – wie soll ich da alle Personen entwickeln? Und wenn man sie nicht kennt, kann man nicht mit überlegen, wer es nun gewesen ist.“

„Weniger Personen?“

Ich erzählte ihm meinen Entwurf. Jörg brummte faul, aber ich wusste, dass er zuhörte. Guter Kumpel – schon seit der Kollegstufe! Sicher, zwischendurch waren wir auch mal mehr als Kumpels gewesen, ganz kurz, aber das hatte sich, so nett es gewesen war, nicht wirklich bewährt. Ich liebte andere, er liebte andere, und wir blieben die besten Freunde. Vielleicht war es aber ganz gut, dass die Neugierde aufeinander weg war. So konnten wir uns trösten, wenn einer von uns festhing oder wenn einer von uns (meistens er) Liebeskummer hatte, und miteinander ins Kino gehen, Ludwigskron und den Kunstbau unsicher machen, uns im Herzoglichen Theater über avantgardistische Inszenierungen wundern und die Eiskarten rauf und runter futtern.

„Ich finde, das hört sich nicht schlecht an“, fasste er dann zusammen, „und wer soll jetzt von wem umgenietet werden?“

„Das weiß ich eben noch nicht so recht. Ich dachte zuerst, dieser Thomas, da haben alle ein Motiv, nur diese Sandra zunächst nicht.“

„Dann war die es“, stellte er fest und räkelte sich in der Sonne.

„Ja, zum Teufel. Das ist zu einfach, was?“

„Schon. Kannst du nicht so anfangen und dann abbiegen? Dass es doch einer von den Verdächtigen war, aber aus einem anderen Grund?“

„Hm...“ Die Hitze machte müde. Nein, jetzt gab es nicht schon wieder ein Schläfchen! Ich rappelte mich auf, trabte zum Ufer und stakste über die spitzen Kieselsteine in die lauwarme Brühe, bis ich mich platschend fallen lassen konnte. Mäßig erfrischend, aber besser als nichts. Und weiter draußen wurde das Wasser auch kälter.

Mit fielen beim Schwimmen die irrsten Geschichten ein, man konnte jemandem, der immer auf einer Luftmatratze im Wasser zu treiben pflegte, ein ganz kleines Loch... und dann der Atlantik bei einsetzender Ebbe... es zöge ihn sofort hinaus, ablandige Strömung...

Oder salmonelleninfiziertes Eis – naja, nicht so toll. Oder die Sache mit dem Salzblock am Bein – das musste dann sofort die Spuren in Richtung lokale Mafia lenken, wenn die Unfalltheorie erstmal vom Tisch war... Scheißweihnachten, wieso konnte ich nicht für einen Urlaubssampler schreiben!

Hatte ich ja, im November. Und ich hatte damals genauso herumgezetert und fünf Minuten vor Schluss schließlich abgegeben. Die Story war allerdings nicht übel, das fand ich heute noch.

Etwas abgekühlt, aber absolut nicht inspiriert suchte ich mir meinen Weg aus dem Wasser heraus, behindert durch die spitzen, teils mit glitschigen Algen bewachsenen Steine, kreischende Kleinkinder mit Schwimmflügelchen, Gummitieren und Schwimmreifen und durch ältere Damen in rüschenbesetzten Bademützen und figurschmeichelnden Badeanzügen mit Schößchen, die entweder ausgerechnet hier ratschen mussten oder – nein, wer bis zum halben Oberschenkel im Wasser stand und darüber trocken war, hatte einfach Angst vor dem kalten Gefühl am Bauch. Als Detektivin war ich also gar nicht so schlecht!

Vielleicht sollte ich überhaupt eine Privatdetektivin ins Spiel bringen, sie konnte parallel zu Gabi Gärtner ermitteln, sich mit ihr zoffen und schließlich Freundschaft schließen... Verdammt, so wurde das Personal immer zahlreicher, diese blöden, blöden fünfundzwanzig Seiten. Aber wenn ich die Detektivin ins Spiel brachte, konnte ich sie im nächsten Roman richtig ausbauen.

Aufgeregt fiel ich auf mein Handtuch zurück.

„Jörg, was hältst du von einer Privatdetektivin?“

„Nicht schlecht. Ist die Gärtner eigentlich lesbisch?“

„Nein. Au ja, später mal könnten sie sich in den gleichen Kerl vergucken und beide selbst verdächtig werden."

„Wieso später mal?“, murmelte Jörg schläfrig, „Wäre das jetzt nichts?“

„Beide verlieben sich in den Nikolaus? Ich weiß nicht...“

„Wenn Sie ihn beide kennen, in Zivil, meine ich?“

„Hm... bedenkenswert.“ Ich kramte nach meinem Notizbuch und schrieb das auf. Ich wusste zwar nicht recht, wie ich das aufbauen sollte, aber die Idee war gar nicht so dumm.

Jörg wechselte träge das Thema, schließlich hatte er mir ja versprochen, mich etwas abzulenken. Kathrin würde toben, wenn sie wüsste, dass ich gar nicht an meinen Laptop gekettet zu Hause saß!

Mist, bis morgen Mittag brauchte ich einen richtig guten Entwurf! Und wenn ich doch bei der WG-Geschichte blieb? Alle hassen Thomas, aber tot in der Küche liegt dann – Leonard? Der arme Hund, er hatte echt kein Glück in seinem kurzen Leben. Und wer sollte das gewesen sein?

Oder Johanna als Opfer, und Sandra entpuppte sich als Kürschnerstochter? Johanna hatte mal die Kundinnen des eleganten Pelzsalons mit Farbbeuteln beworfen und fast den Betrieb ruiniert... Nicht schlecht...

„Ich denke, ich soll dich auf andere Gedanken bringen?“, maulte Jörg.

„Ja, sorry. Du, pass auf“, fing ich aufgeregt an, „wie findest du das?“

Ich erzählte ihm die Kürschnergeschichte.

„Ja... das würde immerhin dauern, bis die Gärtner da draufkommt. Aber wer hätte noch einen Grund?“

„Ja, Mensch. Weiß ich doch. Den Thomas könnte sie zwar tierisch genervt haben, aber das ist doch kein Mordmotiv...“

Frustriert starrte ich vor mich hin. Jörg sprang auf. „Komm, du brauchst ein Bier! Wenn wir gleich fahren, kriegen wir in Herzhofen noch einen Platz. Hoch mit dir!" Prima Idee, außerdem hatte ich schon wieder Hunger. Emmentaler, Radi, Fleischpflanzerl... und eine Riesenbreze, das wär´s jetzt.

Tatsächlich warfen wir uns im Herzhofener Biergarten gerade noch über den letzten freien Tisch; erst ging Jörg Bier holen, dann reihte ich mich in die Schlange am Brotzeitstand ein, Wurstsalat, Emmentaler, Radi, Breze... und schleppte alles wieder zurück.

„So, und jetzt reden wir wirklich von etwas anderem“, beschloss ich, als wir alles zwischen uns aufgebaut und schon mal einen großen Schluck Bier genommen hatten. „Was macht denn Annika?“

Jörg seufzte. „Sie hat Angst, dass man sie rausschreibt. Die Storyline ist ausgereizt, heißt es.“

„Oh.“

Annika, die ich im Stillen immer als Serienschlunze bezeichnete, gab in Spielball des Lebens die junge Rothaarige (den Namen konnte ich mir nie merken), die auf der Suche nach ihrem unehelichen Vater war und dabei den Haupthelden über seine Witwerschaft hinwegtröstete.

Ich fand die Serie bescheuert und guckte sie nie – fast nie. Bügeln konnte man aber ganz gut dabei, zugegeben. Aber das nahm ich Annika nicht weiter übel, solche Weltliteratur waren meine Krimis nun auch wieder nicht, und nicht bei jeder Schauspielerin reichte es für die Julia.

Was ich an Annika nicht mochte, war diese Art, sich aufzuführen, als habe Hollywood schon nach ihr gerufen. Sie war eine von tausenden Seriendarstellerinnen; Schauspielerin war sie genau genommen keine, sie hatte keine Ausbildung und vorher nur einmal im Freitagskrimi die Leiche dargestellt. Gut, eine sehr schöne und sehr erotische Leiche, aber so viel zu spielen hatte es da nicht gegeben.

Trotzdem benahm sie sich, als jette sie nur zwischen Talkshows, Filmbällen und aufregenden Sets hin und her, und abgesehen von ihren Branchenkenntnissen war sie meiner Ansicht nach dumm wie die Nacht finster. Sie hatte ja nicht mal Abitur! Gut, dass war arrogant von mir, aber was sie alles nicht wusste, war manchmal schon ziemlich peinlich.

Was Jörg an ihr fand, war mir ein Rätsel. Vielleicht war sie ja fantastisch im Bett (Dumm fickt gut?), aber so oft kam er bei ihr auch nicht zum Zuge, denn sie behandelte ihn, als sei er ein Relikt aus ihrer wenig glamourösen Vergangenheit – als ob ihre Gegenwart so glamourös wäre!

Jörg hatte mir mal erzählt, wie es da zuging, und ich hatte höllisch aufgepasst, man wusste schließlich nie, wann man so etwas brauchen konnte. Fünf Tage die Woche schufteten die Armen da wie im Akkord, jede Szene musste möglichst beim ersten Take sitzen, denn man drehte jeden Tag etwas mehr als eine Folge. Kunststück, das Zeug lief seit Jahren ohne Pause, und wenn die Darsteller Urlaub haben wollten, mussten sie vorausarbeiten.

Am Wochenende hatten sie dann zwar frei, durften aber keinen riskanten Sport treiben (sonst müssten die Autoren blitzschnell ein Gipsbein ins Drehbuch schmuggeln), sich nicht spontan die Haare färben, in der Öffentlichkeit nur nach Absprache auftreten und auf keinen Fall etwas äußern, was ihrem Serienimage widersprach.

Scheißjob, dachte ich mir öfters, aber deshalb musste Annika nicht tun, als sei sie Julia Roberts und wir nur irgendwelche Fans!

„Außerdem haben wir uns gestritten“, klagte Jörg weiter und nahm noch einen tiefen Schluck, „sie sagt, ich behindere ihre künstlerische Entwicklung.“

„Haha, welche Entwicklung denn? Oder hat sie ein besseres Angebot gekriegt?“

„Nein, immer noch die edle Tochter auf der Suche. In der Rolle steckt echt nichts.“ In Annika auch nicht, dachte ich respektlos, es kann nur raus, was auch drin ist. „Und wieso behinderst du sie dann? Wenn ich beruflich so auf der Kippe stehen würde, würde ich doch meinen Freund nicht vergrätzen – wer sollte mich trösten, wenn´s knallt?“

„Ich glaub, da hat sie schon einen im Auge, der arbeitet bei Local One und vielleicht suchen die jemanden für eine neuartige Talkshow, richtig vor Ort, auf der Straße...“

„Klingt ja berauschend. Gibt´s auch fast noch gar nicht.“

„Für eigene Ideen hat Local One doch kein Geld“, wandte Jörg ein und lächelte boshaft. „Jedenfalls hält sie den gerade für den absoluten Megatypen, und ich bin abgemeldet. Ach ja, ihre Schuhe durfte ich noch zur Reparatur bringen."

„Lass dich doch nicht so schikanieren“, sagte ich empört, „hast du das denn notwendig?“

„Weiß ich doch. Aber wenn ich sie dann wieder sehe – sie ist so entzückend... und sie kann so lieb sein...“

„Ja, wenn es ihr in den Kram passt“, muffte ich und prüfte, ob der Radi schon genügend geweint hatte. Hatte er, ich riss ein großes Stück ab und verspeiste es. Wenn ich Kathrin morgen anhauchte, würde sie tot umfallen – Mist, und der fiktive Zahnarzt natürlich auch! Na, jetzt war´s zu spät.

„Du magst sie eben nicht“, stellte Jörg scharfsinnig fest.

„Ich glaube bloß, du könntest was Besseres haben. Die erinnert sich doch bloß an dich, wenn sie dich braucht, ansonsten jagt sie ihrer Hollywoodkarriere nach." Der Radi war wirklich sehr lecker. Ich aß ihn fast ganz alleine auf.

„Meinst du nicht, du könntest eine finden, die ein bisschen mehr zu bieten hat?“

„Ich liebe Annika eben. Dass sie das nicht so ganz erwidert, weiß ich auch, aber wenn sie Trost braucht...“

„Das ist doch bescheuert!“, ärgerte ich mich.

„Mag sein. Ich sage nur Fabian...“

„Du Ratte!“, fuhr ich auf, „An den hättest du mich nicht erinnern müssen!“

Fabian, der ambitionierte Jungautor, der mich nur angebaggert hatte, weil er Beziehungen zu Winkler & Lange haben wollte. Ich war nur wichtig, wenn Scherer, Falkenstein oder eben Kathrin kein Interesse hatten oder wenn sein Meisterwerk (sehr esoterisch und schwer zu deuten) nicht so recht voranging. Sobald W&L sein epochemachendes Oeuvre, „Raunen im Kopf“, verlegt hatten, war ich abgemeldet - bis die Verkaufszahlen feststanden. Da hatte ich aber keine Lust mehr gehabt, ihn zu trösten. „Jetzt, wo ich keinen Erfolg mehr habe, stößt du mich ab“, hatte er gezetert, „du wolltest nur von meinem Ruhm profitieren!“ Von welchem Ruhm denn? Die Reste waren verramscht worden, und W&L hatten auf die harte Tour gelernt, dass nicht in jedem Zwanzigjährigen ein Bestseller steckte.

Dass Jörg mit diesem Flop ankam, zeigte mir, dass er sich über meine Kritik an seiner Serienschlunze ärgerte. „Okay“, sagte ich also, „ich nehme alles über Annika zurück. Aber sei nicht zu blauäugig!“

„Wofür hältst du mich denn? Für einen Naivling?“

„Naja...“ Ich musste grinsen und Jörg holte mit einem Stück Breze aus. Dann lachte er aber selbst. „Jetzt sind wir schon so alt und gereift, ekelhafte Vierunddreißig – und unser Liebesleben schaut aus wie bei Teenagern. Ist das nicht peinlich?“

„Wir können natürlich auch behaupten, das zeigt, wie jung wir geblieben sind, trotz der ersten Falten und grauen Haare.“

„Wo hast du denn graue Haare?“

„Kommen sicher bald. Du hast ja schon welche!“

Er wich meiner zupfenden Hand aus, war aber nicht allzu vergrämt. Vielleicht war er ja zufrieden damit, dass wenigstens die Stirn nicht immer höher wurde?

Mit Mühe und Not schafften wir es, ein Gesprächsthema zu finden, das weder Annika noch meine blöde Kurzgeschichte tangierte: Wir lästerten über ehemalige Mitschüler, das war immer wieder ergiebig, vor allem, als wir auf die unsägliche Gerlinde kamen, von der das Gerücht ging, sie hätte einen Pfarrer geheiratet – gleich nach dem Abitur.

„Der muss ja stocktaub sein“, behauptete Jörg und grinste mies, „sonst hätte ihn das dumme Gequatsche sofort erledigt.“

„Der arme Häkelkreis“, entgegnete ich versonnen. „Ich würde sagen wollen, hier sollte man noch eine Luftmasche...“ Dann begann ich haltlos zu kichern und konnte nicht mehr aufhören. Jörg betrachtete mich nachdenklich und verglich den Pegelstand in unseren Maßkrügen.

„Du hast auch schon mal mehr vertragen, Melli, du wirst alt. Das ist das erste Anzeichen. Komm, ich fahr dich heim.“

Gackernd stand ich auf, immer noch von dem schönen Bild fasziniert, wie Gerlinde den Häkelkreis zu Tränen langweilte. „Ich bin nicht besoffen. Das ist bloß der Galgenhumor, weil Kathrin mich morgen platt machen wird – und wie... O Scheiße!“

Ernüchtert folgte ich Jörg zum Auto und ließ mich brav zu Hause absetzen.

Eigentlich war es noch gar nicht so spät – aber jetzt noch den Laptop ankurbeln? Wieder über diese doofe WG nachdenken? Zwecklos, lieber legte ich mich ins Bett, dachte mir eine richtig schöne Geschichte aus, schlief gut und ging morgen ganz, ganz früh ans Werk - mit dem ultimativen Entwurf. Ein wirklich überzeugender Plan!

Er klappte auch – beinahe. Ich kam nur eine Stunde später aus dem Bett als geplant und saß brav um neun vor meinem Rechner. Im Schlaf hatte mich die Muse nicht sehr nachdrücklich geküsst, ich hatte zwar etwas Spannendes geträumt, konnte mich aber nur noch nebelhaft daran erinnern. Also gab es zwei Möglichkeiten: Entweder spann ich die WG-Geschichte weiter aus oder mir fiel jetzt sofort und auf der Stelle etwas Besseres ein, eben die ultimative Geschichte, die Kathrin ein entzücktes Quietschen entlocken würde.

In meinem Kopf fand sich nichts Ultimatives. Gähnende Leere!

Erstmal einen Kaffee!

Und eine Zigarette. So, jetzt aber! Jetzt war das Hirn wach. Fürs richtige Schreiben war jetzt keine Zeit mehr, ich musste ein Exposé in die Tasten hacken, das Kathrin vom Stuhl haute.

* Drei von vier Bewohnern sind zu Hause, alle im Weihnachtsblues und alle sauer auf den Vierten, der ihnen der Inbegriff allen Übels zu sein scheint.

* Thomas (der vierte) kommt nach Hause, glänzender Laune. Er hat gut gegessen (Gänsebraten), seinen Bruder geärgert, einen fetten Weihnachtsscheck kassiert und seine Freundin Sandra dabei. Die will er zwar bald abstoßen, aber für ein Feiertagsnümmerchen reicht es bestimmt noch.

* Kichernd verschwinden sie in seinem Zimmer, wo alsbald die Bettfedern quietschen. Die anderen hören das und ärgern sich aus verschiedensten Gründen (auch, weil sie selbst zurzeit gar keinen Sex haben)

* Schließlich treffen sich alle in der Küche, es ist schon wieder Abend. Nach der ersten Runde Glühwein kommt es zum Streit, wegen Ausnutzen von Frauen, Essens von Fleisch, machohaften Gehabes und im Gegenzug wegen dummem Emanzengequatsche, der Theorie, dass Veganer an Mangelerscheinungen eingehen, und Sexualneid. Thomas, ziemlich angetrunken, renommiert mit seinen Erfolgen bei Frauen, und Sandra sieht zunehmend etwas verkniffen drein, protestiert aber nicht laut, obwohl Silvia sie aufzuhetzen versucht.

* Verärgert gehen schließlich alle ins Bett.

* Am nächsten Morgen stolpert Johanna in die Küche und findet die Leiche. Sie denkt, es ist Thomas... und sie schleicht sich einfach ins Bett zurück (nicht ganz unhörbar)

* Etwas später steht Thomas auf, auf der Suche nach Coke gegen den Nachdurst, und stolpert über die Leiche. Er ruft die Polizei.

Ich lehnte mich zufrieden zurück. Im Verlauf der Geschichte sollte er sympathischer werden, und die drei Bedenkenträger unsympathischer (humorlos, schnell beleidigt, kleinkariert).

Gut, Thomas hat die Polizei verständigt. Die Leiche ist notgedrungen Leonard – im Liegen, von hinten, kann man die beiden auch nicht so gut unterscheiden. Schön und gut – aber warum sollte jemand den faden Leonard ermorden?

Ja, das war des Pudels Kern. Der hatte doch nun wirklich niemandem etwas getan. Ich brauchte Motive, reichliche Motive, offenkundige und verborgene. Das einfachste war natürlich, jemand hatte ihn verwechselt und wollte eigentlich Thomas erledigen, der darauf doch ein bisschen erschrocken reagieren könnte.

Ja, gut, aber das reichte absolut nicht. Konnte Johanna an unerwiderter Liebe zu Leonard leiden? Aber wenn alle Frauen die Männer umlegten, die nichts von ihnen wollten...? Hatte sich Leonard als Tierfeind geoutet? Hatte sie ihn nachts mit einer Scheibe Schinken in der Hand am Kühlschrank ertappt? Reichte das aus? In einer WG, in der außer Johanna alle Fleisch aßen?

Konnte er zu Silvia gesagt haben, dass er Frauen in akademischen Berufen ablehnte? Warum sollte er, dazu war er doch gar nicht der Typ?

Verdammt, woher sollte ich jetzt ein Motiv nehmen? Ich sprang auf und wanderte unruhig durch die Wohnung. Wer könnte diesen krummrückigen, komplexbeladenen Spätsoftie umbringen wollen? Hatte er etwas Falsches gesehen/gehört? Aber was?

Und konnte jemand in diese Wohnung rein? Nachts? Lautlos? Wie gut war das Schloss? Hatten Johanna oder Silvia vielleicht kriminelle Freunde? Ja, sonst noch was!

Diese ganze Geschichte war einfach völliger Quatsch, und Kathrin würde mir was erzählen, wenn ich nachher – o Gott, schon fast elf, nur noch drei Stunden, eher zweieinhalb, ich musste mich noch umziehen und hinfahren!

Resigniert druckte ich alles bisher Verbrochene aus, scrollte weiter und beschloss, noch einmal ganz von vorne anzufangen.

Dafür war es jetzt verdammt zu spät, vor allem, wenn man bedachte, dass ich überhaupt keine neue Idee hatte. Also lenkte ich mich damit ab, zu überlegen, was ich anziehen sollte.

Wenn ich schon inkompetent war, wollte ich doch wenigstens nicht so aussehen! Ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank. Ein Kleid? Das sah zu sehr nach Ferien aus und lieferte Kathrin bloß eine Vorlage. Jeans und T-Shirt? Als ob ich nicht nötig hätte, auf die Gepflogenheiten des Verlags Rücksicht zu nehmen – zu kess sollte ich auch nicht drauf sein, wenn ich schon keinen Bestseller in der Tasche hatte.

Ich entschied mich schließlich für das lavendelfarbene Leinenkostüm, halb korrekt, halb lässig (vor allem, wenn man sich auch nur einen Moment darin hingesetzt hatte), und verzichtete auf Strümpfe. Ja, das gab mir das richtige Auftreten! Viel Make-up war glücklicherweise nicht nötig, und die Haare waren schnell durchgebürstet.

Tja, dann sollte ich wohl noch ein bisschen... aber was?

Konnte ich vielleicht einen der alten Entwürfe noch etwas aufhübschen, so, als hätte ich hier noch neue Ideen entwickelt?

Oder... zwei Schwestern, die eine kriegt etwas viel Besseres zu Weihnachten als die andere, und alle alten Ressentiments kommen wieder zum Vorschein. Die hässliche kratzt der schönen (die den Schmuck gekriegt hat) fast die Augen aus, die Eltern müssen die beiden trennen und putzen die hässliche herunter.

Am Abend findet der Freund der Schönen sie tot in ihrem Appartement, und alle denken, die hässliche Schwester war´s...

Ein bisschen Grimms Märchen, überlegte ich und lehnte mich unzufrieden zurück. Aber natürlich war die hässliche es nicht, und so hässlich ist sie gar nicht, findet wenigstens Gärtners neuer Assistent.

Es kommt schließlich raus, dass die Schöne mehrere Männer gleichzeitig hatte, weil sie im Innersten zutiefst unsicher war, und einer kam damit nicht zurecht. Aber nicht der, der sie gefunden hat. Der ist ganz nett und sucht bei der Schwester Trost, aber der Assi ist ihr lieber. Sie blüht richtig auf!

Und die Eltern sind immer noch böse auf sie – nicht schlecht, bis jetzt musste sie dort immer Rasen mähen und so was erledigen, weil die schöne Schwester ja gesellschaftliche Verpflichtungen hatte.

Man könnte was draus machen, überlegte ich, als ich all diese schlampig formulierten Sätze heruntergehackt und gespeichert hatte. Viertel nach zwölf. Essen sollte ich schnell noch was, sonst wurde mir flau, wenn Kathrin mich zusammenpfiff.

Ich druckte die letzten Seiten aus, heftete alles nach Storys sortiert zusammen und steckte es in meine Tasche, dann verdrückte ich rasch zwei Bananen und eine Handvoll Chips. Jetzt war ich doch glatt zu früh fertig – bis zum Verlag waren es knapp zehn Minuten zu Fuß!

Na gut, die Schwestern konnten noch Namen kriegen!

* schöne Schwester: Sabrina

* hässliche Schwester: Leonore (die Eltern waren wirklich gemein)

* Eltern: Berger

* Freund, der findet: Jonas

* Freund, der gemordet hat: Florian

* Freundin, die L. nicht leiden kann: Kate - ach nein, dann fühlte Kathrin sich bloß verarscht, lieber... äh. Petra, genau!

* Freundin, die S. besser durchschaut hat: Marina

* Assi: Sándor (stammt aus Ungarn, da brauchte ich noch einen passenden Nachnamen, im schlimmsten Fall eben Nagy, so hießen doch viele Ungarn, oder?)

* Kommissarin Gabriele Gärtner (kann als bekannt vorausgesetzt werden).

Soll Sabrinas Wohnung auch noch durchwühlt werden? Schmuck fehlt (-> Verdacht auf Leonore?), aber es könnte ja auch etwas fehlen, was auf Florian gedeutet hätte...

Er hat aber ein kleines Indiz übersehen (was, würde ich mir später überlegen, wenn ich Kathrins Klauen wieder entkommen war). Sándor kann es richtig deuten...

Zeitplan?

- Bescherung und Riesenkrach (plus Andeutungen wg. früher): ca. drei Seiten

- Leonore schmollend zu Hause: ca. eine Seite

- Polizei, Information, tobende Eltern: ca. zwei Seiten

- Verhöre (plus anlehnungsbedürftiger Jonas): ca. zehn Seiten, Polizei ratlos

- Durchsuchung von Sabrinas Wohnung und Fund: zwei Seiten.

Erst achtzehn Seiten...

- Was könnte der Gegenstand sein? Frage an alle. Zwei Seiten - zwanzig

- Eltern immer noch sauer, Jonas etwas aufdringlich, Sándor scheint L. nicht zu glauben... drei Seiten – dreiundzwanzig

- Sándor zeigt L. das Ding, und sie kann es identifizieren -> Florian wird verhaftet. Macht erst auf Eifersucht, aber in Wahrheit wusste Sabrina zu viel über ihn. Bis Vierundzwanzigeinhalb.

- Eine halbe Seite: Fall gelöst, Lob von Chefin, Sándor küsst Leonore, Eltern sind böse. Und tschüss!

Naja, das konnte gehen. Aber blöde war es doch, irgendwie!

Jedenfalls hatte ich damit noch eine Seite für Kathrin, und jetzt konnte ich mich auch schon auf den Weg machen.

Unterwegs war mir doch etwas mulmig zumute. Nur noch neunzehn Tage, dann musste ich eine druckfertige Fassung vorlegen. Und viel zu ändern durfte daran auch nicht mehr sein, so knapp, wie Kathrin die Termine gelegt hatte. Ob die anderen wohl schneller vorankamen? Als ich die Treppe zu Kathrins Büro hinaufschlich, als müsste ich wirklich zum Zahnarzt, begegnete ich dem schönen Falkenstein, der mich erfreut begrüßte und peinlicherweise fragte, wie es meinem Beitrag zu Mörderische Weihnachten ging.

„Es geht voran“, schwindelte ich, „und bei Ihnen?“

„Ich bin fertig. Meine Frau tobt den ganzen Tag mit den Kindern im Garten herum, da konnte ich richtig zügig arbeiten. Wenn man erst einmal die zündende Idee hat – na, Sie kennen das ja.“

Ja, vom Hörensagen vielleicht! Natürlich nickte ich und setzte ein erfahrenes Gesicht auf. „Tja, ich werde dann mal Frau Horst zeigen, was ich bis jetzt habe. Noch bin ich im Konzeptstadium, aber wie Sie so richtig gesagt haben – wenn man erst einmal die zündende Idee hat...“

Er lachte und sprang die Treppe hinunter.

Hm. Wieso war der schon fertig? Elender Streber! Und damit fehlte mir schon wieder ein Argument (Tu doch nicht so, als ob alle anderen schon abgegeben hätten) – Mist!

Aus dem Zimmer neben Kathrin winkte mir die Redaktionsassistentin, Frau Kasparek, zu. Die war nett - und sie fand jedes verlegte Manuskript in Minutenschnelle. Leider hatte sie Kathrin nichts zu sagen.

Nicht, dass Kathrin nicht total in Ordnung gewesen wäre, aber da ich seit meinem ersten Roman immerzu in Verzug war und deshalb immerzu gerüffelt wurde, war es kein Wunder, dass ich immer ein bisschen Angst vor ihr hatte. Einmal schon früher als erwartet mit einem fetten, fehlerfreien Manuskript wedeln können! Jedes Mal nahm ich mir vor, gleich anzufangen oder nichts anzukündigen, solange ich noch gar nichts vorzuweisen hatte, aber bis jetzt war mir das noch nie gelungen.

Zaghaft klopfte ich an Kathrins Tür, nachdem ich die Mappe mit meinen Entwürfen dekorativ unter den Arm geklemmt hatte, und öffnete sie auf ihren Ruf hin. Kathrin stand auf und kam mir entgegen, aber dann stutzte sie.

„Oh – oh!“

„Was ist?“, fragte ich nervös.

Sie grinste flüchtig. „Du hast dich ja so aufgebrezelt – das lässt mich das Schlimmste befürchten!“

„Wie bitte?“ Vielleicht nützte Doofstellen ja doch mal was?

„Melli, wenn du dich korrekt anziehst, willst du überspielen, dass du nicht fertig bist. Ich kenn dich doch. Hättest du da eine fertige Geschichte drin, wärst du in diesen rutschenden, verbeulten Jogginghosen aufgetaucht, die du aus unerfindlichen Gründen so liebst.“

„Dass ich nicht fertig bin, weißt du doch schon! Aber ich hab ein paar Entwürfe, und du kannst mir sagen, welchen du am besten findest.“

Wahrscheinlich gar keinen, stand zu befürchten.

Kathrin setzte sich wieder, ließ Kaffee kommen und streckte die Hand nach der Mappe aus. Dann legte sie alle mit Büroklammern markierten Häufchen nebeneinander auf den Tisch, setzte sich diese arrogante Halbbrille auf und griff nach dem ersten Geheft. Eher dick, das musste die WG-Geschichte sein.

Sie las vertieft und sah nicht einmal auf, als ihre Sekretärin den Kaffee brachte. Ich betrachtete meine Fingernägel, den staubgrauen Teppichboden, den Blick aus dem Fenster, die Reihe von Romanen, die sie betreut hatte, im Regal und beobachtete dann wieder Kathrin.

Schließlich legte sie die Seiten hin und warf mir über die Brille hinweg einen Blick zu. „Das ist nicht dein Ernst!“

„Naja, top ist es nicht, entweder total offensichtlich oder an den Haaren herbeigezogen.“

„Eben. Also, das vergessen wir mal ganz schnell.“

Sie nahm sich den erpresserischen Nikolaus vor, überflog das Blatt und lachte dann spöttisch auf. „Naja, merk dir das Ganze mal für eine Nebenhandlung vor – aber als Kurzgeschichte? Ich weiß nicht.“

Die verfeindeten Schwestern entlockten ihr ein schlappes Lob: „Das geht zur Not – aber ein etwas raffinierteres Motiv dürftest du schon einbauen.“

„Er tut doch bloß so, als sei es Eifersucht gewesen, sie hat doch von seinen Drogengeschäften was mitgekriegt!“, erklärte ich eifrig.

„Welche Drogengeschäfte?“ Kathrin studierte ratlos das magere Exposé.

„Sind mir gerade so eingefallen“, murmelte ich verlegen.

„Drogengeschäfte...“, wiederholte sie halblaut und kritzelte etwas an den Rand. „Ja, das könnte gehen. Also, den Gold Digger gibt´s dafür nicht, aber wenn du was draus machst...“

Sie nahm sich alle meine Überlegungen zum Familienkrach unter dem Christbaum vor. „Nein, das hat nicht Hand noch Fuß. Okay, die feindlichen Schwestern kannst du nehmen, denke ich. Du hast neunzehn Tage – schaffst du das?“

„Klar“, versicherte ich voller Überzeugung.

„Naja!“ Kathrin warf mir einen misstrauischen Blick zu. „Ich weiß ja nicht – wie ich dich kenne, hast du am neunundzwanzigsten eine unschlagbare Ausrede und nichts fertig. Kannst du deine blühende Phantasie nicht mal zum Schreiben verwenden statt zum Anlügen deiner geplagten Lektorin?"

Ich kicherte dankbar – sie hatte einen Scherz gemacht! Sie war nicht ernsthaft sauer! Sie verlangte den Vorschuss nicht zurück!

„Lach nicht! Schwörst du mir, dass du rechtzeitig fertig bist?“

„Klar“, wiederholte ich. Neunzehn Tage, das war ja noch ewig!

„Ich traue dir nicht. Du geht doch wieder in den Biergarten oder ins Freibad und liest fremde Krimis, anstatt deinen eigenen fertig zuschreiben... Du hast einfach zu viel Ablenkung, das ist das Problem.“

„Ich bleibe die ganze Zeit zu Hause und gehe nicht ans Telefon“, versprach ich hastig, weil ich verhindern wollte, dass sie täglich meine Fortschritte kontrollierte. „Und du siehst nicht fern? Schmökerst nicht?“

„Ich schwör´s!“

„Dann wirst du putzen. Ich kenne dich doch, wenn du schreiben sollst, tust du alles Mögliche andere.“

„Nein, bestimmt nicht. Du wirst schon sehen, am einunddreißigsten hab ich ein perfektes Manuskript fertig.“

„Das wäre das erste Mal. Verdammt, Melli, wenn du nicht so gut schreiben würdest – wenn du mal schreibst! – hätte ich schon längst die Geduld mit dir verloren, das kann ich dir sagen.“

„Ja, ich weiß. Und es tut mir auch Leid. Aber schau, jetzt hab ich doch einen Plot. Und die Story mit den beiden Schwestern ist doch ausbaufähig, oder?“

„Jaja... Nicht, dass du dann kommst und sagst, es ist doch ein Roman geworden, weil du die Story zu sehr ausgebaut hast!“

„Nein, ich halte mich strikt an die fünfundzwanzig Druckseiten, bestimmt. Du kannst mir vertrauen.“

Sie musterte mich mit zusammengekniffenen Augen hinter der ekelhaften Brille. Warum trug sie so etwas, das machte doch total alt? Und dabei war sie fast vier Jahre jünger als ich, aber dermaßen tough, dass alle vor ihr zitterten.

„Das reicht mir nicht“, sagte sie schließlich.

„Muss ich meinen Vorschuss zurückzahlen, wenn ich nicht rechtzeitig fertig bin?“, versuchte ich zu witzeln.

„Das sowieso“, antwortete sie gleichmütig und ich erschrak wirklich.

„Ich hab eine Idee, wo du schreiben könntest, ohne dauernd abgelenkt zu werden. Nur du, die Natur und dein Laptop.“

„Willst du mich auf eine Berghütte verbannen?“

„So was Ähnliches“, sagte sie langsam, „nur nicht gerade auf einen Berg. Pass auf, kennst du den Eulenburger See?“

„Dem Namen nach. Er ist etwa eine Stunde von hier entfernt, heißt nach diesem Nest Eulenburg am Ostufer und soll ziemlich kalt sein. Warum?“

„Meine Eltern haben eine Hütte am Eulenburger See. Nein, grins nicht so vergnügt – in einer Bucht am Westufer, da gibt´s kein Nachleben und keine Surfer, die sind alle auf der anderen Seite, beim Eulenburger Yachthafen. Die Hütte ist total abgelegen. Wie wär´s – ich fahre dich morgen Nachmittag dort hin, und du bleibst dort bis Sonntagabend, und dann hast du was vorzuweisen.“

„Wieso willst du mich fahren?“, pickte ich das heraus, was ich am wenigsten verstand.

„Damit du dort ohne Auto bist. Die Hütte ist nicht in der Nähe einer Ortschaft. Etwa eine Viertelstunde entfernt – wenn man im Laufschritt unterwegs ist – gibt es ein paar Bauernhöfe, die aber wohl nicht mehr alle bewirtschaftet werden. Sonst ist da nichts. Nur ein Feldweg. Für Radio und Fernsehen ist der Empfang zu schlecht, Strom gibt´s nur aus der Propangasflasche.“

„Telefon?“

Sie schüttelte den Kopf. „Und der Inhalt der Bücherregale wird dir nicht gefallen. Ja, ich denke, das ist das Richtige. Pack dir ein paar Reserveakkus für deinen Laptop ein und lade ihn bis zum Anschlag auf. Und nimm dir USB-Sticks oder CD-Rohlinge mit – du hast doch einen Brenner? Was zu essen brauchst du auch.“

„Kann man da kochen – ohne Strom?“

„Ich bringe ja eine neue Propangasflasche mit, die reicht locker die paar Tage für Herd, Kühlschrank, Waschmaschine, Duschwasser und die Lampen. Die Hütte ist wirklich schön, nur eben am Arsch der Welt. Aber das ist für dich genau das Richtige.“

„Na danke!“, murrte ich, „ich weiß ja nicht, ob ich das will. Und gleich bis Sonntag?“

„Sonst kommst du doch gar nicht richtig rein in die Arbeit. Hab dich nicht so. Stell dir lieber vor – du könntest zum ersten Mal wirklich rechtzeitig fertig sein!“

„Hm...“ Verlockender Gedanke.

„Aber so lange – und so einsam! Und was ist, wenn ich krank werde?“

„Was soll denn sein? Ist dein Blinddarm schon raus?“

Das musste ich zugeben. Mandeln hatte ich auch keine mehr.

„Na prima. Pack dir Aspirin ein, dann hältst du das schon aus. Melli, sonst bist du doch auch nicht feige!“

Also feige war ich ganz bestimmt nicht! Außer natürlich, ich musste Kathrin beichten, dass ich im Verzug war. „Was hat das mit Feigheit zu tun? Du kannst mich doch nicht einfach ins Exil schicken!“

„Aber dann wärst du wirklich einmal rechtzeitig fertig. Und so lange ist das doch gar nicht. Wenn ich dich morgen rausfahre, dann ist der Dienstag schon halb um... vier ganze Tage und der halbe Sonntag, nicht mehr als ein langes Wochenende. Und es ist wirklich schön da draußen.“

„Ach ja? Du machst da wohl immer Urlaub?“

„Selten“, gab sie dann doch zu und grinste flüchtig, „es ist schon verdammt wenig los dort. Aber für dich ist das genau das Richtige, denk an die verfeindeten Schwestern!“ Ich dachte ja schon nach – fieberhaft! Schließlich entschied ich mich. „Na gut. Was muss ich mitnehmen?“

„Ich schreib es dir auf. Setz dich doch wieder.“ Sie kritzelte eine Zeitlang auf einen Bogen mit dem W&L-Logo, dann reichte sie ihn mir – fast ganz voll geschrieben.

„Propan bringe ich mit. Wichtig sind vor allem Reserveakkus für den Laptop. Nimm aber für den Notfall auch Block und Stifte mit. Dann hole ich dich morgen um vier ab. Der Falkenstein wird nichts dagegen haben, wenn ich früher gehe, ich tu´s ja für deinen Abgabetermin.“

Jaja, das Leben mit zickigen Autoren war wohl die reinste Qual? Etwas mürrisch erklärte ich mich einverstanden, sammelte meine Auswahl an schlechten Storys wieder ein und machte mich auf den Weg nach Hause, die Liste studierend. Einen Bikini hatte sie natürlich nicht draufgeschrieben, und Mückenschutz auch nicht – typisch! Ich sollte wohl immerzu im Zimmer bleiben?

Nicht mit mir!

Dann sollte ich wohl mal einkaufen gehen und eine große Tasche packen...

Vergessene Zeit

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