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18. August 2014

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„Herrlich!“ Sophie lehnte sich ein wenig weiter auf dem knarrenden Biergartenstuhl zurück und schob die Sonnenbrille etwas höher. „Kann nicht immer Sommer sein?“

„Du magst doch jede Jahreszeit“, spottete ihre Schwester und nahm einen ordentlichen Schluck Bier. „Ich hab dich schon von raschelndem Laub, knarzendem Schnee und diesem besonderen Hellgrün, wenn die Blätterknospen aufgehen, schwärmen hören.“

Sophie nahm die Brille wieder ab und feixte Fritzi an. „Stimmt ja auch. Jede Jahreszeit ist die Schönste.“"timmt ja auch. Jede Jahreszeit ist die Schönste.em Schnee und diesem besonderen Hellgrün, wenn die Blätter aufgeben höher edrüc

„Du hast wirklich ein glückliches Naturell!“ Fritzi klang fast ein bisschen neidisch, aber Sophie schob das darauf, dass sie eben erst zweiundzwanzig war. Mit zweiunddreißig war man wohl viel mehr mit sich im Reinen…

Zugegeben, nicht jeder. Man konnte bis dahin schon so viele falsche Entscheidungen getroffen haben. Irgendwelche Idioten heiraten, unüberlegt Kinder kriegen, krank werden – obwohl, das machte man ja zumeist nicht absichtlich! – den verpassten Schulabschluss, die ungenutzten Talente oder das falsche Studienfach bereuen, sich verspekuliert oder einfach nie gespart haben… und dann gab es noch alle die, die gar nichts dafür konnten – nie Geld gehabt, gesundheitlich anfällig, im falschen Milieu geboren, ohne Entschlusskraft..

Obwohl, konnte man da denn gar nicht raus, auch wenn man sich anstrengte? Sie kannte alle diese OECD-Studien auch, aber wenn sie an ihre Schulzeit zurückdachte…

Gut, die Reiche-Idioten-Dichte war schon recht hoch gewesen, vor allem bei den Waldstettenern am Leo. Sie dachte alleine schon an diesen Mathematikkurs und gluckste.

„Was ist? Willst du jetzt eine Breze?“

Sophie kehrte in die Gegenwart zurück. „Was? Nein, du weißt doch… aber einen Emmentaler und einen Radi nehme ich gerne. Oder, wenn die diesen Salat haben, den sie manchmal machen – den am liebsten.“

Fritzi schenkte ihr einen leicht genervten Blick und steuerte die Buden in der Mitte des Biergartens an.

Sophies Gedanken kehrten sofort zu diesem Mathekurs zurück - Leistungskurs auch noch! Leute hatten da drin gesessen – nett und doof, blöd und doof, nett und gescheit, die letzte Gruppe war eindeutig die kleinste gewesen. Aber bei denen gab es auch ein paar Leute, die nicht in dicken Villen wohnten, sondern zum Beispiel in der Einfachsiedlung am nördlichen Ortsrand, direkt an der Bundesstraße, die von Augsburg nach Ingolstadt (beides in weiter Ferne) führte.

Und diese Einfachsiedlung aus den frühen Sechzigern war wirklich einfach, Ofenheizung, betonierte Höfe, kein Spielplatz, kein gar nichts… und alle aus dieser Siedlung hatten ein sehr anständiges Abitur gemacht, während die rich kids sich manchmal schon härter getan hatten, auch in den späteren Jahrgängen, bei denen sie manchmal Nachhilfe gegeben hatte. Diesem Florian zum Beispiel – gut, der arme Hund war schlicht und ergreifend strunzdumm gewesen, egal, wie viel Kohle sein Vater hatte.

War Florian nicht letztes Jahr tödlich verunglückt? Und hatte sie sich nicht noch beim Zeitunglesen gedacht: Ferrari haben, aber zu dämlich zum Autofahren? Ganz schön herzlos, aber was konnte man für seine spontanen Kommentare; solange man die Zynismen nicht laut aussprach…

Außerdem hatte sich hinterher ja herausgestellt, dass Florian nichts dafür gekonnt hatte, man hatte ihn von der Straße gedrängt.

Fritzi kam zurück, unter dem Arm eine Riesenbreze, in der einen Hand eine Salatschüssel, in der anderen eine Maß Bier und zwischen den Zähnen ihren Geldbeutel. Sophie beeilte sich, ihr den Salat abzunehmen. Fritzi platzierte Maß und Breze auf dem Tisch und ließ sich aufatmend fallen.

„Puh, ich hab echt gedacht, was mach ich, wenn mir einer den Geldbeutel aus den Zähnen reißt?“

„Hosentasche?“

„Sind bloß Fake. Das sind Jeggings. Nie wieder zieh ich die im Biergarten an! Aber weißt du, wen ich am Brotzeitstand getroffen hab?“

„Sag´s mir, dann weiß ich´s“, antwortete Sophie friedlich und mäßig interessiert und angelte sich Besteck aus dem Krug auf dem Tisch.

„Den Raben!“

„Den Raben…“, wiederholte Sophie verständnislos. „Wer ist das? Ich schwanke zwischen Weißer Rabe und Horrorklassiker.“

„Dumme Nuss! Der Raben!“

„Fritzi! Spielt der irgendwo mit, legt der irgendwo auf, ist er in den Charts oder was? Hab Mitleid mit einer alten Frau und klär mich auf!“

„Der Raben macht ein echt geiles Seminar über das Drama vom Sturm und Drang bis zur Klassik.“

„Ach, ein Professor! Sag das doch gleich. Und warum führst du dich auf wie ein Groupie? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei meinen Profs früher derartig in Anbetung verfallen wäre.“

„Jaja, früher – kurz nach dem Krieg, was? Soo alt bist du jetzt auch wieder nicht. Außerdem ist Raben noch kein Prof.“

Sophie lachte, eine Gabel Salat in der Schwebe. „Ach so! Ein niedlicher Assistent also? Dürfen die nicht bloß Einführungskurse geben? Bist du aus der Phase nicht längst raus?“

„Nee, Assistent ist er auch nicht. Und niedlich – ich weiß nicht. Aber ein toller Lehrer, ehrlich. Den solltest du mal kennenlernen.“

„Wozu das denn? Ich hab mit Literaturgeschichte doch gar nicht so viel am Hut - Fritzi!!“

Zu spät. Fritzi schlängelte sich schon zwischen den Tischen hindurch und verschwand hinter der großen Kastanie. Einen Moment lang erspähte Sophie noch ihr Gestikulieren, dann war gar nichts mehr zu sehen. Resigniert schob sie ihre leere Salatschüssel beiseite und trank einen Schluck Apfelschorle. Manchmal war Fritzi wirklich zu albern…

Schließlich kam sie zurück, hinter sich einen Mann, der nicht direkt wie ein Rabe aussah. Eigentlich eher ganz normal. Groß, etwas füllig und – als er nahe genug herangekommen war – ziemlich müde.

Sophie lächelte ihn an. „Ich entschuldige mich für mein Schwesterchen. Schleppt Sie hier einfach durch die Gegend…“

„Du sollst nicht immer Schwesterchen sagen“, maulte Fritzi, „ich bin nicht mehr zehn.“

„Ach, tatsächlich?“

Sophie glaubte, ein leises Lächeln auf dem Gesicht von Fritzis Dozenten gesehen haben, und streckte ihm die Hand entgegen. „Sophie Rauch. Irgendwas hab ich falsch gemacht…“

Er ergriff die Hand mit festem Griff. „Benedikt Raben. Grüß Gott. Nein, Sie haben nichts falsch gemacht, Ihre Schwester ist eine sehr gute Studentin und eine sehr nette junge Frau. Eben etwas impulsiv – das Vorrecht der Jugend, nicht wahr?“

„Ein Gespräch wie unter Achtzigjährigen“, schimpfte Fritzi und setzte sich wieder.

„Du hast eben diese Wirkung auf deine Umgebung“, kommentierte Sophie und lud Raben ein, sich zu setzen. Fritzi sprang wieder auf: „Wer will noch ein Bier? Oder was anderes?“

Niemand, aber Fritzi eilte trotzdem davon. Was sollte das nun wieder? Sophie sah ihr noch kopfschüttelnd nach, als Raben auflachte. „Jüngere Geschwister sind schon anstrengend, nicht?“

„Wem sagen Sie das! Sie haben also auch das Vergnügen?“

Er seufzte in komischer Verzweiflung. „Vier Stück!“

„Oh. Beileid oder Glückwunsch? Wie alt?“

„Eher Beileid. Zwischen fünfunddreißig und achtundzwanzig. Das klingt harmloser, als es ist, denn drei davon wohnen immer noch bei mir und stehen nicht wirklich auf eigenen Füßen. Wie ist das bei Ihnen?"

„Vergleichsweise entspannt. Fritzi ist zwar gelegentlich noch etwas teeniehaft unterwegs, aber sie ist ja auch erst zweiundzwanzig. Und wohnen tut sie nicht bei mir, sondern in einer WG an der Uni. Ich selbst habe der Uni-Gegend schon länger den Rücken gekehrt.“

„Haben Sie sie großgezogen?“

„Bitte? Nein, nein. Unsere Eltern sind nach Wien gezogen, vor drei Jahren, seitdem passe ich ein bisschen auf sie auf, mehr nicht. Wie ist das bei Ihnen?“

Er seufzte wieder und wirkte wirklich ganz schön müde, fand Sophie. Regelrecht erschöpft. „Unsere Eltern sind schon vor Jahren gestorben – da waren die Kinder zwischen fünfundzwanzig und achtzehn. Und irgendwie ist es mir nicht gelungen, sie auf eigene Füße zu stellen.“

Fritzi kam zurück, mit einer weiteren, sehr salzigen Riesenbreze und einer Eiswaffel. Sophie schauderte: „Das willst du alles noch essen? Wird dir nicht langsam schlecht?“

„Das ist doch nicht für mich!“ Fritzi war entrüstet und reichte die Breze mit großer Geste ihrem verehrten Dozenten.

Der bedankte sich erfreut und Sophie versuchte, ihn nicht kritisch zu mustern, denn er sah nicht nur ziemlich müde aus, sondern durchaus auch etwas übergewichtig. Eine versalzene Breze zum Bier war da eigentlich nicht ganz das Richtige – aber der Mann war erwachsen und sie hatte sich da nicht einzumischen.

Raben riss ein Stück von der Breze ab und aß, von Fritzi mit mütterlich-beifälligem Blick bedacht. Er lächelte beiden Schwestern etwas schwächlich zu und fragte: „Was machen Sie beruflich – Frau Rauch?“

„Ich bin Unternehmensberaterin“, antwortete Sophie, fest davon überzeugt, dass er sich mit Ekel abwenden würde. Hatten die Geisteswissenschaftler nicht alle ein etwas gespanntes Verhältnis zu wirtschaftlichen Überlegungen?

„Interessant“, war die unerwartete Antwort. „Und was tun Sie da zur Zeit? Oder ist so etwas geheim?“

„Ach nein – solange ich keine Namen nenne? Im Moment geht es um einen nicht unbedeutenden Einzelhändler, der wegen der Internet-Konkurrenz kurz vor der Pleite steht. Wir erarbeiten für ihn ein Konzept, wie er ebenfalls am Internet partizipieren kann, und strukturieren seinen Betrieb so um, dass sein Personal effektiver arbeitet. Wir denken, wir können den Laden retten.“

„Das klingt sehr erfreulich“, lobte Raben. „Man denkt ja immer, Unternehmensberater seien herzlose Geldzähler, aber da sieht man wieder, wie falsch solche vorschnellen Urteile sind… Sind Sie selbstständig oder arbeiten Sie bei einer Firma?“

„Nein, selbstständig möchte ich gar nicht sein. Ich arbeite bei Restorff Consulting. Sehr angenehmes Betriebsklima.“

„Restorff?“, überlegte Raben. „Restorff? Den Namen kenne ich doch? Ist er nicht mit Melanie Seeger verheiratet, der Kriminalschriftstellerin?“

„Ja, das stimmt. Sie lesen Kriminalromane? Nicht nur hochwertige Literatur?“

Raben lachte kurz auf. „Halten Sie diese Unterscheidung für sinnvoll? Es gibt Kriminalromane, die hohe Literatur sind!“

„Poe“, warf Fritzi ein, die sich offenbar vernachlässigt fühlte. „Und Schiller.“

Verbrecher aus verlorener Ehre“, nickte Raben, „sehr gut, Friederike. Aber natürlich hat die deutsche Literatur da leider nicht die gleiche glorreiche Tradition wie die angelsächsische.“

„Dorothy Sayers“, murmelte Sophie, „Agatha Christie. Conan Doyle.“

„Sherlock Holmes!“, krähte Fritzi. „Die Filme sind absolut geil! Sophie, kennst du den, wo dieser süße Schauspieler bloß ein Laken anhat und so in den Buckingham Palace geschleppt wird, und dann fällt das Laken runter?“

Sophie verdrehte die Augen zum Himmel. „Fritzi, wie alt bist du? Dreizehn?“

Raben amüsierte sich sichtlich. „Jugendliche Begeisterungsfähigkeit! Wenn meine Geschwister davon etwas hätten, wäre ich nur zu froh. Übrigens habe ich zu Hause neben interessanten Dramenausgaben aus dem 18. Jahrhundert auch eine Erstausgabe von Dorothy Sayers´ „Strong Poison“. Nicht unbedingt sehr wertvoll, aber doch sehr sehenswert… Würden Sie sie gerne einmal sehen?“

Sophie wollte schon ausweichend antworten, aber dann fiel ihr der intensive Blick Rabens auf: Er wollte wirklich, dass sie sich diese Erstausgabe ansah… egal, sie hatte ja sonst nichts vor, und Fritzi strahlte bei dem Gedanken, das Haus des verehrten Lehrers von innen zu sehen.

„Gerne“, sagte sie also mehr höflich als ehrlich, „das klingt tatsächlich interessant.“

„Au ja! Was haben Sie denn da für Dramenausgaben?“

„Eine ganze Menge seltener Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert, auch Triviales, zum Teil mit recht merkwürdigen Abbildungen; Sie dürfen sich gerne einmal umschauen.“

„Dann machen wir das doch gleich, wenn alle ausgetrunken haben!“, schlug Fritzi mit funkelnden Augen vor.

„Fritzi!“, mahnte Sophie leise. „Nicht so penetrant!“

„Entschuldigung“, sagte Fritzi sofort. „Nerve ich Sie, Herr Dr. Raben?“

Der lachte wieder. „Aber nein! Ich habe es vorhin schon Ihrer Schwester gesagt, ich genieße diese Lebendigkeit. Kein Vergleich mit meinen Geschwistern.“ Er trank aus und schob seinen Krug weg. Fritzi sprang sofort auf. „Fertig? Dann aber los!“

Sie fuhren hinter Raben her, ziemlich lange. Sophie begann schon zu überlegen, wo zum Henker der Kerl eigentlich wohnte – zur Autobahn, dann nach Norden über die Leiß: Da war doch gar nichts mehr? Bloß noch Pampa…

Nach der Brücke fuhren sie wieder nach rechts und an einem großen unbebauten Grundstück vorbei. Dann kam eher naturbelassenes Land mit verwilderten Sträuchern und ins Kraut geschossenen Bäumen, sie passierten ein Tor, an dessen Flügeln etliche Latten fehlten, und kurvten eine längere Auffahrt entlang.

„Hat der ein Schloss oder was?“, wunderte sich Sophie.

„Warum nicht? Immerhin ist er von Stand, wie man in der Aufklärung sagte“, antwortete Fritzi stolz.

„Was meinst du damit?“

„Dass er von Adel ist! Du weißt aber auch gar nichts, Sophie!“

„Ich lebe eben im Hier und Jetzt“, schoss Sophie zurück und bremste ab, weil Raben vor einem großen, ältlichen Haus stehengeblieben war. „Du kannst dafür keinen Internetauftritt so gestalten, dass eine Firma wieder lebensfähig wird. Und, ist er ein Graf oder sowas?“

„Nö“, gab Fritzi ärgerlich zu. „Bloß ein von.“

„Wahnsinn!“, spottete Sophie. „Echt ein Grund, auszuflippen.“

„Du bist doof“, fauchte Fritzi und stieg aus. Sophie folgte ihr und sah sich um. Das Haus hatte es dringend nötig, fand sie. Bestimmt fünfzig Jahre hatte hier niemand mehr etwas gemacht – von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab, die Rankgitter neben der Haustür waren rostig, an der Fassade sah man die Wasserspuren.

Während Sophie im Geiste zu einem Eimer Farbe griff, war Fritzi hingerissen. „Wie alt ist das Haus denn?“

Raben seufzte. „Ziemlich alt, was? Und schlecht in Schuss. Aber direkt historisch ist es auch nicht. Etwas farbloser Jugendstil… 1909 haben es meine Urgroßeltern gebaut, anstelle eines anderen, das abgebrannt ist.“

„Ich finde es toll“, beharrte Fritzi. „Ich wohne ja auch in einem Altbau, hinter der Uni, aber so schön ist das Haus nicht – und ich habe auch bloß ein WG-Zimmer. Sophie ist da ja so richtig prosaisch, die wohnt in einem weißen Würfel.“

„Vorsicht, Schätzelchen“, warnte Sophie, „das nennt man Bauhaus-Stil. Auch wenn 2009 nicht direkt Original-Bauhaus ist.“

„Genau hundert Jahre Unterschied“, stellte Raben fest. „Manchmal hätte ich auch gerne etwas Neueres. Mit einer richtigen Heizung, dichten Fenstern und einem kleinen Garten…“

Er wollte die Haustür aufschließen und stellte fest, dass sie nur eingeklinkt war. Seufzend stieß er sie auf. „Alle wissen doch, dass sie abschließen sollen! Das ist hier eine verflixt einsame Gegend…“

„Ach, Sie haben hier auch eine WG? Cool, Herr Doktor!“, war Fritzi sofort begeistert.

Raben verzog das Gesicht. „Nicht wirklich, Friederike. Drei meiner Geschwister wohnen immer noch hier.“

„Echt? Wie alt sind die denn?“

Raben betete die Zahlen wieder her, und Fritzi wunderte sich lautstark: „Was! Aber die sind doch längst erwachsen? Find ich strange…“

„Fritzi!“, mahnte Sophie leise.

Raben grinste etwas bitter. „Warum? Sie hat ja Recht. Die drei sind strange – Sie werden sie bestimmt gleich kennenlernen.“ Er schnupperte prüfend. „Und eine von ihnen bestimmt auch riechen…“

Sophie zog unwillkürlich auch die Luft ein. „Katzen, oder?“

„Viele! Conny ist die reinste Catlady.“

„Aber Katzen sind doch total süß!“, verwahrte sich Fritzi sofort. „Ui, da ist ja eine!“

Sie bückte sich, um die kleine schwarze Katze mit dem weißen Näschen und den weißen Pfoten zu streicheln, aber die fauchte, galoppierte davon und verschwand in den Tiefen des Hauses.

„Die sind wohl alle nicht sehr anschmiegsam“, warnte Raben, wenn auch etwas spät. Fritzi erhob sich enttäuscht. „Schade. Ich mag Katzen. Ich hätte auch gern eine, aber in der WG haben zwei Leute eine Allergie. Sophie, magst du nicht -?“

Sophie verdrehte die Augen. „Das arme Tier! Ich bin so wenig zu Hause – das müssten dann ja mindestens zwei sein, und das ist mir dann doch zu viel.“

„Kann ich verstehen“, fand Raben. „Aber Conny hat nicht zwei – im Moment sind es sieben, glaube ich. Oder acht?“

„Hui“, machte Sophie, die sich für das Thema nur in begrenztem Maße interessierte und Katzen auch nur mäßig faszinierend fand. Sie hatte überhaupt ein gestörtes Verhältnis zur Natur, überlegte sie kurz – keine Tiere, keine Pflanzen, keine Wanderungen…

„Kommen Sie doch weiter“, bat Raben da, und sie folgte ihm mit Fritzi in ein riesiges Wohnzimmer, in dem es noch stärker nach Katzen roch. Kein Wunder, zwischen den abgewohnten, aber bequem aussehenden Sofas standen doch tatsächlich mehrere Katzenklos herum, die man, fand Sophie, vielleicht einmal reinigen sollte. Auf einigen niedrigen Tischen, die im Stil (soweit überhaupt sichtbar) alle nicht zusammenpassten, lagen Spielmäuse, Stoffpüppchen, Zeitschriften, Papiere, viele ziemlich überreife Äpfel, eine Fernbedienung, ein Fernsehprogramm und mehrere DVD- und CD-Hüllen. Außerdem sah und roch man einen überquellenden Aschenbecher und mehrere halbleere Kaffeebecher.

Raben drehte sich um und ertappte Sophie bei einem unwillkürlichen Naserümpfen. Er seufzte entschuldigend. „Ich weiß – alle benutzen dieses Zimmer, und keiner räumt hier jemals etwas auf. Ich habe auch nicht immer Zeit dazu. Bitte, kommen Sie weiter, wir gehen in mein Arbeitszimmer. Da sieht es wenigstens so aus, wie ich es mir vorstelle. Leider praktisch nur da.“

Vom Wohnzimmer führte ein Gang weiter, und dort holte er seinen Schlüsselbund heraus und schloss eine Tür mit mehreren Schlössern auf. Er lächelte Sophie und Fritzi etwas trübsinnig an. „Meine Geschwister finden es gemein, dass sie hier nicht reindürfen. Sie würden gerne meinen Rechner benutzen und meine Bücher verkaufen, um Katzenfutter oder Schlimmeres zu finanzieren.“

„Schlimmeres?“ Fritzi machte große Augen.

„Ludwig ist ein Junkie“, war die knappe Antwort, dann stieß Raben die Tür auf und bat seine Gäste herein.

Dieses Zimmer gefiel Sophie deutlich besser: Kamin, zwei bequeme Sofas, ein Lesesessel mit uralter Stehlampe, ein riesiger unordentlicher Schreibtisch (wäre es unhöflich, Herrn von Raben ein Büchlein zu Schreibtisch- und Dokumente-Management zukommen zu lassen? Leider ja, überlegte Sophie) und an zwei Wänden Regale voller alter, ganz alter und neuer Bücher und Broschüren. Ein Schränkchen gab es auch, aus dem Raben nun drei Gläser und eine Flasche holte.

„Ein kleiner Sherry?“

Fritzi nahm an, Sophie lehnte ab. „Ich muss ja noch fahren…“

„Aber ein kleines Gläschen?“

Sophie lächelte – wie sie hoffte, etwas stählern. Wie lächelte man eigentlich stählern?

„Danke. Ich bin eine große Befürworterin von null Komma null Promille.“

„Auch im Biergarten?“

„Klar. Wasser – und wenn ich so tun muss als ob, dann Apfelschorle, aber das süße Gschlamps mag ich eigentlich nicht besonders. Aber trinken Sie und Fritzi ruhig, ich fahre Fritzi nachher sowieso heim.“

Fritzi war ans Fenster getreten und schaute hinaus. „Toller Garten… sind das Apfelbäume?“

„Und Kirschen. Mögen Sie sich welche pflücken? Wir haben wahre Massen, und niemand hat Lust, sie einzukochen.“

„Wir könnten sie alle pflücken und der Tafel bringen“, schlug Fritzi tatendurstig vor.

„Gute Idee“, fand Sophie. „Lass vielleicht der Familie noch ein paar übrig, ja?“

„Haben Sie sowas wie einen Korb?“ Fritzi war nicht zu bremsen.

„Ich hole einen!“

Sophie lächelte in sich hinein: Die Küche wollte er ihnen wohl nicht mehr vorführen – wie mochte die wohl erst aussehen? Das Haus war ein Saustall erster Güte; eigentlich schade drum, man hätte etwas daraus machen können: große Räume, hohe Decken, sogar ein bisschen Stuck, abgewetzte Holzböden. Eigentlich ein schönes Ambiente, ohne den Siff und den Mief. Armer Kerl – aber warum hatte er auch seine Geschwister nicht im Griff?

Raben kam mit zwei Weidenkörben zurück, in die er Küchenpapier gelegt hatte. „Friederike, sind die so recht?“

Fritzi bedankte sich leicht verlegen und zog mit den Körben durch die Fenstertür ab, die Raben einladend geöffnet hatte. Er bat Sophie, sich zu setzen, und setzte sich ihr gegenüber. „Möchten Sie wirklich nichts trinken?“

„Nein, danke. Ich bin wunschlos glücklich.“

„Nicht einmal ein Wasser?“

„Im Moment nicht, danke.“ Der Kerl war penetrant!

„Ist es, weil es hier so unordentlich ist?“

„Es ist, weil ich Moment keinen Durst habe“, antwortete Sophie leicht gereizt. „Das ist ein schönes Zimmer.“

„Finden Sie?“

„Sonst hätte ich es nicht gesagt. Gute Proportionen – und genau so, wie man sich eine Gelehrtenstube vorstellt.“ Sie lächelte. „Ich könnte mir vorstellen, dass Fritzi von so etwas träumt – ein solches Arbeitszimmer, eine Professur, in Bibliotheken herumstöbern, unentdeckte Schätze heben, so etwas wie vergessene Romane, zu Unrecht verachtete Autoren… davon schwärmt sie mir oft vor.“

„Ja, Friederike ist die geborene Germanistin“, stimmte Raben zu. „Ihnen liegt so etwas nicht so sehr?“

„Sie sollten mal mein Arbeitszimmer sehen“, grinste Sophie breit.

„Das würde ich gerne“, war die prompte Antwort und Sophie war leicht verblüfft. Baggerte der sie hier etwa an? Sie war die ältere Schwester seiner vielversprechenden Studentin, mehr nicht – also was sollte das jetzt? Sie hatte schon den Mund geöffnet, um das Gespräch wieder auf eine sachlichere Ebene zurückzuführen, als von draußen Gekreisch ertönte.

Sie sprang auf. „Fritzi! Da ist was passiert!“

Von Raben gefolgt, rannte sie nach draußen, froh, dass sie keine High Heels trug, denn der ungepflegte Rasen war voller Maulwurfshügel und langrankiger Unkrautnester.

„Fritzi, was ist los? Hast du dir den Fuß verknackst?“

„Wäre bei diesen Scheißmaulwürfen kein Wunder“, ertönte es hinter ihr.

„N-nein…“ Fritzi war ganz bleich und zitterte. Sie stand unter einem Kirschbaum, neben sich die Körbe, einer schon fast halb gefüllt, und zeigte auf einen Strauch, der einige Meter entfernt war. „Da!“

Sophie spähte in die angegebene Richtung. „Da liegt ein Sack oder sowas. Vielleicht Laub?“

„D-das ist kein Sack! Da liegt einer! Und ich g-glaube, der ist tot…“

„W-was?“ Offenbar war Fritzis Stottern ansteckend. Sophie schaute noch einmal genauer hin, aber Raben lief an ihr vorbei und auf das Gebüsch zu. Sophie sah ihn in die Knie gehen, etwas ungelenk, und die Leiche – jetzt konnte sie auch erkennen, dass das kein Laubsack war – umdrehen. Dann gab er einen gequälten Laut von sich, und Sophie eilte zu ihm, während Fritzi immer noch starr dastand und gar nicht merkte, dass sie eine Kirsche zwischen den Fingern zerdrückte und der Kirschsaft ihre Jeans bekleckerte.

Raben sah zu Sophie auf. „Das ist Ludwig… Ludwig! Ludwig, was ist passiert?“

„Ihr Bruder? O Gott…“

Der Tote sah ziemlich friedlich aus, Verletzungen waren keine zu sehen, die Augen waren geschlossen. Sehr blass war er, und die Haut um die Lippen war etwas bläulich verfärbt.

„Ich rufe den Rettungsdienst, ja?“, kündigte sie an, registrierte das Nicken Rabens und tippte 112 ins Smartphone.

„Haben Sie nicht gesagt, er hat ein – äh – Drogenproblem?“, fragte sie etwas später, ratlos, was sie nun am besten sagen sollte. Raben sah zu ihr auf. „Ja, leider. Er hat sogar mal versucht, hier im Garten Gras anzubauen.“

„Aber von Cannabis stirbt mal doch eigentlich nicht, oder? Er müsste, wenn, etwas Härteres genommen haben.“

Seufzen. „Schaut ganz so aus, ja.“

„Hat er Einstiche?“ Sophie kam sich selbst etwas kaltschnäuzig vor, aber vielleicht half es Raben ja sogar, wenn er etwas Sachliches zu bedenken hatte?

Raben schob auch tatsächlich den schmutzigen T-Shirt-Ärmel hoch. Angesichts der Hämatome um die zahlreichen Einstiche entfuhr ihm ein „Scheiße… dass es so arg ist, ist mir gar nicht aufgefallen. Da hätte ich wirklich besser aufpassen müssen.“

„Ich glaube nicht, dass jemand, der schon so weit ist, noch groß beeinflussbar ist“, versuchte Sophie zu trösten und hörte erleichtert in der Ferne ein Martinshorn. Auch Fritzi war aus ihrer Lähmung erwacht und trat näher. „Ist das sein Bruder?“, flüsterte sie Sophie zu. Die nickte.

„Scheiße… das ist bitter. Aber von den anderen scheint keiner da zu sein, oder?“

Raben stand etwas mühsam wieder auf. Untrainiert und ein bisschen moppelig, dachte Sophie sich. Himmel, ein erwachsener Mensch, und ließ sich so gehen und so von seinen Geschwistern zumüllen… ob die anderen auch solche Problemkinder waren? Ein Suchtproblem in der Familie, das war schon heftig. Armer Hund…

Das Martinshorn wurde lauter und erstarb schließlich jaulend. Fritzi rannte zum Garteneingang und lotste die Sanitäter und den Notarzt an die richtige Stelle.

Nach einigen Minuten hektischen Bemühens sah der Notarzt auf und schüttelte den Kopf.

„Was ist denn passiert?“, fragte Sophie, denn Raben schien wie gelähmt.

„Schwer zu sagen. Er schaut wie ein Junkie aus, aber ob´s der Goldene Schuss war… einen Totenschein stelle ich jedenfalls nicht aus. Tanja?“

Eine Sanitäterin zog ihr Smartphone heraus und informierte die Polizei.

„Kennen Sie den Toten?“, fragte der Arzt Sophie, und die schubste jetzt doch Raben leicht an.

„Mein Bruder“, murmelte der nach einem kurzen Moment der Verwirrung. „Und ja, er hatte ein Drogenproblem. Aber was er da so genommen hat, weiß ich leider auch nicht.“

„Wie alt war er denn?“

„Fünfunddreißig. Wie lange er schon harte Sachen konsumiert hat, weiß ich nicht, aber ich schätze mal, bestimmt zehn Jahre.“

„Ein Wunder, dass er´s dann überhaupt so lange gemacht hat“, murmelte der Arzt und inspizierte das Gesicht des Toten mit einem kleinen Lämpchen. „Hmm“, brummte er dann. „Tanja?“

Tanja beugte sich ebenfalls über das tote Gesicht. „Komisch – so bläulich, nicht?“

„Kann das auf eine Vergiftung hindeuten?“, mischte Sophie sich ein.

„Möglich. Möglich ist fast alles… Sind Sie vom Fach?“

„Absolut nicht.“

„Ludwig“, murmelte Raben. Sophie riss sich von der nüchternen Frage nach der Todesursache los und trat zu ihm. „Wollen Sie nicht lieber reingehen? Das ist vielleicht ein bisschen zu viel für Sie?“

Raben sah sie an, als erwache er aus einem bösen Traum. „Was? Äh – ja, vielleicht…“

„Kommen Sie. Fritzi, wenn die Polizei kommt, sagst du ihnen, wir sind in Herrn Rabens Arbeitszimmer?“

„J-ja… Ich bleibe eh lieber draußen. Mir – mir ist schlecht.“

Sophie blieb stehen. „Arg?“

„Ein bisschen. Frische Luft reicht. Ich hab eben noch nie eine – äh.“

Sophie drückte kurz und aufmunternd Fritzis Schulter, staunte einen Moment lang wieder einmal darüber, wie jung und zerbrechlich sie sich anfühlte, und nahm dann den benommenen Raben am Ellbogen. „Kommen Sie mit.“

Im Arbeitszimmer drückte sie ihn sanft auf ein Sofa, schenkte ihm noch einen Sherry ein und reichte ihm das Glas. „Gegen den Schock.“

Er sah müde auf. „Alkohol?“

„Tee mit viel Zucker ist nicht da. Und ich will Sie ja nicht abfüllen. Mehr als ein Gläschen gibt´s nicht.“

Er trank gehorsam. „Meinen Sie, er hat eine Überdosis erwischt?“, fragte er dann, ohne Sophie anzusehen.

„Ich weiß es nicht. Unwahrscheinlich ist es wohl nicht, aber ich kannte ihn schließlich nicht.“

„Ich auch nicht.“ Er seufzte. „Anscheinend weiß ich gar nichts über meine Geschwister.“

Sophie setzte sich neben ihn. „Das sollten Sie nicht verallgemeinern. Schauen Sie, wenn – Ludwig? – ein Drogenproblem hatte, dann konnte er sich doch denken, dass Sie sich Sorgen machen und es nicht gutheißen können. Also hat er seine Probleme wahrscheinlich schon deshalb vor Ihnen verborgen.“

„Um mich nicht zu beunruhigen?“

„Oder um sich Strafpredigten und ähnliches zu ersparen. Wie hat er das Zeug eigentlich finanziert?“

„Das frage ich mich auch. Angeblich hat er studiert – mit fünfunddreißig noch kein Examen! – aber was er wirklich gemacht hat: keine Ahnung. Womöglich gedealt.“ Er sah sie gequält an. „Das wird ja immer schlimmer!“

Sophie wollte ihn ablenken und fragte nach den anderen. Er zuckte die Achseln. „Die Mädels - mei… Teresa ist verheiratet, die wohnt nicht hier, aber nicht weit weg. Sie schaut mit ihrer Kleinen öfter mal vorbei. Conny sammelt Katzen – eine haben Sie ja schon gesehen – und jobbt im Kratzbaum, um das Futter zu finanzieren. Im Urlaub hilft sie auf dem Gnadenhof hinter Eulenburg aus.“

„Eigentlich sehr nobel“, lobte Sophie etwas unehrlich.

„Ja, sicher – aber das klappt auch nur, solange sie hier gratis wohnt und isst und sich bei Bedarf den alten Kombi nehmen darf. Selbst ernähren könnte sie sich nicht.“

Sie wollte gerade nachfragen, was diese Conny denn gelernt oder studiert hatte, da klopfte es an die halb offene Fenstertür und sie sahen beide auf.

Im Gegenlicht erkannte Sophie nur einen eher großen und eher schlanken Mann in Chinos und Tweedsakko.

Raben machte eine müde Handbewegung und der Mann trat näher und zückte einen Ausweis. „Reuchlin, Kripo Leisenberg. Sie sind Dr. Benedikt von Raben?“

Raben nickte schwächlich.

„Und Ihnen gehört dieses Anwesen?“

Erneutes Nicken.

Eine junge Frau trat ein, zeigte ebenfalls einen Ausweis vor, setzte sich auf das andere Sofa und klappte ein Tablet auf, aus dem sie einen Metallstift herauszog.

„Meine Kollegin Frau Kramer wird das Gespräch protokollieren“, erläuterte Reuchlin das Offensichtliche und teilte seiner Assistentin (?) Name und Besitzverhältnisse mit.

„Und Sie sind - ?“, wandte er sich dann an Sophie.

„Sophie Rauch. Meine jüngere Schwester Fritzi – Friederike – studiert bei Herrn von Raben. Wir haben ihn zufällig im Biergarten getroffen und Herr Doktor von Raben hat sich erboten, uns einige ältere Ausgaben von Kriminalromanen und Literatur des 18. Jahrhunderts zu zeigen.“ Sie wandte sich an ihren Nachbarn. „Es war doch 18. Jahrhundert?“

Raben nickte wieder. „Vor allem Empfindsamkeit.“

„Ja“, fuhr Sophie dann fort, „und deshalb haben wir ihn hierher begleitet. Fritzi hat die Kirschbäume bewundert, unser Gastgeber hat ihr angeboten, den reichen Segen für die Leisenberger Tafel abzuernten, weil ihn hier eh keiner verbraucht – und dann haben wir Fritzi kreischen gehört, Ludwig von Raben gefunden und den Notarzt gerufen. Der wiederum fand die Todesursache unklar und hat Sie verständigen lassen.“

„Präzise zusammengefasst“, lobte Reuchlin etwas mechanisch. „Sie sind auch Literaturwissenschaftlerin?“

„Gotteswillen! Ich bin Betriebswirtin, ich arbeite als Unternehmensberaterin und Effizienzcoach bei Restorff Consulting.“

Frau Kramer fluchte leise vor sich hin, anscheinend übertrug das Tablet die Handschrift nicht immer in sinnvollen Text. Sophie grinste kurz – so ging´s ihr auch immer, aber praktisch waren die Dinger doch…

Eigentlich ein merkwürdiger Zufall – einmal brachte Raben jemanden mit nach Hause, und prompt fand er seinen toten Bruder. Wäre er alleine gewesen, wäre vielleicht alles viel schwieriger geworden…

„Was hat Ihr Bruder denn so gemacht?“, fuhr Reuchlin mit dem Gespräch fort.

Raben zuckte die Achseln. „Langsam glaube ich, ich habe ihn gar nicht so gut gekannt. Eigentlich hat er studiert.“

„Mit -“ Reuchlin schaute in seine Unterlagen und zog ein ungläubiges Gesicht „- mit fünfunddreißig? Die Uni müsste ihn doch schon dreimal rausgeworfen haben?“

„Natürlich. Er hat mehrfach das Fach gewechselt. Erst war´s Geschichte und Politik, dann hat er daran das Interesse verloren – oder die ernsthafte Arbeit gescheut – und auf Volkswirtschaft umgesattelt. Als ein Examen drohte, hat er beschlossen, Kommunikation sei die Wurzel von allem, und ist auf Kommunikationswissenschaften umgestiegen. Dort kann er eigentlich auch nicht mehr zugange gewesen sein, das ist ja auch schon länger her… aber ich habe schon beim zweiten Wechsel – naja – geschimpft, also hat er mir den nächsten gar nicht mehr mitgeteilt. Sie müssten mal in seinem Zimmer schauen. Das ist genau einen Stock über diesem hier, vielleicht liegen dort Immatrikulationsbescheinigungen oder so etwas herum.“

Frau Kramer signalisierte durch einen Grunzlaut, dass sie das alles fertig notiert hatte.

„Hatte er einen Job nebenbei? Drogen gibt´s ja nicht geschenkt…“

Raben sah gequält drein und Sophie erinnerte sich, dass sie ihn das auch schon gefragt hatte. „Ich wüsste nicht… Schauen Sie, ich bin auch nicht so oft da, ich habe an der Uni doch eine ganze Menge zu tun, und da ich diese ganze Truppe hier durchfüttern muss, muss ich mich karrieremäßig ranhalten. Da kriege ich manches nicht so mit.“

„Ganz ehrlich“, sagte Reuchlin, „Ihr Bruder war nun weiß Gott erwachsen genug, dass er keinen Babysitter mehr brauchte, also mussten Sie ihn doch nicht rund um die Uhr betreuen. Wer lebt denn noch hier?“

„Meine Schwestern Cornelia und Paula. Cornelia arbeitet bei Kratzbaum und hat selbst etliche Katzen.“

„Ach herrje“, murmelte Frau Kramer.

„Sind Sie allergisch?“, erkundigte sich Sophie.

„Leider. Aber hier hab ich noch gar keine Katze gesehen…“

„In dieses Zimmer dürfen sie auch nicht. Das habe ich meiner Schwester verboten, und daran hält sie sich merkwürdigerweise sogar. Ja, und Paula ist Mathematikerin bei einer Versicherung, der Union.“

„Die könnte sich dann doch eigentlich mal was Eigenes suchen, oder? Wie alt ist sie denn?“, erkundigte sich Reuchlin, was Sophie eigentlich etwas frech fand – das ging ihn ja wohl gar nichts an, auch wenn er im Prinzip durchaus Recht hatte.

„Paula ist achtundzwanzig und Cornelia einunddreißig. Meine Schwester Teresa ist verheiratet, dreiunddreißig, hat eine vierzehnjährige Tochter und wohnt drüben in Henting.“ Dies in einem Ton, als wollte er sagen Sind Sie jetzt mal zufrieden?

„Vielen Dank. Sind Ihre Schwestern wohl im Haus?“

„Keine Ahnung. Wir waren noch nicht lange da, als wir Ludwig gefunden haben.“ Rabens Blick irrte zur Fenstertür, durch die jetzt Fritzi hereinkam.

„Meine kleine Schwester Friederike“, stellte Sophie vor.

„Ach ja – Sie studieren bei Dr. von Raben?“

„Ja, ganz genau. Er macht ein tolles Seminar über das Drama vom Sturm und Drang bis zur Klassik. Herr Doktor, die würden ihren Bruder jetzt – also, der Sarg ist da… möchten Sie ihn noch einmal sehen?“

Reuchlin wedelte erlaubend mit der Hand, und Fritzi begleitete Raben nach draußen. Ob sie wohl doch ein bisschen in ihn verknallt war?, überlegte Sophie, die den beiden nachsah.

„Wie finden Sie denn diese Familie?“, riss Reuchlin sie aus ihren Gedanken.

„Ganz ehrlich? Ein bisschen merkwürdig – aber ich weiß fast nichts. Von einer Paula hatte er noch gar nichts erzählt, bis er Ihnen eben diese Übersicht geliefert hat. Ich glaube, er ist mit dieser Losergemeinschaft leicht überfordert, aber – wie gesagt – mir fehlt es ziemlich an Fakten, also überbewerten sie meine Eindrücke bitte nicht.“

„Losergemeinschaft?“

„Na, ich bitte Sie! Die Jüngste ist achtundzwanzig – Fritzi ist zweiundzwanzig und würde sich in Grund und Boden schämen, ohne Not noch bei unseren Eltern oder mir zu hausen. Die finden anscheinend alle nicht den Absprung. Obwohl, diese Jüngste hat ja wohl wenigstens einen anständigen Beruf… und aufräumen tut hier auch keiner. Sorry, ich will nicht gehässig klingen, und das alles geht mich auch überhaupt nichts an – ich meine, ich kenne den Mann praktisch gar nicht!“

Das stimmte zwar, aber ihr war schon selbst klar, dass sie aus der Nummer so schnell nicht mehr rauskommen würde. Und so, wie Reuchlin dreinsah, dachte er das gleiche.

Raben kam zurück und wischte sich über einen Augenwinkel. Sofort packte sie wieder das Mitleid – aber Fritzi tätschelte ihm ja schon die Hand, also musste sie das nicht mehr übernehmen.

„Könnten Sie mal nachsehen, ob eine Ihrer Schwestern im Haus ist?“, störte Reuchlin die Trauerarbeit.

„J-ja. Vielleicht gehen wir einfach ins Wohnzimmer – aber erschrecken Sie nicht, es sieht ziemlich – naja.“

Fritzi schloss die Fenstertür und zog die Gardine ordentlich vor, dann verließen sie das Arbeitszimmer und Raben dachte sogar daran, die Tür abzuschließen. „Dies ist mein ureigenes Zimmer“, erklärte er Reuchlin. „Ich möchte hier weder Katzen noch meine Geschwister haben.“

Er steckte den Schlüsselbund ein und ging voraus ins Wohnzimmer, wo sich Reuchlin leicht schockiert umsah, was Sophie gut nachvollziehen konnte.

Es juckte sie ja selbst in den Fingern, hier mal aufzuräumen – aber das konnte sie nicht machen. Immerhin war das ein fremdes Haus!

Raben sah sich etwas unentschlossen um und fegte dann die Reste einer Tageszeitung, einige Zeitschriften und ein Sofakissen voller Katzenhaare von einem Sofa, das er daraufhin Reuchlin und Kramer anbot. Frau Kramer saß noch kaum, als sie schon heftig zu niesen begann.

Raben entschuldigte sich sofort und öffnete die Fenstertür weit. „Oder haben Sie auch Heuschnupfen?“

Sophie und Fritzi hatten den Schotter auf einem anderen der ältlichen Sofas beiseitegeschoben und sich ebenfalls gesetzt, Sophie überlegte angesichts der Katzenhaare in allen denkbaren Farben sofort, wo sie zu Hause die Kleiderbürste hingetan hatte.

Raben verschwand im Flur und man hörte ihn rufen. Statt seiner schlenderte eine große graue Katze herein, dem mächtigen Kopf zufolge wohl ein Kater. Er musterte die versammelten Gäste arrogant, sprang dann auf ein halbhohes Regal, ließ sich nieder, zog die Vorderpfoten unter sich und behielt die Anwesenden schläfrigen Blickes im Auge.

„Süß“, sagte Fritzi. „Aber kraulen tu ich den nicht, das vorhin hat mir gereicht.“

Offenbar hatte das Rufen Erfolg gehabt; Raben kehrte zurück und hatte eine junge Frau im Schlepptau. Sie trug schwarze Jeans und einen grauen Blazer, darunter eine ebenso schwarze Bluse, und sah sich mürrisch um. Der hellbraune Bob hing leblos herab, die blauen Augen waren misstrauisch zusammengekniffen. Sie sah Raben nicht unähnlich, wirkte aber unfreundlich und deprimiert. Angewidert setzte sie sich neben Raben auf das freie Sofa und strich mechanisch über ihre Hosenbeine.

Das wiederum verstand der graue Kater offenbar als Aufforderung, er sprang geschmeidig vom Regal und auf ihren Schoß. „Iih!“, kreischte sie sofort los, „hau ab, du Vieh. Glaubst du, ich will alles voller Katzenhaare haben? Sollen die in der Firma denken, ich bin auch so eine Catlady?“ Sie schubste den Kater auf den Boden, der sie anfauchte und auf das Regal zurückkehrte.

„Paula, jetzt gibt es wirklich Wichtigeres!“, mahnte Raben.

„Ach, meinst du? Ich finde es schon wichtig, nicht so auszusehen, dass ich meinen Job verliere. Wäre doch schön, wenn hier wenigstens einer Geld verdient, oder?“

Raben öffnete den Mund, um zu widersprechen, beschloss dann aber offenbar, dass es sich nicht lohnte. Also sagte er nur: „Ludwig ist tot.“

„Ach.“

Sophie fand die Antwort auch bei einer so farblosen Person etwas unzureichend.

„Mehr hast du nicht zu sagen?“, fuhr Raben seine jüngste Schwester an. Die zuckte ungerührt die Achseln. „Was soll ich sagen? Wovon hat er denn zuviel erwischt?“

„Was wissen Sie denn über Ihren Bruder?“, versuchte Reuchlin das Heft wieder in die Hand zu bekommen.

„Wenig. Ganz ehrlich, er hat mich nicht besonders interessiert. Er hat ja noch nie irgendwas auf die Reihe gekriegt. Seine letzte Leistung war das mieseste Abi seines Jahrgangs. Vier Studiengänge angefangen und abgebrochen, keinen Job durchgehalten, sitzt mit Mitte dreißig immer noch hier rum, in dieser Siffbude…“

Das konnte Sophie zwar nachvollziehen, aber ungerecht fand sie es doch – wieso räumte sie die „Siffbude“ denn nicht mal auf? Und war sie nicht auch mächtig zu alt, um immer noch hier zu wohnen?

„Sie wohnen doch auch hier?“, gab Reuchlin prompt zurück.

„Das ist ja wohl was anderes!“, schnappte Paula sofort.

„Ach ja? Wieso?“, fragte Sophie nun doch.

„Sind Sie auch von der Polizei?“

„Nein. Ich bin Sophie Rauch.“

„Kenn ich nicht.“

„Paula, sei nicht so muffig. Frau Rauch und ihre Schwester sind meine Gäste, Friederike Rauch ist meine Studentin.“

„Ach was! Und was geht es die dann an, warum ich hier wohne?“

„Vielleicht hätte sie es nur interessiert – hast du nicht eben von einer Siffbude gesprochen? Du könntest dir doch echt was Eigenes nach deinem Geschmack suchen.“

„Ach – und das Feld den anderen beiden überlassen? Okay, jetzt ist es bloß noch eine.“

„Ganz schön kaltschnäuzig“, kam es von Frau Kramer, die dann den Kopf hob und Paula böse angrinste. „Ich bin von der Polizei. Ich darf das. Und was Sie so von sich geben, bringt einen ja doch zum Nachdenken.“

„Wieso? Das hier ist unser gemeinsames Elternhaus, also habe ich ein Recht, hier zu sein. Nicht nur die beiden Loser. Die wohnen hier für lau und ich zahle irgendwo mordsmäßig Miete? Fällt mir gar nicht ein.“

Frau Kramer nieste heftig und warf dem grauen Kater einen bösen Blick zu.

„Dann könntest du ja auch mal aufräumen, wenn du dich schon über die Siffbude aufregen musst“, schnauzte Raben seine Schwester an.

„Ich? Wieso ich? Die anderen machen hier doch auch nichts. Putz du doch!“

„Ich führe hier doch kein Hotel für euch!“

„Könnten Sie Ihre Streitereien vielleicht aufschieben, bis wir mit dieser Befragung fertig sind?“ Reuchlin wurde allmählich hörbar ärgerlich.

Sophie gab ihm im Stillen Recht – ganz schön kindisch für Leute in den Dreißigern (oder doch fast).

„Also, wissen Sie, welche Drogen Ihr Bruder genommen hat?“

Desinteressiertes Achselzucken. „So rosa Dinger, glaube ich. Er hat mal eins in der Hand gehabt und überlegt, wie die Katzen wohl reagieren, wenn er denen was davon gibt.“

„Was? Stell dir vor, wenn Conny das mitgekriegt hätte, die hätte ihn ungespitzt in den Boden gerammt!“ Raben war ehrlich entsetzt.

„Er hat´s ja nicht gemacht. Wahrscheinlich ist ihm eingefallen, dass die Dinger nicht so billig sind. Hat er sie sich lieber selber reingepfiffen.“

„Wie hat er seine Sucht wohl finanziert?“ Reuchlin ließ nicht locker.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er geklaut.“

„Paula!“

„Na, was denn? Gearbeitet hat er nicht, irgendwo muss er seine rosa Dinger, sein Gras und alles andere doch hergekriegt haben. Also? Vermisst du nichts?“

„Woher soll ich das wissen? Im Arbeitszimmer fehlt nichts, glaube ich.“

„Und woanders? Wo du nicht abschließen kannst?“

Raben zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Aber hier gibt´s doch nichts, was irgendwie von Wert wäre.“

Das Haus eingeschlossen, dachte Sophie, die jetzt liebend gerne zu Hause gewesen wäre. Mensch Fritzi, da hast du uns ja was eingebrockt

„Ich sperr jedenfalls mein Zimmer ab. Meinen Kram möchte ich gerne behalten“, insistierte Paula und warf einen giftigen Blick in die Runde.

„Wen verdächtigen Sie denn noch des Diebstahls?“, fragte Reuchlin, sichtlich erheitert.

„Weiß man´s?“ Sie ließ ihren Blick auf Sophie und Fritzi ruhen. Sophie grinste sie böse an, und Raben empfahl seiner Schwester, sich nicht noch lächerlicher zu machen als unbedingt nötig.

Sie wollte daraufhin gerade aufstehen, um beleidigt hinauszurauschen, als die Tür aufflog und eine eher pummelige Frau in Jeans, Kapuzenshirt und Gummistiefeln auf der Schwelle stand, in der Hand einen Katzenkorb, der von innen hörbar einer Zerreißprobe ausgesetzt wurde.

„Ja doch, Tatzi!“ Die Stimme war mit Paulas identisch. Conny – um sie musste es sich handeln, folgerte Sophie – bückte sich, öffnete das Gittertürchen und heraus schoss eine magere rötliche Katze und galoppierte quer durchs Zimmer.

Es gab einen gewaltigen Schlag und Fritzi kreischte auf, als ihr eine Tasse, in der sich ein Rest tagealter Milchkaffee befunden hatte, aufs Bein fiel.

„Conny!“

„Was denn? Ich kann doch Tatzi nicht ewig im Korb lassen!“

„Dann pass doch wenigstens auf das graue Untier auf“, murrte Raben. Reuchlin ließ seine Blicke hin und her wandern und schien zu überlegen, ob diese Familie echt sein konnte. Sophie war sich da selbst nicht ganz sicher, während sie ihrer Schwester ein Reinigungstuch in die Hand drückte.

„So empfindlich?“, höhnte Conny sofort.

Auch nicht sympathischer als die andere Zicke, dachte Sophie.

„Was heißt hier empfindlich?“, fauchte Fritzi. „Der uralte Siff aus dieser dreckigen Tasse stinkt zum Gotterbarmen! Die Jeans kann ich wegwerfen, da kommt einem ja das Kotzen!“

Hui, jetzt war sie aber sauer, registrierte Sophie. Fehlte bloß noch das du verdammte Drecksschlampe, du. Sie wusste, wie Fritzi redete, wenn sie – selten genug – ausrastete.

„Friederike, ich zahle Ihnen natürlich eine neue Jeans“, bot Raben an, der sich unübersehbar für seine Schwestern schämte.

„Wieso, Sie können doch nichts dafür?“, wehrte Fritzi ab. „Ich kann mir schon selbst eine neue Hose leisten, aber ich finde, Ihre Schwester könnte sich wenigstens entschuldigen.“

„Das ist ja alles sehr unterhaltsam“, verlor auch Reuchlin wieder einmal die Geduld, „aber eigentlich sind wir hier, um Sie alle zum Tod Ihres Bruders zu befragen. Und da sind diese Zänkereien nur bedingt aufschlussreich. Vielleicht lassen Sie, Frau von Raben, die beiden Katzen mal hinaus, damit hier Ruhe einkehrt. Frau Rauch, Sie waschen den Fleck am besten gleich aus. Vielleicht zeigen Sie ihr ein Badezimmer, Frau von Raben?“

Keine Reaktion bei den beiden möglichen Adressatinnen. Raben erhob sich. „Ich entschuldige mich für die fehlende Kinderstube meiner Schwestern. Kommen Sie, Friederike!“

„Wieso Tod?“, erwachte Conny nun wieder zum Leben. „Ludwig?“

„Auch schon gemerkt?“, fauchte Paula sie an. „Überdosis, was denkst du denn!“

„Noch ist die Todesursache nicht hinreichend untersucht“, wandte Reuchlin ein. „Es könnte sich auch um Fremdverschulden handeln. Sie haben nicht zufällig eine Idee, wer etwas gegen ihren Bruder gehabt haben könnte?“

„Hab ich doch schon gesagt“, maulte Paula und schob den stinkenden Aschenbecher von sich weg.

„Ich habe ihre Schwester gefragt.“

Conny schaute erschrocken. „Was, ich? Wieso?“

„Wieso nicht? Die anderen haben wir schließlich auch gefragt.“

„Nö, keine Ahnung. Was weiß denn ich… einer seiner Junkie-Kumpels?“

„Haben Sie da Namen?“

„Nö, so eng waren wir nicht. Ich weiß aber, dass er sich öfter mal an dieser Hütte am Prinzenpark herumgetrieben hat, wo die ganzen Drogenopfer immer rumhängen. Süchtiges Pack.“

„Na, und du?“, spottete Paula. „Als ob du nicht süchtig wärst!“

„Ach?“ Reuchlin musterte die beiden aufmerksam, und Katrin Kramers Stift huschte wie besessen über ihr Tablet. Fritzi und Raben kamen zurück, Fritzis Hose war nun nass, aber wohl nicht sauberer.

„Was für ein Quatsch! Wonach sollte ich denn süchtig sein? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich esse keine widerlichen Hamburger wie Teresa.“

„Du musst doch immer neue Katzenviecher anschleppen! Die reinste Catlady!“

„Quatsch, das sind doch bloß acht, und alle haben ein tragisches Schicksal hinter sich. Dass du da kein Mitleid hast?“

„Ich habe Mitleid mit mir! Schließlich muss ich in diesem Gestank hier hausen, alles ist voller Katzenhaare…“

Katrin Kramer nieste zur Bestätigung.

„Allergien sind pure Einbildung“, behauptete Conny sofort.

„Apropos Gestank“, wagte Sophie sich wieder einmal vor, „wer raucht denn hier eigentlich?“

Conny schenkte ihr einen Was hast du denn hier mitzuquatschen – Blick und antwortete: „Na, Ludwig. Sonst keiner. Stimmt, dann kann das Drecksding jetzt ja weg?“

„Moment!“, schritt Reuchlin ein. „Nicht anfassen – den soll die Spurensicherung mal mitnehmen. Dann sind Sie ihn schließlich auch los, oder?“

Schulterzucken links, Schulterzucken rechts. Der geplagte Bruder nickte desinteressiert. Katrin Kramer ging zur Tür und rief nach draußen. Eine weißgekleidete Gestalt kam und tütete den vollen Aschenbecher mit angeekeltem Gesicht ein.

„Danke. Schaut euch mal im Zimmer des Toten um. Hier direkt drüber, oder?“

Raben nickte wieder.

„Muss offen sein“, erläuterte Conny. „Ludwig hat nie abgesperrt, da gab´s ja wohl auch nichts zu holen. Und in den Siff wollte eh keiner rein…“

Die Nachrufe der liebenden Geschwister waren eindeutig suboptimal, fand Sophie. Fritzi, die immer noch mürrisch an ihren nassen Jeans herumzog, hatte sich offenbar längst ausgeklinkt. Ob die Verehrung für den tollen Dozenten nach dem ersten gründlichen Blick auf Bruchbude und unangenehme Schwestern dahin war?

Der Weißgekleidete verschwand wieder und erteilte draußen Anweisungen.

„Du mit deinen räudigen Viechern!“, knüpfte Paula an den alten Streit mit Conny an. Das schien ein Dauerthema zwischen den beiden zu sein.

„Ich setze mich wenigstens für Mitgeschöpfe ein!“

„Mitgeschöpfe…! Sei nicht so pathetisch!“

„Egoistische Kuh. Und um Tierschutz kümmerst du dich ja wohl gar nicht. Denkst nur an dich“, murrte Conny zurück.

„Das haben Egoisten so an sich“, konnte sich Fritzi nicht verkneifen.

„Schnauze!“ Im Chor! Seltene Einmütigkeit von Paula und Conny - Sophie verbiss sich ein Kichern.

„Du bist genauso abgedreht wie Ludwig“, pöbelte Paula aber sofort weiter.

„Na, und du? Gefühlloses Luder!“

„Ihr haltet jetzt endlich die Klappe, es sei denn, der Kommissar fragt euch was!“, fuhr Raben seine Schwestern an. „Heute seid ihr noch peinlicher als sonst. Wisst ihr jetzt noch irgendwas über Ludwigs Kontakte, Freunde, Feinde oder sonst etwas?“

Nein, taten sie nicht. Sie setzten ein betont desinteressiertes Gesicht auf. Raben seufzte.

„Ich brauch Geld“, sagte Conny schließlich.

„Hab ich nicht gesagt, nur, wenn ihr etwas Sinnvolles beizutragen habt?“ Raben wurde langsam laut, aber seine Schwester beeindruckte das nicht. „Das ist sinnvoll! Für den Tierarzt. Tatzi hatte doch die entzündete Pfote. Hundertachtzig Euro.“ Sie hielt fordernd die Hand auf.

„Wieso soll Benedikt für deine Mistviecher zahlen?“, fuhr Paula auf.

Sophie reichte es jetzt; sie stand auf. „Wenn die Polizei nichts dagegen hat, würden Fritzi und ich gerne gehen. Ihre Familienzänkereien gehen uns schließlich nichts an.“

„Und ich muss schauen, ob ich die Jeans noch retten kann.“ Fritzi warf Conny einen mörderischen Blick zu.

„Mein Gott, hab dich nicht so, Prinzesschen“, murmelte die.

„Juckt es dich auch so im Handgelenk?“, fragte Fritzi ihre Schwester, nicht unbedingt leise.

Sophie lachte. „Weiß Gott.“

„Meine Damen, ich kann´s Ihnen nachfühlen, aber bezähmen Sie sich und warten Sie bitte noch einige Minuten mit dem Gehen, es könnte sein, dass wir auch an Sie noch Fragen haben.“

„Gut, aber wir haben – wie schon gesagt – diesen Ludwig nie kennengelernt. Viel helfen werden wir Ihnen also wohl nicht können.“

„Gott, die feinen Damen!“, höhnte es vom anderen Sofa.

„Ich finde, gute Manieren sind kein Luxus“, teilte Sophie den Rabenschwestern mit kühlem Lächeln mit.

„Schnepfe“, murmelte die Katzendame nicht allzu leise.

„Selber“, konterte Fritzi sofort.

„Ach? Gute Manieren, ja?“

„Gegen Provokationen ist wohl niemand gefeit“, stellte Reuchlin fest. „Meine Damen, meine Geduld ist mittlerweile auch am Ende. Entweder reißen Sie sich jetzt zusammen, oder wir nehmen Sie beide aufs Präsidium mit, damit sie mal eine Nacht lang in der Zelle zur Ruhe kommen können.“

„Das dürfen Sie gar nicht!“, fauchte Paula.

Ach? Wenn es um ihr kostbares Selbst geht, kennt sie doch ein bisschen Empathie, dachte Sophie, der Paula fast noch unsympathischer war als die zerzauste Conny. Armer Raben…

„Darf er wohl“, warf der geplagte Bruder ein. „Und ich wäre ihm echt dankbar, wenn er euch beide mal aus dem Verkehr zieht. Vielleicht könnten Sie den Schlüssel verlieren?“, wandte er sich an Reuchlin.

Der grinste ganz offen. „Das darf ich dann tatsächlich nicht. So, wir werden jetzt mitnehmen, was wir im Zimmer Ihres Bruders an Interessantem entdeckt haben. Haben Sie jetzt zum Beispiel noch eine Idee, wie Ihr Bruder seinen Drogenkonsum finanziert haben könnte?“

Conny zuckte die Achseln, Paula murmelte: „Geklaut wird er haben, hab ich doch schon gesagt.“

„Haben Sie. Aber bis jetzt ist niemandem aufgefallen, dass hier Wertgegenstände verschwunden sind. Kann – konnte – er an Ihre Konten heran?“

Raben schüttelte den Kopf, Paula fuhr auf: „Ich bin doch nicht bescheuert!“

Conny murrte: „Konto – welches Konto schon groß? Ist eh nichts drauf.“

„Wie verwalten Sie denn Ihre Finanzen?“, fragte Katrin Kramer entgeistert.

„Wieso? Ich krieg abends das Geld auf die Hand und basta. Reicht doch.“

„Aha. Könnte die Steuerfahndung interessieren…“ Katrin Kramer machte sich eine Notiz.

„Ich zahl doch von den paar Kröten nicht auch noch Steuern!“

Raben öffnete schon den Mund, aber Sophie funkelte ihn warnend an. Noch eine Diskussion über Sozialschmarotzertum und sie saßen morgen früh noch hier!

„Okay, Konten eher nicht“, resümierte Reuchlin. „Wie war Ihr Bruder denn sonst so? Gab es Feinde?“

„Blöd war er. Letzte Woche hat er Sam ein Glöckchen an den Schwanz gebunden. Der Arme ist fast verrückt geworden! Tierquälerei ist das!“

„Mein Gott, Sam ist doch dick genug, dem kann ein bisschen Sport nicht schaden“, höhnte Paula prompt. „Dir übrigens auch nicht.“

„Und da wollten Sie sich an ihm rächen, Frau Raben?“

Von Raben“, verbesserte Conny sofort.

„So viel Zeit muss sein“, konnte Sophie sich nicht verkneifen. Reuchlin gluckste und starrte Conny schnell wieder böse an.

„Na?“

„Rächen? Wieso rächen?“

„Ihn bestrafen“, schlug Katrin Kramer vor.

„Vielleicht seine Muntermacher ein bisschen präparieren?“, ergänzte Reuchlin.

Conny sah sehr überzeugend verständnislos drein. Zugegeben, Pillen mit irgendwelchen Giften zu versehen, würde ihre Fähigkeiten bestimmt übersteigen, überlegte Sophie sich. Aber vielleicht hatte sich der Kerl sich ja noch anderen Kram reingepfiffen, der leichter mit irgendetwas Unbekömmlichem zu versetzen war?

Reuchlin wandte seinen Blick von Conny ab, als zwei Weißgekleidete hereinkamen und ihm einiges zeigten. Er studierte den Kram in den diversen Beweismitteltütchen und sagte dann: „Sie hatten Recht, Frau von Raben.“

„Sag ich doch!“ – mal wieder im Chor. In Rechthaberei vereint, feixte Sophie in sich hinein.

„Er hat tatsächlich geklaut. Oder gehörte das alles hier ihm?“

Die Tütchen, die er auf dem unordentlichen Sofatisch aufreihte, enthielten ein geschmackloses Goldkreuz, zwei silberne Bilderrahmen, eine Handvoll kleiner dreieckiger hellrosa Tabletten mit einem eingekerbten X in der Mitte, ein Häufchen Tabak – oder Stärkeres -, eine altmodische, aber massiv wirkende Herrenarmbanduhr und eine Handvoll verkrumpelter Geldscheine – Fünfer, Zehner, Zwanziger, nichts Größeres.

„Papas Uhr!“, staunte Raben. „Die gehört mir – aber ich habe gar nicht gemerkt, dass sie fehlt.“

„Warum nicht?“

„Sie geht nicht. Ich müsste sie mal richten lassen, aber das vergesse ich dauernd.“

„Ist sie wertvoll?“

„Ich denke schon. Genau weiß ich es nicht. Morgen bringe ich sie hin und frage den Uhrmacher, was er meint.“

Er streckte die Hand aus, aber Reuchlin schüttelte den Kopf. „Sie könnte ein Beweismittel sein.“

„Schade drum. Naja, ich habe irgendwo ein Foto, das genügt als Erinnerung an Papas Uhr doch eigentlich auch.“

Reuchlin starrte ihn an. „Wie meinen Sie das?“

„Wieso, Sie haben doch eben gesagt, sie ist beschlagnahmt? Dann verabschiede ich mich doch besser gleich von ihr.“

„Aber das ist doch nicht von Dauer!“

„Wieso? Wenn der Fall gelöst ist, kommt sie in die Asservatenkammer, oder?“

„Und eines Tages trägt sie dann der Verwalter der Asservatenkammer selbst, was?“, warf Sophie ein. „Herr von Raben, es ist Ihrer unwürdig, alles zu glauben, was man in schlechten amerikanischen Serien über korrupte Bu- Cops sehen kann.“

„Wenn wir die Beweismittel nicht mehr brauchen, bekommen Sie sie natürlich zurück. Eine Quittung bekommen Sie auch dafür. Allerdings können Sie den Uhrmacher auch mit dem Foto um eine Einschätzung bitten.“

„Das Kreuz ist meins!“, quiekte Conny und griff nach der Tüte.

„Finger weg“, warnte Katrin Kramer. „Haben Sie eben nicht zugehört?“

„Wozu?“

Ja, wozu. Ging ja schließlich nicht um dich, stimmt´s?, kommentierte Sophie im Stillen.

Kramer wog das Tütchen in der Hand. „Ziemlich leicht. Massives Gold ist das keinesfalls.“ Sie schaute sich den Inhalt von nahem an. „Nicht mal massives Messing. Ganz ehrlich, ein guter Juwelendieb wäre aus Ihrem Bruder auch nicht mehr geworden. Kein Blick für echte Werte.“

„Was soll das heißen?“, fragte Conny.

Paula quiekte hämisch. „Dass es Plunder ist! Kein Wunder, Tante Adelheid war doch immer so geizig.“

„Tante Adelheid?“ Reuchlin griff nach jedem Strohhalm.

„Connys Firmpatin. Bereits verstorben“, gab Raben Auskunft. Er klang etwas schleppend, offenbar wurde er müde. Sophie konnte ihm das nachvollziehen, sie hatte jetzt wirklich keine Lust mehr. Und Fritzi blinzelte nur noch.

Reuchlin sah auf die Uhr. „Zehn durch… Wir warten ab, was die Obduktion ergibt, und die Untersuchung dieser rosa Kameraden hier, dann sehen wir weiter. Hat jemand von Ihnen vor, zu verreisen?“

Kopfschütteln.

„Gut so. Wir kommen wieder auf Sie zu. Katrin?“

Kramer klappte ihre Tablethülle zu und stand auf. „Schönen Abend noch. Äh – naja.“

Sophie gab Fritzi einen Rippenstoß. Die schoss hoch. „Endlich…! Herr Doktor, vielleicht zeigen Sie mir die alten Ausgaben lieber mal in der Uni?“ Sie sah sich beziehungsreich um.

„Tschüss dann – und herzliches Beileid, soweit das angebracht ist.“

„Ebenso“, blieb Sophie nur hinzuzufügen, dann folgten sie Reuchlin und Kramer nach draußen.

*

Kaum saßen sie im Auto, sagte Fritzi: „Ich brauch jetzt einen Schnaps. Du nicht, auf all diese Verrückten?“

„Brauchen schon – aber ich muss ja noch fahren. Okay, nehmen wir das Florian?“

Im Florian schnaufte Fritzi, sobald sie den Enzian gekippt und danach einen großen Schluck Weißbier genommen hatte. „Der arme Hund. Das ist doch eine Familie aus der Hölle!“

„Kannst du laut sagen. Aber ganz ehrlich, der ist schon auch selbst schuld daran – warum lässt er sich das gefallen? Warum wirft er die beiden Schnepfen nicht raus?“

„Schon, aber vielleicht kann er das nicht. Die haben das vielleicht alle geerbt und dann kann er sie ja nicht loswerden.“

„Dann soll er schauen, dass er selbst da rauskommt. So kann man doch nicht wohnen!“

„Wieso, das Haus ist doch eigentlich toll. Putzen müsste man es halt mal und renovieren. Das Riesending finde ich echt imposant. Wenn es gescheit hergerichtet wäre…“

„Ja, wenn… glaubst du, die übrigen drei kriegen das auf die Reihe?“

„Vier“, berichtigte Fritzi. „Da ist doch noch eine Schwester, Teresa - die Hamburger frisst?“

„Kann sein.“ Sophie trank einen Schluck Wasser. „Aber die sind doch alle komplett gestört, findest du nicht?“

„Aber sowas von! Diese Paula ist ja wohl eiskalt, und Conny genauso ichbezogen. Gut, oder katzenbezogen. Wüste Viecher.“

Sophie gluckste. „Diese arme Kramer, die hat sich ganz schön was zurechtgeniest. Alle drei irgendwie süchtig – selbstsüchtig, katzensüchtig, drogensüchtig. Was hat Raben wohl für ein Problem?“

„Harmoniesüchtig vielleicht?“

„Klingt passend, aber ich glaube, so einfach ist es nicht. Na, das kriegen wir heute Abend auch nicht mehr raus. Und in dieses fiese Haus kommen wir ja wohl im Leben nicht mehr. Nicht, wenn´s nach mir geht.“

„Och“, machte Fritzi. „Man soll nie nie sagen, nicht?“

*

Andi Reuchlin und Katrin Kramer waren nur noch kurz ins Präsidium gefahren und hatten ihre kläglichen Ergebnisse dokumentiert, dann hatte sich Katrin mit tränenden Augen nach Hause verzogen, um ein Antihistaminikum einzuwerfen, und Andi hatte beschlossen, dass er Trost brauchte, und seine Freundin überfallen.

Sie hatte freudig ihre Korrekturen im Stich gelassen, ihn in die Arme geschlossen, ihn aufs Sofa gedrückt und ihm ein Bier eingeschenkt. „Hier, das brauchst du jetzt!“

Nach einem großen Schluck seufzte er grabesschwer auf.

Katja rutschte neben ihn. „So schlimm?“

„Noch schlimmer! Ein Toter - und seine Familie. Die können nicht bei der Sache bleiben, beschimpfen sich aufs Übelste und wohnen alle noch zu Hause!“

Katja gluckste. „Komm, das kennst du doch schon! Denk mal an meine Familie! Hast du damals auch gedacht Diese entsetzlichen Herzbergers?“

„Quatsch. Nur Raphael und Nick waren schrecklich, der Rest war relativ zivilisiert. Außerdem hat eure Mutter euch doch so stark ans Haus gebunden. Bei denen jetzt gibt´s gar keine Eltern mehr, die gönnen sich bloß gegenseitig das kostenlose Wohnen nicht. Unangenehme Leute. Wieso hat einer die nicht alle umgelegt, sondern bloß den Junkie?“

Das letzte hatte er gemurmelt und fuhr erschrocken hoch: „Katja, das hast du jetzt nicht gehört!“

„Wieso, was hast du denn gesagt? Du redest doch nie über deine Fälle, oder? Komm, trink aus und komm ins Bett.“

Er lächelte breit. „Was für schöne Worte…!“

Eine schwierige Familie

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