Читать книгу Winterleuchten am Liliensee - Elisabeth Büchle - Страница 6

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Kapitel 3

Lisa trat vor die Tür und fragte sich, ob sie neben Schal und Mütze nicht auch Handschuhe anziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie genoss es einfach zu sehr, knorrige Baumrinde zu ertasten, ihre Handflächen über zarte Pflänzchen gleiten zu lassen und hier und da einen weichen Moosteppich zu streicheln.

Vier Tage wohnte Lisa nun schon bei den Vogels, da sie übereingekommen waren, dass sie ihren Urlaub hier verbringen würde. Jeden Tag, sobald Robert und Heinrich in die Wälder verschwanden, Georg zu seinem Campingplatz hinunterging, der jetzt im November leer stand, Charlotte sich ihren hausfraulichen Pflichten widmete und der Großvater entweder lesend in einer Ecke der geräumigen Küche saß oder spazieren ging, brach auch sie auf, um die nahe gelegenen Berge zu erkunden. Heute wollte sie endlich einmal zum See wandern. Georgs Wegvorschlag bedeutete zwar einen gewaltigen Umweg für sie, wartete aber mit weitaus schöneren Aussichtspunkten auf als der direkte Weg, den er bevorzugte.

Angetan mit einer bequemen beigefarbenen Stoffhose, einer dicken Daunenjacke über der weißen Bluse und festen Schuhen, die Charlotte ihr zur Verfügung gestellt hatte, machte sie sich munter auf den Weg. Tautropfen saßen wie Perlen auf Grashalmen und reflektierten die für diese Jahreszeit ungewöhnlich helle Morgensonne, klebten an Spinnweben, als wollten sie dafür Sorge tragen, dass die seidigen Fäden, die sonst gern im Verborgenen blieben, an diesem Tag ja nicht übersehen wurden. Wie filigrane Kunstwerke, im Geheimen entstanden und nun in einer Galerie ausgestellt, die sich Natur nennt. Die Luft roch würzig, nach feuchter Erde, Fichtennadeln und modrigem Waldboden, und somit unverkennbar nach Spätherbst und Verfall; einem dem Ende entgegenstrebenden Jahr.

Lisa schritt zügig aus. Der Waldweg war übersät mit Fichten-, Tannen- und Kiefernnadeln, kleinen Steinen und oberirdisch verlaufenden Wurzeln, und es raschelte und knackte unter jedem ihrer Schritte. Das Rauschen der Bäume klang wie ein sanftes Lied, in das sich das Zwitschern der Vögel verwob, die den Winter über hierzubleiben gedachten. Ein rotbraunes Eichhörnchen kreuzte ihren Weg und huschte gewandt einen Baumstamm hinauf, dorthin, wo es vermutlich seinen Kobel gebaut hatte.

Lisa atmete durch und verspürte tief in sich eine wohltuende Ruhe. Sie genoss die gemeinsamen Mahlzeiten mit der Familie Vogel, bei der nur Ralf, der jüngste Sohn, fehlte, da er zum Studieren weggezogen war.

Morgens ging es im Forsthaus eher ruhig zu. Heinrich las etwas aus der Bibel vor, betete dann in einem breiten, für sie nur schwer verständlichen Dialekt und machte sich anschließend über das Frühstück her, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Unterbrochen von langen Pausen, entweder, weil sie die von ihr und Charlotte zubereiteten Speisen in Ruhe genießen wollten oder weil sie noch müde waren, wurde der Tagesplan der einzelnen Familienmitglieder besprochen. Dabei wurde Lisa wie selbstverständlich integriert, was sie überaus glücklich stimmte. Sie fühlte sich nicht nur geduldet, sondern willkommen. Mit einer Ausnahme: Robert verhielt sich ihr gegenüber noch immer extrem zurückhaltend. Offenbar traute er ihr nicht über den Weg.

Georg war stets der Erste, der die anheimelnde Frühstücksrunde verließ, gefolgt von seinem Großvater Johann. Heinrich und Robert verabschiedeten sich als Nächstes, jedoch erst, nachdem Robert das Geschirr zur Spüle hinübergetragen und Heinrich seine Frau umarmt und geküsst hatte.

Lisa schaute dann immer weg, genoss aber jenes Fluidum der Nähe, Liebe und Zugehörigkeit. Diesem Genuss folgte stets ein in ihrem Inneren aufsteigendes Gefühl von Verlust und tiefer, ja schmerzlicher Sehnsucht.

Einmal mehr öffnete sich der Wald links von Lisa zu einer natürlichen Lichtung, und sie blieb stehen, um den See aus diesem neuen Blickwinkel zu bewundern. Da sie bereits einige Meter abwärts spaziert war, konnte sie nun nur noch einen Teil des Gewässers sehen, dafür bot sich ihr endlich ein Blick auf die kleine Insel, die von einem Ring aus grauen Felsbrocken umgeben war. Der Umstand, dass dort Bäume wuchsen, vorrangig Kiefern und Birken, verriet ihr jedoch, dass das Gestein die Erhebung nur schützend umgab. Ob es wohl erlaubt war, die Insel zu betreten? Sie würde sich bei Georg danach erkundigen, der ihre Fragen zu diesem kleinen Schwarzwaldtal stets höflich und ausführlich beantwortete.

Die dumpfen Geräusche, die sie zuvor schon vernommen hatte, wurden lauter. Ob das Axtschläge waren? Gleich darauf hörte sie eine motorisierte Säge, allerdings verstummte diese schnell wieder. Lisa war froh darüber, genoss sie doch die angenehm sanfte Geräuschkulisse der Natur. Nun setzten erneut die Axthiebe ein. Gleichmäßig, fast monoton, hallten sie durch das Tal. Lisa fragte sich, ob sie demnächst auf Heinrich und Robert treffen würde?

An einer Weggabelung zögerte sie und rief sich Georgs Wegbeschreibung ins Gedächtnis. Hatte er nicht gesagt, dass sie hier nach rechts gehen musste? Lisa erschien das unsinnig, denn sie wollte doch zum See hinunter, und der rechte Weg schien aufwärtszuführen. In der Annahme, sich das falsch gemerkt zu haben, nahm sie den linken Pfad, vorbei an zwei an einem Haselstrauch befestigten roten Stofffetzen, die an diesem windstillen Morgen traurig nach unten hingen.

Der Weg wurde schmaler und zunehmend steil. Immer häufiger konnte sich Lisa nur noch halten, indem sie ihre Füße auf knorrige Wurzeln oder aus der Erde ragende Gesteinsbrocken stellte. Manchmal lösten sich Letztere unter ihrem Gewicht und sie rutschte ein wenig, fing sich aber stets wieder. Außerdem schien sie den Waldarbeitern näher zu kommen. Das schreckte sie aber nicht, immerhin kannte sie Robert und Heinrich. Sicher wäre es interessant, sie einmal bei der Arbeit zu beobachten.

Lisa rutschte erneut aus und fing sich ab, indem sie den Stamm einer jungen Buche umarmte, die mitten auf dem Pfad wuchs. Sie war nur froh, dass ihr niemand dabei zusah. Leise kichernd löste sie sich von dem borkigen Gesellen und schrak zusammen. Ein lautes Rauschen erscholl. Über ihr krachte es, splitterte Holz. Aufgeschreckt wandte sie den Kopf. Die Krone einer gewaltigen Fichte raste auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich. Instinktiv kauerte sie nieder, als wollte sie mit den Wurzeln des Baumes vor sich verschmelzen.

Begleitet von einem mächtigen Donnern kam der gefällte Baumstamm auf der Erde auf. Der Boden unter Lisas Füßen vibrierte. Äste schlugen auf sie ein, zerkratzten ihr den Nacken. Die Fichte schien gegen ihr Schicksal aufzubegehren, indem sie sich ein letztes Mal erhob, sodass die Äste Lisa erneut kratzten wie eine Furie. Dann fiel sie wieder zu Boden. Diesmal meinten die Zweige, Lisa entschuldigend streicheln zu müssen, die Nadeln dagegen stachen ihr in die Kopfhaut und den Nacken. Dort, wo sie ohnehin schon Schmerz verspürte.

Endlich wurde die Welt um sie herum wieder still. Zwar trudelten noch immer Fichtennadeln der Erde entgegen, doch sie verursachten nicht mehr als ein leises Flüstern.

„Verdammt! Da ist jemand!“, hörte sie eine fremde Männerstimme rufen. Sie klang erschrocken, ja nahezu panisch.

„Hast du den nicht gesehen?“

„Ich glaube, das ist eine Frau.“

„Lebt sie noch?“

„Wie konnte sie –?“

Die aufgeregten Stimmen kamen näher, kurz darauf schauten vier bärtige, von der einstigen Sommersonne gebräunte Gesichter auf sie herunter. Sie wagte ein scheues Lächeln, brachte aber keinen Ton hervor. Zu tief saß der Schreck in ihr. Ja, ich lebe noch.

„Was ist hier los?“ Diese durchdringende Stimme kannte Lisa. Sie gehörte Robert. Betroffen schloss sie die Augen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie unerkannt hätte verschwinden können. Immerhin war ja nichts passiert.

„Eine Frau ist unter den fallenden Baum geraten“, klärte einer der Männer, die sich noch immer um sie versammelt hatten, den sich nähernden Robert auf.

„Macht mal Platz.“

Ein Scharren entstand um sie herum, sie vernahm das Brechen von Ästen und Zweigen, dann beugte sich ein großer Schatten über sie. „Fräulein Lisa?“

„Mir geht es gut, wirklich“, beteuerte sie sofort.

Ohne auf ihre Worte zu achten, wies Robert die Umstehenden an, schleunigst die größeren Äste zu entfernen, die Lisa gefangen hielten. Die Männer spurteten davon, um ihre Fuchsschwänze zu holen.

„Haben Sie Schmerzen? Können Sie Ihre Beine und Arme bewegen?“ Robert klang wirklich besorgt.

„Aber sicher. Mich haben nur ein paar Äste der Baumkrone gestreift.“

Die Waldarbeiter kehrten mit ihren Sägen zurück und machten sich ans Werk. Das Ratschen und Schaben der Metallzähne, die sich ins Holz fraßen, schmerzte Lisa in den Ohren.

„Wie konnte das passieren?“, knurrte Robert die Arbeiter an. „Wo ist Schuster?“

„Der Chef ist in der Sägemühle. Ich habe keine Ahnung, woher die Frau so plötzlich gekommen ist.“

„Habt ihr die Markierungen vergessen?“

„Nein, die haben wir an allen drei Pfaden aufgehängt, die in diese Gegend führen.“

Lisa machte sich instinktiv etwas kleiner. Ob diese roten Lappen an den Sträuchern etwa jene Markierungen sein sollten? Aber woher sollte sie auch wissen, was sie zu bedeuten hatten? Sie kam aus einer französischen Großstadt, nicht aus … Vierbrücken, Lehengericht oder Schiltach.

„Ich denke, das reicht. Tretet mal zurück.“

Ehe sie sich’s versah, wurde Lisa von Robert unter den Achseln gepackt und wie ein erlegtes Wild aus der unmittelbaren Nähe des gefällten Baumes gezerrt. Zumindest stellte sie sich vor, dass ein geschossenes Reh so behandelt wurde. „Lassen Sie mich los, ich kann allein aufstehen!“, fauchte sie ihn deshalb an. Er gehorchte sofort, sodass sie beinahe mit dem Allerwertesten auf dem Boden gelandet wäre.

Robert reagierte schnell – vielleicht auch, weil er das geahnt hatte – und hielt sie erneut fest. Endlich gelang es Lisa, sich aufzurappeln. Der Mann, der sie festhielt, roch angenehm nach Wald und etwas, was sie als Wildnis und Freiheit interpretierte. Sie schälte sich aus seinem Griff, trat zwei große Schritte zurück und zerrte an ihrer Daunenjacke und der Bluse. Beides war bedenklich weit nach oben gerutscht. Fichtennadeln rieselten ihren Rücken hinunter.

„Haben Sie die roten Markierungen am Wegrand nicht gesehen?“, fragte Robert und klang bemüht freundlich.

„Doch, aber es befand sich kein Schild dabei, auf dem ahnungslosen Wanderern erklärt wird, was sie zu bedeuten haben. Vielleicht wäre es ohnehin von Vorteil, Schilder zu verwenden, anstatt zerrissene Hemden an Sträuchern zu drapieren wie Weihnachtskugeln am Christbaum. Städter und Touristen können nämlich durchaus lesen, auch wenn Sie womöglich vom Gegenteil ausgehen.“ Sie war aufgebracht, weil ihr das Geschehene unangenehm war und weil sie sicher schrecklich aussah. Weil die vier Männer im Hintergrund breit grinsten und sich gegenseitig anstießen. Weil Robert sie mit gerunzelter Stirn böse ansah und weil sie … einfach empört sein wollte. Schließlich war ihr gerade beinahe ein Koloss von Baum auf den Kopf gefallen. Und ihr Nacken schmerzte.

„Es geht ihr gut, wie wir hören können, Männer. Ihr könnt weiterarbeiten.“

Roberts Reaktion und dieses deutliche Grinsen auf seinem Gesicht brachten Lisa noch zusätzlich gegen ihn auf. „Und ich setze meinen Weg auch fort“, beschloss sie, wurde aber von einer Hand auf ihrem Unterarm zurückgehalten.

„Sie bluten. Wir gehen jetzt zu meinem Jeep, und ich schaue mir das an.“

„Das ist sicher nicht mehr als ein Kratzer.“

„Das werden wir sehen.“

Robert legte ihr eine Hand in den Rücken und schob sie regelrecht den Berg hinauf. Schließlich dirigierte er sie auf den Weg, den sie vorhin als den falschen ausgemacht hatte. Recht schnell gelangten sie zu seinem dort geparkten Jeep.

„Am besten, Sie ziehen die Jacke aus.“

Lisa überlegte kurz, ob sie auf diese wenig freundlich vorgebrachte Bitte einfach nicht reagieren sollte, verwarf den Gedanken aber. Hauptsächlich deshalb, weil ihr pochende Schmerzen vom Nacken aus in den Kopf und die Schultern zogen. Also pellte sie sich aus der Jacke und erschrak über deren Zustand. An mehreren Stellen war der Stoff zerrissen. Weiße und graue Federn quollen hervor, als wollten sie nicht länger eingesperrt sein, sondern sich den Weg in die Freiheit bahnen. Dunkle Streifen am Kragen zeigten ihr, dass sie tatsächlich blutete. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, das Blut sacke ihr in die Beine, doch sie wehrte sich entschieden gegen die überhandnehmen wollende Schwäche ihres Körpers.

„Dann lassen Sie mich mal sehen.“ Jetzt klang Robert schon viel freundlicher. Also stützte Lisa die Hände auf den Türholm und neigte den Kopf nach vorn. Robert strich ihr behutsam die Haare aus dem Nacken, was ein seltsames Prickeln von dort aus bis in ihre Fingerspitzen und Zehen schickte. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

„Da ist ein Schnitt, gut fünf Zentimeter lang. Aber er ist weder breit noch scheint er sehr tief zu sein. Ich denke nicht, dass man das nähen muss.“

Mehr als ein beipflichtendes Nicken brachte Lisa nicht zustande. Robert hatte eine Hand auf ihren Oberarm gelegt, als wolle er sie stützen. Die dünne Bluse ließ die Wärme, die von ihm ausging, ungehindert zu ihr durch. Mit der anderen Hand strich er ihr behutsam über den Nacken und entfernte damit Rindenreste, Fichtennadeln und weiteren Schmutz.

„Bleiben Sie mal so stehen“, forderte er sie auf, wechselte auf die andere Seite des Fahrzeugs und kramte dort in einer Kiste. Lisa hob leicht den Kopf und spickte an ihren Haaren vorbei. Sie meinte, noch immer seine Berührungen zu spüren, obwohl er jetzt mehrere Meter von ihr entfernt stand. Das war verwirrend. Entsprechend aufgewühlt betrachtete sie seinen gesenkten Kopf mit dem kurzen, dichten Haar, in dem der halbe Wald zu stecken schien. Sie lächelte bei dem Anblick, aber nur so lange, bis ihr bewusst wurde, dass ihr Haar vermutlich wie ein Vogelnest aussah. Sie wollte es glatt streichen, unterließ es jedoch, da ihr selbst die kleinste Bewegung Schmerzen bereitete. Offenbar hatte sie von ihrem Rendezvous mit der Fichte mehr als nur einen Schnitt im Nacken davongetragen.

Robert kam wieder auf ihre Seite des Jeeps herüber. In der Hand hielt er eine dieser bauchigen Feldflaschen, die Wanderer so gern mit sich herumschleppen.

„Ich hoffe, da ist Champagner drin und nicht irgendein billiger Obstler.“

„Ich lebe nicht so dekadent, dass ich Ihnen Champagner über den Nacken schütten würde“, meinte er und tat, was er angedroht hatte. Eiskaltes Wasser perlte über ihre Haut. Sie zuckte zusammen und wollte dem Strahl ausweichen, kam aber nicht weit. Robert hatte sie erneut mit einer Hand am Oberarm gepackt und brauchte dort nur seinen Griff zu verstärken, auf der anderen Seite stellte er ihr einfach seinen breiten Körper in den Weg. Ein zweites Mal kam sie sich vor wie ein Reh. Diesmal aber wie eines, das von Robert in die Enge getrieben worden war. Seltsamerweise empfand sie das nicht unbedingt als etwas Schlechtes.

„So, das hat den gröbsten Schmutz rausgewaschen. Ich hoffe, Sie sind gegen Tetanus geimpft?“

Lisa nickte und verlor sich beinahe in seinen Augen, deren Farbe der des nahe gelegenen Sees glich. Sie sah etwas darin aufleuchten, als würden sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch den morgendlichen Dunst bahnen, der über der Wasseroberfläche hing, doch Robert wandte sich von ihr ab, ehe sie das Phänomen ergründen konnte.

„Steigen Sie bitte ein. Ich fahre Sie hoch zum Forsthaus.“

„Ich wollte an den See“, widersprach sie, vermutlich einfach nur, damit widersprochen war, und weil der dumpfe Schmerz in ihrem Oberkörper immer mehr zunahm.

„Meine Mutter lässt mich vier Nächte lang auf der Terrasse schlafen, wenn ich Sie in diesem Zustand allein zum See hinuntermarschieren lasse.“

„Das glaube ich Ihnen nicht. Ihre Mutter ist eine herzensgute, fürsorgliche und liebe Person.“ Eine Mutter, wie ich sie gern gehabt hätte. Sie vertrieb den Gedanken, der mit zu viel Schmerz einherging.

„Richtig. Und ihre Fürsorge erstreckt sich auch auf ihre Nachbarn da unten am See, auf die in Vierbrücken, offenbar auf Ihre Mutter und damit auch auf Sie. Also rein mit Ihnen.“

„Und auf Sie nicht?“

„Das hat mit der Terrasse nichts zu tun. Zu ‚herzensgut‘, ‚fürsorglich‘ und ‚liebend‘ gesellt sich – was ihre Söhne betrifft – auch eine gewaltige Portion Strenge.“

„Deshalb sind Sie alle so gut geraten?“

Robert, der Lisa die Tür aufhielt, schaute sie einen Moment zu lange an, was an einem Ort tief in ihrem Inneren ein nervöses Flattern hervorrief, ehe er ihr mit einem Nicken bedeutete, dass sie endlich in den Wagen steigen sollte.

„Das sagen Sie mal bitte meiner Mutter. Unbedingt!“

Lisa lachte und verstummte erst, als er sich neben sie setzte und ihr einen bösen Blick zuwarf. Also presste sie die Lippen zusammen, wohl wissend, dass er ihr ihre heimliche Belustigung durchaus ansehen konnte. Aber der Forstmeister starrte nur noch geradeaus, fast so, als habe er Probleme damit, den Geländewagen in der Spur zu halten.


Robert schaute von der Beifahrertür aus zu, wie Lisa langsam auf die Eingangsstufen zuging. Ihre Bewegungen ließen darauf schließen, dass sie unter Schmerzen litt. Vermutlich drangen die allmählich zu ihr durch, nun, da sich der Adrenalinspiegel in ihrem Blut senkte. Da Robert sie in der Obhut seiner Mutter gut aufgehoben wusste, schlug er die Tür zu, ging um den Jeep herum und sprang über den Türholm auf den Sitz. Er hatte zu tun.

Nachdem er den Motor gestartet hatte, warf er einen letzten Blick zur Haustür. Dort stand Lisa und schaute ihn über die Schulter hinweg an. Sie wirkte verloren. Wieder schlich sich das Bild eines Rehkitzes vor sein inneres Auge. Übermütig und neugierig, aber zutiefst verletzlich und … ja, was denn? Einsam? Weil ihm die Mutter fehlte?

Lisa hatte nicht viel erzählt, doch eines war sicher: Sie hatte die vergangenen Jahre bei ihrer Großtante in Frankreich gelebt. Die Tatsache, dass sie nichts von ihrer Schwester gewusst hatte, verdeutlichte, dass sich Mutter und Tochter in den letzten Jahren nicht gesehen, ja vermutlich nicht einmal Briefkontakt gehalten hatten.

Robert zwang sich, die Augen von ihr zu nehmen, und fuhr los. Er musste mit Edmund Schuster sprechen, denn Lisa hatte durchaus recht: Die Einheimischen wussten um die Bedeutung der roten Warnsignale, seien es nun Markierungen an Bäumen, ein rot bemalter, in die Erde gerammter Pflock oder – wie Lisa es genannt hatte – ein ausgedientes Herrenhemd als Baumschmuck. Da nun aber zunehmend mehr Touristen ihr kleines Tal bevölkerten, mussten diese entweder über die Schutzvorkehrungen informiert werden oder es war an der Zeit, einheitliche und für jeden verständliche Warnhinweise anzubringen.

Die Vorstellung, dass einer ihrer Urlaubsgäste unter einen fallenden Baum geraten könnte … Robert atmete tief durch. Lisa hatte unglaubliches Glück gehabt. Oder ein Engel hatte seine schützende Hand über sie gehalten; so wie man es gern annimmt, wenn ein Kind vor großem Unglück bewahrt wird.

Sie ist kein Kind mehr. Dessen war Robert sich sicher, schließlich hatte er sie heute mehr als einmal im Arm gehalten – oder zumindest so etwas in der Art. Bei der Erinnerung an ihren weichen Körper, den Anblick ihres schlanken Halses und die Weichheit ihres samtigen Haares stieg eine aufwühlende Hitze in ihm auf. Es war lange her, seit er zuletzt eine Frau im Arm gehalten hatte, einmal abgesehen von seiner Mutter und seiner Cousine, was beides nicht zählte. Reagierte er deshalb so heftig auf Lisas Anwesenheit?

Gestern Abend hätte er beinahe angeboten, seiner Mutter und Lisa beim Abwasch zu helfen, obwohl in seiner eigenen kleinen Küche noch jede Menge dreckiges Geschirr auf ihn gewartet hatte. Lisas fröhliches Lachen war bis in den Anbau herübergedrungen, den er sich mit seinem Großvater teilte. Es war ihm zeitweise unmöglich gewesen, sich auf den Papierkram zu konzentrieren, den er zu erledigen hatte, so sehr hatte das glockenhelle Lachen der jungen Frau ihn abgelenkt.

Robert schrak hoch, als ein Ast am Jeep entlangschrammte. Schnell lenkte er gegen. Es war leichtsinnig, auf den schmalen Waldwegen mit den Gedanken woanders spazieren zu gehen, zumal der Hang an einigen Stellen besonders steil abfiel. Kaum weniger gefährlich war es für ihn, sich intensiven Überlegungen Lisa betreffend hinzugeben, da sie in etwa drei Wochen ohnehin wieder abreisen würde. Er hatte nicht vor, sich ein zweites Mal das Herz aus dem Leib reißen zu lassen. Dumm nur, dass genau dieser Gedanke darauf hindeutete, dass er offenbar bereit war, es erneut zu verschenken. Vergiss es!, versuchte er, sich selbst zur Vernunft zu bringen.


Lisas Überraschung wandelte sich in Begeisterung. Leichtfüßig sprang sie aus dem Bett und eilte über die kalten Bodenbretter zum Fenster. Die Bäume an den Hängen waren mit Puderzucker bestreut, die Wiesen leuchteten ebenfalls in reinstem Weiß und der See war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die aussah wie der Zuckerguss auf einem Kuchen.

Früher im Allgäu hatte Lisa massenhaft Schnee zu sehen bekommen, in Frankreich nur selten. Das, was sich ihr hier zum Bewundern darbot, war nicht gerade eine dichte Schneedecke, aber Lisa hatte dieses wunderschöne und bezaubernde Weiß so lange nicht mehr gesehen, dass es sie regelrecht überwältigte.

Eine Windbö strich nahe am Forsthaus durch die Bäume und wehte einige Flocken herbei. In der strahlenden Sonne und vor den vereinzelten blauen Flecken am Himmel funkelten sie wie Diamanten. Wie Feenstaub, korrigierte Lisa sich, wirbelten die Kristalle doch verspielt durch die Luft. Sie liebte die Geschichte von Peter Pan und seinen verlorenen Jungs, da sie selbst doch auch ein verlorenes Kind voller Sehnsucht nach einer Mutter gewesen war.

Eilig wusch sie sich, froh darüber, dass ihre Schulter und ihr Nacken nur noch einen mäßigen Schmerz aussandten, zog sich Hose und Pullover an und eilte die Stufen hinunter. Die Eingangstür stand offen, also stürmte sie darauf zu, prallte aber nach wenigen Metern gegen jemanden, der gerade aus der Tür zum Anbau in den Flur trat. Die muskulöse Gestalt gehörte eindeutig nicht zu Johann.

„In welche Gefahr wollen Sie sich diesmal stürzen?“, erkundigte sich Robert und klang dabei sehr gelassen. Oder noch müde?

„In keine!“, erwiderte Lisa ein wenig atemlos und drückte sich von ihm weg. Allerdings hatte er es nicht sonderlich eilig, seine Hände, die an ihrer Taille lagen, von ihr zu nehmen.

„Es sah aber so aus, als planten Sie, die Außentreppe hinunterzufallen.“

„Ich hätte schon rechtzeitig angehalten. Ich will doch nur den Schnee sehen. Und anfassen.“ Sie wusste, dass sie wie ein Kind klang, doch das war ihr egal. Aufgeregt trat sie von einem Fuß auf den anderen.

„In Strümpfen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie sah sich um. Robert hatte recht: Sie war am Schuhregal vorbeigerannt. Prüfend schaute sie zu ihm auf. Sein unrasiertes Gesicht wirkte dunkel, sein Grinsen frech. Und das Blitzen in diesen seeblauen Augen war … aufwühlend. Doch ohne ersichtlichen Grund verfinsterte sich seine Miene und er trat zurück. Dabei schüttelte er über irgendetwas, was sich ihr nicht erschloss, den Kopf und ließ sie stehen.

Lisa verdrängte das seltsame Gefühl, das sie beschlichen hatte, schlüpfte in Charlottes Wanderschuhe und eilte, ohne diese zuzuschnüren, zur Treppe, die bereits von jemandem gefegt worden war. Vorsichtig stapfte sie hinunter auf den mit Kieselsteinen ausgelegten Vorplatz und griff behutsam in die etwa fünf Zentimeter hohe Schneedecke. Auf deren Oberfläche glitzerten einzelne Kristalle im fahlen Sonnenlicht; kleine Kunstwerke, einzigartig in ihrem weißen Kleid.

„Wie wunderschön du bist“, flüsterte sie. Watteweiche Kälte durchströmte ihre Handfläche, Erinnerungen ihre Gedanken, Schmerz ihre Seele. Sie war so glücklich und zugleich so unglücklich gewesen. Sie hatte eine Menge Freunde und fürsorgliche Nachbarn gehabt, aber keine Mutter, die sie liebte. Dabei hatte sie Gerda geliebt, wie wohl jedes Kind seine Mutter liebt. Bis sie in einem ratternden Zug gesessen und, umgeben von wildfremden Menschen, begriffen hatte, dass sie keine Mutter mehr hatte; nie eine gehabt hatte. Und nicht einmal da war ihre Liebe gestorben, aber das Wissen geboren, dass sie nicht geliebt wurde. Weil sie nicht liebenswert war.

Lisa betrachtete ihre nasse Handfläche. Der Schnee war geschmolzen, das Wasser jedoch noch immer da. Camille hatte ihr gesagt, dass Liebe viele Formen annimmt, man einige deutlicher sieht und spürt als andere. Nur weil Gerda selten für sie da gewesen war, kaum einmal gekocht und viele Dinge versäumt hatte, die andere Mütter tun, hieß das nicht, dass sie Lisa nicht geliebt hatte. Lisa war jedoch begierig darauf gewesen, Liebe zu sehen. Sie zu spüren, zu erfahren, zu begreifen. Es hatte sie zutiefst verletzt, weggeschickt zu werden wie ein Haustier, das einem lästig fällt.

Geblieben war ihre Sehnsucht nach Akzeptanz. Nach Zugehörigkeit. Nach Liebe.

Lisa richtete sich auf und wandte sich wieder dem Forsthaus zu. Eingebettet in die bewaldeten Hügel und umschmeichelt vom frisch gefallenen Schnee, stand es beständig und fest an seinem Platz. Es beherbergte eine Familie, die sich herzlich zugetan war, sich umeinander kümmerte, miteinander lachte, weinte, betete, hoffte und sicher auch mal stritt. Genau so, wie es in Lisas Vorstellung sein musste. Aber sie war kein Teil davon. Die Vogels waren nur eine Familie auf Zeit. Das musste sie sich immer wieder sagen, damit sie es ja nicht vergaß. Denn schon nach diesen wenigen Tagen, die sie hier verbracht hatte, war sie dabei, ihr Herz an sie zu verlieren.


Charlotte setzte sich als Letzte an den Tisch und senkte den Kopf. Ihr Mann dankte Gott für die Ruhe in der Nacht, für den Schnee, obwohl der ihm seine heutige Aufgabe erschweren würde, und für ihren Gast. Er bat um Schutz und Segen für sie alle, und kaum dass er mit dem obligatorischen Amen geschlossen hatte, lagen bereits zwei dicke Brotscheiben auf seinem Teller.

Charlotte lachte in sich hinein. Heinrich schien immer am Verhungern zu sein und konnte essen, was er wollte, ohne ein Gramm zuzulegen. Ganz im Gegensatz zu ihr. Aber er beteuerte stets, dass er jedes Gramm an ihr liebe und jetzt eben noch mehr zu lieben habe als in früheren Jahren.

„Wie geht es deinem Rücken, Lisa?“, wandte sich Charlotte an ihren Gast, der an diesem Morgen gedankenversunken wirkte. Ob die junge Frau doch unter stärkeren Schmerzen litt, als sie bereit war zuzugeben?

„Es ist nicht schlimm“, beteuerte Lisa und schenkte ihr ein dankbares Lächeln.

„Es gibt solche Menschen, die von den Bäumen verwarnt, aber nie getroffen werden“, merkte Johann an. Morgens klang seine Stimme noch mehr als sonst wie das Knattern eines alten Automotors. Charlotte, die das lange Zeit irritiert hatte, liebte es inzwischen. Ihr Schwiegervater war ein feiner Mensch, nur manchmal etwas wunderlich, was mit zunehmendem Alter nicht gerade weniger wurde.

„Und es gibt solche, die eine Gefahr nicht einmal dann erkennen, wenn sie auf sie zustürzt“, brummte Robert.

Charlotte beobachtete, wie Lisa das Messer, das sie gerade ergriffen hatte, wieder auf den Tisch legte und Robert mit ihren braunen Augen fixierte. Doch ehe sie etwas sagen konnte, hob er die Hand. „Ich war wegen einheitlicher und für Städter verständlicher Warnhinweise in Vierbrücken. Dort wird man bei der nächsten Sitzung des Dorfrates über den Sicherheitsaspekt sprechen.“

„Demnach gibt es auch Menschen, die durch das, was ihnen widerfahren ist, Verbesserungen erwirken“, konterte Lisa trocken, was Johann ein Grinsen ins Gesicht grub, das mit unzähligen Falten daherkam.

„Das können Sie sich jetzt gern auf die Fahnen schreiben“, brummte Robert.

„Auf rote? Genäht aus Männerhemden?“

„Wer zieht denn rote Hemden an?“, fragte Johann und wirkte nun verwirrt.

„Sträucher an Weggabelungen?“, schlug Lisa vor.

Johann schüttelte den Kopf, und Charlotte gewann allmählich den Eindruck, dass Lisa und Robert einen kleinen Krieg ausfochten. Aber weshalb nur? Immerhin hatte Charlotte ihren Sohn zur Höflichkeit erzogen, er war ihrem Gast gegenüber sicher nicht unverschämt aufgetreten.

Ihr Blick wanderte zu Georg, der es schon wieder eilig zu haben schien. Sie unterdrückte ein Seufzen. So viel zu ihrer Hoffnung, Georg könnte sich für Lisa erwärmen. Offenbar hatte er derzeit nur die kleinen Holzhütten im Kopf, an denen er baute. Sah er denn nicht, dass Gott ihnen ein liebenswertes Mädchen ins Haus geführt hatte? Praktisch direkt vor seine Nase? Lisa war bei jedem Frühstück und Abendessen zugegen, und Charlotte hatte die beiden bewusst nebeneinandergesetzt. Was musste noch passieren, damit Georg das entzückende Wesen endlich bemerkte?

Charlotte besah sich den schmalen Goldring an ihrem Finger und warf dann einen Blick aus dem gegenüberliegenden Fenster. Der Schnee würde sicher innerhalb weniger Stunden geschmolzen sein, und dabei war es gerade der erste Schneefall im Winter, der die Landschaft mit einem ganz besonderen Zauber erfüllte. Entschlossen legte auch sie ihr Messer neben den Teller. „Georg, du könntest doch heute mit dem Auto zum See hinunterfahren und Lisa mitnehmen. Gestern hat sie es ja nicht bis nach unten geschafft.“

Johann gluckste und meinte dann: „Sie hat lieber mit einer unserer Fichten Bekanntschaft geschlossen. So gehört sich das, wenn man in einem Forsthaus lebt.“

„Opa, wir können hier keine fünf Forstwirte gebrauchen“, erwiderte Georg prompt, vermutlich weil er sich angegriffen fühlte. Schließlich hatte er mit der Familientradition gebrochen, ebenso wie Ralf – dieser sogar noch drastischer. Georg war wenigstens gelernter Zimmermann und arbeitete mit Holz.

„Sie soll ja auch kein Forstmeister werden.“ Johann deutete mit dem Kinn auf Lisa.

„Jetzt möchte ich das ganz sicher nicht mehr. Dieser Baum war nicht gerade besonders höflich zu mir.“

Johann beugte sich laut lachend über den Tisch und tätschelte unbeholfen, aber vergnügt Lisas Hand.

Georg hatte sich allerdings noch immer nicht zu dem Vorschlag geäußert, Lisa zum See mitzunehmen. Also fügte Charlotte hinzu, als wäre das bereits beschlossene Sache: „Lisa kann um den See herumwandern, später kannst du ihr noch deinen Campingplatz und all die anderen Dinge zeigen, die du dort auf die Beine gestellt hast.“

„Wenn sie das interessiert“, erwiderte Georg, der offenbar wenig begeistert von dem Vorschlag war. Ebenso wenig, wie er Interesse an Lisa hatte? Das wurmte Charlotte.

„Das würde ich gern, wenn es Ihnen keine Umstände macht. Kann man eigentlich auch zu der kleinen Insel hinüberrudern?“

Charlotte jubelte innerlich. „Georg besitzt natürlich auch einige Ruderboote. Selbstverständlich kann er dich damit zur Insel bringen.“

„Können Sie schwimmen?“, hakte Robert wenig zielführend nach – und seltsam aufgebracht, wie Charlotte fand.

„Auf jeden Fall besser, als ich Bäume auffangen kann.“

„Dann nimmst du an der Olympiade teil? So perfekt, wie du gestern die Fichte ausgetrickst hast, musst du sicherlich auch eine begabte Schwimmerin sein.“ Johann faltete die Hände im Schoß und lehnte sich bequem zurück.

Lisa lachte über seinen kleinen Scherz auf ihre Kosten, was Johann noch zufriedener aussehen ließ. Offenbar gefiel ihm die junge Frau ebenfalls, die da versehentlich bei ihnen aufgetaucht war. Ob auch er fand, dass sie perfekt zu Georg passen würde?, fragte sich Charlotte.

„Ich muss los!“, Georg warf die Serviette auf den Tisch, stand auf und zögerte dann. Schließlich zog er Lisas Stuhl zurück, damit auch sie sich erheben konnte.

„Ich bin in fünf Minuten an der Tür“, rief sie, schon im Hinauslaufen begriffen.

„Vielleicht bindest du sie besser am Ruderboot fest“, meinte Robert, der sich nun ebenfalls erhob und wie üblich das Geschirr zusammenstellte.

„Ich habe nicht den Eindruck, dass sie es auf gefährliche Abenteuer anlegt“, murrte Charlotte. Dass Robert der jungen Frau misstrauisch gegenüberstand, hatte er ihr gleich am ersten Abend nach Lisas Ankunft deutlich gemacht. Aber damit musste er ja nicht auch noch Georg anstecken. Immerhin spürte sie ganz deutlich, dass Georg und Lisa wie füreinander geschaffen waren. Darin war sie eine Art Expertin.

„Nein, aber sie scheint sie magisch anzuziehen, wie schon die Tatsache beweist, dass sie den Brief eines bayrischen Beamten für bare Münze nimmt, hier völlig unüberlegt auftaucht, einfach mit einem Fremden mitfährt und sich in einem Privathaus einnistet. Und wegen des Schnees hat sie sich aufgeführt wie ein kleines Kind.“

„Es ist schön, wenn man sich das Vertrauen in seine Mitmenschen und seine kindliche Freude bewahren kann“, sagte Johann.

„Solange Letztere nicht mit Unvernunft einhergeht.“ Robert verließ den Raum.

„Welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?“, fragte Georg, bereits auf dem Weg nach draußen.

„Eine Lisa-Laus“, hörte Charlotte ihren Schwiegervater leise vor sich hin lachen.

Charlotte eilte zur Küchenzeile, um ein paar Brote und etwas zu trinken für Lisa vorzubereiten, und packte beides in den kleinen Rucksack, der ebenfalls ein wenig unter dem Zusammenstoß mit der gefällten Fichte gelitten hatte. Sicher würde Lisa aufbegehren, weil Charlotte ihr derlei Aufgaben einfach abnahm, aber sie musste unbedingt verhindern, dass Georg ohne das Mädchen aufbrach, weil es ihm zu lange dauerte. Allerdings war Lisa tatsächlich innerhalb weniger Minuten wieder unten, bedankte sich auf ihre einnehmende, herzliche Art für die Wegzehrung und folgte Georg zu seinem Wagen, voller Vorfreude auf die Wanderung am See.

Charlotte stand in der Tür und rieb sich vergnügt die Hände.

„Als ich das mit der Schwiegertochter auf der Treppe gesagt habe, meinte ich das nur als Witz.“ Johann war neben sie getreten, legte nun den Arm um ihre Schulter und zog sie kurz an sich. Das tat er gern, um ihr zu zeigen, wie sehr er sie mochte und wie dankbar er dafür war, Teil der Familie sein zu dürfen.

„Ich finde den Gedanken aber gut.“

„Das weiß ich. Aber ich frage mich, ob du dich wirklich einmischen solltest. Auch wenn die beiden Jungen sich benehmen wie Holzköpfe, haben sie dennoch ein Herz. Sie finden ihren Weg. Und es sollte nicht deiner sein, sondern ihrer. Und der, den Gott für sie vorgesehen hat.“

„Du hast recht. Ich sollte mich nicht einmischen. Es ist nur so, dass Robert noch immer so verletzt ist. Er sieht in Lisa vielmehr eine Bedrohung. Also dachte ich, ich könnte Georg ein bisschen … in die richtige Richtung schubsen. Der Junge sieht ja nur noch seine Arbeit, und dabei weder nach links noch nach rechts.“

„Dann solltest du Lisa bei Tisch nicht neben ihn setzen, sondern ihm gegenüber.“

Charlotte lehnte sich kichernd an ihren Schwiegervater, da sie ihm ja schwerlich einen Rippenstoß verpassen konnte.

„Halte dich besser raus, Lotti. Liebe kann man nicht erzwingen.“

„Na gut.“

„Ich fahre mit Roberts Auto nach Vierbrücken, brauchst du etwas von dort?“

„Nein, danke.“ Charlotte ging zurück in die Küche und stellte sich vor den Wandkalender. Wann kommt Ralf noch gleich, um die Semesterferien hier zu verbringen?

Winterleuchten am Liliensee

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