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ОглавлениеNeugierig sah ich mich um, als Kathrin mich wie versprochen am Dienstagnachmittag zur Hütte fuhr. Der Feldweg, der von einer Staatsstraße vierter Ordnung (gab´s so was überhaupt?) abbog, war mehr als holprig und wohl eher für Traktoren als für Stadtautos geeignet, jedenfalls wurden Kathrins Stoßdämpfer kräftig beansprucht.
Eulenburg hatte einen ganz netten Eindruck gemacht, und auf dem östlichen Teil des Sees war auch lebhafter Betrieb, Segler und Surfer tummelten sich auf dem funkelnden Wasser. Je weiter wir aber nach Westen fuhren, desto stiller und landwirtschaftlicher wurde es. Äcker, Viehweiden, Wälder, ab und zu ein einsamer Hof – und dann der Feldweg.
Die Hütte war nicht besonders groß. Kathrin schloss auf und drückte die Tür auf, die knarrend protestierte. Drin war es finster, bis wir die Fensterläden aufgestemmt hatten. Kathrin schloss die neue Propanflasche an, testete Herd, Licht, Kühlschrank und warmes Wasser und zeigte mir, wo alles war.
Ein anständiges Bad, immerhin. Auch die Küchenzeile - mit Waschmaschine! - war zwar klein, aber alles Notwendige war vorhanden, nur keine Mikrowelle. Na gut, ich hatte vor allem Chips, Brot, Käse und Obst dabei – und für den sicher nötigen Trost einen Stapel Schokoladentafeln.
Das Zimmer enthielt ein großes Bett, das man erst einmal beziehen musste, einen ebenso großen Tisch unter dem Fenster, auf den ich gleich voller Tugend meinen Laptop stellte, ein kleines Sofa, ein Regal voller Bücher – äh: Fachliteratur über das Angeln, Bergsteigerbildbände und eine Gesamtausgabe Ludwig Ganghofer.
„Ich hab dir doch gesagt, es wird dir nicht gefallen“, grinste Kathrin, wurde aber sofort wieder ernst. „Außerdem sollst du schreiben, nicht lesen, klar?“
„Klar“, antwortete ich niedergeschlagen. Hier konnte man ja wirklich nichts tun – außer zu arbeiten. Deprimierender Gedanke.
„Hast du noch Fragen?“
„Nein, ich denke, ich komme zurecht“, brummte ich und legte meine Entwürfe und die CDs auf den Tisch. Zwischen Tisch und Küchenzeile gab es eine Tür, die nach draußen führte, aber ich wollte Kathrins Aufmerksamkeit nicht darauf lenken, sonst verbot sie mir nur, schwimmen zu gehen.
„Ja, gut – wenn alles in Ordnung ist, dann fahre ich jetzt. Und am Sonntag hole ich dich so gegen fünf ab, ist das recht?“
Ich nickte ergeben. „Und dann muss ich fertig sein?“
„Nein. Schön wär´s natürlich, aber wenn du gut die Hälfte hast und nicht schon wieder einen writer´s block, bin ich schon zufrieden. An die Arbeit, los!“
Ergeben setzte ich mich vor den Laptop und klappte ihn auf. Kathrin winkte noch einmal und schloss die Tür hinter sich; kurz darauf hörte ich sie den Feldweg entlang hoppeln.
In der Wildnis ausgesetzt... Einige Minuten lang tat ich mir genussvoll Leid, dann öffnete ich doch die Terrassentür. Himmlisch – eine Terrasse vor dem Haus, alles Holz, duftend wie der Sommer persönlich, mit Bank und Tisch im Schatten, und mit einer kleinen Metalltreppe, die direkt ins Wasser führte. Mit einem Stapel Krimis und/oder einem fleißigen Lover könnte man es hier richtig gut aushalten... In der Ferne konnte man gerade noch Eulenburg und das Getümmel im Wasser erahnen; der Himmel über dem Wasser und den Bäumen ging gerade vom alltäglichen Knallblau in jenen durchsichtigen, grünlichen Ton über, der am frühen Abend so typisch war. Traumhaft schön!
Ich holte mir meine Zigaretten und einen Aschenbecher aus der Küche, setzte mich auf die sonnenwarme Holzbank und genoss den Blick. Auf die verfeindeten Schwestern hatte ich wirklich überhaupt keine Lust.
Außerdem steckte ich in einem Dilemma: Wenn ich brav funktionierte, müsste ich wohl jede Kurzgeschichte, jeden Roman hier draußen schreiben; wenn ich aber nicht funktionierte, würden Winkler&Lange meinen Vertrag aufheben. Ihn wenigstens nicht verlängern! Jetzt hatte ich endlich einen Vertrag und damit mein Auskommen, solange der Kram sich ordentlich verkaufte: Das sollte ich besser nicht aufs Spiel setzen.
Gut, also an die Arbeit – zum Schwimmen war es mittlerweile ohnehin zu schattig. Westufer... Morgensonne. Auch nett, und wenn ich heute noch etwas schaffte, durfte ich morgen früh schwimmen und mich sonnen. Ich schaltete den Laptop ein und starrte seufzend auf den blinkenden Cursor, der ungeduldig darauf wartete, von Buchstaben weitergeschoben zu werden.
Wo sollte ich anfangen? Vorgeschichte? Oder gleich bei der Bescherung? Warum war Leonore eigentlich so hässlich? Auf jeden Fall trug sie eine Brille. Und ihre Haare waren einfach nur braun, während Sabrina verführerisch platinblond war und ihre blauen Augen aufregend funkelten. Leonores Augen waren dunkelbraun, samtig und tief, aber unter der Brille kam das nicht so gut zur Geltung. Was machten die beiden beruflich?
Leonore war gescheit (klischeehafter Schwachsinn!), sie war Betriebswirtin und arbeitete bei einer Investmentfirma. Und Sabrina – hm. Nagelstudio war wohl zu blöde, Friseuse auch, das war hier doch kein Manta-Film!
Es sollte etwas Mittelgescheites sein... und wenn sie irgendwie auf Florians Drogengeschäfte gekommen war... in welchen Branchen kam das häufiger vor? Mode? Film? Mode war nicht übel, sie konnte bei einem Designer arbeiten, das hatte auch genügend Glamour, um die Eltern zu blenden, die ja die brave Leonore verachteten. Gut, das konnte ich nehmen. Und der Designer konnte auch noch Dreck am Stecken haben. Wie sollte der denn überhaupt heißen? Was Italienisches, aber in Wahrheit stammte er natürlich hier aus der Vorstadt. Nein, hier würde ich das nicht spielen lassen, unser liebes Kaff hatte kein Flair. München musste es schon sein. Also, Adressen – nicht zu genau, sonst musste ich noch mal hinfahren. Oder es beschwerten sich Leute, dass in ihrem unbescholtenen Haus ein Mord oder Drogengeschäfte passiert sein sollten... Also:
Die Eltern kriegten ein kleines Einfamilienhaus, in... Solln. Gute Gegend, und das kannte ich als gebürtige Forstenriederin. Sabrina musste etwas Schickes haben, ein Appartement in... in... Harlaching, das war zwar nicht in, aber mehr oder weniger eine Society-Gegend.
Leonore hing noch etwas an der Denkweise aus Studententagen, sie wohnte in Haidhausen. Sedanstraße oder so, da war es ganz schön... Der Designer hatte sein Studio in der Falkenturmstraße. Sehr edel, gleich um die Ecke war die Maximiliansstraße.
Jonas kriegte was in Schwabing, der dealende Florian auch, aber mehr in der Nähe der Münchener Freiheit, Jonas sollte in der Maxvorstadt bleiben. Ja, das passte alles recht gut. Und die Männer musste ich erst skizzieren, wenn sie auftauchten.
Halt, wie hieß nun der Designer? Massimo del Ponte! Klasse, geboren als Max Brückner in – in Untersendling, genau! Ein weiter Weg in die Falkenturmstraße. Und nicht ganz legal zurückgelegt. Er konnte beim Abschluss der Modeschule geschummelt haben... seine besten Entwürfe, für die erste Modenschau, mit der berühmt geworden war, einer Kollegin geklaut haben, die aus Liebeskummer (nein, nicht wegen ihm, er war – Überraschung! – schwul) Selbstmord begangen hatte. Nicht einmal der freundlichste Kritiker konnte behaupten, ich sei hier neue Wege gegangen oder hätte eine ungewöhnliche Sichtweise entwickelt...
Ich schrieb, was die Leute lesen wollten, schließlich wollte ich davon leben. Tja, jetzt half aber alles nichts mehr, jetzt musste ich dann wohl doch mal mit der Geschichte anfangen.
Hunger hatte ich... Nein, gekocht wurde jetzt nichts, ich konnte beim Tippen ein Käsebrot und eine Handvoll Chips futtern.
Brösel verstreuend, richtete ich die Seite korrekt ein und starrte ins Leere, bevor ich anfallsartig zu tippen begann.
Leonore wickelte ihr Geschenk bedächtig aus, ohne die Schleife zu zerschneiden oder das Papier zu zerreißen. Sabrina dagegen riss die Verpackung ungeduldig ab und quietschte dann so laut auf, dass sie sogar die Wiener Sängerknaben - Ihr Kinderlein kommet – übertönte. „Ist ja irre! Danke, danke, danke, das trage ich gleich morgen auf dieser Superfete!“ Sie küsste ihre Eltern begeistert ab; Leonore kam näher, um sich dieses überwältigende Geschenk näher zu betrachten, und hielt dann die Luft an: Ein Collier?
„Ist das echt?“, flüsterte sie benommen.
„Was denkst du denn, natürlich!“, entgegnete ihr Vater entrüstet, musste dann aber lachen, weil Sabrina wie als Kind auf seinen Schoß geklettert war und ihm nun fast die Brille von der Nase schubste.
„Weißgold oder Platin?“, fragte Leonore weiter.
„Weißgold“, entgegnete ihre Mutter knapp. Na, wenigstens nicht auch noch Platin!
„Schaut toll aus“, lobte Leonore matt und packte ihr eigenes Geschenk fertig aus. Der nächste Band des Konversationslexikons, das sie nie hatte haben wollen... Wenn sie wirklich etwas wissen wollte, surfte sie im Internet oder benutzte ein Lexikon auf CD.
Sabrina bekam ein Collier und sie selbst bloß einen lumpigen Lexikonband? Ungerecht war das schon, aber die Eltern hatten Sabrina immer schon vorgezogen.
Ich lehnte mich zufrieden zurück. Das war doch schon ein ganz guter Anfang, oder? Langsam wurde es hier etwas dämmerig; ich setzte mich erst einmal nach draußen und beobachtete, wie es über dem See dunkel wurde und in Eulenburg die Lichter angingen. Im Yachtclub schien es ein Fest zu geben, jedenfalls konnte man die bunten Lichterketten bis hierher erkennen. Schön... die mussten sich ja auch keine Kurzgeschichte mit Mord an Weihnachten ausdenken! Jaja, hätte ich eben früher angefangen, ich wusste es doch selbst.
Noch ein bisschen!
„Leonore, hilf mir bitte in der Küche“, bat ihre Mutter, und innerlich schäumend, aber nach außen die übliche Gelassenheit zeigend, folgte Leonore ihrer Mutter, schnitt Baguette auf, polierte Weingläser nach, rührte den Geflügelsalat und den traditionsreichen Heringssalat noch einmal um und trug alles ins Wohnzimmer, wo ihr Vater und Sabrina immer noch auf dem Sofa saßen. Sabrina ließ das Collier durch die Finger gleiten, so dass es im Licht der Christbaumkerzen funkelte, und ihr Vater betrachtete sie stolz.
„Du wirst toll damit aussehen, mein Schätzchen.“
„Ja“, antwortete Sabrina einfach, „muss ich auch. Ich hab morgen Abend etwas Wichtiges vor. Da muss einfach alles klappen. Was würdest du sagen, wenn ich euch nachträglich einen Schwiegersohn beschere?“
„Das wäre ja fantastisch!“, jubelte die Mutter los, während Leonore weiter Schüsseln auf dem Tisch zurechtrückte und innerlich bis zehn zählte.
„Endlich heiratet eine meiner Töchter! Dass Leonore keine Anstalten macht, ist ja klar, aber ich dachte schon, du enttäuschst mich auch. Wer ist es denn?“
„Sag ich noch nicht“, schmunzelte Sabrina und hielt sich das Collier wieder einmal an ihr makelloses Decolleté, „vielleicht klappt es ja doch nicht.“
„Aber Kindchen, was du anpackst, klappt doch immer. Dann bist du am zweiten Feiertag verlobt... herrlich!“
„Viel Erfolg“, wünschte Leonore und bemühte sich, nicht verkniffen zu klingen.
„Schön, dass du deiner Schwester auch einmal gratulierst“, kommentierte ihre Mutter nicht ohne Schärfe. „Du hast den Pfeffer vergessen.“
„Entschuldigung.“ Leonore ging ihn holen. Am besten sollte ich danach knicksen und mich in die Küche zurückziehen, dachte sie dabei wütend, halten die mich hier für das Dienstmädchen?
„Hast du dich überhaupt schon für dein Geschenk bedankt?“, fragte ihr Vater, während er sich großzügig aus den Salatschüsseln bediente.
„Nein. Vielen Dank“, murmelte sie und zerbröselte ihr Brot.
„Weißt du, mit Schmuck könntest du ja nichts anfangen“, meinte ihre Mutter freundlich, „in deiner Situation sind Bücher wohl doch das Vernünftigste.“
„In meiner Situation?“, fragte Leonore spitz nach.
„Naja... du heiratest ja doch nicht mehr. Und überhaupt...“
Was sollte man darauf schon antworten? Sabrina enthob sie der Suche, weil sie fröhlich auflachte. „Statt abends um die Häuser zu ziehen, kannst du dann ja im Lexikon lesen, was?“
„Und wenn ich mal pleite bin, kann ich das Lexikon für ein Schweinegeld verkaufen, was?“, fauchte Leonore sie an, nun endgültig sauer. „Sicher ist es viel wertvoller als deine Klunker!“
„Aber Leonore, dass du so missgünstig bist!“, tadelte ihr Vater sie. „Schau, es ist doch nur logisch, dass wir für Sabrina mehr Geld ausgegeben haben.“
„Warum ist das logisch? Nicht, dass ich es nicht gewöhnt wäre, aber – logisch?“
„Sabrina wird uns einen Schwiegersohn bescheren.“
„Aber das wusstet ihr doch noch nicht, als ihr ihr diesen kostbaren Schmuck gekauft habt?“
„Damit war doch zu rechnen. Lore, ich bitte dich! Man muss Sabrina doch nur ansehen! So ein hübsches Kind!“
Jaja. Leonore gab es auf. Sabrina hatte tiefblaue Kulleraugen, blonde Locken und eine Figur wie Barbie, allerdings war sie nicht ganz so dämlich wie Barbie. Leonore dagegen hatte braune Haare, dunkelbraune Augen, eine Brille und eine ganz normale, eher etwas zu knochige Figur. Dafür verdiente sie mehr – eine Investmentbank konnte besser zahlen als ein aufstrebender Designer, der alle Gewinne selbst verbrauchte. Aber das interessierte ihre Eltern nicht – Frauen verdienten Geld nur, um sich davon eine Aussteuer anzuschaffen, damit einen Kerl anzulocken und ihrer eigentlichen Bestimmung nachzukommen.
Äh. War das nicht doch ein bisschen platt? Dachten Eltern heute wirklich noch so? Auch wenn ohnehin keiner auf sie hörte? Wie konservativ konnte diese Generation wirklich noch sein? Andererseits gab es wirklich überall haufenweise Idioten…
Und hatte Jörg nicht mal erzählt, dass seine frühere Freundin auch dauernd von ihren Eltern gefragt worden war, wann sie endlich heiraten würde? Mit noch nicht mal fünfundzwanzig?
Doch, ich würde die Eltern so lassen. Das passte schon!
Reichte das für heute? Ich hatte keine rechte Lust mehr, lieber setzte ich mich mit Schreibzeug nach draußen und überlegte, wie ich morgen weitermachen sollte. Draußen war es schon ziemlich finster; ich nahm zwei Windlichter mit und kaute dann nachdenklich auf meinem Kugelschreiber herum.
Noch etwas Krach? Ist Leonore das Aschenputtel? Schließlich verlässt sie türenknallend das Haus (das dämliche Lexikon nimmt sie gar nicht mit) und fährt nach Hause – wohin gleich wieder? Ach ja, Sedanstraße.
Sabrina hat während der ganzen Debatte drei Anrufe entgegengenommen (auf dem Gang). Dabei könnte sie ihren Designer und den Dealer Florian schon dezent unter Druck gesetzt haben.
Was weiß sie? Zu Massimo del Ponte hatte ich schon alles festgelegt, und zu Florian? Sie hat gesehen, wie er einem Model (minderjährig! zu mager!) ein Tütchen zugesteckt hat...
Und am nächsten Morgen findet man sie tot in ihrem schicken Appartement auf. Todesart... Eine Überdosis Koks? Nein... das würde ja sofort auf Florian hindeuten. Lieber erstochen, mit einem ganz dünnen Messer, und hübsch hindrapiert. Wer hat Zugang zu einem Skalpell?
Leonore hat mit Medizin nichts am Hut – aber Massimo benutzt ein altes Skalpell als Trennmesser. Liegt in seinem Studio im Arbeitstisch und ist nun verschwunden... (logisch).
Motive haben alle, zunächst vor allem Leonore und Jonas. Andererseits muss Sabrina den Täter entweder selbst reingelassen haben oder er hatte einen Schlüssel – Jonas erinnert sich schließlich daran, dass abgesperrt war.
Wer hat einen Schlüssel? Leonore nicht! Jonas schon. Florian sagt nein, Massimo gibt es zu.
Hm... gar nicht so übel. Vielleicht hatte Kathrin ja Recht, vielleicht konnte man echt besser arbeiten, wenn es nur Ganghofer zum Lesen gab und kein Fernseher da war. Aber für heute reichte es wirklich!
Immerhin konnte ich Kathrin doch anrufen und melden, wie brav ich gewesen war! Ich fischte mein Handy aus der Tasche (Kathrin war doof, dass sie es mir nicht abgenommen hatte) und schaltete es ein.
Oh, vielleicht war Kathrin doch nicht so doof? Ob sie gewusst hatte, dass es hier kein Signal gab? Ich wanderte einmal um die Hütte herum – nichts, nicht einmal einen Strich zeigte die linke Seite an. Die rechte war voll, Kunststück, das Ding war ja auch frisch aufgeladen. Nicht mal SMS konnte ich so checken! Frustriert schaltete ich wieder aus.
Eigentlich war das doch auch gar nicht so schlecht, beruhigte ich mich selbst. Wenn sie am Sonntag wiederkam, würde ich ihr mit lässiger Geste das fertige Manuskript zuschieben, und dann hatte ich bis Ende August absolut frei und konnte mich im Helenenbad aalen, wenn gewöhnliche Sterbliche arbeiten mussten. Es sei denn mir fiel etwas für einen neuen Gabriele-Gärtner-Roman ein... der letzte war im April erschienen, Zeit wurde es allmählich.
Trotzdem, für heute war es genug, und allmählich wurde ich auch ziemlich müde. Vielleicht war das die gesunde Landluft – Seeluft wäre wohl doch leicht übertrieben. Ich testete die Dusche, die schön warm war und erstaunlich hohen Druck aufwies, schloss alle Fensterläden und kroch ins Bett. Saugemütlich, wirklich!
Am Mittwoch war ich vor Tau und Tag wach, weil von draußen ein Höllenlärm hereindrang. Schlaftrunken stieß ich den Fensterladen zur Terrassentür auf und schaute hinaus.
Aha, Ehepaar Schwan hatte einen gewaltigen Krach – oder waren das zwei Männchen? Offensichtlich! Im Schilf schwamm Madame Schwan samt vier grauflaumigen Teenagern und guckte zu, wie sich die Männer (blöde wie immer) um sie, um das Revier oder um sonst was stritten und nacheinander hackten. Schließlich ergriff einer der beiden die Flucht, und der andere ließ sich von seiner Frau loben. Das war doch seine Frau? Jedenfalls schien er mit den Küken ordentlich umzugehen, was mich beruhigte.
Frau zieht mit vier Kindern zu einem anderen Mann... Könnte man daraus etwas machen? Ich nahm mir vor, die Idee wenigstens aufzuschreiben, und hoffte, dass der unterlegene Gegner nicht später mit ein paar Kumpels wiederkam. Hatten Schwäne überhaupt Kumpels? Lebten die nicht nur lebenslänglich als Paar zusammen? Vielleicht sollte ich mir erstmal die Zähne putzen, überlegte ich, bevor ich zu tief in das Familienleben der Schwäne eintauchte.
Duschen? Oder schwimmen gehen? Schwimmen gehen, beschloss ich. Aber nicht sofort, die Sonne war ja noch nicht einmal aufgegangen. Zuallererst – einen Kaffee!
Ich schrieb, den Kaffeebecher in sicherem Abstand, fast zwei Stunden zügig weiter, bis ich den Familienkrach abgeschlossen hatte und die arme Leonore wutschnaubend in ihre elegant-sachlich eingerichtete Altbauwohnung abgerauscht war (ihre Eltern hatten die noch nie besichtigt, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, Sabrinas Appartement zu bewundern). Die arme Leonore tat mir richtig Leid, aber bevor sie weinend auf ihr Designersofa sinken konnte, kam doch die Vernunft wieder bei ihr durch und sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie doch eigentlich daran gewöhnt war, dass Sabrina das Lieblingskind war. Aber im Sommer würde sie nicht mehr nach Solln fahren, um dort den Rasen zu mähen!
Schmuck gegen Lexikon – ich ließ sie noch ein bisschen mit dem Schicksal hadern, aber dann stand Leonore doch tapfer auf, schniefte einmal und hielt sich vor Augen, dass sie es mit neunundzwanzig immerhin zu einer abbezahlten Vierzimmerwohnung und einem krisenfest zusammengestellten Wertpapierdepot gebracht hatte und überhaupt keinen Mann brauchte. Und keine Lust hatte, dauernd nur für ihr Aussehen zu leben wie Sabrina. Und dass die Bewunderung ihrer Eltern eigentlich recht lästig sein musste.
„Tapfer, Leonore“, murmelte ich vor mich hin und schickte sie mit einem Liebesroman ins Designerbett.
Mittlerweile war die Sonne nicht nur aufgegangen, sondern wanderte auch gerade um die Hütte herum. Ich legte mir mein Notizbuch, Handtuch und Sunspray bereit und stieg die Metalltreppe vorsichtig hinunter.
Toll, das Wasser war deutlich kälter als in diesem pisswarmen Mönchensee. Kälter, sauberer, frischer. Ich schwamm bis aus der Bucht heraus, ließ mich auf dem Rücken treiben, strampelte vor Wohlbehagen, schwamm noch etwas weiter und kehrte schließlich wohlig ausgearbeitet und erfrischt an meinen höchsteigenen Badesteg zurück.
Sollte ich Kathrins Eltern diese Hütte abkaufen? Ich könnte jeden Sommer hier verbringen... Gut, wenn es, so wie vor einer Woche, ununterbrochen regnete,
konnte es hier vielleicht ein ganz klein wenig trübsinnig werden.
Ich trocknete mich ab und ließ mich auf die Holzbank sinken. Bei schönem Wetter war es hier wirklich gottvoll... Und die Sonne brannte sehr angenehm auf meinen Rücken! Ich sprayte mich kräftig ein und war voller guter Vorsätze, weiter zu planen. Weiter tippen konnte ich schließlich auch, wenn die Sonne um die Ecke verschwunden war! Ich tupfte mir noch etwas Sonnenschutzmittel auf die Nase und sprühte sicherheitshalber auch die feuchte Vorderseite dünn ein, dann schlug ich mein Notizbuch auf.
Erster Feiertag, zehn Uhr vormittags: Die Polizei läutet bei Leonore, die ganz verwirrt ist...
Ich schrieb hektisch, weil die Ideen plötzlich nur so sprudelten. Leonore ist völlig fertig, als die Kommissarin ihr erzählt, man habe Sabrina tot aufgefunden, Leonore erzählt, was sie weiß – viel ist es nicht. Sie ist aber bereit, mit zu ihren Eltern zu fahren. Angesichts dieser Tragödie ist der Ärger von gestern doch völlig belanglos.
Mama und Papa weigern sich zuerst, die Nachricht zu glauben, und stressen die Kommissarin und ihren Assistenten mit Erzählungen, wie toll Sabrina war/ist, dass sie heiraten wollte, dass sie beruflich so erfolgreich war und so schön und lieb und erfolgreich...
Als ihnen schließlich aufgeht, dass ihre geliebte Tochter tot ist, ermordet, schlägt die Mutter hysterisch auf Leonore ein und beschuldigt sie, ihre Schwester ermordet zu haben.
Gärtner und – äh, hatte der Assi schon einen Namen? Hektisches Geblätter – nichts. Im Laptop? Den wollte ich jetzt aber nicht anwerfen... ich musste schauen, dass ich mit den Akkus auskam, und getippt wurde erst, wenn die Schatten länger wurden. War der Assi nicht ein Ungar? Stimmte ja, Sándor Nagy!
Also, Gärtner und Nagy schauen Leonore sehr verdächtig an. Ansonsten haben sie bloß noch Jonas, der Sabrina gefunden hat.
Und ihren Chef muss man noch informieren, vielleicht weiß der noch was? Jedenfalls soll Leonore die Stadt nicht verlassen – das Übliche eben. Sie bleibt nicht bei ihren Eltern, da die Mama ihr kreischend die Tür weist und Papa die Enterbung ankündigt. Also fährt sie heim und denkt nach, aber sie weiß einfach zu wenig über Sabrina.
Gut, dass ich nicht in Ich-Form geschrieben hatte, so konnte ich doch leichter die Perspektive wechseln und verfolgen, wie Gärtner und Sándor den Chef aufsuchten.
Der reagiert nicht wie der klassische Italiener (Kunststück, er ist ja auch keiner, aber ich wollte doch wenigstens ein Klischee auslassen), sondern eher erstarrt. Dann erzählt er, dass er und Sabrina heiraten wollten (muss er, weil er nicht weiß, wo Sabrina die Beweisstücke versteckt hat, und wenn er sie heiraten wollte, hatte sie ja wohl keinen Grund, ihn zu erpressen. Natürlich hat er ihre Wohnung durchsucht) und macht überhaupt einen auf am Boden zerstört.
Sehr glaubhaft. Er baut Sabrinas Anteil am Geschäft etwas aus, aber in Wahrheit war sie mehr Mädchen für alles als wirkliche Assistentin – Termine, Studio fegen, Stoffe abholen...
Alles sehr stimmig, aber er gefällt Sándor nicht, obwohl er nicht sagen kann, warum. Gärtner tadelt ihn – man arbeitet nach Fakten, nicht nach Intuition.
Wen gibt es noch bei del Ponte? Gelegenheitsmodels, Näherinnen...
Verdammt, wer konnte die beiden auf den dealenden Florian hinweisen? Das eine Model wohl nicht, das von ihm seinen Koks bezog. Außerdem war das Studio am ersten Weihnachtstag kaum geöffnet.
Konnte der arme Jonas etwas von Florian wissen – oder nur so allgemein, dass da noch ein anderer war? Und zwar nicht Massimo? Puh, war das heiß! Aber so hatte ich doch schon ein schönes Stück... und Hunger, wenn ich es recht bedachte. Eigentlich hätte ich jetzt gerne mit einem Krimi und einer Tüte Chips im Schatten gesessen, aber es mangelte mir am Krimi. Chips waren noch da... Ich holte mir eine frische Tüte, zog in den Halbschatten um und überlegte, was ich in meiner wohlverdienten Mittagspause machen sollte.
Lieber erst noch einmal schwimmen gehen, jetzt schien die Sonne gerade so schön auf den See – und auf dem Steg konnte man sich auch noch eine Zeit-
lang trocknen und bräunen.
Das Wasser war womöglich noch herrlicher als am Morgen. Ich schwamm und plantschte fast eine Stunde herum, bis ich die Leiter nur noch hochtaumeln konnte und wunderbar müde auf dem Steg auf mein Handtuch fiel. Sommer wie früher... Wir hatten die Ferien meist auch an irgendeinem See verbracht. Das Holz unter mir roch noch genauso wie früher, und die Pfosten des Stegs, sicher mit irgendwelchen Algen bewachsen, ebenfalls. Sogar der leise Fischgeruch war typisch. Ich räkelte mich auf meinem Handtuch und fühlte mich mit der Welt im Einklang.
Schließlich wurde es mir aber doch zu heiß, außerdem war ich nun einigermaßen trocken. Zurück an die Arbeit!
Mein Notizbuch sah mich vorwurfsvoll an, als ich mich setzte und die Chipstüte aufriss. Wo war ich stehen geblieben?
Genau – wer sollte Gärtner und Nagy auf die Existenz des bösen Florian hinweisen? Vielleicht doch irgendeins der Models – an einem Arbeitstag.
Aber jetzt ging es ja erst einmal am ersten Weihnachtsfeiertag weiter. Die beiden haben noch keinen Obduktionsbericht und nicht viel mehr als ein bekritzeltes Flipchart.
Leonore trauert doch um ihre schöne, wenn auch nicht übermäßig schlaue Schwester, die Eltern fühlen sich nun kinderlos (deren Problem!), Jonas kommt bei Leonore vorbei und muss getröstet werden. Leise Annäherung (aber wirklich nur ganz leise!). Abends schaut auch Nagy noch einmal vorbei, mit einer eher dämlichen Frage, nämlich, wie viele Freunde Sabrina eigentlich hatte – woher soll Leonore das wissen? Gut, drei Anrufe, aber das müssen ja nicht alles Lover gewesen sein.
Das reichte fürs Schreiben heute Abend locker, das waren mindestens zehn Seiten.
Nagy verdächtigt Jonas, Gärtner verdächtigt Leonore... und der Designer kommt beiden etwas seltsam vor. Außerdem gefallen Gabriele Gärtner seine Entwürfe nicht.
Schluss jetzt! Lieber ging ich noch einmal schwimmen. Eigentlich war es ganz gut, dass hier ein solches Funkloch herrschte, so konnte Kathrin mich auch nicht anrufen, um zu kontrollieren, ob ich auch brav in die Tasten klapperte. Ich paddelte träge um den Steg herum, beobachtete die winzigen Segelschiffe auf der anderen Seite des Sees und die kleinen schwarzen Föhnwölkchen vor dem türkisblauen Nachmittagshimmel, dehnte und streckte mich und fühlte mich rundherum wohl. Ich sollte Kathrin wirklich freiwillig anbieten, alle meine Machwerke hier zu verbrechen! Na gut, nicht gerade im November, da schwebte mir dann eher eine Dachkammer hoch über Paris vor. Ob ihre Eltern so etwas auch auf Lager hatten? Langsam wurde es kühl im Wasser, die Schatten waren schon ziemlich lang. Ich kletterte wieder auf den Steg, trocknete mich ab und ging ins Haus. In trockener Kleidung kam ich zurück und hängte den gewaschenen Bikini über die Brüstung.
So, weiter im Text! Sollte ich schon tippen? Na gut, ein Stück vielleicht! Aber erst eine Zigarette...
Danach schaffte ich tatsächlich etwa vier Seiten Verhöre, Mutmaßungen und sogar die Besuche von Jonas und Sándor bei Leonore, die mittlerweile völlig verwirrt ist. Super! Erst – was, erst fünf? – und ich hatte schon fast die Hälfte der Geschichte getippt! Und meinen Vorrat aufgebraucht! War ich gut!
Jetzt konnte ich mir eigentlich überlegen, was am zweiten Feiertag passieren sollte.
Gabriele Gärtner hat Ärger mit ihrem Freund, weil sie an den Feiertagen arbeiten muss. Ich ärgerte mich – das war doch mal wieder typisch: Müsste er arbeiten und sie würde zetern, wäre sie eine Zicke, die keinen Sinn für seine Karriere hat. Blöder Hund! Gerade rechtzeitig fiel mir noch ein, dass ich mir diese Flachpfeife ja selbst ausgedacht hatte. Außerdem wäre wohl jede(r) sauer, wenn er die Feiertage ganz alleine verbringen musste. Gärtner und Nagy sind ratlos. Sie haben den trauernden Verlobten, den treuen Freund, die missgünstige Schwester, die hysterischen Eltern.
Gärtner wundert sich: trauernder Verlobter und treuer Freund? Und beide hatten einen Schlüssel? Sie nimmt sich Jonas noch einmal vor, der auch sofort zugibt, dass er mit Sabrina geschlafen hat, und über die Tatsache, dass Massimo mit ihr verlobt war, ziemlich staunt. Ich dachte, der ist schwul?
Oh. Ernsthaft, warum will so einer eine Frau heiraten? In dieser Branche muss er ja nun wirklich kein Outing befürchten!
Nagy: Mit diesem del Ponte ist was faul. Außerdem haben sie jetzt seine echten Personalien – haha! Aber warum sollte er dieses Märchen von der Verlobung erzählen? Und die Eltern bestätigen (Leonore auch), dass Sabrina einen Schwiegersohn angekündigt hat.
Was macht Jonas eigentlich beruflich? Wenn er in der Maxvorstadt wohnt, könnte er einen kleinen, esoterischen Buchladen betreiben. Nein, nicht esoterisch, das passt nicht. Einen Computerbuchladen, Handbücher, Software... So einen hatte es dort wirklich mal gegeben, allerdings war er ziemlich schnell wieder eingegangen. Egal, dichterische Freiheit! Also ist der liebe Jonas etwas zu normal für Sabrina, die sich so heftig nach dem Glanz der großen Welt sehnte. Wieso erzählt er das jetzt erst der Polizei? – Die haben einfach nicht früher gefragt. Oder das war bis jetzt nicht so wichtig... Später konnte ich ja nachsehen, ob ich etwas einfügen musste.
Wollte Jonas Sabrina heiraten? Naja, heiraten... Nicht sofort jedenfalls. Er kann also der Schwiegersohn nicht sein, den Sabrina ihren stolzen Eltern angekündigt hatte. Also doch del Ponte... Aber wenn er sie heiraten wollte, warum sollte er sie dann ermorden? Und wenn es jemand anderes war, wie ist er dann in die Wohnung gekommen?
Was haben die Nachbarn gehört?
Die Nachbarn (Gelegenheit für kleine spöttische Skizzen!) haben gar nichts gehört, legen Wert darauf, dass das hier ein anständiges Haus ist und wollen nicht ausgerechnet an den Feiertagen mit so etwas belästigt werden.
Nur einem ist aufgefallen (wohlhabender Rentner, etwas zwanghaft), dass bestimmte Autos immer auf dem hauseigenen Parkplatz standen, obwohl sie dort nichts zu suchen hatten – ein Mercedes Kompressor, schwarz (das Kennzeichen weiß er natürlich nicht mehr) und ein silberner Lancia, Typ unbekannt.
Der Lancia könnte del Ponte gehören, der ja an seinem Italien-Image strickt. Der Kompressor? Jonas fährt einen Golf, so unspektakulär wie er selbst. Kein anderer Nachbar gibt zu, jemanden mit einem solchen Auto zu kennen – und in München (reiche Stadt!) fahren mindestens fünfhundert Stück davon herum, schon ohne die weißen.
Die Eltern wissen auch nichts, sie trauern um Sabrina und fordern die Verhaftung von Leonore, die immer nur eine Enttäuschung gewesen sei – unattraktiv, besserwisserisch und neidisch. Dabei sei es doch ganz normal, dass man die erfolgreiche Tochter vorgezogen habe!
Sándor schluckt scharfe Worte mühsam herunter. Die Eltern wissen gar nicht genau, was Leonore beruflich macht, Sekretärin oder so? Ist auch nicht interessant, Schwiegersohn und Enkel sind da wohl nicht mehr zu erwarten, sie ist ja schon viel zu alt, schon neunundzwanzig! Sogar der geduldigen Gärtner wird das Gewäsch langsam zu blöd. Außerdem scheinen die beiden gar nichts von ihrer Tochter gewusst zu haben, sie denken, sie ist Modeschöpferin.
Frustriert ziehen Gärtner und Nagy wieder ab; Nagy fährt noch einmal zu Leonore, die aber auch nicht mehr über ihre Schwester weiß. Sabrina hat nie viel erzählt, außerdem war die Liebe unter den Schwestern wirklich nicht sehr ausgeprägt. Sabrina hatte wohl immer Träume, die eine Nummer größer waren als die Realität.
Einen schwulen Modeschöpfer heiraten? Ja, das kann sie sich bei Sabrina vorstellen, das Prestige hätte ihr gefallen. Und fürs Bett hätte sich sicher ein anderer gefunden, Massimo wäre das wohl egal gewesen.
Am Abend schauen beide noch einmal bei Massimo vorbei, der immer noch darauf beharrt, mit Sabrina glücklich gewesen zu sein. Allerdings kommt dann ein sehr eleganter junger Mann vorbei (Christoph, ehem. Model, nun Jurastudent, eigentlich Massimos Freund, kultivierter Typ) – und der wundert sich gewaltig: Du wolltest heiraten? Eine Frau?? Und ausgerechnet Sabrina??? Es entspinnt sich ein gepflegter Krach, denn Massimo ist doch sonst kein solcher Feigling? Und wieso weiß Christoph nichts davon? Was ist das denn für eine Beziehung?
Gärtner und Nagy lauschen interessiert. Dieser Heiratsplan ist ihnen ohnehin suspekt, aber warum sollte Massimo das erzählen, wenn es nicht stimmt? Seltsam...
Das war wirklich genug; morgen würde ich das alles aufschreiben und zwischendurch ausgiebig schwimmen und mich sonnen. Ich kochte mir ein Süppchen, dann duschte ich lauwarm und trug üppig Dopposolare auf. Der Spiegel im Bad war zwar ein Witz und hing auch viel zu tief, aber ich konnte doch erkennen, dass ich hübsch braun geworden war, richtig samtig...
So, und jetzt? Erst halb neun, und ich war fleißig genug gewesen, war satt, schön und hatte aufgeräumt. Mir blieb nichts übrig, als ins Bett zu gehen. Dann stand ich morgen eben wieder bei Sonnenaufgang auf!
Genau das tat ich auch. Und wieder versprach es ein makelloser Tag zu werden, heiß, sonnig und mit einer funkelnden Wasserfläche. Noch aber war es dämmerig und ich schoss sofort an den Laptop und hämmerte fast drei Stunden lang auf ihn ein, bis ich den ganzen zweiten Feiertag getippt hatte. Damit waren es schon etwas mehr als zwanzig Seiten – am ersten Arbeitstag musste der Fall geklärt werden!
Aber zuerst lockte der See, der in der Morgensonne glitzerte. Ich schlüpfte in den immer noch leicht feuchten Bikini (äh!) und stieg entschlossen die Leiter hinunter. Kalt, herrlich kalt!
Über eine Stunde schwamm ich vor der Hütte auf und ab und freute mich darüber, dass dieses Ende des Sees so einsam war – hier wurde man wenigstens nicht von außer Kontrolle geratenen Surfboards überfahren.
Schließlich taumelte ich die Leiter wieder hinauf und ließ mich auf mein Handtuch sinken. Mit nassen Fingern zündete ich mir eine Zigarette an, rauchte gierig und blinzelte auf die Lichtreflexe auf dem Wasser. Keine Wellen, der See war glatt wie Seide, fast träge.
Ich hatte mich seit Jahren nicht mehr so lebendig gefühlt, regelrecht lebensgierig. Ächzend streckte ich mich, bis ich jeden vernachlässigten Muskel zu spüren glaubte. Diese Mischung war so herrlich, ein bisschen Hirn (für die halbseidene Mordgeschichte) und ein bisschen Körper, der durch das kühle Seewasser pflügte.
Und mir fehlte nur noch die Auflösung! Später... Jetzt wollte ich mich erst einmal ausstrecken und hier liegen bleiben, bis ich trocken war.
Mit knapper Not schaffte ich es, nicht einzudösen (das hätte mir bei der Hitze sicher einen Sonnenstich eingebracht) und rappelte mich schließlich auf, um im Schatten weiter mein Hirn anzustrengen.
Also, erster Arbeitstag nach Weihnachten. In Massimos Studio. Ein Kompressor auf dem Parkplatz! Eine der Näherinnen weist arglos darauf hin, dass der Wagen Florian Menzel gehört, der hier oft als Fotograf eingesetzt wird und auch für die Pressekontakte zuständig ist (diesem Aspekt würde ich etwas vage halten). Die Näherin gibt noch zu, dass sie diesen Florian unsympathisch findet, „irgendwie finster“. Warum, kann sie nicht sagen, sie kichert nur albern. Massimo, nach Florian gefragt, wird regelrecht gesprächig. Kunststück, er erkennt sofort, dass sich hier eine Chance ergibt, die ganze Sache einem anderen in die Schuhe zu schieben.
Also erzählt er, Florian sei in Sabrina verliebt und durchaus eifersüchtig gewesen. Sándor ist überzeugt, Gärtner schüttelt nachsichtig den Kopf: „Du musst noch viel lernen! Das war doch viel zu plump. Der will wohl bloß seine Ruhe haben und dass wir verschwinden.“
Ja, gut. Sándor fühlt sich schon wieder bemüßigt, Leonore aufzusuchen, ob sie über diesen Florian was weiß. Leonore arbeitet aber. Kurzes Treffen im Café gegenüber; Sándor sehr angetan. Sie auch? Vorsichtiges Interesse... Von diesem Florian weiß sie nichts. Gärtner hat sich Florian derweil höchstpersönlich vorgenommen. Ja, er kannte Sabrina, natürlich. Ja, er hatte auch mal was mit ihr, sie war gut im Bett. Nein, er war natürlich nicht eifersüchtig, er konnte jede Menge andere haben...
Naja, so schön ist er wieder nicht, etwas klein, etwas dicklich, etwas zu semmelblond. Aber vielleicht hat er die Aura der Macht – kann Mädels in die Presse bringen oder auch nicht...
Er schnieft ein bisschen. Gärtner erst mitleidig (Heuschnupfen? Erkältung), dann fällt der Groschen – Koks.
Aha. Die Models mauern zuerst, aber dann gibt eine zu, dass man im Notfall von Florian was kriegen konnte... Dafür interessiert sich das Drogendezernat.
Wusste Sabrina davon? Hat sie Florian erpresst? Sándor wird losgeschickt, Wohnungen und Bankverbindungen zu checken. Tatsächlich hat Sabrina erstaunliche Summen auf einem bescheuerten Sparbuch. Und ähnliche Beträge fehlen bei Florian... Sándor darf Florian verhaften, der alles zugibt – dass er gedealt hat, dass Sabrina ihn deshalb „an den Eiern“ hatte. Aber erstochen hat er sie nicht!
Stimmt, sagt Gärtner. Sie hört sich noch etwas im Atelier um. Währenddessen kriegt Leonore Besuch von Jonas, der ihr erzählt, dass er längst wusste, wie oberflächlich und geldgierig Sabrina war – und dass sie viel echter und charaktervoller ist. Leonore findet das etwas übertrieben und schiebt ihn sachte weg. Im Gespräch stellt sich heraus, dass Jonas sich in Massimos Atelier durchaus auskennt. Seine langen Ausführungen darüber, dass Sabrina nie eine gute Ehefrau geworden wäre, gehen ihr auf die Nerven, und sie bittet ihn, zu gehen, sie muss jetzt auch weiter arbeiten. Das passt ihm nicht so ganz. Sie findet ihn ja schon nett, aber das geht ihr alles etwas zu schnell. Und Sándor ist auch eine interessante Option...
Heute war es aber schon sehr heiß – fast unangenehm. Und kein Lüftchen regte sich. Durst! Ich holte mir ein Cola aus dem Kühlschrank und trank es zur Hälfte aus. So, noch eine Zigarette und dann weiter im Text!
Massimo sucht fluchend sein Glückstrennmesser, das verschwunden ist. Überhaupt, sein Glück auch – der Glamour, den eine Ehe mit der schönen Sabrina bedeutet hätte, ist dahin, das neueste Modell ist völlig misslungen (er kreischt ein bisschen herum), und jetzt kann er nicht einmal diese schiefe Naht auftrennen! Dio mio!
Gärtner gibt zu, dass ihr seine allererste Kollektion eigentlich am besten gefallen hat, Massimo reagiert pikiert. Sándor kommt und hat eine interessante Notiz in Sabrinas Wohnung gefunden – diese allererste Kollektion war geklaut, siehe oben.
Massimo bricht zusammen, Sabrina hat ihn zu dieser Heirat erpresst, aber als PR-Effekt hatte er gar nichts dagegen. Nur die Sache mit der ersten Kollektion durfte nicht herauskommen! Erstklassiges Motiv, Gärtner zückt schon die Handschellen.
Sándors Telefon klingelt. Leonore: Habt ihr gewusst, dass Jonas sich im Atelier auskennt? Da musste ich noch ein bisschen feilen, so plump sollte sie es nicht formulieren. Ich musste unbedingt an dieses uralte Skalpell denken!
Sándor hechtet hin. Jonas klingelt gerade bei Leonore, Sándor im Schlafzimmer. Jonas macht Liebeserklärung, will heiraten, ordentliche Frau, treue Frau, Sabrina war unerträglich. Aber Schluss machen wollte er auch nicht... Seine Augen funkeln so komisch... Scheiße, ich sollte doch keine Durchgeknallten ins Spiel bringen! Aber verletzte Eitelkeit war noch kein echter Wahnsinn, tröstete ich mich.
Die Sonne stach. Bevor ich mir ein weniger abgedrehtes Motiv für den braven Jonas ausdachte, sollte ich mich lieber noch mal abkühlen... und danach etwas essen. Hatte ich nicht auch eine Tüte Pfirsiche mitgebracht?
Der See lag immer noch so bleiern da. Der eine oder andere Luftzug wäre ja schon wünschenswert, fand ich, während ich vor der Hütte auf und ab kraulte und mich dann strampelnd rücklings fortbewegte. Immerhin lagen Tisch und Bank mittlerweile im Schatten, bald konnte man sich dort hinsetzen, ohne sich den Hintern zu verbrennen. Wie viel Grad es in der Sonne wohl hatte? Fünfzig? Fünfundfünfzig? Sechzig? Wurde es da nicht gefährlich? Zersetzte sich ab sechzig Grad nicht das Eiweiß im Körper? Nebelhafte Erinnerungen an eine mehr als peinliche Chemieklausur durchzuckten mich. Wäre das auch eine Mordmethode? Jemanden zu lange zu großer Hitze aussetzen? Ziemlich grausam... Würde der dann nicht eher verdursten?
Ich wollte gar nicht mehr raus aus dem Wasser, aber allmählich fühlte ich mich doch angenehm durchgekühlt und kehrte seufzend an die Frage zurück, welches handfestere Motiv Jonas haben konnte.
Er hatte gesagt, sie hätte ihn betrogen. Prima, Eifersucht, das konnte noch mildernde Umstände geben. Nein, konnte es nicht, dass er das Skalpell aus dem Atelier geklaut hatte, sprach ja doch eher für sorgfältige Planung und den Versuch, es Massimo in die Schuhe zu schieben.
Sie wollte ihn nicht heiraten, aber er hoffte auf ihr Geld. Der Computerbuchladen geht nicht so gut, bei der momentanen IT-Krise.
Und falls die Bullen sich nicht an Massimo halten, hat er auch noch das Collier eingesackt, dann kann er auch noch auf Leonore zeigen. Jedenfalls ist er bei Leonore und textet sie zu, während Sándor im Schlafzimmer lauert.
Jonas jammert, wie gemein Sabrina zu ihm war und wie wenig Verständnis sie für seine Bedürfnisse hatte – Leonore sei da ganz anders. Sicher habe sie sich immer zurückgesetzt gefühlt? Das kann sie nicht bestreiten. Dann habe sie mit der Zeit sicher einen furchtbaren Hass auf Sabrina entwickelt...
Nein, sagt Leonore, eher auf die Eltern. Sabrina hat diese Bevorzugung nicht bewusst gefördert, aber den Eltern hätte klar werden müssen, dass sie ungerecht sind. Jonas bestreitet Sabrinas Harmlosigkeit und stellt sie als intrigante Hexe hin. Leonore wundert sich immer mehr über ihn. Er versucht sie zu küssen (Sándor am Schlüsselloch platzt fast – rascher Perspektivenwechsel, oder am besten gleich aus Sándors Sicht), Leonore lässt sich das einen Moment lang gefallen, dann schiebt sie ihn weg.
Er ist verständnisvoll. Sicher braucht sie noch etwas Zeit, Sabrina ist ja erst seit zwei Tagen tot... Und jetzt ist sie die einzige Tochter! Meine Eltern haben mich enterbt, weil sie mich für die Täterin halten, antwortet Leonore kühl.
Jonas zuckt kurz zusammen, dann fasst er sich wieder. Hinweis! Hinweis! Aufgepasst, Leserin! Er könnte es jedenfalls verstehen, wenn Leonore Sabrina getötet hätte. Hat sie aber nicht, sagt sie ärgerlich, auch wenn die Alten das glauben. Aber was die glauben, ist ihr nachgerade egal. Ja, aber das Haus in Solln – und das Geld... sie hat doch Anspruch drauf!
Leonore sagt, scheiß drauf, sie verdient ihr eigenes Geld, und wenn ihre Eltern das wollen, können sie die Hütte auch dem Tierschutzverein vererben. Und seit wann ist Jonas denn so geldgeil? Das bestreitet der. Aber die Eltern haben doch Geld, oder? Wenn sie Sabrina so kostbaren Schmuck kaufen...
Leonore stutzt. Woher weiß er das eigentlich? Sie beschreibt den Schmuck vage, Jonas ergänzt eifrig ein Detail und dann verstummt er erschrocken. Das ist eine Falle!
„Wenn du den Schmuck kennst, warst du vor dem Mörder da, denn der hat den Schmuck geklaut. Oder du bist der Mörder. Wieso hast du von diesem Besuch nichts erwähnt?“
Jonas wird wütend, dass Leonore ihm den Mord unterstellt, er zischt, sie hätte ja wohl weiß Gott ein gutes Motiv und sollte ihm nichts in die Schuhe schieben!
Sie erkennt, wie gut alles passt, wenn man davon ausgeht, dass er´s war (halt, Anmerkung für oben – als sie erfährt, dass er sich im Atelier auskennt, meint sie nur, er könnte ein interessanter Zeuge sein!) – und das sagt sie ihm auch. Er packt sie und würgt sie, aber da schießt Sándor aus dem Schlafzimmer und reißt ihn weg. Jonas kriegt Handschellen, Leonore einen kalten Wickel um den Hals und Sándor ein dickes Lob von der Kommissarin.
Jonas redet sich bei den Verhören auf Eifersucht und spontane Wut heraus, nachdem er merkt, dass er die Tat weder Leonore noch Massimo in die Schuhe schieben kann.
Aber das Skalpell! Das war eben doch Planung!
Sándor besucht Leonore mit ihrem kalten Halstuch und erzählt ihr alles (nur nicht, dass die Eltern auf die Informationen gleichgültig reagiert und behauptet haben, irgendwie stecke Leonore eben doch dahinter, aber das kann sie sich ja ohnehin denken). Sie ist froh, dass alles aufgeklärt ist, und bedankt sich für die Rettung – mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Da packt er sie...!
Leidenschaftlicher Kuss, bis sie jammert, weil ihr der Hals noch weh tut. Sándor verspricht, morgen wieder zu kommen, und sie nimmt ihn mit funkelnden Augen beim Wort.
Finito!
Wurde es eigentlich immer heißer? Gut, im Schatten war es zu ertragen, aber wenn ich auf die sonnenbeschienenen Abschnitte sah – die schienen zu dampfen und zu schmoren.
Egal, ich hatte den Entwurf fertig, heute Abend würde ich ihn ins Reine tippen, dann ganz brav den tragbaren Drucker anschließen und die fünfundzwanzig Seiten ausdrucken. Sogar zwei Klemmmäppchen mit CD-Lasche hatte ich dabei! Ich malte mir wieder einmal aus, wie ich Kathrin am Sonntag die fertige Geschichte samt beigelegter CD lässig zuwerfen würde: Ich hoffe, du bist zufrieden! und lehnte mich im Vollgefühl meiner Tugend an die Hüttenwand. Immer noch so heiß! Ich sollte lieber noch einmal schwimmen gehen! Drei Uhr... dann durfte man sich ja schon fast wieder in die Sonne legen, nach dem Schwimmen.
Frisch abgekühlt streckte ich mich auf dem Badesteg aus und ließ mich trocknen und bräunen (vor allem den Bauch, der schien es noch am nötigsten zu haben). Diese Hitze... Ich legte mir mein feuchtes T-Shirt über den Kopf und schloss die Augen. Bildete ich mir das nur ein, oder wurde es zunehmend schwüler? Ziemlich unerträglich... aber immerhin musste der Steg etwa in einer Stunde im Schatten liegen, oder? Ich schob das dampfige Tuch beiseite und blinzelte. Ja, da stand eine ziemlich knorrige Eiche am Ufer, sicher rund zweihundert Jahre alt, und bald würde die Sonne hinter ihr stehen. Solange konnte ich noch an einem schokoladebraunen Nabel arbeiten.
Ich streckte mich wie eine Katze... ein getigertes Fell war allerdings das Letzte, was ich jetzt brauchte: Diese Schreiberei war ganz schön anstrengend...
Ich schreckte wieder hoch, als ein misstönender Schrei ertönte. Was zum -?
Ach, zwei Erpel waren sich in die Federn geraten! Und die Sonne stand hinter der Eiche. Zerschlagen rappelte ich mich auf; im Schatten war es kaum kühler, es stach nur nicht mehr so. Also tauchte ich noch einmal schnell in den See und setzte mich dann auf die Holzbank.
Zum Tippen war ich zu nass und zu müde. Und zu früh war es auch noch. Weihnachten... in dieser Umgebung kaum vorstellbar. Kälte, erfrischende Kälte, Schneematsch, Hektik, Winterreifen, Glühwein – vergifteter Glühwein? Jemand will den Weihnachtsmarkt ruinieren? Aufschreiben konnte man das ja, Kathrin nervte mich nächstes Jahr bestimmt wieder mit einem Samplerbeitrag.
Das wäre dann aber doch wohl eher etwas wie das organisierte Verbrechen... Schutzgelderpressung? Produkthaftung? Oder die Konstruktion einer Serie, um einen Mord zu verstecken wie den Baum im Wald?
Im Kaufhaus... nein, keine Nikoläuse, die gab´s bei uns eben nicht in diesen Massen. Aber da gab es doch diesen Stand, wo sich die arme Frau das ganze Jahr zu Tode langweilte und vor Weihnachten dann nicht wusste, wo ihr der Kopf stand... Verpackungsservice... Ideal, man könnte Geschenke verwechseln, bei dem Gedränge doch kein Wunder. Zwei ungefähr gleichgroße Bücher, wenig Auswahl an Weihnachtspapier... Beim Bäcker war mir das schon selbst passiert, dass ich zu Hause ratlos auf zwei Bamberger Hörnchen geschaut hatte (staubtrockene Dinger), wo ich doch ganz genau wusste, dass ich Croissants gekauft hatte und die Frau neben mir Bamberger... Sicher waren ihr die Croissants zu fettig gewesen!
Also, warum nicht mit zwei Geschenken? Wo waren die Zigaretten?
Nach einem tiefen Zug überlegte ich weiter. Zwei Geschenke... aber inwiefern führte das zu kriminellen Verwicklungen?
Das eine Geschenk ist harmlos, das andere nicht – wieso nicht? Ein Buch im üblichen Format? Nun, da könnte eine anzügliche Widmung drinstehen... Nein, wer kritzelte denn noch im Kaufhaus Widmungen in Bücher, das machte man in Ruhe zu Hause und packte das Geschenk dann eigenhändig ein. In selbst ausgesuchtes Papier.
Widmung also nicht. Etwas anderes... etwas, was man hineinlegen kann – ein Lesezeichen... etwas als Lesezeichen, vielleicht ein kompromittierendes Foto. Aber so, dass es nicht in die falschen Hände fallen darf...
Gut, er hat sein Buch so geimpft. Und sie ist ganz harmlos und will nur einer Freundin einen Reiseführer schenken, USA – der Südwesten. Und dann will er das Buch wiederkriegen, vor Heiligabend (aus seiner Sicht?). Wie soll er das machen... hm – wenn er gar nichts über sie weiß, wird es eng.
Woher könnte er etwas wissen?
Hat sie vielleicht mit Kreditkarte bezahlt, und ihm ist ein Blick auf den Nachnamen gelungen? Pachmayr, nicht gerade selten hierzulande... das wird noch viel Arbeit (mit eingebauten Scherzen). Warum schielt jemand auf die Kreditkarte der Frau neben ihm? Da weiß er ja noch nicht, dass er mit ihrem statt mit seinem Geschenk weggehen wird! Aber sie könnte hübsch sein, und er hat routinemäßig einen Blick riskiert...
Was war eigentlich noch im Kühlschrank?
Ich holte mir einen Joghurt und zwei Pfirsiche, tropfte meinen Block mit Pfirsichsaft voll, tauchte zur Säuberung wieder in den See, kehrte tropfnass und zufrieden an meinen Block zurück und überlegte weiter.
Gut, jetzt steht er da. Pachmayr... Im Telefonbuch sind es zwei Seiten, und er muss das Buch wieder kriegen! Auf dem Foto ist – ja, was ist auf dem Foto zu sehen? Vielleicht ein bekannter Industrieller im Gespräch mit einer Unterweltgröße... Und hintendrauf steht Das Negativ ist vernichtet, G.J.
Er heißt... G... Gideon. Gideon hatte in meinen Stories noch keiner geheißen, das war gut. Und ich kannte auch keinen solchen, dann hatte ich wenigstens keine Vorurteile. Gideon Jahn? Klang so nach Turnvater Jahn... Jacobs? Jacobs Krönung, nachher verklagten die mich noch. Apropos – muss er überhaupt ein Schurke sein? Es könnte ja sein, dass er aussteigen und dem Industriellen so mitteilen will, dass er nichts zu befürchten hat. Schön blöd, warum auf so albernem Weg?
Vielleicht muss er sich vor den eigentlichen Erpressern hüten... Aber einfacher wäre es gewesen, das Foto auch zu vernichten und nur eine anonyme Weihnachtskarte zu schicken – Frohes Fest, alles o.k. oder so ähnlich.
Natürlich könnte er ein verdeckter Ermittler sein, der das Foto den wahren Erpressern (um den Unterweltboss herum) geklaut und die Negative vernichtet hat, aber dem Industriellen zeigen will, wie knapp er dem Skandal entronnen ist – und dass er so etwas nie wieder machen darf. Wieso hat der Trottel das Buch dann nicht selbst eingepackt?
Manuell ungeschickt? Es soll professionell und unauffällig wirken? Kann ein Polizist manuell so ungeschickt sein? So einer kann ja nicht einmal seine Dienstwaffe laden! Da brauchte ich noch eine bessere Begründung...
Und sie? Harmloses Wesen – oder doch nicht? Wüsste sie mit dem Foto etwas anzufangen? Sie legt das Paket aber nur zu den übrigen, die dummerweise recht ähnliches Papier aufweisen – und alles mit goldenen Schleifchen...
Zurück zu - verdammt, der hatte ja noch keinen Nachnamen. Egal, dann hieß er eben erstmal nur Gideon. Also, Gideon sucht verzweifelt nach Frau Pachmayr. Julia Pachmayr. Wenn er natürlich ein Guter ist, kann er die Mittel der Polizei nutzen (lassen, er kann ja nicht offen arbeiten).
Etwas konstruiert, das Ganze. Vielleicht drückte mir diese bleierne Hitze aufs Hirn? Ich sprang noch mal in den See, um den Kopf wieder klar zu kriegen.
Also, er lässt sich heraussuchen, wie viele weibliche Pachmayrs zwischen zwanzig und fünfunddreißig es in der Stadt gibt. Natürlich könnte sie auch vom Land sein...
Er hat schließlich vier zur Auswahl, beschattet alle umschichtig und findet Julia als Nummer vier (was sonst?).
Natürlich kann er nicht klingeln und sagen Wir haben unsere Geschenke vertauscht – hä? Wieso eigentlich nicht? Und woran merkt er eigentlich, dass er das falsche Buch hat? Egal, vielleicht war seines Hardcover und ihres Paperback, so dass er sich wundert, warum seins plötzlich biegsam ist... Da würde mir schon etwas einfallen.
Aber nicht mehr heute! Allmählich ließ die Hitze nach, die Sonne stand schon recht schräg. Ich ging duschen, wickelte mich in meinen Kimono und schaltete den Laptop ein, dann schrieb ich mehrere Stunden lang, bis mich ein Nachtfalter, der hektisch um die Lampe taumelte, ablenkte. Immerhin, wir waren schon in Leonores Wohnung! Mir fehlten also höchstens noch zwei Seiten, die konnte ich morgen ganz früh machen, jetzt reichte es mir.
Lieber ging ich ins Bad und guckte mir noch einmal im Spiegel an, wie braun ich geworden war... sehr gut, man sah genau, wo der Bikini gesessen hatte, obwohl ich nirgendwo wirklich weiß war, denn auf einer Dachterrasse kann man sich schließlich auch nackt sonnen. Die Kombination von Nussbraun und Karamelbraun gefiel mir, sehr sogar. Schade, dass es hier keinen knackigen Kerl gab, dem bei diesem Anblick ein gewisses Funkeln in die Augen treten könnte... Überhaupt, es war langsam wieder mal Zeit für eine nette kleine Affäre. Hier würde ich allerdings niemanden kennen lernen, dafür hatte Kathrin schon gesorgt.
Andererseits hatte ich bloß noch zweieinhalb Tage hier und genug zu tun – wenn ich wieder zu Hause war, konnte ich immer noch auf die Pirsch gehen, im Nightflight, in der Sala Candida, wo auch immer. Und ich konnte zusammen mit Anja und Jackie jede Menge unternehmen und dabei sicher ein Betthupferl auftreiben. Wer suchte denn schon mehr? Zufrieden mit diesen schönen Plänen kroch ich ins Bett.
Allerdings schlief ich nicht besonders gut, weil es so gar nicht abkühlen wollte und die Luft allmählich stark an eine Waschküche erinnerte.
Immer wieder wachte ich auf, tappte nach draußen und setzte mich auf die Bank, um auf den nächtlichen See zu starren. Das Funkeln der Eulenburger Lichter war blasser geworden, auch die Sterne, die man hier normalerweise viel klarer sehen konnte als in der Stadt, wirkten heute matt und verschleiert.
Vielleicht schlug ja das Wetter um und ich war deshalb so unruhig? Ich schlich wieder ins Bett zurück, sobald ich müde wurde, schlief kurz und wachte dann wieder auf, weil das Kissen warm und feucht war, schweißgetränkt und unangenehm auf der Haut. Überall spürte ich den dünnen Feuchtigkeitsfilm, der nicht verdunsten konnte. Sollte ich schwimmen gehen? Nein, nicht im Dunklen, dazu war ich zu feige: Was, wenn ich die Treppe nicht mehr fand? Natürlich hätte ich eine Kerze suchen können... Es genügte vielleicht auch, auf dem Steg zu sitzen und die Füße in das kühle Seewasser zu hängen. Da ich mir aber bald einbildete, mich könnte etwas im Wasser beißen (Der weiße Hai ließ von ferne grüßen), zog ich die nassen Füße wieder an und starrte auf die verschleierten Lichter.
Zurück ins Bett... verdammt! Zurück auf den Steg... Wie spät? Halb vier... Nein, um halb vier musste man nicht aufstehen. Ich würde es noch einmal probieren, ohne Bettdecke. Der gute Vorsatz klappte, bis Viertel nach vier. Dann war es endgültig aus, und ich gab auf, duschte kalt, trocknete mich gründlich ab, schlüpfte wieder in den Bikini und knotete den Pareo um die Taille.
Im Osten verfärbte sich allmählich der Himmel, und sobald der See in ein mildes graublaues Licht getaucht war, ließ ich mich erleichtert ins Wasser fallen. Herrlich, vor allem im Vergleich zu dieser schwülwarmen Luft!
Hinterher gab es Kaffee, eine Zigarette, die letzten beiden Pfirsiche und den Rest der Schwestern-Geschichte. Es fehlten ja ohnehin nur noch der Showdown in Leonores Wohnung, Jonas´ Lügenversuche, vielleicht ein Spotlight auf Sabrinas Begräbnis – ach nein, das trug zur Auflösung nun auch nichts mehr bei, und ich war schon auf Seite 25 – in der Mitte. Der Platz reichte gerade noch für die Auflösung und den Kuss zwischen Sándor und Leonore.
Ich schloss den Drucker an – für zweihundert Seiten musste der Akku reichen – druckte alles aus, schaltete den Drucker wieder aus und setzte mich mit dem Text und einem Rotstift nach draußen. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen, aber sie schien ausgefranst und farblos durch die Dunstschleier. Ihrer Hitzewirkung tat das allerdings gar keinen Abbruch, es hatte schon wieder mindestens fünfunddreißig Grad in der Sonne – dabei war es kaum acht Uhr!
Ich schwitzte still vor mich hin, korrigierte Tippfehler, formulierte einen Dialog um, strich einige auchs, mit denen ich gerne zu großzügig umging, und markierte, wo das Skalpell-Trennmesser schon erwähnt werden sollte – natürlich ganz nebenbei, um den Leser nicht unnötig aufmerksam zu machen.
Drinnen war es fast angenehmer als draußen, wenn man die Fenster öffnete, so dass es leichten Durchzug gab. Ich hängte den Drucker wieder an, druckte die verbesserte Fassung aus, zog den Text auf CD und packte alles in eine gepflegte Klemmmappe. So, Kathrin, da wirst du aber staunen!
Der Drucker landete wieder in der Ecke, obwohl ich nicht glaubte, dass ich den Rest vom Akku noch für die Geschichte mit den vertauschten Geschenken aufheben musste – die druckte ich dann wohl besser zu Hause aus.
Sollte ich damit gleich weiter machen?
Nein, für heute reichte es eigentlich, und bei diesen unangenehmen Witterungsverhältnissen sollte man sich ja auch nicht überanstrengen! Lieber ging ich wieder schwimmen; mittlerweile war es wirklich nur im Wasser gut auszuhalten.
Keine echte Wolke am Himmel, nur dieser dampfige Schleier. Er schien auch die Geräusche zu dämpfen, jedenfalls klangen die Zänkereien der Enten und Schwäne heute leiser und die Rufe der Segler mitten auf dem See auch, die das Wasser sonst kilometerweit zu tragen schien.
Ich plantschte träge herum, schwamm ein paar Stöße, ließ mich auf dem Rücken treiben, schwamm wieder, tauchte unter, versuchte, nur im Schatten zu schwimmen, was aber um diese Zeit schwer zu bewerkstelligen war, und schwitzte an allen Stellen, die nicht unter Wasser waren. Außerdem tauchten nun jede Menge Mücken und Bremsen auf. Untergetaucht war ich in Sicherheit, aber feuchte Haut schien die Mistviecher geradezu magisch anzuziehen. Entnervt stieg ich wieder aus dem Wasser, rubbelte mich gründlich ab und sprühte mich großzügig mit Mückenschutz ein, in der Hoffnung, das würde auch die Bremsen abschrecken.
Ganz klappte das nicht – und man bemerkte die blöden Viecher immer erst, wenn sie schon gestochen hatten. Schließlich hatte ich drei heftig juckende Quaddeln, auf dem linken Arm, dem rechten Oberschenkel und auf der Schulter. Ich verteilte großzügig Spucke darauf und nebelte mich dann in Zigarettenrauch ein – das schien tatsächlich zu helfen. Gut, die Sache mit den vertauschten Geschenken. Er traut sich nicht, jemanden einzuweihen, weil das Ganze strikt geheim bleiben muss und er Ärger kriegt, wenn herauskommt, wie dämlich er war.
Also versucht er, sich an Julia heranzumachen und das Geschenk zu klauen. Viel Zeit hat er nicht mehr, in einer Woche ist Weihnachten!
Julia will ihn aber so schnell nicht in die Wohnung lassen. Er forciert das alles so, dass sie ihn für einen dummen Macho hält. Außerdem hat sie schon einen.
Das kann ihm egal sein – nein, eigentlich nicht, sie gefällt ihm. Aber er braucht sein Geschenk zurück, um dem großen Boss klarzumachen, wie knapp der dem Skandal entgangen ist. Er sollte die Anmerkung auf dem Foto lieber doch nicht mit seinen Initialen signieren, fiel mir ein. Oder war das nur ein Deckname?
Diese Überlegung überforderte mich schon wieder, wie ich da saß, gegen die Bremsen anrauchte und still vor mich hin schwitzte.
Alles egal, vorläufig. Jedenfalls bricht er in ihre Wohnung ein, findet das Geschenk aber nicht (alle sehen gleich aus!) und wird prompt von Julia erwischt. Er gibt das Ganze schnell als große Leidenschaft aus, aber sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie ihn nicht doch anzeigen sollte. Er küsst sie und fängt eine gewaltige Watsch´n dafür – aber sie zeigt ihn nicht an. Und jetzt hängt die Geschichte fest, überlegte ich missmutig. Was sollte er denn jetzt noch machen? Julia war auf der Hut, noch mal einbrechen ging also wohl nicht, die Wahrheit durfte er ihr nicht sagen... Der verdeckte Ermittler saß ganz schön tief in der Scheiße. Irgendwer muss ihm helfen!
Aber wer... eine Kollegin? Die könnte auch gleich Julia eifersüchtig machen, denn Gideon gefällt ihr eigentlich schon ganz gut, wenn er auch ein unverschämter Lümmel ist und immer frech grinst. Kurz überlegte ich mir, alles umzudrehen: Er ist doch ein Verbrecher, und sie verliebt sich in ihn... Nein, das gefiel mir dann doch nicht.
Eine Kollegin, tja... Er konnte aber doch keinem sagen, dass er die Sache dermaßen verbockt hatte! Sie müsste das melden. Oder tut sie es nicht, weil sie auch in ihn verliebt ist? Also, so schön soll er nun auch wieder nicht sein!
Ich erschlug wieder eine Bremse und überlegte, was ich essen sollte. Eine Banane... ein Stück Knäckebrot... eine Fünfminutenterrine? Nein, um Himmels willen nichts Warmes! Ein Eis wäre jetzt toll, aber daran war leider gar nicht zu denken. Wenn wenigstens das Handy ginge, dann könnte man via Auskunft einen Lieferchinesen in Eulenburg (wenn die so was überhaupt hatten) anrufen...
Kathrin hatte diese Einöde wirklich perfekt gewählt!
Nein, diese Kollegin ließ ich lieber aus dem Spiel. Ein Kammerspiel... nur zwei Personen, nur Gideon und Julia – aus unerfindlichen Gründen erzählt sie auch niemandem davon. Schön und gut, aber was macht er jetzt, wo es mit dem Einbruch nicht geklappt hat? Soll er sich als Kerl vom Paketservice verkleiden? Wer sagt denn, dass sie die Päckchen verschicken will?
Soll er das Buch unter einem Vorwand zurückverlangen? Gott, war das bescheuert! Die Verwechslung reichte doch wohl aus, wozu denn noch ein Vorwand? Das wäre alles noch klar, wenn sein Buch irgendwie vergiftet wäre und er verhindern will, dass entweder Julia oder die Freundin, der sie es schenken will, es aufschlägt und tot umfällt. Gab´s da nicht mal einen Edgar-Wallace-Film? Der unheimliche Mönch mit der Peitsche – oder so ähnlich. Gut, aber dann müsste Gideon ein Bösewicht sein, Auftragskiller oder so. Hm... vielleicht war das doch die bessere Alternative?
Egal, es war viel zu heiß für so schwierige Probleme! Noch heißer, wenn das möglich war. Lieber noch eine Runde schwimmen! Und dann wieder dick Mückenspray. Ich saß auf der Bank im Schatten, durch den nassen Bikini auch nicht richtig erfrischt, wedelte mir mit einem Angeltippheftchen Kühlung zu und starrte missmutig abwechselnd auf meinen Block mit dem kruden Gekritzel und auf den See, der nachgerade schon fast ölig wirkte.
Der Himmel war nahezu weiß, nur im Norden deutlich dunkler. Ich sah genauer hin – seit wann kam denn das Wetter aus dem Norden? Also trabte ich den Steg entlang bis zum Ende und drehte mich um, in der Hoffnung, nach Westen sehen zu können.
Da wurde es auch langsam grau, aber was von Norden heranzog, war deutlich eindrucksvoller, nicht hellgrau, sondern schon eher anthrazitfarben, mit gelbbraunen Rändern. In den Wolken schien eine Art Quelleffekt zu wirken, jedenfalls veränderten sie dauernd ihr Aussehen, ohne groß zu wachsen, immer noch waren gut drei Viertel des sichtbaren Himmeln nur mit dem weißen Schleier bedeckt. Bis das Grau alles erfasst hatte, konnte es noch länger dauern, dann konnte ich ja auch weiter über meinen missratenen Gideon nachdenken.
Und wenn das Buch gar nicht von ihm war? Wenn er es nur abfangen wollte? Vielleicht war er gar nicht der, der es dummerweise als Geschenk hatte verpacken lassen? Wirklich genial – jetzt brauchte ich schon zwei Männer, um die Widersprüche aufzulösen! Die Geschichte wurde tatsächlich immer blöder.
Am besten warf ich den Kram weg und fing noch mal von vorne an. Oder ich ließ es ganz, schließlich hatte ich ja die Geschichte für Kathrin fertig, und das reichte vorläufig. Aus der Sache mit den vertauschten Geschenken könnte man ohnehin keinen Roman machen, und der war eigentlich eher nötig.
Hier am See könnte es einen Segelunfall geben, der gar kein Unfall ist – das Opfer war einfach zu vielen Leuten im Weg... Blödsinn, das hatte ich doch schon tausendmal im Fernsehen gesehen!
Ich warf einen trägen Blick zum Himmel. Hoppla, die Wolken hatten sich ja doch bewegt – jetzt bedeckten sie immerhin schon zwei Drittel des Himmels. Direkt über mir war der Himmel noch milchig, aber knapp daneben schon fast schwarz. Ich trug den Block hinein und holte mir dafür eine neue Zigarette. Das wollte ich mir doch genauer anschauen.
Gemütlich rauchend, sah ich zu, wie die schwarze Front sich langsam nach Süden schob. Im Schilf hatte das Geraschel weitgehend aufgehört, in den Bäumen verstummten die Vögel. Das war ja ein böses Zeichen!
Als ich zur Seite sah, bemerkte ich, dass zwei Entenfamilien eilig unter den Steg schwammen, wohl in der Hoffnung, dort geschützt zu sein. Und nun war es direkt über mir auch schon reichlich dunkel. Ich drückte die Zigarette aus, sammelte meine Habseligkeiten vom Steg ein und ging hinein, um die Fensterläden zu schließen – die Fenster selbst sahen mir nicht allzu dicht aus. Als es drinnen ziemlich finster war, weil nur noch die Terrassentür offen stand, nutzte ich schnell die Gelegenheit und ging aufs Klo, bevor das Gewitter möglicherweise den Wasserdruck beeinträchtigte. Dann aß und trank ich rasch eine Kleinigkeit und kehrte wieder zu dem Schauspiel zurück.
Jetzt war fast der ganze Himmel schwarz, und diese gelbbraunen Ränder gefielen mir gar nicht – sollten die nicht Hagel ankündigen oder so etwas?
Im Osten blinkte es hastig. Aha, Sturmwarnung! Ich sah, wie die Segelboote langsam zum Yachthafen zurückkehrten – Sturmwarnung hin, Sturmwarnung her, im Moment herrschte noch die totale Flaute, die Segler mussten rudern oder Hilfsmotoren einsetzen. Sehen konnte man das nicht, aber ich dachte mir mein Teil.
Je mehr sich die weißen Segel zurückzogen (auch der See wirkte mittlerweile so schwer und grau wie der Atlantik im Januar, richtig U-Boot-grau), desto zahlreicher wurden die bunten Segel auf dem See.
Das kannte ich noch aus meinen Teeniejahren: Erst bei Sturmwarnung wurde es mit dem Surfboard auf dem See richtig interessant! Aber das Wetter, das hier gerade aufzog, schien mir doch ein wenig extrem.
Plötzlich kam Wind auf, einen Moment lang nur leicht, so dass sich gerade mal die obersten Äste der Eiche bewegten und die Wasseroberfläche sich flüchtig kräuselte, aber dann fegte der Wind mit Schwung über den See, und am Ostufer purzelten die bunten Segel nacheinander um.
Die Eiche wurde kräftig gezaust, und unter dem Steg ertönte ärgerliches Geschnatter. Jetzt hörte man auch die Wellen deutlicher gegen die Stegpfosten klatschen. Im Norden blitzte es diffus, es sah eher wie Wetterleuchten aus, aber das halblaute Grummeln danach machte deutlich, dass ein wirkliches Gewitter im Anmarsch war.
Ich nahm mir noch eine Zigarette und passte weiter wie gebannt auf. Wer wusste schließlich, wann ich mal ein Gewitter beschreiben musste? Alles konnte nützlich sein, und außerdem liebte ich Gewitter sehr. An einem See waren sie sicher auch viel eindrucksvoller als in der Stadt, wo der Wind nicht einmal richtig durchfegen konnte.
Hier konnte er es, er trug vereinzelte Blätter und Federn mit sich und wehte mir die Asche aus dem Aschenbecher vor mir ins Gesicht.
Das Schilf bog sich, bis es fast waagrecht lag, und richtete sich dann mühsam wieder auf, nur um gleich wieder flachgelegt zu werden, dieses Mal in die andere Richtung, weil der Wind umsprang.
Wetterleuchten und Donnergrollen wurden häufiger und akzentuierter, mittlerweile sah man schon Blitze zu Boden fahren und hörte den Donner schärfer und in kürzerer Distanz zum Blitz (ich zählte mit, einundzwanzig, zweiundzwanzig... wie ich es von Daddy gelernt hatte). Aber noch kein Tropfen war gefallen! Ich stellte mich, sobald ich die Zigarette ausgedrückt hatte, auf den Steg, um den Wind zu genießen, der überraschend kühl war.
Als Blitz und Donner immer näher kamen, verzog ich mich aber doch wieder in die Nähe der Hütte – vom Blitz wollte ich nicht getroffen werden. War das nicht vor kurzem einem Schüler auf dem Sportplatz passiert? Irgendwo westlich von München? Und auf dem See sollte es doch bei Gewitter nicht ungefährlich sein, oder?
Das Hüttendach stand etwas über, und dorthin zog ich mich zurück.
Mittlerweile zuckten die Blitze recht eindrucksvoll schräg über den Himmel, und der Donner, der jetzt schon richtig krachte, folgte ihm fast auf dem Fuße. Das Gewitter musste unmittelbar über dem See stehen! Und immer noch regnete es nicht, nur der Wind wehte zunehmend stärker.
Schließlich aber legte sich der Wind von einem Moment auf den nächsten, und einen Augenblick lang war es ganz still, dann begann es übergangslos vom Himmel zu rauschen, als habe jemand eine Staumauer geöffnet, erst dicke Tropfen, dann regelrechte Wasserschnüre. Das überstehende Dach bot keinen Schutz dagegen; ich rannte in die Hütte und schloss den letzten Fensterladen und die Terrassentür.
In der Dämmerung tappte ich zur Küchenzeile und schaltete das Gaslicht an. Ziemlich trüb.
Der Regen rauschte auf das Dach, das immerhin dicht zu halten schien, alle paar Minuten von krachendem Donner übertönt. Ganz traute ich dem Dach aber doch nicht, also packte ich meinen kostbarsten Besitz, den Laptop samt der Mappe für Kathrin, in mehrere Plastiktüten und dann in meine Reisetasche, die ich wiederum in einem Schrankfach verstaute – auf mittlerer Höhe, damit sie gegen Regen wie gegen Hochwasser geschützt war. Der Rest konnte meinetwegen zum Teufel gehen.
Ich setzte mich aufs Bett und wartete; es rauschte, es blitzte (durch die Fensterläden nur gefiltert zu sehen), es donnerte. Schließlich wurde mir doch langweilig. Konnte man nicht zur Haustür hinausschauen und das Naturschauspiel genießen? Ich probierte es aus. Zunächst ging es recht gut, der Wind blies den Regen gerade in die andere Richtung, und ich betrachtete die Bäume, allen voran die riesige Eiche, die vom Sturm gebeutelt wurden. Der Weg war bereits eine einzige Pfütze.
Plötzlich krachte es ohrenbetäubend, und aus der Eiche stieg eine Qualmwolke auf; der Boden bebte und es stank nach Schwefel. Trotz des lauten Rauschens und des nächsten Donners konnte man hören, wie es in der Eiche knackte und knisterte. Fasziniert sah ich zu, wie sich der Stamm spaltete und die eine Hälfte langsam zu Boden krachte. Irre, ich hatte noch nie vorher gesehen, wie irgendwo der Blitz einschlug!
Ich glotzte noch mit offenem Mund, als der Wind plötzlich drehte und den Regen durch die Haustür drückte. Hastig schloss ich die Tür wieder und kehrte zum Bett zurück.
So sah es also aus, wenn der Blitz in einen Baum einschlug. Sehr passend... Vor Eichen soll man weichen... Oder lag es bloß daran, dass diese alte Eiche der höchste Baum weit und breit gewesen war – immer noch war, wenn auch jetzt nur noch halb so breit? Wahrscheinlich würde man sie fällen müssen, sie stand sicher nicht mehr fest.
Der Regen rauschte unvermindert herunter. Ich sah auf die Uhr. Halb sechs – dann dauerte das Gewitter schon über eine Stunde, war das nicht ziemlich lange?
Vielleicht war es auf ein zweites getroffen, oder der Wind war in dieser Höhe zu schwach, um die Front zu bewegen. Ich dachte ohne große Konzentration an die gelehrten Erläuterungen, die mir das Fernsehen vor zwei Wochen geliefert hatte, als das Chiemgau und vor allem Österreich so unter den Wolkenbrüchen gelitten hatten. Hoffentlich regnete es jetzt nicht wieder tagelang – wenn der Pegel des Sees um einen halben Meter anstieg, kriegte ich hier nasse Füße!
Außerdem hatte ich jetzt langsam keine Lust mehr. Wenn man nicht zuschauen durfte, machte ein Gewitter keinen so besonderen Spaß. Wenn aber andererseits der Regen gegen die Hüttentür drückte, musste man es auf der Terrasse doch eigentlich wieder aushalten können... Ich versuchte es. Ja, es ging. Ich trat hinaus und wäre auf den glitschigen, klatschnassen Planken fast ausgerutscht – im letzten Moment hielt ich mich noch am Türrahmen fest.
Es goss immer noch in Strömen, und es blitzte und donnerte auch immer noch in rascher Folge. Eine Welle schwappte über den Steg. Hoppla – so ein Seegang?
Ich tastete mich an der Bank entlang bis an das Ende der hölzernen Plattform und guckte auf das Seewasser. Ganz schön hoch - ob die Enten unter dem Steg überhaupt noch Platz hatten? Um dreißig Zentimeter war der Pegel bestimmt angestiegen, und das Unwetter wollte gar kein Ende nehmen.
Immerhin konnte man es im Schutz des Hüttendachs aushalten, wenn einem leichter Sprühregen nichts ausmachte. Ich lehnte mich an die feuchte Wand, rauchte und sah mir die Blitze an, die immer noch in den See zischten. Kein einziges Segel war mehr zu sehen, so dämlich waren also die Eulenburger Surfen auch wieder nicht.
Die Regelmäßigkeit, mit der Blitz und Donner aufeinander folgten, und das monotone Prasseln des Regens ließen mein Interesse erlahmen, und ich begann wieder über die vertauschten Geschenke nachzudenken.
Wenn es kein Krimi sein müsste, dann könnte man auch zwei Pärchen nehmen. In dem einen Buch steckt ein Heiratsantrag, im anderen eine Abschiedswidmung – wenn das jeweils die Falschen kriegen... Raum für reichlich Missverständnisse! Und dann suchen die beiden nacheinander, Julia, um ihren Wolfi zu überzeugen, dass sie ihn nicht loswerden wollte (oder denkt sie, er flieht vor dem Antrag?), Gideon, um seiner Becky klar zu machen, dass er sie absolut nicht heiraten will...
Woher kommt dann die Krimihandlung? Weglassen konnte ich sie nicht. So etabliert war ich nicht, dass ein neuer Melanie Seeger sein konnte, wie er wollte – von mir wurde eine bestimmte Sorte Krimi erwartet, kein Ausbruch aus dem Genre. Später vielleicht mal! Also brauchte ich eine Krimihandlung, und, wie mein großes Vorbild Harriet Vane mal gesagt hatte – die Leute wollten Mord, keine minderen Verbrechen...
Aber die Krimihandlung sollte mit den vertauschten Büchern doch irgendwie zusammenhängen – nur wie? Im Moment fiel mir nichts ein, und ein Blitz, der genau jetzt besonders eindrucksvoll in den See fuhr, lenkte mich von der Geschichte auch wieder ab.
Der Pegel war noch weiter gestiegen, jetzt sah man auch, dass das flache Ufer hinter den beiden Trauerweiden nördlich der Hütte so gut wie verschwunden war. Hoffentlich würde die Terrasse nicht noch unter Wasser geraten! Ich prüfte schnell den Tisch und die Bank – nein, die waren verschraubt, sie würden wohl kaum nach Eulenburg schwimmen.
Der nächste Blitz, lautlos. Der nächste Donner, eine Sekunde verzögert.
Es zog doch nicht etwa langsam ab?
Doch, ganz allmählich ließ es nach. Es regnete zunächst noch unvermindert, aber Blitz und Donner wurden schwächer und entfernten sich langsam, aber unverkennbar. Die Wolken waren nun auch nicht mehr schwarz, sondern blassgrau, und man merkte langsam wieder, dass es noch lange nicht Nacht war, sondern erst kurz nach sechs.
Im wiederkehrenden Licht sah ich erst, wie sehr sich der See vergrößert hatte – und der Wasserspiegel lag höchstens zwei Zentimeter unter dem Steg. Die Enten saßen im Schilf und zeterten, wenn sie ihre Köpfe nicht gerade unter den Flügeln versteckten.
Auch der Regen ließ nun langsam nach, und im Osten riss die Wolkendecke stellenweise auf und ließ klares Türkis durchschimmern. Als ich mich aus dem Schutz des Hüttendachs wagte und nach Südwesten schielte, sah ich sogar eine vorsichtige Sonne zwischen den Wolkenfetzen hervorblitzen. Das aufgewühlte graue Seewasser, in dem Schilfrohrstücke, Blätter, Federn und Borkenstücke schwammen, ab und ab auch ein größerer Ast, funkelte wieder.
Und kalt war es geworden.
In der Eulenburger Ferne blitzte es blau – aha, da war wohl die Feuerwehr zugange, umgestürzte Bäume von der Straße räumen, Tiefgaragen auspumpen... Zurzeit mussten die wirklich Übung haben!
Ich holte einen Lappen aus der Hütte und wischte Tisch und Bank trocken, dann setzte ich mich erst einmal gemütlich hin. Was nun? Über die Geschenkestory nachdenken? Schwimmen? Schon der Gedanke ließ mich frösteln.
Vielleicht sollte ich erst einmal sicher gehen, dass die Hütte nirgendwo Schaden genommen hatte, denn ich musste am Sonntag Kathrin schließlich darauf hinweisen, wenn etwas zu reparieren war.
Ich öffnete alle Fensterläden und hakte sie fest. Immerhin, Wasser war nicht in die Hütte gelaufen – nur ein bisschen an der Haustür. Ich wischte es schnell auf. Die Terrasse war zwar tropfnass, aber unbeschädigt, solange der See nicht weiter anstieg.
Am hinteren Ende der Terrasse konnte man normalerweise auf das Ufer treten und durch das Gebüsch nach vorne auf den Weg zur Haustür kommen; jetzt
freilich hätte man schwimmen müssen.
Darauf verzichtete ich nun doch lieber. Ich verrenkte mich, bis ich sehen konnte, dass die Büsche, soweit sie aus dem Wasser ragten, unbeschädigt, nur leicht zerzaust aussahen, und trabte dann durch die Hütte, um den Weg von der anderen Seite zu inspizieren. Klasse, ein einziges Schlammloch. Das würden meine Turnschuhe nicht überleben. Ich zog sie aus, legte mehrere Scheuerlumpen an der Haustür bereit und tappte barfuß durch den kalten Schlamm. Uah… wie eine missglückte Fangopackung.
Die Südfassade der Hütte war zwar dunkel vor Nässe, und es tropfte vom Dach, aber nichts war zerschlagen, durchweicht oder sonst wie kaputt. Die Sträucher neben dem Weg hatten freilich etwas gelitten; Blätter und Beeren lagen auf dem Weg, einige Äste waren abgebrochen. Apropos – die Eiche sah jetzt wirklich wüst aus, wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Stellenweise war der stehengebliebene Teil des Stamms so schmal, dass man um die Statik fürchten musste. Ich sollte Kathrin sagen, dass sie die Feuerwehr informieren musste...
Bis der Weg wieder trocken war, würde es bestimmt einen Tag dauern. Ich musterte ihn kritisch, ohne ihn weiter zu betreten – meine Füße waren nass, kalt und dreckig genug – und wollte mich schon wieder umwenden und in die Hütte zurückkehren, als mein Blick auf die Lücke zwischen dem Jasmin- und dem Schneeballstrauch fiel. Da lag ein Ast – der sah fast aus wie eine menschliche Hand.
Für einen Ast war er aber zu hell... das war eine menschliche Hand. Und ein Arm! Ich patschte hin, zur Hölle mit den dreckigen Füßen.