Читать книгу Eine schwierige Familie - Elisa Scheer - Страница 3
19. August 2014
ОглавлениеAm nächsten Morgen hatte Andi alle Fakten noch besser auf der großen Tafel verteilt (schön, dass das – zumindest manches – mit leichten Wischbewegungen zu arrangieren war) und stand nun ratlos davor.
Wer hatte ein Motiv, Ludwig von Raben (wie sehr Cornelia, diese verwahrloste Person, auf dem von beharrt hatte! Kurz vor der Pennerexistenz, aber adelig – naja, wer´s brauchte…) umzubringen?
Eigentlich wohl alle.
Ohne ihn gab es nur noch drei Bewohner dieses riesigen vergammelten Hauses. Vielleicht konnten die sich ja auch auf einen Verkauf einigen. Obwohl, wer würde die Hütte schon haben wollen…
Es würde nur noch nach Katzen stinken und nicht mehr nach alten Kippen. Der große Bruder hatte nur noch zwei Versager durchzufüttern. Obwohl, diese Paula hatte doch einen vernünftigen Abschluss und sogar einen Job, die blieb wohl nur aus Neid dort wohnen. Die Catlady würde nie wieder etwas finden, das so billig war und einen so großen Garten hatte. Den Bruder geliebt hatten sie beide nicht. Außerdem hatte er sie beklaut, aber das war ihnen bis gestern wohl gar nicht aufgefallen.
Ludwig als Junkie… Ärger um Drogenkosten? Drogenbeschaffung?
Hatte der eine Freundin gehabt? Gab es da vielleicht Ärger? Wer konnte das wissen? Die desinteressierte Familie ja wohl nicht. Die beiden Gäste wären bessere Zeuginnen, überlegte er, leider aber wussten die praktisch nichts.
Er starrte noch frustriert auf die Tafel, fand aber keine Verbesserungsmöglichkeiten mehr, als die Tür aufging.
„Morgen!“
Er erwiderte den Gruß von Katrin und Liz.
„Wie geht´s der Allergie?“
„Schon besser. Normalerweise bin ich gar nicht so empfindlich, aber die Kombination aus acht Katzen und keinem Staubsauger ist schon ziemlich tödlich.“
„Ui, Katzen? Ich liebe Katzen!“
„Diese nicht, Liz“, antwortete Andi sofort. „Räudig und so unfreundlich wie ihre Besitzerin.“
„Aber Andi!“, tadelte Katrin sofort. „Besitzerin? Kann man ein Mitgeschöpf denn besitzen? Sind Katzen nicht sowieso die besseren Menschen?“
„Oh… danke für die Warnung, ich hätte ja bei der Catlady sonst komplett verschissen.“
„Und nichts könnte dir gleichgültiger sein, stimmt´s?“
Ani lachte. „Ich fürchte, da hast du Recht. Mir waren die Angehörigen eines Mordopfers – wenn es denn Mord war – noch selten so unsympathisch.“
„Kannst du laut sagen“, schnaubte Katrin, die die Mitschriften, die sie gestern noch auf den Bürorechner gespielt hatte, gerade ausformulierte und die Tippfehler ausbesserte. „Ich dachte echt, ich hau einer der beiden gleich eine rein. Ich wusste nur nicht, welcher zuerst. Na, und der Bruder… ein Weichei erster Güte. Konnte der den beiden nicht mal eins aufs Maul geben?“
Liz Zimmerl gluckste. „Katrin, welch derbe Sprache!“
„Pass auf, wenn Andi das nächste Mal hinmuss, gehst du mit. Du liebst ja Katzen, vielleicht kommst du sogar mit den beiden Quadratschnepfen zurecht.“
„Gute Idee“, fand Andi, „dann kannst du nochmal die beiden Rauchs befragen, Katrin. Vielleicht ist aus denen ja noch mehr herauszuholen, wenn sie nicht dauernd unterbrochen und angeschnauzt werden.“
„Mach ich. Obwohl, ich glaube nicht, dass die beiden sich die Butter vom Brot nehmen lassen. Die hatten irgendwann einfach keine Lust mehr, mit diesen dämlichen – ja, schon gut.“
„Gut, du gehst zu den beiden… ach, um die Zeit werden die wohl arbeiten, probier´s am Arbeitsplatz. Sophie Rauch arbeitet bei Restorff Consulting in der Fuggergasse, die jüngere, Friederike, studiert noch und dürfte an der Uni schwer zu erreichen sein. Obwohl, jetzt sind Semesterferien… vielleicht Bibliothek – oder sie ist zu Hause…“
Katrin bedankte sich leicht ironisch.
„Ja, klar, das weißt du alles selbst, sorry. Ich schau, dass ich noch Patrick kriege, der soll die alle mal im Netz durchfieseln.“
„Anne und Joe werden sich freuen“, merkte Liz halblaut an. „Wo wohnen diese Rabens jetzt gleich wieder genau?“
Sie trat an die Tafel. „Gibt´s da keine Karte?“
Andi rief die Karte auf. „Hier. Knapp oberhalb der Leiß. Nein… etwas weiter östlich, denke ich.“
„Kurz vor der Autobahn?“
„Nein, das eigentlich auch nicht. Man fährt da einen ganz schönen Umweg, wenn man diesen besseren Feldweg neben der Autobahn nimmt, aber anders kommt man da nicht rüber.“
„Da fehlt eindeutig eine Brücke“, fand Liz, die Karte kritisch beäugend.
„Quatsch“, wandte Katrin ein, „wozu denn? Da wohnt doch keine Sau, bloß diese eine Familie. Warum sollte man für die noch Steuergelder verschwenden.“
„Echt? Sonst ist da nichts?“
Andi nickte. „Nur Pampa. Ein großes verwildertes Grundstück und ein großes vergammeltes Haus.“
„In dem es stinkt. Nach Katzenklo und einem überquellenden Aschenbecher.“
„Na, den haben wir ja der KTU geschenkt“, begütigte Andi.
„Das wollte ich dich eh fragen – wozu? Die DNA von Ludwig können wir doch auch aus der Leiche gewinnen?“
„Schon – aber vielleicht finden wir noch andere DNA – es könnte doch sein, dass Ludwig mal ein paar Kifferkumpel eingeladen hat. Die wiederum könnten uns möglicherweise weiterhelfen.“
„Danke“, sagte Katrin artig und wandte sich wieder ihrem Rechner zu.
Andi sah auf die Uhr. „Halb neun. Das Katzenweib könnte vor Ort sein, die arbeitet doch so gut wie nichts. Die kalte Paula finden wir bei der Versicherung und der Bruder müsste ja wohl ein Büro bei den Germanisten haben. Ein Privatdozent ist schließlich nichts ganz so Popliges. Und diese Junkies nehmen wir uns als Letztes vor, die schlafen bestimmt länger. Also, Liz, machen wir uns auf den Weg!“
*
Im Rabenhaus machte überhaupt niemand auf.
„Vielleicht steckt die Gute ja im Kratzbaum“, überlegte Andi ohne viel Überzeugungskraft und klingelte noch einmal, dieses Mal länger. Man hörte in der Ferne ein blechernes Glöckchen anschlagen.
„Alles sehr neuzeitlich“, kommentierte Liz und sah an der grauen Fassade nach oben. „Fenster sind offen, dann muss doch jemand da sein?“
„Glaubst du, die machen die Fenster zu, wenn sie weggehen? Die haben doch nicht mal gemerkt, dass der Junkie Ludwig sie beklaut hat!“
„Ach, so reich?“
„Nö, so unordentlich“, äffte Andi sie nach. „Ob sie reich sind, weiß ich gar nicht. Das soll Patrick ja mal rauskriegen.“
Er klingelte noch einmal, aber dieses Mal ließ er den Finger auf dem Knopf, bis das Glöckchen im Inneren vor lauter Dauerklingeln kollabierte.
„Jetzt hast es hing‘macht“, feixte Liz.
„So volkstümlich? Die sollen froh sein, wenn ich hier nicht mehr kaputtmache. Ach -!“
Aus dem Fenster ganz oben schaute ein zerzauster Kopf heraus. „Was soll denn der Lärm mitten in der Nacht?“
„Kripo!“, rief Andi nach oben. „Machen Sie auf, Frau von Raben!“
„Was, jetzt?“
„Ja, jetzt!“
Mit einem Grunzlaut verschwand der Kopf vom Fenster. Es dauerte etwas, dann hörte man es drinnen trampeln und die Tür wurde schließlich geöffnet. Eine rote, eine schwarze und eine graubraun getigerte Katze schossen an Andi und Liz vorbei nach draußen.
„Süß“, sagte Liz und erntete eine Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte.
„Liz Zimmerl“, stellte sie sich der Grimasse vor. „Meinen Kollegen Reuchlin kennen Sie ja schon von gestern. Herzliches Beileid auch von mir.“
Conny Raben schnaufte und drehte sich um, um ins Wohnzimmer zu trotten.
„Könnte mal einen frischen Schlafanzug rauskramen“, murmelte Liz knapp außer Hörweite, als sie ihr folgten. „Das Ding müffelt bis hierher.“
„Ich dachte, du wolltest den guten Cop geben?“, tuschelte Andi zurück.
„Nur wenn sie mich auch hören kann.“ Liz fixierte das pummelige Hinterteil in angeschmuddeltem grauem Baumwollstoff mit Abneigung und sah sich, sobald sie das Wohnzimmer betreten hatte, kritisch um. Dann musterte sie Conny Raben streng, was auf diese leider gar keinen Eindruck machte.
„Wir haben noch einige Fragen“, begann sie dann und zog das Dienst-Tablet heraus.
„Ach was.“ Conny zog ein verknautschtes Sofakissen zu sich heran, legte es auf ihren Schoß und begann, mit den verfilzten Troddeln zu spielen. „Was denn noch? Ludwig war drogensüchtig und hat geklaut, aber wir hatten uns längst mit ihm abgefunden, also wozu hätten wir ihm was tun sollen?“
„Hatte Ihr Bruder eine Freundin?“
„Ludwig? Glaub ich nicht. So ein Zauberschatz war er nun wirklich nicht. Mitgebracht hat er jedenfalls nie jemanden. Oder wir haben es nicht gemerkt. Hier ist ziemlich viel Platz.“
„Das scheint mir auch so“, kommentierte Liz höflich. „Haben Sie denn einen Freund?“
„Das ist ja wohl meine Sache!“
„Wenn es um einen Mord geht, interessieren wir uns für alles – notgedrungen. Also?“
„Nö. Wann denn auch? Ich muss schließlich arbeiten, um die Katzen zu ernähren. Sonst fühlt sich hier ja keiner verantwortlich!“
„Ach ja – im Kratzbaum, nicht? Vollzeit?“
„Was – wieso? Naja, nicht ganz.“
„Nun, dann bliebe Ihnen doch sicher noch Zeit, mit den Katzen zu spielen und eventuell einen Freund zu haben – hat Ihre Schwester eine Beziehung?“
„Die - ?“ Im Ton abgrundtiefer Verachtung. „Sicher nicht!“
„Sie mögen Ihre Schwester nicht besonders?“ Liz gelang es, Teilnahme in ihre Stimme zu legen. Dafür konnte Reuchlin, der rund um das Zimmer wanderte und nach Indizien – wofür auch immer – suchte, sie nur bewundern.
„Paula kann man nicht mögen. Die ist eiskalt. Kennt nur ihren Vorteil. Wehe, einer kriegt was, dann will sie sofort mindestens das Gleiche, wenn nicht das Doppelte. Die verdient total klotzig, aber sie wohnt immer noch hier, weil sie es uns nicht gönnt, dass wir hier umsonst wohnen. Immerhin ist das doch unser Elternhaus!“
Liz nickte und notierte sich das, dann sah sie wieder voller Interesse auf. „Ihre Eltern leben nicht mehr?“
„Nein. Seit zehn Jahren. Seitdem ist Benedikt hier für alles zuständig.“
„Für alles? Ich meine, erziehen muss er Sie alle ja nun schon länger nicht mehr, oder?“
„Trotzdem. Naja, er kümmert sich ums Haus, warum auch nicht? Ich hab mit den Katzen genug zu tun, sonst kümmert sich ja keiner.“
„Ach, die Katzen gehören sozusagen zur ganzen Familie?“ Liz schaute betont harmlos drein.
„Quatsch, nur zu mir natürlich. Ich liebe meine Katzen, die sind meine wahre Familie. Jede hat ihren ganz eigenen Charakter. Viel eigenständiger als Menschen – und sie leben auch schön friedlich zusammen. Nicht so aggressiv wie blöde Zweibeiner…“
Durch die offene Flurtür trat der dicke graue Kater ein, vom Garten kam ein weißer mit getigerten Flecken und einem eingerissenen Ohr. Sie musterten sich kurz, gingen in Lauerstellung und sprangen dann aufeinander los. Unter wüstem Gekreische rauften sie, bis der weiße Kater murrend davonhinkte.
„Ja, wie Sie sagen“, kommentierte Liz. „Der Graue ist wohl der Chef hier?“
„Sam? Ja, Nick ist selbst schuld, wenn er das nicht akzeptieren kann. Unter Katzen gibt es ganz klare Strukturen.“
Der Frau war nicht beizukommen, die würde es noch als kätzische Überlegenheit verkaufen, wenn sich zwei gegenseitig umbrachten!
„Also muss sich Ihr Bruder um alles kümmern“, griff Andi das Gespräch wieder auf, weil Liz offenbar wegen der Katzen etwas den Faden verloren hatte.
„Aber dieses Haus hier gehört doch Ihnen gemeinsam?“, übernahm Liz wieder.
„Ja doch, warum? Wäre ja auch noch schöner, wenn nicht – schließlich ist es unser Elternhaus!“
„Ich meine nur – warum muss sich Ihr Bruder dann um alles alleine kümmern?“
„Warum nicht? Ich mach hier doch nichts, solange Paula, die faule Kuh, sich um nichts kümmert! Seh ich gar nicht ein.“
Andi seufzte – hatten sie sie jetzt wieder auf dieses Gleis gesetzt? „Die Frage, wer hier was tut oder nicht tut, ist jetzt wohl zweitrangig. Was glauben Sie, wer Ihren Bruder umgebracht hat?“
„Keine Ahnung. Von uns war´s bestimmt keiner, wozu auch. Irgendwelche Junkies… vielleicht hat er seinen Dealer nicht bezahlt oder so was.“
„Der kriegt sein Geld ja auch nicht, wenn er ihn umbringt. Und erschlagen wurde Ihr Bruder schließlich nicht.“
„Mei… ich weiß es auch nicht.“
Andi Reuchlin gab Liz ein Zeichen, die bedankte sich artig und verabschiedete sich.
„Totalausfall“ murrte sie draußen. „Außer, dass die alle tierisch neidisch aufeinander sind, hab ich nichts erfahren. Jetzt die andere Schwester?“
„Versuchen wir´s. Diese Versicherung ist in der MiniCity. Wahrscheinlich regt sich Paula Raben bloß furchtbar auf, dass wir sie vor der Firma blamieren, und weiß auch nichts, aber nachfragen sollten wir schon noch mal.“
Die Union hatte ihre Eingangshalle interessant gestaltet, mit moderner Kunst und Hinweisen auf Vortragsreihen; Reuchlin und Zimmerl sahen sich um, während die Dame am Empfang eruierte, in welcher Abteilung Paula Raben arbeitete.
„Auf jeden Fall nicht in einem Team“, murmelte Andi und merkte sich einen Vortrag vor, der ihn interessierte, „die Frau ist völlig empathiefrei. Der reinste Nerd.“
„Eher Autistin“, vermutete Liz, „wenn deine Beschreibung zutrifft. Ich bin schon gespannt.“
„Hören Sie? Frau von Raben arbeitet in der Analyse – das ist im dritten Stock, Zimmer 304. Dort hinten ist der Aufzug.“
Andi und Liz bedankten sich und fuhren nach oben.
„Dreinullvier“, murmelte Liz, „hier!“
Andi stieß die Tür auf. „Frau von Raben?“
Hinter einer Reihe PCs spähte Paula von Raben hervor. „Ja – ach du Schande, was wollen Sie denn hier?“
„Wir haben noch Fragen. Das können Sie sich doch wohl denken! Können wir uns hier irgendwo in Ruhe unterhalten?“
Sie sah Andi unentschlossen an. „Na, im Moment ist niemand hier… schießen Sie los. Ich möchte nicht, dass meine Kollegen das mitkriegen.“
„Wieso? Sie können doch nichts für Ihre Familie?“, erkundigte sich Liz freundlich-besorgt. Andi überlegte, ob er sich ärgern sollte, dass er immer der böse Cop sein musste – aber eigentlich hatte er damit angefangen, weil er die Raben angeraunzt hatte.
„Na, peinlich sind die schon, ein Junkie, eine Catlady, diese Bruchbude…“
„Wenn Ihnen das so peinlich ist, könnten Sie doch ausziehen? Sie verdienen hier doch bestimmt genug, um sich die Miete einer vernünftigen Wohnung leisten zu können?“
„Klar könnte ich – aber ich habe doch das Recht, dort zu wohnen!“ Sie seufzte. „Die anderen leider auch…“
„Na, einer ist ja jetzt schon weg“, tröstete Liz mit falscher Munterkeit.
„Ja, stimmt… halt, nein, soll das heißen, Sie denken, dass ich -?“
„Weiß man´s?“
„Ich war doch gar nicht da! Ich war in der Arbeit, da können Sie jeden hier fragen!“
Andi sah sich interessiert um. „Jeden? Wen?“
„Sonst sind hier noch zwei Kollegen. Auch Statistiker.“
„Aber wenn die öfter mal nicht da sind, ist dieses Alibi auch nicht so besonders“, kritisierte Andi.
„Gestern waren die aber da.“
„Wenn schon“, kommentierte Liz, „Ihr Bruder wurde ja nicht erschlagen. Sollte zum Beispiel sein Stoff etwas Unbekömmliches enthalten haben, sind Alibis völlig wertlos. Das kann ja dann sonstwann passiert sein.“
„Etwas Unbekömmliches?“
„Zum Beispiel irgendein Gift in seinen Drogen?“
„In diesen rosa Pillen? Da kann man Gift reintun? Wie denn?“
„Oder in sein Gras. Oder vielleicht hat er irgendwo noch ein bisschen Koks gehabt, da kann man leicht was reinmischen. Wir kriegen das schon raus, keine Sorge.“
„Von mir aus. Ich war´s jedenfalls nicht.“
„Aber ein Motiv hätten Sie durchaus. Also behalten wir Sie im Auge. Was hat Ludwig Ihnen eigentlich geklaut?“
„Mir? Bloß die zwei Bilderrahmen. Aber Ludwig ist – war – wirklich ein Trottel – die sind doch gar nichts wert. Höchstens versilbert. Ihre Kollegin gestern hatte Recht, zum Dieb hat´s bei ihm auch nicht gereicht. Wie kann ich Ihnen denn noch weiterhelfen? Ich müsste da nämlich weitermachen, das ist eine Terminsache…“
„Ich glaube, das war´s vorläufig. Vielen Dank.“
Draußen fand Andi: „Wenn man sie alleine hat, hat sie zwar auch keinen besonderen Charme, aber so schlimm wie gestern war sie jetzt nicht.“
„Stimmt“, meinte Liz, „aber ein Motiv hätte sie. Ich glaube, sie wäre ihre lästigen Geschwister gerne los. Und jetzt? Den Bruder?“
„Ja. Danach schauen wir mal, ob Toxikologie und Obduktion schon etwas ergeben haben, und dann nehmen wir uns diese Hütte am Prinzenpark vor.“
Tatsächlich hatte Raben in der germanistischen Fakultät ein eigenes Büro, das allerdings offenbar aus den Beständen der Caritas möbliert worden war. Er begrüßte seine Besucher etwas müde, verabschiedete einen Studenten, der Probleme mit seiner Seminararbeit zu haben schien, und bot Andi und Liz die ältlichen Sessel an.
Liz sah sich um. Vergleichsweise ordentlich und sauber, wenn auch schäbig. Der Siff zu Hause war also wohl nicht auf ihn zurückzuführen.
„Haben Sie denn schon irgendetwas herausgefunden?“, wollte Raben sofort wissen.
„So weit sind wir leider noch nicht. Noch sammeln wir Fakten… und gestern sind wir ja leider nicht allzu weit gekommen.“
Raben ließ den Kopf hängen. „Oh ja, ich weiß. Meine Schwestern… wir sind eine schreckliche Familie, ich muss mich auch noch bei Friederike Rauch und ihrer Schwester entschuldigen - die waren eindeutig befremdet, von den zänkischen Schwestern, dem unordentlichen Haus und den schrecklichen Katzen.“ Er seufzte.
„Och“, meinte Liz, „ich habe gehört, Haus und Grund sind nicht gerade winzig – da müssten sich acht Katzen doch einigermaßen verteilen? Um nicht zu sagen, im Gelände verlieren?“
„Theoretisch, aber meine Schwester Cornelia hält sie gerne im Haus, um sich als große Tierfreundin geben zu können.“ Er grinste etwas bitter. „So kann sie jedem, der keine Tiere durchfüttert oder der Gott behüte Fleisch isst, ein schlechtes Gewissen einreden. Ihre Hauptbeschäftigung. Soll ich Ihnen etwas verraten?“
Andi und Liz nickten eifrig.
„Ich würde das ganze Anwesen am liebsten verkaufen, nur will es zum einen keiner haben, weil es so völlig abgelegen ist, und zum anderen würden meine Geschwister nicht zustimmen.“
„Hängen die denn so am Haus?“
„Glaube ich nicht, aber schauen Sie, wo sollte Conny zum Beispiel hin? Mit den acht Untieren? Der vermietet doch keiner eine Wohnung! Ludwig, immer leicht im Tran, ohne festes Einkommen – und ein Fünftel vom Erlös dieses Grundstücks hätte ihm bestimmt nicht zu einer anständigen Eigentumswohnung verholfen, abzahlen ohne Gehalt wäre auch nicht drin gewesen… Höchstens Paula hätte sich von ihrem Anteil eine Wohnung irgendwo kaufen können, wo man nicht völlig in the middle of nowhere sitzt. Nein, die Bruchbude und meine Geschwister sind mein Schicksal, da muss ich jetzt wohl durch.“
Liz legte den Kopf schief. „Aber dann hätten Sie ja direkt ein Motiv?“
„Was?“
„Nun, Ludwig ist tot. Dann haben Sie bloß noch ein Sorgenkind an der Backe – Cornelia mit den acht Katzen.“
„So gesehen haben Sie wohl Recht – aber ich war´s nicht. Ich habe mich an mein Kreuz schon so gewöhnt… auf die Idee wäre ich wohl gar nicht mehr gekommen. Scheiße!“
„Na, Herr Doktor!“, konnte Andi Reuchlin sich nicht verkneifen. „Akademische Sprache geht aber anders.“
Raben grinste verkniffen. „Der Mörder hat mich auf eine Idee gebracht, und das will ich nicht.“
„Oh, oh“, machte Liz. „Sie haben sich überlegt, wenn jetzt noch jemand Cornelia und die Katzen aus dem Weg räumte, könnten Sie das Haus in den Wind schießen?“
„Der Gedanke hat sich etwas aufgedrängt“, gab Raben zu. „Und natürlich schämt man sich sofort. Jetzt kann ich nur hoffen, dass Cornelia hundert wird und zwanzig Katzen durchfüttert.“
„Ludwig hat nichts gearbeitet?“, lenkte Andi von der Gewissenserforschung ab.
„Nein. Er hat im Moment – was gleich wieder? – studiert… VWL und Kommunikationswissenschaften waren ja schon wieder passé… irgendwas Exotisches… Sinologie, glaube ich. Dabei konnte er kein Wort Chinesisch – Mandarin oder Kantonesisch, nichts. Gejobbt hat er nebenbei auch nicht.“
„Dann war er viel zu Hause?“
„Nein, das heißt, das weiß ich auch nicht, ich bin ja normalerweise selbst nicht da. Ich glaube, er war wohl mit Drogenbeschaffung beschäftigt. Hm, fast schon ein Polyptoton…“
„Was?“ Liz runzelte die Stirn.
„Germanistenscherz. Eine rhetorische Figur, zwei Wörter mit dem gleichen Wortstamm… egal. Aber woher Ludwig das Geld für sein Zeug hatte, weiß ich wirklich nicht. Meinen Sie, er hat gedealt?“
Andi Reuchlin hob die Schultern. „Schwer zu sagen. Hinweise haben wir noch keine darauf, und die meisten Dealer werden sich hüten, selbst süchtig zu werden. Wir verfolgen diesen Hinweis aber natürlich weiter. Seine Diebstähle dürften ihn schließlich nicht wirklich weitergebracht zu haben. Was würden Sie sagen, seit wann Ihr Bruder Drogen genommen hat?“
Raben zuckte die Achseln. „Merkt man denn jemals, wann so etwas anfängt? Gut zehn Jahre ist das bestimmt her. Vielleicht, als er in seinem ersten Studium erkannt hat, dass er es nicht schaffen wird…“
„Flucht aus der Realität?“, fragte Liz teilnehmend.
„Ja, möglich. Wahrscheinlich hat sich Conny als ähnlichen Gründen auf diese Existenz als Katzenmama gestürzt.“
„Und Paula?“
„Was ich bei ihr falsch gemacht habe, weiß ich auch nicht.“
„Herr von Raben, ich bitte Sie! Als Sie für die Familie mehr oder weniger verantwortlich wurden, war doch Paula auch schon achtzehn. Warum sollten Sie da noch für gewisse – äh – Merkwürdigkeiten verantwortlich sein?“ Liz schien eine regelrecht mütterliche Haltung Raben gegenüber einzunehmen.
„Wie sieht es denn mit der dritten Schwester aus?“, fragte Andi, um Selbstmitleid und Selbstvorwürfen einen Riegel vorzuschieben.
„Teresa? Ach, Teresa – wenigstens sie wohnt nicht mehr im Rabenhaus. Sie hat sehr früh geheiratet und ist Mutter einer Tochter. Larissa ist mein Patenkind. Vierzehn ist sie jetzt. Ob in Teresas Familie alles gut läuft, weiß ich allerdings auch nicht…“ Er seufzte.
Damit ging er Andi ziemlich auf die Nerven, vor allem, weil Liz schon wieder so mitfühlend dreinsah. Wenn dieser Teresa etwas nicht passte, dann sollte sie es ihrem Bruder entweder deutlich sagen oder ihren Kram selbst geregelt kriegen – man konnte es mit der Fürsorge wirklich übertreiben.
„Wie hat denn Teresa auf den Tod Ihres Bruders reagiert?“, fragte Liz behutsam. Gerade, dass sie Raben nicht eine Hand auf den Unterarm legte und ihm tief in die Augen sah!
„Leider – so ähnlich wie die anderen: nicht allzu tief getroffen. Ludwig hat es einem auch nicht leicht gemacht, ihn zu mögen. Er war meistens unfreundlich, gierig, oft etwas – äh – ungepflegt und völlig ohne Interesse an anderen. Ganz ehrlich: Dass er uns beklaut hat, hat mich nur deshalb überrascht, weil es mir noch gar nicht aufgefallen war. In diesem unübersichtlichen Haus wohl auch kein Wunder.“
„Warum sorgen Sie dann nicht mal für Ordnung?“, fragte Andi – etwas taktlos, wie er selbst zugeben musste.
„Wie meinen Sie das?“ Raben wirkte gar nicht beleidigt, eher hilflos.
„Na, wie in jeder anderen WG auch: festlegen, was jeder aufräumen muss, wer sich um was zu kümmern hat, vielleicht ein bisschen renovieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese – äh – unbefriedigende Wohnsituation Schicksal sein muss.“
„Vielleicht… und Ludwig wäre ja am ehesten der gewesen, der einen solchen Plan torpediert hätte…“, dachte Raben halblaut nach.
„Überlegen Sie´s sich“, empfahl Reuchlin und nickte Liz zu.
Sie verabschiedeten sich und steuerten doch gleich den alten Kiosk am Eingang zum Prinzenpark an.
Der Inhaber war da und lugte etwas missmutig aus seinem Verschlag, während Andi und Liz sich umsahen. Auf der handbeschrifteten Tafel neben der Verlaufsluke gab es praktisch nur zwei Sorten Bier und eine Sorte Schnaps, einen billigen Kornbrand.
„Sonst führen Sie nichts?“, fragte Liz und zeigte ihren Ausweis vor.
„Wozu? Die Penner saufen doch nix anderes“, war die unwirsche Antwort.
„Sind immer die gleichen Leute hier?“
„Mehr oder weniger. Aber jetzt haben Sie da kein Glück, die schlafen noch irgendwo ihren Rausch aus. Am Nachmittag kommen dann die ersten. Meist recht junge. Die ruinieren sich ihr Leben schon ganz schön früh – und alt werden die so auch nicht.“
Reuchlin zog ein Foto von Ludwig von Raben aus der Tasche. „War der auch öfter hier?“
Flüchtiger Blick. „Klar. Der Luggi ist das. Der ist hier aber nicht so beliebt.“
„Ach, warum das denn?“ Liz machte arglos runde Augen.
„Na, weil er immer was schnorren will. Ein Bier gratis, oder gib mal die Flasche her, wer hat ne Kippe für mich. Die anderen sitzen ordentlich in der Altstadt und beschaffen sich ihr Geld und dann kaufen sie sich Kippen und was zum Trinken. Und er ist sich anscheinend zu fein, auch mal den Hut hinzuhalten. Das nehmen die anderen ihm schon übel.“
„Also wollte er nicht betteln… verflixt, wovon hat der Kerl denn eigentlich gelebt?“, überlegte Andi ärgerlich.
„Wieso eigentlich wollte?“, fiel dem Kioskbetreiber nun auf. „Ist der Luggi tot oder was?“
„Ist er. Und wir wüssten gerne, wer das gewesen sein könnte.“
„Hm…“ Der Zeuge legte sich gemütlicher auf seinem Miniaturtresen zurecht.
„Seine Familie vielleicht?“
„Eher nicht“, ging Andi auf die Diskussion ein. „Hat ihn einer von den Gästen hier ganz besonders dick gehabt?“
Trauriges Kopfschütteln. „Nein, das war bei allen ziemlich gleich. Sie haben herumgegrummelt, Da kommt der blöde Luggi wieder und schnorrt sich durch und so. Aber sie haben nie gesagt, dass sie ihm was einbläuen wollen oder so was.“
„Hm… und er hat auch immer nur gesoffen und geraucht – also, normale Kippen? Nichts anderes?“
„Was denn anderes?“ Das klang misstrauisch.
„Na, Ludwig von Raben war ein Junkie. Hat er sich hier mal was gespritzt oder was geschluckt oder geschnupft?“
„Also, bei mir gibt´s so Zeug fei nicht, gell!“
„Das glauben wir ja auch nicht“, beruhigte Liz und lächelte vertrauenerweckend. „Er könnte sich aber was mitgebracht haben, oder?“
„Jaja, das schon. Aber mir ist da nichts aufgefallen. Schnupftabak hat er manchmal gehabt, das schon…“
„Aus so einer kleinen blausilbernen Dose?“
„Nein… er hat es in einem Stück Papier mitgebracht. Nur so ein bisschen. Und nicht geniest danach. Eigentlich komisch, oder?“
„Vielleicht war das Koks“, sagte Andi zu Liz und dem Kioskbetreiber.
„Mei, glauben Sie echt? Ich will aber nicht, dass das hier so ein Rauschgifttreffpunkt wird! Hier gibt´s nur legales Zeug!“
*
„Was soll ich Ihnen denn noch groß erzählen?“, fragte Sophie und versuchte, nicht sehnsüchtig die Akte Graeser anzuschauen. Wären sie gestern doch bloß nicht Fritzis lebensuntüchtigem Dozenten begegnet! Sie könnte jetzt so schön einen Medienauftritt für Graeser entwickeln…
„Wir haben den armen Kerl und seine schrecklichen Geschwister gerade mal gestern Abend kennengelernt. Also wissen wir gar nichts. Natürlich könnte es sein, dass meine Schwester ein paar Details mehr kennt. Vielleicht hat er sich ja im Seminar mal ausgeweint… das müsste aber schon ein bisschen her sein, wir haben seit einem Monat Semesterferien…“
Katrin grinste sie an. „Ich weiß.“
„Klar, sowas vergisst man nicht…. Womit könnte ich Ihnen denn jetzt weiterhelfen?“
„Schildern Sie mir einfach nur Ihren Eindruck von den einzelnen Familienmitgliedern. Vielleicht gewinnen wir dabei doch einen neuen Aspekt. Ich zeichne das Gespräch auf, einverstanden?“
„Kein Problem.“
Sophie begann zu erzählen, hatte aber nicht das Gefühl, irgendetwas Neues beitragen zu können. Dem frustrierten Gesichtsausdruck auf der anderen Seite des Schreibtischs zufolge trog dieses Gefühl sie auch nicht.
„Das wissen Sie alles schon, gell?“, sagte sie dementsprechend am Ende.
„Stimmt. Aber manchmal hat man doch Glück und es kommt ein interessantes neues Detail dazu. Also, Paula von Raben ist Ihrer Ansicht nach vom Neid geprägt?“
„Ja. Sie findet es dort furchtbar, zieht aber nicht aus, obwohl sie es sich bestimmt leisten könnte, weil die anderen gratis dort wohnen und ihr das auch zusteht. Als hätte man ein Anrecht auf ein scheußliches Leben, bloß weil andere auch scheußlich leben! Verquere Logik.“
„Haben Sie das Gefühl, dass jemand wusste, dass Ludwig sie alle beklaut hat?“
Sophie überlegte. „Sie waren ja auch dabei… nein. Die waren zum einen ehrlich überrascht – außer Paula. Und außerdem hat er ja nur Mist geklaut, außer dieser Uhr. War die eigentlich wirklich wertvoll oder mehr von sentimentalem Wert?“
„Wissen wir noch nicht so genau. Also Paula wusste Bescheid, denken Sie?“
„Schwer zu sagen. Mir klang das eher nach generellem Stänkern. Und vielleicht dem Wunsch, mehr zu wissen als die andere. Die mögen sich schließlich nicht. Und keine kann mal mit einer Mülltüte und einem feuchten Lappen durchs Haus ziehen. Aber die Brüder haben ja auch keinen Finger gerührt… Grausig. Hoffentlich muss ich da nie wieder hin…“
Katrin Kramer sah betont unschuldig von ihrem Tablet hoch. „Mir schien allerdings, dass Herrn von Raben sehr an Ihrer guten Meinung gelegen war.“
„Großer Gott, das glaube ich nicht. Dem waren seine Schwestern doch bloß peinlich! Schauen Sie, er hat sich vielleicht ein bisschen in Fritzis Verehrung gesonnt, sie findet ja sein Seminar so toll und hat schon mal gesagt, später möchte sie vielleicht bei ihm promovieren… Da will er ihr seltene Ausgaben aus dem 18. Jahrhundert zeigen und was kriegt sie stattdessen? Eine Leiche, jede Menge Siff und zwei grässliche zänkische Weiber.“
„Hat was für sich – seltene Ausgaben? Sie meinen, so wie Briefmarkensammlung?? Ist ja putzig… ist sowas nicht verboten?“
„Quatsch. Prof. und Studentin ist nicht verboten, man kann ja bei jemand anderem Examen machen. Es hat höchstens ein Gschmäckle – aber ich war schließlich auch dabei, und ich glaube gar nicht mal, dass Fritzis Heldenverehrung eine so – naja, sagen wir – irdische Komponente vertrüge. Nein, da läuft nichts, da bin ich mir ziemlich sicher.“
„Haben Sie, als Sie dort angekommen sind, jemanden gesehen? Außer Dr. von Raben, meine ich?“
„Nein. Wie ausgestorben, das Ganze. Da draußen ist ja auch nichts los. Paula kam dann dazu, und Conny – da waren Sie ja auch schon da. Sie kam vom Tierarzt, den müsste man notfalls befragen können, oder?“
Ironisches Lächeln. Ja, das wussten die bestimmt selbst.
„Diese Paula hat ja einen Job, oder? Bei irgendeiner Versicherung… aber wovon das Katzenweib lebt… Ich glaube, die nehmen diesen Bruder alle aus. Und er ist zu schwach, sie rauszuwerfen.“
Katrin sah wieder auf. „Vielleicht kann er nicht? Wahrscheinlich ist das so eine teuflische Erbengemeinschaft.“
„Möglich. Aber wenn er auf dem Verkauf beharren würde, könnten die anderen doch nichts machen – wenn einer auf Auszahlung beharrt? Man müsste da mal einen Anwalt fragen – soll ich?“
„Warten Sie damit ruhig noch. Theoretisch könnte Dr. von Raben ja auch an dem Haus hängen. Elternhaus und so?“
„Meinen Sie? Na gut, ich bin da vielleicht etwas kaltschnäuziger. Wenn ich eine solche Bude am Hals hätte… von außen ist sie ja ganz nett, aber total runtergekommen, da lohnt sich doch die Sanierung nicht mehr. Lieber einen pflegeleichten Neubau!“
Katrin Kramer grinste. „Also, wenn Raben diese Ansicht hört, dann wird sein Interesse bestimmt nachlassen. Vielleicht sollten Sie in dieser Richtung vorgehen, wenn Sie Ihre Ruhe haben wollen.“
„Gute Idee“, brummte Sophie. „Hoffentlich lehnt er dann nicht Fritzi als Doktorandin ab – aber ich kann den Typen deshalb doch nicht jahrelang bei Laune halten, Fritzi ist erst im sechsten Semester, sie macht ja erstmal den Bachelor.“ Sie überlegte. „Jetzt fällt mir wirklich gar nichts mehr ein, sorry.“
Katrin Kramer klappte ihr Tablet zu und erhob sich. „Dann erstmal vielen Dank. Könnten Sie morgen um elf Uhr mal bei uns vorbeischauen, um das Protokoll zu unterschreiben?“
Sophie sah nach. „Ja, das geht. Ich muss nur Herrn Restorff Bescheid sagen, aber der hat bestimmt nichts dagegen.“
„Es wird auch nicht lange dauern“, wurde ihr versprochen.
*
„Und, was haben wir jetzt?“, fragte Andi in die missgelaunte Runde.
Liz stand vor dem Whiteboard und heftete schauerliche Fotos aller Beteiligten an die magnetische Seitentafel.
„Paula Raben ist vor allem von Neid zerfressen“, verkündete Katrin.
„Sagt wer?“
„Sophie Rauch. Es kam ihr wenigstens so vor.“
„Stimmt. So ähnlich hat sie sich – wenn auch unabsichtlich – auch selbst geäußert“, bestätigte Andi unlustig.
„Die Katzenlady hat außer Katzen nicht viel im Kopf“, verkündete Liz.
„Und die Rauch fragt sich, wovon die Katzenlady eigentlich lebt. Die arbeitet doch nichts Gescheites?“
„Teilzeit im Kratzbaum“, wusste Liz. „Aber leben kann man davon bestimmt nicht. Wahrscheinlich muss der Bruder sie durchfüttern.“
„Die Rauch überlegt auch, warum der Bruder diese höllische Erbengemeinschaft nicht einfach auflöst“, fuhr Katrin fort. „Ich glaube, sie findet das Haus einfach scheußlich.“
„Wieso? Das kann ihr doch nun wirklich egal sein, oder?“, warf Patrick ein.
„Der Raben steht auf die Rauch“, behauptete Katrin prompt.
„Auf die alte oder die junge?“ Patrick war unverbesserlich.
„Was heißt hier alt?“, tadelte Andi ihn sofort. „Sophie Rauch ist bestimmt jünger als ich. Aber die Frage ist okay – welche Rauch, Sophie oder Friederike?“
„Sophie“, behauptete Katrin.
Liz gluckst. „Kann ich mir auch gut vorstellen. Die sieht nämlich aus, als könnte sie ihn auf Vordermann bringen – und alleine schafft er das ja wohl nicht.“
Patrick verdrehte die Augen zum Himmel. „Als ob Männer scharf darauf wären, dass eine Frau ihnen sagt, wo´s langgeht! Liz, also wirklich!“
„Wieso?“, warf Katrin ein. „Frauen denken ja immerhin mit dem Kopf – und das kann im täglichen Leben ganz nützlich sein.“
Patrick schnaubte, und Andi versuchte, den kindischen Streit wieder auf eine kriminalistische Ebene zu heben: „Mir kam es aber auch so vor, als sei Raben ungewöhnlich hilflos. Das vergammelte Haus, die unangenehmen Geschwister… eine Frau, die alles in Ordnung bringt, wäre ihm bestimmt recht.“
„Wollen Männer doch immer“, warf die unbezähmbare Liz ein. „Eine Frau, die ihnen das Leben auspolstert.“ Katrin applaudierte.
„Ihr seid jetzt mal ruhig“, ordnete Andi an. „Ich glaube nämlich andererseits nicht, dass Sophie Rauch Lust auf diese Kindermädchen-Aufgabe hat. Können wir aus der Hilflosigkeit von Benedikt Raben irgendetwas folgern, das uns weiterhilft? Wie spielen hier nicht den Krieg der Geschlechter nach, das führt ohnehin zu nichts, wir wollen herausbekommen, wer Ludwig Raben getötet hat. Ist der Obduktionsbericht denn mittlerweile da?“
„Klar“, antwortete Patrick, der sich mal wieder als Fels in der Brandung des Weibergetues profilieren wollte. „Hier!“
Andi warf ihm einen missmutigen Blick zu. „Und, was steht drin?“
„Strychnin im Koks. Ziemlich hohe Dosis, hat locker ausgereicht.“
„Danke. Sonst noch was?“
„Ja, der Mörder hätte sich die Mühe eigentlich auch sparen können. Raben hatte eine Hepatitis C, auch sonst eine kaputte Leber, ein Magengeschwür und eine Darmerkrankung. Und da er wahrscheinlich nie beim Arzt war – der hätte ihm auch was erzählt! – hätte er in absehbarer Zeit sowieso den Löffel abgegeben.“
„Vom beruflichen Stress kann er das Magengeschwür nicht gehabt haben“, warf Katrin ein, und Liz giggelte. Andi kam sich langsam vor wie der Lehrer einer Teenie-Klasse. Arme Katja… „Ja, das habe ich jetzt auch nicht vermutet. Liz, hast du was von der Spurensicherung?“
„J-ja. In seinem Zimmer gab es Koksreste, ebenfalls mit Strychnin versetzt, das haben die schon gecheckt, und auf diesem Tütchen waren keine Fingerabdrücke außer denen von Ludwig Raben selbst. Die herumliegenden Klamotten waren verdreckt und von Cannabisrauch durchdrungen, im Schrank gab es mehrere leere und zwei volle Wodkaflaschen. Anscheinend war er bei Drogen nicht allzu wählerisch.“
„Kunststück“, kommentierte Patrick, „wenn ich mein Leben so an die Wand gefahren hätte, würde ich es mir auch schönsaufen und schönkoksen. Mehr ist dem armen Hund wohl auch nicht geblieben. Was sagt denn der Bruder dazu, der ist doch sowas wie ein Vaterersatz?“
„Den fragen wir nachher nochmal. Aber wenn der sich als Vaterersatz sieht, muss er sich auch ganz schön als Versager sehen – die Geschwister haben doch alle einen an der Waffel!“
„Vielleicht ist diese weitere Schwester nicht so verdreht“, hoffte Katrin. „Diese Teresa, ihr wisst schon. Die, die verheiratet ist.“
„Gut“, legte Andi fest, „du und Patrick, ihr schaut euch mal diese Schwester an. Ich nehme mir mit Liz noch mal den Bruder vor. War sonst noch was im Zimmer unseres Junkies?“
Patrick blätterte. „Kein Handy. Ein windiger kleiner Kalender mit kryptischen Abkürzungen und keiner einzigen Telefonnummer. Ein paar zerfledderte Taschenbücher, sonst leere Regale.“
„Hat wahrscheinlich alles antiquarisch verscheuert, um dafür Koks zu kaufen“, vermutete Katrin.
„Glaub ich auch“, stimmte Patrick zu. „Sonst war nichts zu finden. Nur Siff.“
Katrin grinste kurz. Kroch Patrick also schon wieder zu Kreuze? Braver Bub…
*
„Flussauenweg sieben“, murmelte Katrin. „Da vorne muss es sein. Steht da Gersch?“
„Kann ich hellsehen? Erstmal parken.“
Nummer sieben war Gersch. Ein ziemlich kleines Reihenhaus, mäßig gut in Schuss. „Liegt wohl in der Familie“, fand Patrick.
„Was denn?“
„Sich nicht ums Haus zu kümmern. Haus muss sein, aber streichen tun sie´s nicht.“
„Vielleicht ist es bloß gemietet“, schlug Katrin vor und drückte auf die Klingel. „Halb elf… vielleicht ist die auch gar nicht da… die muss doch bestimmt arbeiten?“
Patrick sah auf die Uhr. „Aber es sind Schulferien, die Tochter müsste dann doch wohl da sein?“
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, von einem missgelaunten Teenager in Jogginghose und ausgeleiertem T-Shirt. Unter ihrer out-of-bed-Frisur blinzelte sie ärgerlich ins Tageslicht. „Ja?“
„Larissa Gersch?“
„Wer will das wissen?“
Katrin zückte ihren Ausweis. „Kripo Leisenberg. Mein Kollege Weber. Also?“
„Ja, zum Henker. Kommen Sie immer mitten in der Nacht? Ist ja wie bei der Gestapo…“
„Sie sind aber gut informiert“, lobte Patrick, was ihm einen befremdeten Blick von Katrin eintrug.
„Haben wir in der Schule gemacht“, murmelte Larissa Gersch. „Wollen Sie reinkommen oder was?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und schlurfte einen engen, vollgestellten Flur entlang ins Wohnzimmer. Katrin betrachtete sich gedankenverloren den eher breiten Hintern unter dem grauen Sweatstoff, dann zuckte sie die Achseln, zog den leicht verdutzten Patrick ins Haus und schloss die Haustür.
Larissa hatte sich wieder auf eins der Sofas geworfen und die Fernbedienung auf den gewaltigen Fernseher gerichtet.
„Können Sie das bitte mal ausmachen?“, bat Katrin und ignorierte den mürrischen Blick.
„Wo ist denn deine Mutter, Larissa?“, fragte Patrick und lächelte freundlich. Der Sack, dachte Katrin sofort, macht hier mal wieder auf guter Cop, und ich kann die Hexe geben.
„Na, arbeiten“, antwortete Larissa. Katrin lag schon auf der Zunge Pass mal auf deinen Ton auf, Fräuleinchen – wie ihre eigene Mutter früher! Sie schluckte das Elternsprech entschlossen herunter und lächelte so freundlich wie Patrick: „Und wo arbeitet deine Mutter?“
„Na, bei diesem Reisefuzzi am Markt. Paradies oder so. Kann ich mir nicht merken. War´s das jetzt?“
„Möchtest du gar nicht wissen, warum wir deine Mutter sprechen wollen?“
Larissa warf Patrick einen nachsichtigen Blick zu. „Na, wegen dem Ludwig, oder? Hat sich den Goldenen Schuss gesetzt. Armer Hund.“
„Goldener Schuss? Nicht ganz“, präzisierte Patrick. „Er ist ermordet worden.“
Larissa starrte ihn an. Dann sagte sie: „Ermordet? Echt? Krass.“
Das führte ja nun auch nirgendwo hin, fand Katrin. „Du hast eben Armer Hund gesagt, Larissa. Nur, weil er jetzt tot ist – oder hast du noch einen anderen Grund?“
Larissa starrte sie ebenfalls an, dann zuckte sie die Schultern. „So halt. Er war doch ein armer Hund, oder? In dieser Familie…“
Katrin fixierte sie aufmerksam, und es wirkte: Larissa seufzte. „Sie müssen die alle doch schon kennen gelernt haben! Die blöde Conny mit ihren Katzenviechern, Paula, die nur sich selber kennt, Benedikt, der denkt, er müsste sich um alle kümmern, dabei will das gar keiner – da kann man schon ans Kiffen kommen. Oder was anderes. Und dann dieses alte Haus, da stinkt´s doch total, wer will da schon leben!“
Katrin gluckste. „Hab ich mich ehrlich gesagt auch schon gefragt. Ich meine, putzen und lüften könnten die doch mal, oder?“
Larissa zuckte wieder die Achseln: Der Anfall von Mitteilsamkeit war offensichtlich vorbei. „War noch was?“
„Vielleicht später noch mal“, versprach Patrick und wechselte mit Katrin einen Blick. Sie nickte. „Tschüss, Larissa. Noch viel Spaß beim Fernsehen.“
„Kommt nur Scheiß“, murmelte Larissa, ohne den Blick von irgendeinem Boulevardmagazin zu wenden.
Draußen sahen sich Patrick und Katrin etwas konsterniert an, dann musste Katrin lachen: „Waren wir in dem Alter auch so?“
„Jedenfalls nicht so schwabbelig“, schauderte Patrick.
„Ach komm, das ist doch bloß Babyspeck! Nein, ich meine diese bemühte Muffigkeit. Da hat all unser Geschleime nichts geholfen… Wie alt ist sie wohl, dreizehn? Vierzehn?“
„Eher ein bisschen älter“, vermutete Patrick. „Fragen wir halt die Mutter. Paradies, am Markt… da bin ich ja mal gespannt, ob wir das finden.“
So schwer war es dann aber nicht; am Markt gab es zwar viele Geschäfte, aber nur eins, das irgendetwas mit „Paradies“ zu tun hatte – das Reisebüro „El Paradiso“, angeblich Spezialist für Kuba und Südamerika.
Viel Betrieb herrschte nicht, als sie eintraten, anscheinend buchten die Leute tatsächlich zunehmend nur noch im Internet. Patrick erkundigte sich bei der ersten Beraterin nach Frau Gersch und wurde nach hinten verwiesen. Katrin folgte ihm zwischen den Schreibtischen hindurch nach hinten und um die Ecke, wo eine Frau Mitte dreißig vor einem Rechner saß und konzentriert Daten in eine Exceltabelle eingab. Sie drehte sich um, als die beiden näher traten. „Hier ist eigentlich kein Publikumsverkehr. Wenn Sie bezüglich einer Reise Beratung wünschen, sind Ihnen meine Kolleginnen vorne im Kundenbereich sicher gerne behilflich.“
Sie wollte sich schon wieder ihrer Tabelle zuwenden, aber Patrick trat schnell einen Schritt vor. „Mein Name ist Weber, Kripo Leisenberg. Meine Kollegin, Frau Kramer. Ich denke, Sie wissen, warum wir hier sind.“
Teresa Gersch seufzte resigniert, nahm die Finger von der Tastatur und verschränkte die Hände im Schoß. „Wegen Ludwig“, antwortete sie dann ergeben.
„Ich denke, Sie möchten doch auch wissen, wer seinen Tod verschuldet hat?“ Katrin fand, dass sie sich ekelhaft säuselnd anhörte, aber wenn sie so zu dieser Frau durchdringen konnte?
Viel nützte es nicht: Sie erntete nur ein Schulterzucken. „Der Ludwig war doch selbst schuld. Wenn einer schon Drogen nimmt… er hat eben zu viel genommen oder etwas Schlechtes erwischt. Ich weiß gar nicht, warum Sie das großartig untersuchen.“
„Mochten Sie Ihren Bruder nicht?“, platzte Patrick heraus.
„Nicht besonders. Den hat doch keiner gemocht, der hat sich ja auch nur für sich selbst interessiert. Die Conny hat mir erzählt, der hat sogar seine Geschwister beklaut, bloß um seine Sucht zu finanzieren!“
Das Wort „Sucht“ hatte sie so erbittert hervorgestoßen, dass sich Patrick und Katrin kurz vielsagend anschauten.
„Das heißt, Ihre Schwester hat Sie bereits kontaktiert?“
„Ja, natürlich. Um sich auszuheulen, wie immer.“
„Ach ja?“, machte Katrin. „Ich hatte gar nicht den Eindruck, dass Ihre Schwester so arg an Ihrem Bruder hing?“
„Hat sie auch nicht, wie denn! Nee, die Conny hat sich über das Übliche ausgeschleimt, dass der Tierarzt so teuer ist, dass es im Rabenhaus so furchtbar ausschaut, dass Paula eine eiskalte Kuh ist… sowas halt. Als ob ich für immer den gleichen Quatsch so viel überflüssige Zeit hätte… den Ludwig hat sie nur so nebenbei erwähnt, ich glaube, eigentlich ist ihr das wurscht. Die Conny spinnt doch sowieso, mit all diesen blöden Katzenviechern. Die reinste Sucht ist das!“
Schon wieder dieses Wort…
„Kennen Sie vielleicht jemanden, der Ludwig besonders gehasst hat?“
Teresa Gersch grinste unfroh. „Außer seinen Geschwistern, meinen Sie? Ich wüsste nicht. Vielleicht hat er seinen Dealer betrogen oder sowas… ich meine, er muss doch in seltsamen Kreisen verkehrt haben?“
Dagegen ließ sich zunächst nicht viel sagen; Patrick und Katrin verabschiedeten sich artig und verließen den Laden, nur um draußen vor einem Eiswagen zu landen.
„Hm“, machte Patrick mit nahezu erotischem Timbre in der Stimme, „der hat Pistazie… sorry, aber das brauche ich jetzt.“
Katrin stellte sich sofort neben ihm an. „Ich vielleicht nicht? Bei dieser kranken Familie kann man ja fresssüchtig werden! Ich mag Schokolade und Haselnuss, in so einer Knusperwaffel.“
Sobald der Eisverkäufer – mit einem Schiffchen auf dem Kopf wie in den 50er Jahren – ihnen die beiden Waffeln überreicht und das Geld kassiert hatte, schlenderten sie zu den Bänken mitten auf dem Platz und setzten sich. „Mit Sucht hat sie´s ja, die Gute“, sagte Patrick dann, sorgfältig um seine schmelzende Eiskugel herumleckend.
„Co-Abhängige“, vermutete Katrin, den Mund voller Schokoladeneis. „Schau, in dieser Familie haben sie doch alle irgendeine Sucht. Ludwig Drogen, Conny Katzen, Paula den eigenen Vorteil…“
„Und der Prof?“
„Harmonie. Der kleistert doch alle Konflikte einfach zu. Gescheiter wäre es, er würde alle seine Geschwister rauswerfen, damit sie mal selbstständig werden.“
„Jetzt hat er ja nur noch zwei an der Backe… und wenn er doch dahinter steckt? Wenn ich solche Geschwister hätte, würde ich bestimmt zum Mörder werden.“
„Hast du welche?“ Katrin biss von der Haselnusskugel ab, Patrick schaute geschmerzt zu.
„Was guckst du so?“
„Männer sehen nicht gerne, wenn Frauen so brutal zubeißen.“
„Ach…?“ Katrin grinste schmutzig. „Was können wir dafür, wenn ihr nie an etwas anderes denken könnt?“
„Wieso, woran denke ich denn?“
„Wie alle Männer, wenn eine Frau eine Eiswaffel lutscht: an einen Blowjob.“
Patrick sah sie wie vom Donner gerührt an. „W-was?“
„Musst du nicht leugnen. Und keine Sorge, ich fühle mich von deinen Gedanken nicht belästigt und renne nicht zur Gleichstellungsbeauftragten.“
„Ach nein – nicht belästigt?“ Patrick grinste halb erleichtert, halb interessiert.
„Nö. Das nehme ich alles gar nicht ernst. Und, hast du welche?“
„Welche was?“
„Kurze Aufmerksamkeitsspanne? Geschwister! Ob nervig oder nett.“
„Einen Bruder. Der ist harmlos. Geht noch in die Schule.“
„Was? Der ist ja dann ganz schön viel jünger… ein Nachkömmling, sozusagen?“
„Stimmt. Mein Vater hat nochmal geheiratet, und aus der Ehe ist der Moritz, der ist jetzt fünfzehn. Ein ganz netter Kerl.“
„Und seine Mutter?“ Katrin klang richtig mitfühlend.
„Wieso?“ Patrick verspeiste knurpsend die Waffelreste und stand auf. „Die ist okay. Warum willst du das wissen? Denkst du an böse Stiefmutter oder so? Sorry, alles ganz harmlos.“
Auch Katrin erhob sich. „Na gut. Präsidium und auswerten?“
„Was sonst?“
„Bist du sauer, weil ich so neugierig war?“
„Quatsch. Ich hab ja nichts zu verbergen. Übrigens hast du Recht, denke ich – diese Teresa ist auf Suchtverhalten fixiert. Aber die Tochter tickt ja auch nicht ganz sauber, oder?“
„Meinst du? Mir kam das wirklich nur wie die ganz normale Muffigkeit vor. Und zufrieden ist die bestimmt auch nicht mit sich, bei dem Babyspeck.“
„Du hörst dich an, als hättest zu zuviel Germany´s Next Top Model geguckt“, spottete Patrick, als sie zum Wagen zurückgingen.
„Ich bestimmt nicht, aber Larissa, wetten? In dem Alter ist niemand mit seinem Aussehen zufrieden, vor allem, wenn solche bescheuerten Sendungen dann noch unerreichbare Maßstäbe aufstellen.“
„Meinst du echt?“
„Klar. Patrick, das Mädel ist in der Pubertät!“
„Moritz auch, aber der ist nicht so albern.“
„Der ist ja auch ein Bub. Aber die werden zunehmend auch mehr aufs Äußere fixiert. Strebt er nicht nach einem Sixpack? Hat er sich noch kein Abo für eine Muckibude gewünscht? Keine morgendlichen Gel-Experimente für kühne Frisuren?“
Patrick lachte. „Fitness-Abo passt. Den Rest kriege ich nicht so hautnah mit.“
Sie schwiegen einige Momente, aber als Katrin die Fahrertür öffnete, sagte Patrick über das Wagendach hinweg: „Den Gersch würde ich gerne mal sehen. Vielleicht wird dann klar, warum die Frau so allergisch auf Suchtverhalten reagiert und die Tochter so muffig ist.“
„Wissen wir, wo der arbeitet?“ Katrin glitt hinters Steuer.
Patrick stieg ein, schlug die Tür zu und angelte nach seinen Notizen, bevor er den Gurt schloss. „Ja… Torsten Gersch. Der ist Mathematiker. Komisch, genau wie die Schwägerin, Paula.“
„Und, wo arbeitet er? Auch bei dieser Versicherung?“
„Nein… verflixt, was heißt das, UL-M? Was hab ich mir dabei bloß gedacht?“
Katrin kicherte. „Passiert mir auch immer. Die ersten Anzeichen von Alzheimer, vielleicht. Kann M für Mathematik stehen? Ulm wird ja wohl nicht gemeint sein.“
„Du bist vielleicht ein Herzchen. Mathematik, ja – Mensch! Uni Leisenberg, natürlich. Der arbeitet da irgendwo. Okay, erst kurz ins Präsidium und dann zur Uni.“
„Wahrscheinlich ist der auch wieder so eine unangenehme Type. Bloß wieder anders. Vorschläge?“ Sie bog auf den Parkplatz des Präsidiums ein.
„Ich sage, er säuft“, ging Patrick auf die Wette ein.
„Okay, dann sage ich, er… er ist sexsüchtig. Wie in diesem Film.“ Sie hielt ihm die Handfläche hin. „Fünf Euro?“
Patrick schlug ein und löste seinen Gurt. „Welcher Film?“
„Shame. Nie gesehen? Echt gut gemacht, über einen, der überhaupt nur noch an Sex denkt und dabei total vereinsamt.“
Oben war niemand. Sie tippten schnell eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse und ließen sie auf dem Whiteboard auftauchen, dann machten sie sich wieder auf den Weg.
*
„Frau Rauch? Ein Herr für Sie.“ Pamela hielt die Tür einladend auf und lächelte freundlich.
Sophie sah auf - noch mal die Polizei? Nein, Raben persönlich.
„Guten Tag“, sagte sie artig, obwohl sie nicht wusste, was er noch von ihr wollen konnte: War der gestrige Abend nicht schon schlimm genug gewesen?
„Wie kann ich Ihnen denn helfen – aber bitte, setzen Sie sich doch!“ Sie wies auf den Besucherstuhl.
Pamela schloss leise die Tür von außen.
„Ich brauche Ihren Rat“, kam Raben sofort zur Sache.
„Gerne – aber ganz ehrlich: Das ist hier eine Unternehmensberatung. Wenn Sie Ihren Betrieb optimieren, Ihr Onlinegeschäft ankurbeln, ihre Personalstruktur analysieren oder sonst etwas von uns erledigen lassen wollen, dann sind Sie hier richtig. Aber Sie haben doch gar keinen Betrieb – oder doch? Neben Ihrer Universitätslaufbahn?“
Raben lächelte leicht, was ihn jünger und attraktiver wirken ließ. „Nein, damit kann ich nicht dienen. Ich hatte an so etwas wie ein Privatcoaching gedacht, das gibt es doch?“
„Hm…“ Sophie lehnte sich zurück und betrachtete ihren Gast, der gespannt auf ihre Antwort wartete. Er sah nicht gut aus. Nun, das war vielleicht kein Wunder, nachdem gestern sein Bruder ermordet worden war. Und wenn man an die krätzigen Schwestern dachte… Aber auch sonst: Raben war groß und hatte eigentlich ein gut geschnittenes Gesicht, aber er war ein bisschen zu dick und wirkte etwas blass und teigig. Zu viel Junk Food? Oder nur die deprimierenden Umstände seines Lebens in diesem entsetzlichen Haus?
„Ganz ehrlich“, sagte sie schließlich, „mir scheint, brauchen könnten Sie´s – aber ich habe das noch nie gemacht. Schauen Sie, ich bin Betriebswirtin und ich verstehe was von Medientechnik, aber Psychologin bin ich keine. Im Gegenteil.“
„Wie, im Gegenteil?“
Sie grinste kurz. „Naja, einfühlsam bin ich jetzt eher nicht. Eher für brutale Ansagen berüchtigt.“
„Umso besser. Eine schonungslose Analyse meines Lebens ist wohl das, was ich brauche. So kann es einfach nicht weitergehen.“
„Gut“, stimmte Sophie zu, „aber ganz ehrlich: Wissen Sie, was Sie das kosten würde?“
„N-nein?“
Sie nannte ihren Stundensatz und Raben wurde blass.
„Eben. Wir machen das anders. Nicht hier und nicht im Rahmen von RC. Und natürlich in diesem Fall gratis.“
Himmel, was tat sie da? Sie konnte kaum glauben, was sie sich da sagen hörte! Er protestierte auch sofort, aber sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Entweder – in Absprache mit meinem Chef, natürlich – als Freundschaftsdienst oder gar nicht. Privatcoaching gehört nicht zu meinen Kompetenzen, also kann ich auch keine Garantie dafür übernehmen, dass es Ihnen etwas nützt. Damit will ich Restorff Consulting nicht belasten. Und Geld nehmen kann ich nicht, sonst fühlt Restorff sich zu Recht betrogen. Sind Sie einverstanden?“
Raben lächelte nachdenklich. „Freundschaftsdienst? Das klingt eigentlich sehr nett…“
Innerlich verdrehte Sophie die Augen: Was für ein Seelchen! Kein Wunder, dass er diese Bagage nicht im Griff hatte… Sie zog energisch ihren Terminplaner näher. „Wann wäre es Ihnen denn recht? Außerhalb der Arbeitszeit, natürlich.“
„Natürlich“, echote Raben gehorsam, was Sophie schon wieder verzweifeln ließ. In einem dieser albernen SM-Romane, die gerade den Markt überschwemmten, wäre er wohl auf eine Domina aus.
„Warum lächeln Sie?“
Mist. „Nichts, Entschuldigung. Gleich heute Abend, sagen wir um sieben?“
„Ausgezeichnet. Und wo?“
Sophie überlegte. Keinesfalls im Rabenhaus, die blöde Conny brauchte sie dabei ganz bestimmt nicht. Jedenfalls nicht jetzt schon. Und Paula, die nur Angst hatte, irgendwie zu kurz zu kommen, auch nicht.
Bei ihr zu Hause? Besser auch nicht.
„An einem neutralen Ort“, sagte sie also vorsichtig.
Raben überlegte, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Kennen Sie die Sonderbar in Zolling?“
„Nein. Meinen Sie, dort ist es ruhig genug?“
„Auf jeden Fall. Es ist eine Art Bistro, mit leckeren kleinen Speisen, und abends zwar ganz gut besucht, aber durchaus gedämpft in der Atmosphäre. Ich war selbst erst zweimal dort, aber es hat mir sehr gefallen. Wenn Ihnen das recht ist?“
„Gut…“ Sophie notierte sich das. „In Zolling selbst oder in der MiniCity?“
„MiniCity. Ich freue mich schon!“
Sophie lächelte nur verbindlich, und Raben erhob sich. „Tja… ich muss dann mal wieder… in einer Stunde habe ich ein Seminar, da bleibt gerade noch Zeit für eine schnelle Pizza…“
„Darf ich Ihnen gleich etwas vorschlagen?“
„Natürlich!“ Er sah geradezu begierig drein.
„Lassen Sie die Pizza bleiben. Besorgen Sie sich eine Tüte Obst – an der Uni ist doch dieser Obstwagen? Und verbringen Sie die Mittagspause draußen. Auf einer Parkbank. Sie werden sich gleich besser fühlen.“
„Meinen Sie?“
„Probieren Sie´s“, beharrte Sophie auf ihrem Vorschlag, der wenigstens leichte Rosen auf Rabens bleiche Wangen zaubern sollte.
„Nun, wenn Sie meinen… vielen Dank schon mal. Dann sehen wir uns um sieben in der Sonderbar?“
„Genau. Der Termin ist gebucht.“
Sein Blick verdunkelte sich kurz, dann verabschiedete er sich förmlich und verließ ihr Büro.
Komischer Mann, sinnierte Sophie. Er hatte sie um ein Coaching gebeten, und wenn sie das geschäftsmäßig handhabte, passte es ihm nicht? Aber damit, das Ganze gratis und privat laufen zu lassen, war er doch einverstanden gewesen?
Sie ging nach draußen und fragte Pamela, ob der Chef gerade frei war.
War er.
Und er hatte nichts dagegen, wenn Sophie den hilflosen Dr. von Raben privat etwas beriet. „Das hat schließlich mit unserem Kerngeschäft nichts zu tun, und so lange du es ohne Honorar machst, sehe ich da kein Problem. Glaubst du, du kannst ihm helfen?“
Sophie zuckte die Achseln. „Ich kann´s versuchen, aber ich fürchte, um ihm zu helfen, müsste man seine restlichen Geschwister auf eine verlassene Insel schaffen und dann dieses versiffte Haus sprengen. Ob man ihn anders befreien kann, wage ich zu bezweifeln.“
Restorff grinste. „Das sind nicht die Methoden, die wir sonst empfehlen. Wo steht denn dieses versiffte Haus?“
„Auf der anderen Leißseite, Richtung Birkenried. Ein paar hundert Meter von der Leiß selbst entfernt.“
Restorff runzelte die Stirn unter seinem wirren schwarzen Haarschopf. „Da oben? Aber – da wohnt doch niemand? Da ist doch nur Pampa, bis zum Gut Birkenried?“
„Ex-Gut. Das wurde nach dem Brand der Stallungen doch aufgegeben, erinnerst du dich? Jedenfalls, da wohnt auch keiner – außer den Rabens eben. Völlige Pampa.“
Restorff runzelte immer noch die Stirn. „Hab ich darüber nicht irgendwas gehört? Nein, ich komme jetzt nicht drauf, aber irgendwas war mit der Gegend da oben.“
*
Das mathematische Institut der Universität Leisenberg führte ein etwas klägliches Dasein in einem Gebäude, das man in den späten Sechzigern nachträglich in einen trüben Hinterhof in der Carolinenstraße gesetzt hatte.
Patrick sah sich in der Straße um. „Die Carolinenstraße sieht immer noch aus wie kurz nach dem Krieg.“
„Hier könnte man auch prima DDR-Filme drehen“, stimmte Katrin zu. „Nicht mal die Autos müsste man wegfahren.“ Sie trat einem schätzungsweise dreißig Jahre alten violetten Japaner ohne TÜV-Plakette gegen die Reifen.
„Lass lieber – nicht, dass der sich in einer Staubwolke auflöst!“, mahnte Patrick im Spaß.
„Macht doch nichts, der müsste sowieso entsorgt werden. Muss man nur noch den Staub aufkehren. Und hier ist jetzt die Uni? Ist ja deprimierend!“
„Passt doch zu Mathematik“, fand Patrick und spähte in den Hofdurchgang. „Da hinten, glaube ich.“
„Du warst wohl früher ein Mathe-Loser?“, neckte Katrin.
„Du nicht?“
„Nö. Vierzehn Punkte im Abitur.“
„Olle Streberin. Hier sind wir richtig – Gott, wie hässlich!“
Die blassgraue Fassade war durch Regenspuren und Graffiti geschmückt, die Eingangstür mit ihrem martialischen bronzenen Griff im Stil der mittleren Siebziger hatte einen Sprung in der Glasscheibe. Katrin drückte die Tür vorsichtig auf, nicht dass die womöglich auch zu Staub zerfiel!
An der Wand hing immerhin eine dieser grauen Filztafeln, auf denen in umsteckbaren weißen Plastikbuchstaben vermerkt stand, wer wo residierte.
„Gersch, Dr. – im Keller, das auch noch!“
„Rechenzentrum. Vielleicht ist es im Keller ja kühler?“, mutmaßte Patrick und wandte sich dem Treppenhaus zu.
Das Rechenzentrum empfing sie so wie erwartet – Großrechner, diverse Arbeitsstationen, Kabelsalat, Wärme, Gebrumm.
„Herr Dr. Gersch?“ Katrin hörte sich regelrecht schüchtern an und ärgerte sich sofort darüber.
„Ja?“ Ein Mann im weißen Kittel tauchte hinter dem Großrechner auf. „Was ist denn jetzt wieder kaputt?“
„Kaputt? Nichts… wir kommen von der Kripo. Kramer mein Name, das ist mein Kollege Weber.“
„Kripo? Wieso das denn?“ Gersch runzelte die Stirn, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Ach so, ja – wegen der verschwundenen Geräte, ja?“
„Nein“, hatte Patrick jetzt genug. „Wegen ihres Schwagers.“
„Schwager? Bene? Was ist mit ihm? Sagen Sie bloß, er gibt -… aber was hätte dann die Kripo… nee, sagen Sie´s mir.“
„Nicht Benedikt, Ludwig.“
„Was ist denn mit dem Penner los? Sind Sie von der Drogenfahndung?“
„Nein. Wir sind von der Mordkommission. Hat Ihnen denn keiner erzählt, dass Ludwig ermordet worden ist?“
„Was?“ Gersch ließ seinen Schraubenzieher fallen. „Ermordet? Ja, wann denn? Ich hab ihn doch erst – okay, das war auch schon letzte Woche.“
„Ach ja? Wo und wann genau haben Sie ihn denn gesehen?“
Gersch hob den Schraubenzieher wieder auf und setzte sich, das Gesicht vom Bücken leicht gerötet.
Unsportlich, dachte Patrick. Der Mann war einigermaßen jung, vielleicht Ende dreißig, und drahtig. Vom Bücken lila anlaufen taten doch sonst nur die Dicken mit dem hohen Blutdruck? Gut, wer wusste, an welchen Krankheiten Gersch litt; an die frische Luft kam er hier unten ja wohl eher nicht.
„Also?“ Katrin bohrte nach, offenbar hatte ihr Patricks Geduld zu lange gedauert.
„Was? Ach so, ja. Wo war das… Ja, im Rabenhaus natürlich. Ich wollte Benedikt etwas fragen – und Ludwig kam gerade über den Flur getrottet.“ Er grinste flüchtig. „Der hatte ja immer so einen Gang… als hätte er schon einen Schlaganfall hinter sich. Mein Vater ist nach seinem Schlag auch immer so etwas schief und stockend durch die Gegend getrottet, als würde er nur mit Mühe einen Fuß vor den anderen setzen. Aber Ludwig war wahrscheinlich bloß im Tran… und dann hat er mir sein berühmtes Lächeln geschenkt –“
„Sein berühmtes Lächeln?“ Katrin war ganz ehrliches Interesse.
„Ja… unheimlich. So hinterfotzig-strahlend, als wüsste er etwas über einen. War natürlich Quatsch, er hat einfach so gelächelt. Zu Hintergedanken hat´s bei dem doch schon lange nicht mehr gereicht. Ah… hat er genuschelt, der Mann mit System.“
„Was hat er denn damit gemeint?“
„Keinen Schimmer, war mir auch egal. Ich wollte doch bloß Bene fragen, ob er mir – naja, ich hatte einen kleinen Engpass, ist mir auch noch nie passiert…“
„Sie wollten Benedikt von Raben also anpumpen?“
„So ähnlich.“ Er schaute zu Boden, dann sah er trotzig wieder auf. „Ich zahl´s ihm schon wieder zurück, ich warte noch auf eine größere Zahlung.“
„Wie viel war es denn?“
Gersch zögerte. „Naja – zweitausend.“
Katrin pfiff durch die Zähne. „Nicht wenig. Sagen Sie – so gut verdient Ihr Schwager doch auch nicht? Konnte er sich das denn leisen?“
„Weiß ich nicht. Ich hab ihm halt gesagt, ich brauche es nur vorübergehend, der Wagen löst sich langsam auf und, naja… da hat er geseufzt und gesagt, na gut.“
Patrick musterte ihn streng. „Aber Sie verdienen hier doch auch nicht so schlecht, oder? Ist das ein Zeitvertrag?“
„Nein, eine Festanstellung. Öffentlicher Dienst. Geht schon, das stimmt.“
„Und Ihre Frau arbeitet auch. Teilzeit?“
„Nein, voll. So klein ist Larissa ja auch nicht mehr.“
„Dann müssen Sie ein sehr, sehr ungünstiges Hypothekendarlehen abgeschlossen haben – und das, wo die Zinsen ein historisches Tief erreicht haben? Sehr merkwürdig. Herr Gersch, wozu brauchten Sie wirklich das Geld? Ihnen kann es eigentlich nicht schlechter gehen als Ihrem Schwager.“
„Ich habe immerhin eine Familie!“ Überzeugend klang das nicht.
„Ihre Frau verdient selbst. Und Ihr Schwager hat zumindest eine Schwester, die durchgefüttert werden muss.“
„Die schreckliche Conny. Stimmt. Paula steuert zu Hause auch nichts bei, glaube ich“, gab Gersch zu, obwohl das seine eigene Argumentation torpedierte.
„Na, die könnte es sich aber doch leisten?“
Gersch schnaubte. „Wenn Conny nichts zahlt, zahlt Paula auch nichts. Sieht sie gaar nicht ein.“
Katrin grinste. „Ja – den Eindruck hat sie auf uns auch gemacht. Trotzdem steht immer noch die Frage im Raum, wieso Sie sich schlechter stehen als Ihr Schwager, der diese beiden – mit Verlaub – missgünstigen Weiber am Hacken hat.“
Gersch grinste kurz. „Prägnant formuliert. Mei… so halt. Vielleicht kann ich nicht so gut mit Geld umgehen wie Bene.“
Katrin legte den Kopf schief. „Sie sind Mathematiker, oder? Obwohl, wenn ich mich hier so umschaue – eher Informatiker, oder?“
„Nein, Mathematik stimmt schon.“
„Und Ihr Schwerpunkt?“
„Theorie- und Modellbildung. Auch einige Aspekte der klassischen Spieltheorie. So etwas lässt sich hier sehr gut in großem Stil durchrechnen. Verstehen Sie denn etwas davon?“
Katrin wedelte elegant mit der Hand, von Patrick leicht verblüfft beobachtet. „Sie haben vorhin gesagt, der Mann mit System…“
„Was?“
„Hat Ludwig zu Ihnen gesagt, oder?“
„Ja, stimmt. Hab ich aber nicht verstanden.“
„Ach nein. Und Ihre Frau wittert überall Suchtverhalten, bei Ludwig, bei Conny – bei Ihnen auch?“
„Was? Welche Sucht soll das denn sein? Ich rauche ja nicht einmal, und auf Viehzeug steh ich auch nicht. Noch mehr Mäuler zu füttern…“
„Katrin, worauf willst du hinaus?“. murmelte Patrick.
Sie grinste ihn an. „Was machst du aus Sucht, System und Mathematik mit Schwerpunkt Modellbildung?“
Patrick erwiderte das Grinsen. „Alles klar.“ Er drehte sich wieder zu Torsten Gersch: „Tja, wie weit sind Sie denn mit der Suche nach dem perfekten System? Welches Spiel soll´s denn sein?“
Gersch zog ein verächtliches Gesicht. „Wie sich der Laie so etwas eben vorstellt… aber mathematisch sind solche Systemtheorien schon interessant. Theoretisch eben.“
„Ach ja – und Sie probieren Ihre Theorien nie auch einmal in der Praxis aus?“
„Und wenn es noch nicht so klappt, dann können schon auch mal zweitausend Euro über den Tisch gehen?“, fügte Katrin hinzu.
Gersch stöhnte. „Ja, gut – und? Wenn ich ab und zu mal ein Spielchen mache, was hat das bitte mit dem Tod von Ludwig zu tun? Glauben Sie, ich finanziere meinen Einsatz mit Drogengeschäften oder was? Das beweisen Sie mir erstmal – und das möchte ich sehen!“
Patrick und Katrin sahen sich an: Da hatte er leider nicht unrecht. Sogar wenn Gersch spielsüchtig war, hatte das mit dem Mord an Ludwig nichts zu tun - noch nichts… oder?
*
Die Sonderbar machte einen ganz ordentlichen Eindruck, fand Sophie, als sie sich prüfend umsah. Etwa zehn Tische, davon drei besetzt, ganz leise Musik. Kein Raben – das fing ja schon mal gut an. Sie sah auf die Uhr: Sieben, exakt.
Nun gut… sie wandte sich an den Mann hinter der Bar. „Ich bräuchte einen ruhigen Tisch für zwei Personen – das heißt, vielleicht ist auch einer reserviert, auf den Namen Raben?“
Kopfschütteln. „Tut mir Leid, reserviert ist nichts, das wüsste ich.“
„Vielleicht, wenn Sie mal den Wirt fragen?“
Grinsen. „Ich bin der Wirt. Heusler, Grüß Gott. Aber das ist kein Problem, ich bin heute nicht ausgebucht. Und die Atmosphäre ist hier eigentlich immer recht ruhig. Schauen wir mal… wir wäre es mit dem letzten Tisch am Fenster?“
Sophie schaute – ja, der war gut. Sie bedankte sich und bestellte schon einmal ein großes Wasser.
Sobald sie saß, schaute sie wieder auf die Uhr. Sechs nach sieben. Unglaublich. Mit der Pünktlichkeit würde sie schon einmal anfangen! Nein, Unsinn. Zumindest nicht so. Eine Strafpredigt war schließlich nicht das, was man unter Coaching verstand.
Zwölf nach sieben… sie schaute zur Tür und erblickte Raben. Der hatte offensichtlich ihren Blick auf die Uhr bemerkt, denn als er am Tisch ankam, war er noch etwas rosig im Gesicht und entschuldigte sich verlegen.
Sophie wehrte ab, doch er bestand darauf, sobald er saß, zu erklären, warum er sich verspätet hatte: „Wissen Sie, meine Schwester – also, Conny, Sie haben sie ja kennengelernt, nicht? Jedenfalls hatte ich vergessen, ihr das Geld für den Tierarzt zu geben, und deshalb hat sie mich noch etwas aufgehalten. Ja, und dann musste ich auf dem Weg hierher natürlich noch zum Geldautomaten.“
Sophie nickte gnädig. „Schon okay. Eins verstehe ich allerdings nicht so ganz: Das sind doch die Katzen Ihrer Schwester, oder?“
„Oh ja! Kaum, dass wir sie ab und an mal streicheln dürfen… die meisten sind allerdings eher uncharmant. Sie haben sicher auch schlechte Erfahrungen gemacht, im Tierheim oder bei ihren früheren Besitzern.“
„Dann ist die Fürsorge Ihrer Schwester ja umso verdienstvoller. Nur frage ich mich, warum sie ihre Katzenfürsorge nicht selbst finanziert?“
Raben sah perplex drein. „Conny? Aber dafür verdient sie doch nicht genug!“
„Ach so.“ Nach einer wohlberechneten Pause sah sie Raben ins Gesicht. „Warum eigentlich nicht? Sie hat doch einen Job? Arbeitet sie nicht im Kratzbaum?“
„Sicher.“ Raben bestellte sich bei der Bedienung ein alkoholfreies Bier. „Aber die zahlen kaum mehr als den Mindestlohn, und Conny arbeitet da auch nur etwa fünfzehn Stunden in der Woche. Das ist praktisch ein Minijob.“
„Ah ja. Stimmt, und in ihrer Freizeit hilft sie auf dem Gnadenhof aus… Mir kommt das aber schon etwas so vor, als dürften Sie ihr Gutmenschentum finanzieren, oder?“
Raben zuckte die Achseln. „Kann schon sein, aber was soll ich machen?“
„Dazu kommen wir später. Wohlfeile Ratschläge gibt es hier nicht, das wäre kein Coaching.“
„Was ist Coaching dann?“
„Hilfe zur Selbsthilfe. Training, um Denkmuster und Verhaltensweisen zu hinterfragen und bei Bedarf zu optimieren oder zu verändern.“
„Das klingt anstrengend.“
Sophie grinste über den Tisch. „Ist es auch. Sie wissen doch, was nicht wehtut, wirkt auch nicht.“
Raben griff unzufrieden nach der Speisekarte. Sophie beobachtete ihn, bis er aufsah: „Möchten Sie nichts essen?“
„Eigentlich nicht. Mir ist es schon etwas zu spät dazu. Aber tun Sie sich keinen Zwang an.“
Er lächelte verlegen. „Ich habe nämlich noch nicht…“
Ja, das konnte sie sich vorstellen, wahrscheinlich war die Küche genauso unerfreulich wie der Rest des Hauses. Und obendrein voller Katzenfutterreste.
Die Bedienung eilte herbei, sobald Raben die Karte zugeklappt hatte. Gut geschultes Personal, registrierte Sophie und nickte dem Wirt hinter der Theke billigend zu. Raben bestellte sich die Blätterteigpastete mit Hackfleischfüllung und fragte nach Pommes frites dazu. Sobald die Bedienung davongeeilt war, wandte er sich wieder Sophie zu und registrierte ihr leises Kopfschütteln.
„Was ist?“
„Können Sie darauf denn gut schlafen?“
„Worauf?“
„Auf so viele Kohlenhydrate. Also, ich könnte das nicht, aber vielleicht sind Sie da ja robuster.“
„Robuster… wahrscheinlich ist das egal, ich schlafe sowieso nicht besonders.“
„Vielleicht genau deshalb… aber gut, das ist auch nicht unser Thema. Conny braucht also Ihre Unterstützung.“
Nicken.
„Und Paula? Die auch?“
„Nein, eigentlich nicht. Sie verdient recht ordentlich in dieser Versicherung.“
Er sah regelrecht stolz drein, als wollte er sagen Wenigstens die ist mir doch gar nicht so schlecht gelungen, oder?
Schade, dass Paula eine egozentrische Kuh war… Objektivität, Sophie!
„Dann trägt sie sicher auch zum Haushalt bei?“ Diese Frage erschien Sophie selbst etwas heuchlerisch, aber Raben musste seine Probleme schließlich selbst formulieren.
„N-nein.“ Sein rundliches Gesicht lief rosa an.
„Ach? Warum nicht?“
„Naja… also, Paula achtet schon sehr darauf, dass es gerecht zugeht. Und wenn Conny gratis wohnt, dann sie natürlich auch.“
Ja, das wusste Sophie schon – aber war ihm eigentlich klar, wie blödsinnig das war?
„Ich weiß, die Begründung ist etwas seltsam, aber ich habe dem nichts entgegenzusetzen.“ Er zuckte die Achseln.
Warum nicht?, lag Sophie auf der Zunge, aber dafür war es noch zu früh.
„Das heißt, beide Schwestern leben auf Ihre Kosten?“
Er nickte. „Ludwig natürlich auch, der verdiente ja nichts.“
„Dafür müsste ja praktisch Ihr ganzes Gehalt draufgegangen sein… und im Gegenzug konnte nicht mal jemand den Staubsauger durchs Haus schieben?“
Er schüttelte den Kopf und schien den Tränen nahe. Selbsterkenntnis oder Selbstmitleid?
In diesem Moment wurde seine Kohlenhydratbombe serviert und beim Essen kehrte seine gute Laune schnell wieder zurück. Essen als Trost, notierte Sophie sich im Stillen.
Sobald der erste Hunger gestillt zu sein schien, fragte sie dann doch direkt: „Warum lassen Sie sich das eigentlich gefallen?“
„Was denn?“ Er spießte mehrere Pommes Frites mit der Gabel auf.
„Dass Ihre Geschwister Sie so ausnehmen.“
„Finden Sie, das tun sie?“ Anscheinend hatte er gesättigt eine deutlich rosigere Sicht auf die Situation.
„Nun, auf Gegenseitigkeit scheint mir Ihr Zusammenleben nicht wirklich zu beruhen. Oder was tragen Ihre Geschwister bei?“
Schulterzucken. „Müssen Sie denn etwas beitragen? Eltern verlangen das doch auch nicht von ihren Kindern?“
„Von erwachsenen Kindern im Allgemeinen schon“, widersprach Sophie und verkniff es sich, ihm eine Pommes zu klauen. Nach ihren Ausführungen zur Nachtruhe würde das ihre Position nur schwächen. „Außerdem sind Sie doch nicht der Vater.“
„Nein, aber nach dem Tod unserer Eltern… naja, ich bin eben der Älteste…“
„Moment mal“, überlegte Sophie, „Ihre Geschwister sind zwischen 35 und 28 Jahren alt, richtig?“
„Ja, warum?“
Als ob er sich das nicht denken konnte!
„Und Ihre Eltern sind wann verstorben?“
„Unsere Mutter 1999 und unser Vater 2004.“
„Das heißt, als Sie endgültig die Rolle des Ersatzvaters übernommen haben, waren ihre Geschwister zwischen fünfundzwanzig und achtzehn Jahre alt?“
„Äh – ja.“
„Und Sie haben sich verpflichtet gefühlt, ihnen weiterhin ein Elternhaus zu ermöglichen, wie sie es gewöhnt waren?“
„So ungefähr.“
„Ihr Vater hat auch nie versucht, seine Kinder mal – sagen wir – aus dem Nest zu stoßen?“
„Aber nein, warum denn? Das ist hier doch schließlich unser Elternhaus.“
Sophie nickte, allmählich resignierend. Der Mann hatte ja offenbar gar kein Problembewusstsein. Oder ein gewaltiges Talent, sich alles schönzureden.
Besser gesagt schönzufuttern – jetzt war der Teller nämlich leer. Die Bedienung servierte ab, Sophie orderte noch ein Wasser und kam sich dabei selbst etwas arg asketisch vor.
Raben dachte über ein Dessert nach, beschloss aber dann doch, es lieber zu lassen.
„Sie hängen also sehr an Ihrem Haus? Wenn es doch Ihr Elternhaus ist?“
Raben seufzte. „Naja… also so besonders auch nicht. Ich meine, das Haus ist schon recht alt und nicht gerade gut in Schuss… ich müsste eine Menge Geld hineinstecken, um es auf einen vernünftigen Standard zu bringen…“
„Geld, das Sie nicht haben, oder?“
„Stimmt.“
„Und wenn Sie es hätten? Würden Sie es investieren? Immerhin ist das Haus Jugendstil, nicht?“
„Nicht gerade ein Musterexemplar, Denkmalschutz ist keiner drauf.“
Interessant, dass er das schon eruiert hatte…
„Und ganz ehrlich – ich glaube nicht, dass ich das Geld da reinstecken würde, wenn ich es hätte. Das Haus ist doch auch viel zu groß.“
„Och… für drei Leute?“
„Auch für drei Leute. Es war mal gedacht für eine Familie mit vielen Kindern, einigen Verwandten und auch etwas Personal. Die Hälfte aller Zimmer steht sowieso leer.“
Sophie nickte. „Ich würde Ihnen gerne eine Hausaufgabe stellen.“
Raben lachte auf. „Eine Hausaufgabe – wie früher in der Schule?“
„Ganz genau. Ich möchte, dass Sie sich eine Vision schreiben.“
„Wie funktioniert das?“
„Sie beschreiben Ihr Leben, so wie es für Sie ideal wäre. Schreiben Sie nicht im Konjunktiv und nicht als Wunsch, sondern als Tatsache. Zum Beispiel: Ich lebe in einem kleinen Strandhaus an der kalifornischen Pazifikküste und schreibe jedes Jahr ein bahnbrechendes Werk über die Literatur der Empfindsamkeit - oder was auch immer Ihr persönlicher Traum ist.“
„Und dann analysieren Sie das?“
„Nicht unbedingt – also nur, wenn Sie das möchten. Eigentlich ist eine Vision nur für Sie selbst bestimmt. Mit etwas Übung kann man daraus herleiten, wohin man möchte. Und wenn man sein Ziel mit seinem momentanen Standort vergleicht, kann man auch überlegen, welche Schritte einen von A nach B bringen können. Das nennt man eine Ist-Soll-Analyse.“
Raben nickte. „Das klingt sehr – wie soll ich sagen? – sehr technisch.“
„Vielleicht. Es hat sich allerdings durchaus bewährt. Versuchen Sie es ruhig. Und Sie entscheiden selbst, was davon Sie mit mir besprechen wollen. Einverstanden?“
Das Nicken kam etwas zögernd, aber immerhin.
„Dann können wir jetzt über etwas anderes sprechen“, verfügte Sophie. „Für heute war das genug Coaching.“
„Können wir morgen damit weitermachen?“
„Ich schau mal nach.“ Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und studierte den Terminkalender. „Ja, wieder um sieben? Wieder hier?“
„Vielleicht etwas früher? Damit Sie auch etwas essen können?“
„Gut – um sechs. Wieder hier?“
„Gerne. Oder ist das für Sie umständlich zu erreichen? Ich weiß ja gar nicht, wo Sie wohnen…“
Sophie sah von ihrem Telefon auf. „In Henting. Das ist also gar kein Problem.“
„Henting… sozusagen gegenüber?“
„Schon sehr sozusagen. Ich habe keinen Blick auf den Fluss – und außerdem wohne ich ein ganzes Stück weiter östlich. Aber weit weg ist es nicht, das stimmt.“
„Stammen Sie aus Henting?“
„Nein. Unser Elternhaus stand in Waldstetten, aber unsere Eltern haben Leisenberg verlassen, sobald Fritzi volljährig war. Ihnen war hier zu wenig los, was Kunst und Kultur betrifft. Sie leben jetzt ja in Wien.“
„Das tut mir Leid für Sie.“ Raben sah regelrecht betroffen drein, und Sophie lachte verblüfft. „Wieso das denn? Besser kann es uns doch gar nicht gehen! Wann immer wir Lust haben, fahren wir ein paar Tage nach Wien und genießen das Flair. Die irrste Stadt, die ich kenne!“
„Ja, gut – aber dass Ihre Eltern Sie alleine gelassen haben?“
„Mein Gott! Als Fritzi achtzehn geworden ist, war ich achtundzwanzig. Ich habe da doch schon fast zehn Jahre woanders gewohnt! Und Fritz war ganz scharf darauf, in eine WG zu ziehen.“
„Und Ihr Elternhaus?“
„Verkauft, was sonst?“
Raben war perplex. „Einfach so?“
„Einfach so. Ich bitte Sie, es war doch nur ein Haus! Und ganz ehrlich, Waldstetten war sterbenslangweilig. Okay, Henting ist auch nicht so wahnsinnig spannend, aber mittlerweile sind mir Amüsements auch nicht mehr so wichtig. Man wird ja auch älter und reifer.“
„Sie hören sich an, als seien Sie schon im Rentenalter!“
Sophie musste lachen. „Gegenüber Fritzi komme ich mir manchmal auch wirklich so vor. Diese zehn Jahre machen wirklich etwas aus. Kommen Ihnen Ihre Studenten nicht auch manchmal etwas fremd vor?“
„Nur, wenn sie während des Seminars die ganze Zeit heimlich auf ihre Handys starren. Das finde ich unhöflich. Und ich weiß auch gar nicht, was da immer so wichtig sein kann.“
„Man könnte ja einen Post verpassen. Stellen Sie sich vor, ein Kumpel postet, dass er sich ein neues T-Shirt gekauft hat, und Sie kriegen das nicht in Echtzeit mit!“
Raben grinste so breit, dass er plötzlich fünf Jahre jünger wirkte. „Das wäre natürlich wirklich tragisch… So ähnlich wie diese Handygespräche Schatz, ich sitze jetzt im Bus. Da denke ich mir auch immer Ach was…“
„Man fragt sich, was zuerst da war – der Hang zur Darstellung des eigenen banalen Lebens oder die technischen Möglichkeiten.“
„Gut“, meinte Raben, „früher gab es sicher auch haufenweise Tagebücher und Briefwechsel, die eigentlich von bescheidenem Interesse waren…“
„Aber wurden die langweiligeren Ergüsse auch treu und brav aufbewahrt und womöglich editiert?“
„Da haben Sie wohl Recht, die Nachwelt dürfte da als Filter gewirkt haben.“
Den Rest des Abends blieb das Gespräch auf dem Gebiet der Literatur, und Sophie musste zugeben, dass Raben zwar nicht gerade alltagstauglich wirkte, aber durchaus ein origineller Denker und ein kluger Kopf war.