Читать книгу Winterleuchten am Liliensee - Elisabeth Büchle - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
Robert steuerte den Jeep über die enge, in Serpentinen den Berg hinaufführende Straße und warf dabei immer wieder einen Blick auf seine schweigsame Beifahrerin, die unübersehbar fror. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie das Patenkind seiner Mutter rund fünfzehn Jahre hatte überspringen können und weshalb es sich einen anderen Vornamen zugelegt hatte. Allerdings war die junge Frau hübsch anzusehen, mit ihrem im Fahrtwind wehenden hellen Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen, der kleinen geraden Nase und dem zauberhaften Schmollmund. Sie besaß an den richtigen Stellen Rundungen, und wenn sie sprach, klang das hinreißend, mischte sich in ihr Deutsch doch ein leichter bayrischer, vorrangig aber ein französischer Akzent.
Kurze Zeit später fuhren sie durch Vierbrücken, jene Ortschaft, zu der die wenigen Häuser am Liliensee offiziell gehörten und durch die der Fluss sprudelte, der den See speiste. Seit das kleine Hotel am See eröffnet worden war und Roberts Bruder Georg den Campingplatz baute, waren einige Bewohner von Vierbrücken nicht mehr so gut auf die Leute vom Liliensee zu sprechen, weil diese, so behaupteten sie, ihnen die Touristen wegnahmen.
Sie passierten eine der Brücken im Dorf und gelangten schließlich über die ebenfalls kurvige Straße des nächsten, jedoch deutlich niedrigeren Berges ins benachbarte Tal. Auf dieser natürlichen Grenze zwischen Vierbrücken und dem Liliensee stand das Forsthaus der Familie Vogel, allerdings auf der dem See zugewandten Seite.
Die Novembersonne brachte die Wasseroberfläche zum Glitzern, als hätte des Nachts jemand die Sterne vom Himmel gepflückt und sie auf den See gestreut. Die Wolken zogen träge dahin, ihre Spiegelbilder auf dem Gewässer taten es ihnen gleich.
Roberts Passagier beugte sich weit vornüber und betrachtete lächelnd das Blau, das, umschmeichelt von den vielfältigen Grüntönen der Vegetation, zu ihnen heraufleuchtete. Die wenigen Häuser am breiteren Ende des Sees wirkten, als hätte ein Kind beim Aufräumen ein paar seiner Holzklötze vergessen. Das älteste Gebäude zählte nicht mehr als sieben Jahre. Das Forsthaus, das aus rustikalen Holzbalken und grauem Stein erbaut worden war, thronte bereits seit einigen Jahrzehnten oberhalb des Sees. Allerdings hatte Georg inzwischen das Reet des tief gezogenen Walmdaches durch pflegeleichtere Schindeln ersetzt.
Robert bog in die Auffahrt zu seinem Zuhause ein. Für einen Moment verdeckten hohe Fichten den Blick ins Tal, doch vor dem Forsthaus gaben sie erneut den Blick auf den See frei. Das Fachwerkhaus thronte auf einer Ebene, die jenseits der großen Holzterrasse steil abfiel. Die Terrasse war durch ein leicht abfallendes Dach geschützt, das von schlanken Holzsäulen getragen wurde, die sich harmonisch in das Gesamtbild einfügten. Dieser Vorbau war das Zimmermanns-Meisterstück von Georg.
Robert fuhr am Anbau vorbei auf die dem Hang zugewandte Seite und in den U-förmigen Innenhof. Als er den Motor ausschaltete, kam bereits Artemis, die braune Labrador Retriever-Hündin seines Vaters, angerannt, im Hintergrund, dort, wo die kleine Streuobstwiese lag, vernahm er das Gegacker der Hühner.
„Hier wohnen Sie also?“ Faszination lag in Lisas Stimme, die zuerst die große Holzterrasse und den Blick auf den See bewundert hatte und nun das zweistöckige Gebäude mit den grünen Fensterläden und der einladend offen stehenden zweiflügeligen Tür bestaunte.
Robert wandte sich um und schaute die junge Frau prüfend an, die ihren Blick lächelnd über die bewaldeten Höhenzüge und die herbstlichen Wiesen wandern ließ. Ihre Begeisterung stimmte ihn misstrauisch. Er fragte sich, seit er ihren Koffer in den Jeep gehoben hatte, wer diese Person war und was sie dazu veranlasst hatte hierherzureisen. Die kleine Trudi war diese Erscheinung, die aussah, als wäre sie einem Modemagazin entsprungen, jedenfalls nicht.
Ob sie sich einfach nur irgendwelche Vorteile von seiner Mutter erhoffte? Wie aber sollte sie davon erfahren haben, dass Charlotte sich um die Tochter ihrer verstorbenen Freundin bemühte? Und wie wollte sie erklären, dass sie – und nicht das kleine Mädchen, das Charlotte vor sechs Jahren über das Taufbecken gehalten hatte – einen Anspruch auf … ja, auf was hatte? Auf die Zuneigung seiner Mutter?
Robert stieg aus und fing gerade noch Ellen auf, die herbeigelaufen kam und über eine der sich über den Parkplatz windenden Baumwurzeln stolperte. Seine einundzwanzigjährige Cousine trug sogar jetzt im Winter eine dieser Hosen, die an den Waden endeten und die sie so „vorzüglich“ fand. Dazu einen Wollpullover, in dem sie beinahe ertrank.
„Langsam mit den jungen Kiefern“, murmelte er.
„Es heißt Pferden“, korrigierte Ellen ihn prompt.
„Kürzlich hast du mich geschimpft, weil ich dich ein wildes Fohlen genannt habe. Du wolltest nicht mit einem Tier verglichen werden, erinnerst du dich?“
„Grundsätzlich stimmt das. Aber deshalb –“ Sie winkte ab und warf einen irritierten Blick auf die etwa gleichaltrige Frau im Wagen. Artemis saß vor der Beifahrertür und schaute den Neuankömmling nicht weniger neugierig an.
„Wen bringst du denn da? Kannst du eine Sechsjährige nicht von einer erwachsenen Frau unterscheiden? Bring sie schleunigst zurück und hol das Kind, ehe es verloren geht!“
Robert grinste und ergriff Lisas Koffer. Ellen wandte sich der Eingangstür zu und rief laut: „Tante Lotti, du hättest nicht immer auf eine Schwiegertochter drängen sollen.“ Ihre zwei geflochtenen rotblonden Zöpfe wippten nicht weniger spöttisch auf Ellens Schultern, als diese klang, während sie fortfuhr: „Jetzt hat Robert einfach eine wildfremde Frau –“
Robert schaute Ellen so böse an, dass sie verstummte. Inzwischen war Lisa ausgestiegen, hatte der erstaunlich zahmen Artemis den Kopf getätschelt und gesellte sich nun zu ihnen. Neben der stämmigen Ellen in ihrem nachlässigen Aufzug und den derben Wanderschuhen wirkte sie wie ein zartes Reh, wobei sie längst nicht so mager aussah wie jenes britische Model, das weithin als Twiggy bekannt war. Das Braun von Lisas Augen passte jedenfalls perfekt zu Roberts Fantasie mit dem Reh.
Charlotte trat in die Tür, stutzte kurz und kam dann über den weißen Kies herbeigeeilt, während sie ihre Hände an einem Handtuch abtrocknete. Vermutlich hatte sie gerade eines der sonst leer stehenden Zimmer auf Hochglanz poliert. „Charlotte Vogel“, stellte sie sich vor und reichte der Fremden die Rechte.
„Lisa Schwaiger. Und ich habe keine Ahnung, warum hier alle annehmen, dass ich sechs Jahre alt sein und Trudi heißen müsste.“
„Weil meine Freundin Gerda Schwaiger eine sechsjährige Tochter namens Trudi hinterlassen hat, deren Patentante ich bin“, klärte Charlotte sie sachlich auf. „Ich habe mich darum bemüht, dass Trudi zu uns ziehen kann, und heute sollte sie hier ankommen.“
Robert sah seine Mutter bewundernd an. Sie war, obwohl sie ihm und seinen Brüdern oft den albernsten Schabernack glaubte, in der Lage, diese verworrene Geschichte deutlich besser auf den Punkt zu bringen, als er das hätte tun können. Aber ob sie die junge Frau auch durchschaute?
Lisa war blass geworden und taumelte einen Schritt zurück. Mit einer Hand hielt sie sich am Jeep fest und schien einen Augenblick lang um Atem zu ringen. Sie zitterte, aber das hatte sie während der Fahrt auch schon getan. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, waren ihre Worte kaum zu verstehen, so tonlos brachte sie sie hervor. „Ich habe eine kleine Schwester?“
Robert starrte sie verdutzt an. Wie konnte jemand nichts von seiner Schwester wissen? Seine Mutter jedoch schnappte nach Luft, trat dann vor und schloss die Fremde auf ihre bewährt mütterliche Art fest in die Arme. Robert hob die Augenbrauen. Manchmal verstand Charlotte eindeutig schneller als er, was Sache war, und in diesen Momenten fühlte er sich immer seltsam alt.
Lisa war Charlotte unendlich dankbar dafür, dass sie sie sogleich in das Zimmer geführt hatte, das sie eigentlich für Trudi vorbereitet hatte. Für … ihre Schwester?
Kaum dass die freundliche Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Lisa ihren Koffer einfach fallen. Polternd kam er auf dem dunklen Holzboden auf, kippte und fiel auf den hübschen orangefarbenen Teppich, der vor dem rustikalen Bett lag. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wut flammte in ihr auf, raste wie ein Sturmwind durch ihre Adern und ließ kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn entstehen. Ihre Mutter hatte nach ihr noch eine Tochter zur Welt gebracht?!
Bitter lachte Lisa auf. Gerda war nie der mütterliche Typ Frau gewesen; Lisa war praktisch ohne Mutter aufgewachsen. War das bei Trudi anders gewesen? Hatte sie Gerdas Mutterinstinkte geweckt, weil sie braver gewesen war? War dieses andere Mädchen geliebt worden?
Lisa wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Dem Zorn nachgeben, der in ihr schwelte? Dem altbekannten Gefühl, falsch oder gar wertlos zu sein? Oder sollte sie vielmehr eifersüchtig auf eine Schwester sein, die bei ihrer Mutter hatte aufwachsen dürfen? Vielleicht aber musste sie das Mädchen dafür eher bemitleiden.
Minutenlang stand Lisa einfach nur da, atmete unruhig und versuchte, sich wieder zu fangen. Schließlich taxierte sie das Bett mit den vier emporragenden Bettpfosten, auf denen je eine mit Schnitzereien verzierte Kugel thronte. Gleichzeitig betete sie, verzweifelt und zutiefst verletzt.
Ihre Großtante Camille hatte ihr beigebracht, ihre Gefühle nicht für sich zu behalten, sich ihnen nicht allein zu stellen, nicht zu versuchen, die Angriffe auf ihr Herz selbst abzuwehren. Bei der älteren Dame hatte es keine wohlformulierten Gebete gegeben, die irgendjemand einmal aufgeschrieben hatte und die man ablesen konnte. Camille hatte mit Gott geredet, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Immer dann, wenn etwas sie besonders aufgewühlt hatte, war sie dabei sogar richtiggehend laut geworden.
Lisa löste langsam ihre zu Fäusten geballten Hände. Ihre Großtante hatte sich nie darüber lustig gemacht, dass Lisa mit Steinen sprach. Mit im Wind wispernden Bäumen und umherflatternden Schmetterlingen, mit dahinjagenden Wolken oder einem vor sich hin knatternden Auto. Einmal hatte Lisa einem verletzten Hund erklärt, dass es körperliche und seelische Schmerzen gab, und dass die körperlichen meist gut heilten, die seelischen jedoch blieben. Und wie sehr sie wehtaten! Camille hatte ihr „Gespräch“ mitangehört, Lisa über den Kopf gestreichelt und gesagt: „Gott hört dich.“
Im Grunde hatte Camille Lisa das Leben gerettet, dessen war sie sich bewusst. Denn sie war ein verstörtes Kind gewesen; mit dem beginnenden Hang, sich selbst Leid zuzufügen. Erst sehr spät hatte Lisa durchschaut, dass ihre Großtante nicht nur in direkter Nachbarschaft des Klosters gewohnt, sondern einst als Nonne darin gelebt hatte. Camille hatte die Glaubensgemeinschaft jedoch der Liebe wegen wieder verlassen. Ihr Ehemann war nur vier Wochen nach der Trauung im Ersten Weltkrieg gefallen.
Heute hatte Lisa ihre Gefühle und ihr Leben im Griff. Zumindest an den meisten Tagen. Sie hatte in den vergangenen zwei Jahren für einen älteren Herrn, der Werbeprospekte herstellte, gezeichnet und damit gutes Geld verdient. Doch manchmal warf das Leben noch immer mit Steinen nach ihr. So wie heute. Dann duckte sie sich, wollte sich instinktiv verkriechen. Oder die Steine aufheben und zurückwerfen. Selbstzerstörung und Wut waren keine gute Kombination, das war ihr durchaus bewusst.
Der Brief eines Beamten aus dem bayrischen Füssen hatte sie aus der Bahn geworfen. Darin war sie über den Tod ihrer Mutter informiert worden – und Lisa hatte nichts empfunden.
Sie schüttelte den Kopf und trat an das Fenster mit den sonnengelben Vorhängen. Das stimmte so nicht ganz. Sie hatte einfach nicht gewusst, was sie empfinden sollte. Vor allem, als es am Ende des Briefes geheißen hatte, dass ihre Patentante sie zu sehen wünsche, ja sie sogar einlade, bei ihr zu wohnen, bis ihre Zukunft geregelt sei.
Lisa lehnte sich mit der Stirn an das aus dunklem Holz gefertigte Fensterkreuz. Natürlich hatte sie sich darüber gewundert, weshalb eine wildfremde Frau – angeblich ihre Patentante – meinte, sie müsste ihr helfen, ihr Leben zu organisieren. Und das nur, weil Gerda verstorben war. Immerhin hatte Lisa ihr Leben von Kindesbeinen an selbst regeln müssen. Trotzdem hatte sie Urlaub genommen. Weil sie neugierig war. Und weil das Interesse an ihrer Person ihre Seele streichelte. Der tief in ihr verwurzelte Wunsch, sich jemandem zugehörig zu fühlen, war dabei sicher ebenso treibend. Und nun das. Sie war gar nicht gemeint.
Lisa hob den Kopf und betrachtete die ins Sonnenlicht getauchte Landschaft vor dem Fenster. Sie sah bewaldete Höhenzüge, in unterschiedliche Blautöne getaucht, die immer milchiger wurden, je weiter entfernt die Berge lagen. Dazu dunkle Nadelbäume, saftige Heuwiesen an gelegentlich mit grauen Felsbrocken gesprenkelten steilen Hängen, vereinzelt auch Laubbäume, die jetzt in ihren bunten Herbstfarben wirkten wie willkürlich aufgetragene Farbtupfer auf einer grünen Leinwand.
Ihr Blick wanderte zu dem im Tal gelegenen See. Er präsentierte sich silberblau schillernd, wie mit glitzernden Diamanten bestreut und … Lisa öffnete einen der Fensterflügel und beugte sich weit hinaus. Die Form des Sees – oben spitz und leicht gebogen, dann zunehmend breiter und unten geschwungen bauchig – glich der eines Tropfens, wie Lisa ihn malte. Sogar der Lichtreflex, den sie daraufsetzte, war zu sehen – als ein dunkler Fleck auf der Wasseroberfläche. War das eine kleine Insel? Der See erinnerte sie … an eine Träne.
Lisa besann sich und stellte sich wieder aufrecht hin, damit sie nicht aus dem Fenster stürzte. Sie hatte sich so weit beruhigt, dass sie eilig ihren Koffer auspackte, wobei ihr erstmals die interessante Mischung aus rustikalen Eichenholzmöbeln, Stoffen in warmen Sommerfarben und einer freundlichen hellgelben Tapete mit aufgedruckten weißen Ranken auffiel. Die Hausherrin hatte ein Händchen dafür, das alte Forsthaus hell und wohnlich zu gestalten, ohne dabei einem gerade angesagten, damit aber auch vergänglichen Einrichtungsideal nachzueifern.
Nachdem Lisa ausgepackt hatte, stellte sie den Koffer neben die Tür. Es wirkte, als sei sie jederzeit bereit zur Flucht. Vielleicht war das auch gut so. Immerhin war sie nicht Trudi, die hier erwartet worden war. Sie war … die Falsche.
Dennoch öffnete sie die Tür, trat hinaus in den Flur und ging zu der abgenutzten Holztreppe mit dem geschwungenen Treppengeländer, dessen gedrechselte Sprossen mit hübschen Ranken verziert waren. Sie stieg die ersten Stufen hinunter und verharrte auf dem Absatz, an dem die Treppe einen Knick machte. Die kräftige Stimme des Mannes, der sie abgeholt hatte und von dem sie nicht einmal den Namen wusste, drang zu ihr herauf. Er klang besorgt. Oder aufgebracht?
In der gleichen Intensität, wie Charlotte Verständnis und Herzlichkeit ausgestrahlt hatte, als Lisa klar geworden war, dass sie eine kleine Schwester hatte, verströmte er Vorsicht und Misstrauen. Vielleicht sollte Lisa es ihm hoch anrechnen, dass er sie nicht einfach auf diesem abgeschiedenen Bahnhof hatte stehen lassen.
„Du bist zu leichtgläubig, Mama, und das weißt du auch“, hörte sie ihn prompt poltern. „Denk an Liechtenstein.“
„Der zuständige Beamte hat mir nie einen Namen genannt, immer nur von dem Kind der Verstorbenen gesprochen. Ich weiß doch auch nicht, warum Gerda mir nichts von Lisa erzählt hat. Oder wo Trudi sein könnte, denn eigentlich wäre es für den Anwalt ja viel einfacher gewesen, das jüngere Mädchen ausfindig zu machen, das bei Gerda gewohnt hat.“ Charlotte schwieg einen Moment, ehe sie nachdenklich hinzufügte: „Davon gehe ich zumindest aus.“
Lisa hörte den jungen Mann etwas brummen und konnte seine Reaktion durchaus nachvollziehen. Denn sie in Frankreich zu benachrichtigen, war eindeutig aufwendiger gewesen, als ein Mädchen zu informieren, das nach dem Tod der Mutter womöglich von Nachbarn aufgenommen oder in ein Heim gesteckt worden war. Oder hieß das etwa, dass Trudi ebenfalls nicht bei Gerda gewohnt hatte?
„Du glaubst ihr also?“ Wieder war der misstrauische Unterton in der tiefen Stimme zu hören. Lisa umgriff das hölzerne Treppengeländer noch fester. Mit Ablehnung kam sie einfach nicht klar. Die Kälte, die ihr seit der Fahrt in den Knochen steckte, weitete sich auf ihr Herz aus.
„Natürlich glaube ich ihr. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen, die sind vermutlich ein Erbe ihres Vaters.“
„Und was machen wir jetzt mir ihr?“
„Das ist nicht unsere Entscheidung, Robert, sondern ihre.“
Lisa neigte leicht den Kopf. Der misstrauische Brummbär hieß also Robert.
„Ich gehe davon aus, dass sie ein eigenes Leben führt. Vermutlich hat sie ein paar Tage Urlaub genommen, um hierherzukommen. Den darf sie natürlich gern bei uns verbringen. Und da ich vorhabe, nach Trudi forschen zu lassen, möchte sie vielleicht dabei sein, wenn wir sie gefunden haben, um dann ihre Schwester kennenzulernen.“
„Was für eine seltsame Familie.“
Lisa presste die Lippen zusammen. Hörte sie da bei Robert tatsächlich Mitgefühl heraus?
„Gerda war schon als Kind unglaublich freiheitsliebend. Ihr Elternhaus war … schwierig.“ Jetzt klang auch Charlotte mitfühlend. „Sie war eine wilde, rebellische Jugendliche und dem noch nicht entwachsen, als ich deinen Vater kennenlernte, ihn heiratete und mit ihm hierherzog. Danach hielten wir nur noch sporadisch Briefkontakt, was sicher der Grund ist, warum ich nichts von Gerdas älterer Tochter wusste. Weshalb sie mich dann viele Jahre später als Patentante für Trudi auserkoren hat, erschließt sich mir bis heute nicht. Aber ich habe mich damals sehr über diesen Vertrauensbeweis gefreut und gehofft, fortan wieder mehr Kontakt zu ihr zu haben. Das war allerdings ein Trugschluss. Ich habe Trudi zum Geburtstag, zu jedem Tauftag, zu Ostern und zu Weihnachten Päckchen geschickt. Anfangs bekam ich noch Fotos von ihr zugesandt, dann nur noch eine Dankeskarte ihrer Mutter.“
Lisa schloss gequält die Augen. Sie war sich sicher, dass Trudi in dem Jahr, als keine Fotos mehr in den Schwarzwald verschickt wurden, ebenfalls aus Gerdas Leben verbannt worden war. Nur – wohin? Warum hatte ihre Mutter Trudi nicht auch zu Camille geschickt? Und zu ihr? Dann hätte sie wenigstens eine Schwester gehabt, die sie hätte lieben und versorgen und der sie sich hätte zugehörig fühlen können.
War das nicht geschehen, da Camille zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben war? Aber Lisa war schon volljährig gewesen. Sie hätte sich um Trudi kümmern können. Sie … hätte eine Familie gehabt!
Tränen füllten Lisas Augen, und sie wandte sich ab, um wieder hinauf ins Gästezimmer zu flüchten. Im selben Moment ging die Haustür auf und ein großer, stämmiger Mann trat ein, der schwerlich Roberts Vater sein konnte. Dafür war er entschieden zu alt.
Der weißhaarige Mann mit dem struppigen Vollbart warf ihr einen irritierten Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. „Lotti, da steht eine potenzielle Schwiegertochter auf der Treppe. Schnapp sie dir, bevor sie flüchtet!“, brüllte er durchs Haus. Der Neuankömmling zwinkerte ihr vergnügt zu, zog Mantel und Schuhe aus und verschwand durch eine Tür, die, so vermutete Lisa, in den Anbau führte.
Lisa war zuerst erschrocken zusammengezuckt, lachte nun aber belustigt auf. Während Robert der erklärte Brummbär in der Familie war, schien dieser Mann, vermutlich Charlottes Vater oder Schwiegervater, eine wahre Frohnatur zu sein.
Robert erschien im Türrahmen und schaute zu Lisa herauf. Interessiert betrachtete er sie, weshalb sie schnell wieder eine ernste Miene aufsetzte. Sie hoffte, dass Robert das mit der zukünftigen Schwiegertochter nicht wirklich ernst nahm.
„Auf meinen Großvater hören Sie besser nicht. Aber ich denke, Sie können einige unserer Fragen beantworten, Fräulein Lisa?“
Diesmal unterdrückte sie ein Schmunzeln. Robert klang schrecklich förmlich. Auch wenn Lisa keine große Lust verspürte, ihm und Charlotte ihren Lebenslauf darzulegen, schuldete sie der Familie Vogel dennoch eine Erklärung. Was sie alles erzählen würde und was sie lieber für sich behielt, vor allem da sie nicht an den hässlichen Erinnerungen rühren wollte, die sie mit einer gut deckenden, freundlich gelben Farbe übermalt hatte, entschied sie in dem Moment, als sie auf den jungen Mann zuging, der ihr einen düsteren Blick zuwarf. Sie musste ihr Herz schützen und pinselte deshalb mit jedem Schritt eine weitere Farbschicht darauf. Um ihr Herz herum zog sie einen Graben und flutete ihn. Mit geweinten und nicht geweinten Tränen …
Johann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich sich durch den weißen Vollbart. Er beobachtete, wie Georg mit seinem Vater Heinrich über die Innenausstattung einer Hütte diskutierte und Robert mit seinem Bierglas spielte, das er bis auf einige Schaumreste geleert hatte. Dabei behielt sein Enkel das Mädchen im Blick, das sie an diesem Tag bei sich aufgenommen hatten, wie sie gelegentlich verletzte Tiere aus dem Wald mit nach Hause nahmen, um sie gesund zu pflegen.
Robert war im Umgang mit Menschen von Natur aus etwas vorsichtiger als Georg und Ralf, sein jüngster Enkel. Seit dem Desaster mit Irmgard war er regelrecht verschlossen und misstrauisch, was er für gewöhnlich aber gut verstecken konnte. Nicht so heute. Seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen, die über der Nasenwurzel zusammengeschobenen Augenbrauen und die Querfalten auf seiner Stirn verrieten deutlich sein Unbehagen über die Fremde in ihrem Haus. Er führte sich auf, als hätte seine Mutter einen Fuchs bei den Hühnern einquartiert. Dabei nahmen sie gelegentlich Gäste im Forsthaus auf, vorrangig im Sommer, wenn sowohl das Hotel Hirschen in Vierbrücken als auch das unten am See ausgebucht waren.
Lisa war Charlottes Einladung bereitwillig gefolgt, für die Dauer ihres Urlaubs hierzubleiben, hatte aber ganz selbstverständlich bei den Vorbereitungen für das Abendessen geholfen und stand auch jetzt auf, räumte das Geschirr ab und griff nach dem Geschirrtuch. Von Robert kam ein Brummlaut. Offenbar vermutete er, dass Lisa versuchte, sich bei seiner Mutter einzuschmeicheln. Dass sie nur eine Freundlichkeit mit einer anderen vergelten wollte und sich nützlich zu machen gedachte, sah der verbohrte Junge wohl nicht.
„Lisa“, sagte Johann und runzelte dann die Stirn, als wäre er sich nicht sicher, ob das Mädchen in dem hübschen Kleid auch wirklich so hieß.
„Ja bitte?“ Mit einem tropfenden Teller in der Hand drehte ihr Gast sich zu ihm um. Vor den alten Küchenmöbeln, die Charlotte in freundlichem Hellgrau und Lindgrün gestrichen hatte, wirkte Lisa in ihrem roséfarbenen Kleid mit dem breiten weißen Gürtel und dem schwingenden Rock seltsam deplatziert. Als wäre Elizabeth Taylor plötzlich hier im Schwarzwald aufgetaucht.
„Jemand muss noch Holz im Kachelofen nachlegen, und die Pflanze in meinem Zimmer verdurstet.“
Lisa sah ihn für einen kurzen Moment irritiert an, dann lächelte sie. Johann hätte beinahe laut geseufzt. So ein warmes, liebes Lächeln hatte er schon lange nicht mehr bei einem Mädchen gesehen. Nicht, seit seine Frau gestorben war.
„Sobald die Küche fertig ist, schaue ich danach“, versicherte sie ihm.
„Vater, Lisa ist nicht unsere Haushälterin“, korrigierte Heinrich ruhig und wandte sich dann wieder Georg zu.
„Früher gab es in Forsthäusern oft Haushälterinnen.“ Johann rieb sich gedankenverloren den Bart. Er hatte damals eine gehabt, auch dann noch, als er längst verheiratet und Heinrich und dessen beide Schwestern auf der Welt gewesen waren.
„Lisa ist unser Gast“, erklärte Charlotte und sah ihn besorgt an. Vermutlich befürchtete sie, dass er gleich wieder einige unverständliche Dinge von sich geben würde. Johann lachte in sich hinein. Er verstand das sehr wohl, Robert aber nicht.
„Warum arbeitet sie dann?“, fuhr er gespielt wütend hoch.
„Ich mache das gern, Herr Vogel. Schließlich darf ich hier kostenlos wohnen und bekomme schmackhafte Mahlzeiten. Da kann ich doch ein wenig mit Hand anlegen.“
Johann nickte innerlich und unterdrückte ein vergnügtes Lächeln über den reizenden Akzent des Mädchens. Lisa war wohlerzogen, hilfsbereit und den Menschen zugetan, und deshalb gefiel sie ihm ausgesprochen gut. „Gäste sollten nicht mit Hand anlegen“, gab er missgelaunt zurück.
„Aber ich mache das gern.“ Wieder bekam er dieses wunderhübsche Lächeln geschenkt, das ihn so sehr an das seiner Frau erinnerte. Er warf einen prüfenden Seitenblick auf Robert, der das Gespräch zwar mitverfolgte, jedoch weiterhin die Stirn in Falten gelegt hatte.
„Du bist ein liebes Mädchen. Das weiß ich schon lange.“ Ja, er wusste schon lange, dass eines Tages eine junge Frau hierherkommen würde, die Roberts grimmigem Blick spielend standhalten und über seine Abwehrhaltung hinweg direkt in sein gutes Herz sehen konnte.
„Wir kennen Fräulein Schwaiger doch erst seit einigen Stunden“, berichtigte Robert ihn prompt.
„Du vielleicht“, gab Johann patzig zurück und wusste, dass er wie ein Kleinkind klang, das nicht zugeben wollte, einen Fehler begangen zu haben. Das war seine Strategie, um sich elegant aus unleidigen Diskussionen zu verabschieden oder ein Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken, so wie er es gern haben wollte. „Schließlich war sie meine Haushälterin.“
„Johann, Lisa ist unser Gast“, versuchte Charlotte es erneut.
Johann kicherte innerlich wie das Kind, das er vorgab zu sein. „Dann muss man sie auch so behandeln.“
Der Grund für ihre Diskussion kam näher und ging vor ihm in die Hocke. „Das werde ich doch, keine Sorge. Mir geht es gut.“
Johann betrachtete ihre braunen Augen und sah neben Zuneigung auch eine Art Schatten darin. Als schmerze es das Mädchen, dass jemand so für es Partei ergriff, wie er es gerade tat. Das war seltsam.
„Hast du gehört, Robert? Es geht ihr gut. Du kannst also aufhören, so böse vor dich hinzustarren, aus Sorge, sie könnte sich hier nicht wohlfühlen.“
Robert blinzelte irritiert, und Johann tätschelte Lisas weiches Haar. Ihr Lächeln vertiefte sich, ehe sie ihm Platz machte, da er aufstehen wollte. Zufrieden vor sich hin pfeifend verließ er die Küche.