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KAPITEL DREI
ОглавлениеIn Megans Leben hatte es immer haufenweise Jungs gegeben. Als sie drei war, war es der lispelnde Bo gewesen; mit vier der dauernd keuchende Tyler. Mit fünf bekam sie den ersten flüchtigen Kuss von einem Jungen namens Nick, der sich vor ihr aufbaute und dann vorbeugte wie eine von diesen mechanischen Aufziehpuppen. Das war eine gewaltige Enttäuschung gewesen.
Während der Grundschulzeit rief immer der eine oder andere Junge an. Weil Megan nicht nur hübsch, sondern auch intelligent und verantwortungsbewusst war, riefen die Jungen unter dem Vorwand an, etwas über Mathe, Rechtschreibung oder Geographie wissen zu wollen – irgendwas, nur um mit ihr reden zu können. Jungen, die, wenn sie unter sich waren, angeekelt das Gesicht verzogen, wenn der Name eines Mädchens nur erwähnt wurde, luden Megan heimlich zu Geburtstagsessen ihrer Familie in die Casa Bonita in Denver ein, wo das fade mexikanische Essen nur eine Beigabe war zu den verwegenen jugendlichen Klippenspringern, die sich von künstlichen Felsen in sprudelnde Pools stürzten – und zwar direkt neben dem Tisch, an dem man saß.
In der Junior Highschool kamen dann Matt, der Skifahrer, Tyler, der Snowboarder, und Kyle, der Skateboarder. Keiner brachte es auf mehr als einen oder zwei Monate. Nicht dass Megan absichtlich grob mit ihnen umsprang, nach ein paar Kinobesuchen und Partys, bei denen sie rummachten, verlor sie einfach das Interesse. Megan betrachtete Jungen hauptsächlich als Gelegenheit, das andere Geschlecht zu erkunden. Wenn also Kyles Hand unter ihre Bluse fuhr und ihre sich aufrichtenden Brustwarzen streichelte, dann griff sie in seine Hose und berührte die weiche Spitze seines Penis. Für Megan fühlten sich Brustwarzen und Penisse ungefähr gleich an.
Als sie in die Highschool kam, hielt Megan die Zeit für etwas Ernsthafteres gekommen. Sie sah sich nach älteren Jungen um (die sich wiederum nach ihr umsahen), und als gegen Ende ihres zweiten Highschool-Jahres im Oktober das Homecoming-Fest, das alljährliche Treffen der Ehemaligen vor der Tür stand, befanden sich noch zwei Jungen in der engeren Wahl: Duane, der Fußball spielte und sich jeden Abend in seinen E-Mail-Account als »nutkicker22« einloggte, und Bill, einer der fleißigeren Jungen aus ihrem Leistungskurs über das amerikanische Regierungssystem, der sie schon seit September gedrängt hatte, bei seiner Arbeitsgruppe mitzumachen.
Bill Branson äußerte zu allem offen seine Meinung. Den Präsidenten nannte er einen Lügner. Die Journalisten von Fox News nannte er eine Bande von Lügnern. Die Mitglieder des Schulausschusses nannte er engstirnig und den Stadtrat eine Bande von mickrigen Schleimern. In ihrem Leistungskurs hatte er einmal vehement die Ansicht vertreten, dass Richter Harry Blackmun – dem das Urteil im Fall Roe gegen Wade zu verdanken war, das den Schwangerschaftsabbruch legalisierte – ein Held sei.
Megan hatte anfangs nicht kapiert, dass sie der Grund gewesen war, warum sich Bill über dieses Thema ausgelassen hatte. Aber eines Tages beim Lunch, während Duane draußen auf dem Sportplatz verbissen einen Fußball jonglierte, hatte er ihr erzählt, dass er den Mut ihrer Mutter bewundere.
»Nicht dass ich für Abtreibung als Methode der Geburtenkontrolle bin«, sagte er und biss in seine mit Käse gefüllte Calzone. »Aber es passieren nun mal Fehler. Kondome können platzen. Und dafür sollte man nicht den Rest seines Lebens büßen müssen.«
Megan sagte nichts dazu. Bill hatte unwissentlich in ein Wespennest gestochen. Ihre Ansichten über Abtreibung waren viel komplexer, als er wissen konnte. Zum ersten Mal hatte sie das Ergebnis der Arbeit ihrer Mutter gesehen, als sie noch in der Middleschool gewesen war. Nach der Schule war sie immer in die Klinik ihrer Mutter gegangen, um dort die Hausaufgaben zu machen. Normalerweise fand sie immer ein leeres Untersuchungszimmer, wo sie arbeiten konnte; von dem, was in dieser Klinik gemacht wurde, hatte sie noch nie etwas mitbekommen. Eines Tages jedoch hatte jemand versehentlich einen weißen Behälter in einem Raum stehen lassen, und Megan hatte den Fehler begangen hineinzuschauen. Entsetzt starrte sie in die zähe blutige Masse, in der sich winzige Finger mit glasigen Punkten an den Spitzen, kurze Beine, die wie gekochte Nudeln aussahen, und bohnenförmige Köpfe befanden. Sie starrte in das Gefäß, bis zufällig eine der Schwestern hereinschaute und den Behälter leise fluchend mitnahm.
Megan hatte ihrer Mutter nichts davon gesagt, aber der Anblick verfolgte sie. Am gleichen Abend sah sie ihr in der Küche dabei zu, wie sie für das Essen rote Paprikaschoten klein schnitt, und sie stellte sich unwillkürlich vor, wie die gleichen Hände ein Baby zerrupften. Was für ein schrecklicher Beruf, dachte sie. Von da an sah sie ihre Mutter in einem irgendwie teuflischen Licht. Was die Sache noch schlimmer machte: Sie fing an sich Sorgen zu machen, dass sie das Karma ihrer Mutter in sich trug und in ihrem eigenen blutigen Schleim, den sie jeden Monat absonderte, kleine Körperteile auftauchen würden.
Bill hatte also keine Ahnung, an was er da rührte, als er von Dianas Mut sprach. Damals in der Schulcafeteria traf Megan die sehr praktische Entscheidung, dass das nicht die passende Zeit und der passende Ort sei, zu versuchen, ihm ihre sehr widersprüchlichen Gefühle zu erklären. Stattdessen wechselte sie das Thema – zumindest ein bisschen. Sie fragte ihn kess, ob er schon mal jemanden geschwängert hätte.
»Nein«, sagte Bill. »Du?«
Megan lachte nervös.
»Du weißt, was ich meine. Bist du schon mal schwanger gewesen?«
»Nein«, sagte sie und merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Was ungewöhnlich war, da sie in Gesellschaft von Jungen nur selten errötete oder sich überhaupt unsicher fühlte.
»Was sind wir doch für Glückspilze, stimmt’s?«, sagte Bill und zerknüllte das Pizzapapier.
Die kurze Unterhaltung implizierte, dass der Verdruss einer ungewollten Schwangerschaft etwas war, was Megan schon durchgemacht haben könnte; was wiederum implizierte, dass sie schon Geschlechtsverkehr gehabt hatte, ohne den es derartigen Verdruss ja nicht geben konnte. Beides ließ sie unwidersprochen. Sie hatte ein komisches Ziehen im Magen, als sie vom Tisch aufstand, ein Ziehen, das im Laufe des Nachmittags mal schwächer und mal stärker wurde, Letzteres vor allem bei dem Gedanken an Sex mit Bill.
Duane machte Megans Entscheidung für das Homecoming-Fest schwer zu schaffen. Sie hätte ihm etwas vorgemacht, sagte er, sie hätte ihn verarscht. Als er merkte, dass er sie damit nicht umstimmen konnte, warf er ihr vor, dass sie ihn erst scharf gemacht und dann hängen gelassen habe. Der Vorwurf verletzte sie mehr, als sie zugeben wollte. Es war ein hässlicher Vorwurf. Sie kam sich vor wie eine hinterhältige Schlampe, schmutzig und gemein, dabei hatte sie sich einfach nicht entscheiden können.
Manchmal wünschte sie sich, dass sie über solche Sachen mit ihrer Mutter reden könnte. O Mann! In einer Million Jahren würde sie das nicht tun. Megan widerte es an, mit Diana über Sex oder Liebe zu reden. Oder darüber, was für Veränderungen ihr Körper gerade durchmachte. Damals, als sie in der sechsten Klasse gewesen war, hatte Diana eine einzige flapsige Bemerkung darüber gemacht, dass sich unter ihrem T-Shirt ihre winzigen Brustwarzen abzeichneten, und das hatte genügt, um Megan für immer verstummen zu lassen. Als Diana sie später gefragt hatte, ob sie nicht zusammen einen BH kaufen sollten, hatte Megan sie nur wortlos und wütend angeschaut, worauf ihre Mutter das Thema nie wieder erwähnte. (Das Gleiche mit Tampons, ein Wort, das Diana anscheinend nicht aussprechen konnte, ohne im gleichen Atemzug auch noch das Wort Hymen unterzubringen. Megan fuhr ihr mitten im Satz über den Mund und gab ihr deutlich zu verstehen, dass sie das schon selbst regeln werde. Und das tat sie auch: Nachdem sie sich ein paar Monate mit den dicken Monatsbinden herumgeärgert hatte, ging Megan in die Stadt und kaufte sich selbst eine Packung SlimFits. Anhand der illustrierten Gebrauchsanweisung bekam sie schnell heraus, wie sie das linke Knie anheben und den kleinen Torpedo einklinken musste, und von da an machte es ihr nicht mehr sonderlich viel aus, eine Frau zu sein. Das Einzige, was sie von Diana brauchte, war Bargeld und ab und zu einen Schluck Brandy, wenn die Krämpfe so stark waren, dass sie morgens nicht aus dem Bett kam.)
An dem Abend, als sie Bill gesagt hatte, dass sie mit ihm zu dem Fest gehen würde, konnte sie nicht einschlafen. Sie spürte, wie sich in ihrem Innern ein unerträglicher Druck aufbaute, eine Energie, mit der sie nicht wusste, wohin. Sie hatte gelesen, dass es Autisten gab, die einen Druck von außen spüren mussten, für die man tatsächlich ausgeklügelte Kompressionsapparate gebaut hatte, die ihren Nöten abhalfen. Megan lag im Bett und stellte sich vor, wie sie in so eine Maschine steigen und wie gut sich das anfühlen würde, von allen Seiten gedrückt zu werden.
Aber sie hatte keinen solchen Apparat, und so lag sie an jenem Abend in ihrem Bett, und während am Himmel der Mond vorüberkroch, hörte sie in ihren Ohren Bills Stimme, spürte zwischen ihren Beinen dieses warme, anschwellende Kügelchen, das hart wie Eisen war, zog die Knie an und zerrte unerbittlich an sich herum. Verwirrt, unter Schmerzen, warf sie sich hin und her: Denn so viel sie auch wusste über das Regierungssystem der USA, über Tangenten, Tampons und wie man mit einem Jungen flirtete, so wenig wusste sie über ihren eigenen Körper oder wie er reagierte, wenn man ihn an der richtigen Stelle berührte.
Doch darüber würde sie mit ihrer Mutter ganz sicher nicht sprechen.
***
Da Megan erst im zweiten Highschool-Jahr war, konnte sie nicht zur Homecoming-Queen gewählt werden. Diese besondere Auszeichnung war einer Schülerin aus den beiden höheren Klassen Vorbehalten. Stattdessen konnte sie an diesem kühlen Oktoberabend vielleicht zu Bills ganz persönlicher Queen avancieren. Sie trug ein langes, tief ausgeschnittenes Taftkleid, das ihre Taille und ihren Busen gut zur Geltung brachte. Als ihr Vater sie in dem Kleid sah, stieß er einen langen, leisen Pfiff aus – was allein schon peinlich genug war, aber nichts verglichen mit ihrer Mutter, die sie schroff daran erinnerte, dass man ihr noch kein Diaphragma angepasst habe und dass sie sich angesichts der zehnprozentigen Fehlerquote keinesfalls auf Kondome verlassen solle.
»Diana! Die beiden gehen aufs Homecoming-Fest und nicht ...« Er wandte sich um und schaute Megan an. »Du schläfst doch nicht mit ihm, oder?«
»O Gott!«, sagte Megan.
»Da siehst du’s, du hast sie in Verlegenheit gebracht«, sagte Frank zu Diana. »Warum musst du auch immer so drastisch sein.«
»Herrgott noch mal«, sagte Diana. »Die nehmen doch so was in der Schule durch. Lehrer reden drüber, Schüler reden drüber, warum soll gerade ich den Mund halten?«
Megan hob den Blick und flehte Gott an, er möge sie beide erschießen.
Als Geschenk für Megan brachte Bill ein rosa Ansteckbukett mit. Sie hatte ein weißes Knopflochsträußchen für ihn. Frank fotografierte, wie Bill ihr das Bukett ans Kleid steckte und sie ihm das Sträußchen ins Knopfloch. Nachdem Frank seine Fotoserie – Megan allein, Bill allein, Megan und Bill, Megan und Frank, schließlich Frank, Megan und Diana – im Kasten hatte, fragte er Bill, wann er vorhabe, Megan wieder zu Hause abzuliefern.
»Um eins, Sir«, sagte Bill.
»Hört sich vernünftig an«, sagte Frank.
Diana beäugte Bill von Kopf bis Fuß. Sie hatte ihn in diese Welt befördert, damals, bevor sie die Klinik übernommen hatte. Sie hatte ihn auch beschnitten, fiel ihr jetzt wieder ein. Unwillkürlich schaute sie ihm zwischen die Beine.
»Ich möchte sowieso nicht zu lange bleiben«, sagte Bill.
Diana verdrehte die Augen. »Damit eins von vornherein klar ist, Bill. Ich lass mich nicht verscheißern, verstanden? Ich weiß sehr gut, dass die Kids heutzutage die ganze Nacht wegbleiben, und wenn ihr Burschen überall ein Handy mitschleppen könnt, dann könnt ihr genauso gut...«
»Ein Uhr erscheint mir vollkommen okay«, unterbrach Frank seine Frau und geleitete die beiden zur Haustür. »Kein Alkohol, keine Drogen. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Und keinen Sex«, fügte Diana hinzu. »Nicht bevor ich dir ein Diaphragma besorgt habe.«
»O Gott!«, sagte Megan und schlug die Tür hinter sich zu.
Megan und Bill blieben nicht lange auf der Homecoming-Soiree. Nach ein paar lustlosen Tänzen zogen sie sich in Bills Wagen zurück, wo sie übereinander herfielen, sobald die Türen ins Schloss gefallen waren. Lange, verschlingende Küsse und Hände, die am Körper des anderen auf und ab fuhren – ein himmelweiter Unterschied zu mechanischen Aufziehpuppen. Zwischen ihren Beinen spürte Megan wieder dieses warme, stahlharte Kügelchen. Das machte sie so kirre, dass sie, als sie zum Luftholen einmal ihre Lippen von Bills Mund löste, förmlich nach Luft japste. Bills Gesicht sah aus, als sei es von Wut verzerrt – so kam es ihr zumindest vor. Erst als er sie heftig an sich riss, wusste sie, dass nicht Wut, sondern Geilheit seine Züge verzerrte. Sie hatte davon zwar schon gelesen und gehört, bis jetzt aber nicht gewusst, was das eigentlich war.
Sie rasten in Richtung Vorberge. Mit einer Hand hielt Bill das Lenkrad, mit der anderen machte er sich unter Megans Kleid zu schaffen. Bei der ersten Abzweigung – kurz vor dem Overlook Restaurant, wo ihre Eltern gerade zu Abend aßen – sagte sie, er solle anhalten. Noch bevor er die Handbremse anziehen konnte, hatte sie ihm schon den Reißverschluss aufgemacht. Sein Penis platzte heraus. Sie nahm ihn in die Hand. Er war glatt, leicht gebogen und fühlte sich an wie eine kleine Zucchini. Er stöhnte und zerrte ihr dann das Oberteil ihres Kleides bis zur Taille herunter. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis er seine Finger zwischen ihre Beine schob. Megan keuchte. O Gott, ein Homerun, gleich an ihrem ersten Abend mit Bill! Sie keuchte so heftig, dass sie sich fragte, ob Leute beim Sex bewusstlos würden. Flüchtig dachte sie an Kondome.
Doch als er schließlich den Sitz nach hinten klappte, ihre Beine spreizte und in sie eindrang, als sie den ersten grässlich schönen Stoß spürte, da waren das Letzte, woran sie dachte, Kondome oder Bewusstlosigkeit oder Baseballmetaphern. An diesem Abend hatte sie die Grenze überschritten. Sie war keine Jungfrau mehr, was bedeutete, sie war nicht mehr das Kind ihrer Eltern.
Es war das Coolste, was ihr je passiert war.
***
Nach dieser ersten Nacht wollte Megan Sex, wann immer sich die Gelegenheit bot: während der Mittagspause, nach der Schule, abends bei Bill zu Hause, wenn sie eigentlich lernen sollten. Sie machte sich keine Sorgen darum, dass sie schwanger werden könnte. Sie hing nämlich nicht nur dem Teenagerglauben an, dass sie ohnehin nicht älter als dreißig werden würde, sie war auch fest davon überzeugt, dass ihre sogenannten Perioden in Wirklichkeit die Anfangsstadien irgendeiner Art von Krebs seien und sie deshalb unfruchtbar sei. Wenn sie also sowieso keine Kinder kriegen konnte und binnen der nächsten Dekade sterben würde, warum sollte sie dann nicht ihren Spaß haben.
Meistens machten sie es bei Bill zu Hause. Bei dem Gedanken, dass seine Eltern oben vor dem Fernseher saßen, während sie es im Souterrain auf dem vernoppten, fleckigen Sofa miteinander trieben, verspürte sie einen besonderen Kick. Sie ging ins nächste Einkaufszentrum und klaute einen schwarzen, spitzenbesetzten BH, um ihren Busen anzuheben, und einen schwarzen Stringtanga, der sich – zugegebenermaßen – genauso anfühlte wie die Monatsbinden von früher. Aber immerhin kam sie sich damit ihren Eltern herrlich entfremdet vor.
Bill seinerseits war ganz und gar zufrieden, so wie die Sache lief. Er war sich nicht sicher, ob er Megan liebte, aber, so kam es ihm zumindest vor, ihr war das auch nicht so wichtig. Warum also sollte er ihre Avancen ablehnen? Manchmal dachte er daran, Kondome zu benutzen, aber da Megan sich ihrerseits keine Gedanken zu machen schien, nahm er einfach an, dass ihre Mutter ihr die Pille besorgt hätte. Es hatte schon eine Menge Vorteile, dachte er sich, die Tochter der Abtreibungsärztin vor Ort zur Freundin zu haben – einer war, dass er sich nicht mit engstirnigen Ansichten darüber herumschlagen musste, ob man als Teenager Enthaltsamkeit zu üben habe.
Fünf Wochen später blieb Megans Periode aus.
Die Albträume begannen kurz danach. Sie träumte, dass man ihr in einem Chinarestaurant statt scharfsaurer Suppe eine zähflüssige rote Brühe servierte, in der winzige Füße schwammen. In kalten Schweiß gebadet, wachte sie auf. Sie und Bill zermarterten sich den Kopf darüber, was sie jetzt tun sollten. Bill drängte darauf, aus dem Büro ihrer Mutter einen Schwangerschaftstest zu klauen, aber Megan war das Risiko zu groß, erwischt zu werden. Sie wartete und wartete. Dauernd verschwand sie ins Bad und rubbelte sich in der Hoffnung auf das kleinste Anzeichen einer roten Verfärbung mit Klopapier ganz wund.
Aber es verfärbte sich nichts, und nach sieben Wochen, als sie nicht nur überzeugt davon war, schwanger zu sein, sondern sich auch noch schuldig fühlte, weil sie sich in diese Lage gebracht hatte, kaufte sie sich im Drugstore einen Schwangerschaftstest. Wenn er negativ ausfiel, großartig, wenn er positiv ausfiele ...
Sie dachte an den weißen Behälter.
Genau nach Anweisung tropfte sie am nächsten Morgen etwas Urin auf den Teststreifen. Eine einzige rote Linie tauchte in dem Sichtfenster auf. Sie wartete noch ein bisschen. Immer noch nur eine einzelne rote Linie. Sie hielt das Röhrchen unter das Licht. Als ihr klar wurde, dass der Test negativ war, wollte sie in die Luft springen und Räder schlagen. Stattdessen lief sie die Treppe hinunter, schlang zum ersten Mal seit drei Jahren freiwillig die Arme um ihre Mutter und schoss zur Tür hinaus Richtung Schule. An diesem Morgen schrieb sie einen Einser in Mathe, las drei Kapitel mehr über das amerikanische Regierungssystem als gefordert und meldete sich freiwillig, um bei den Vorbereitungen für die anstehende College Night mitzuhelfen. Sie kaufte eine Packung Kondome und eine riesige Tube Spermizid-Gel. Was Bill anging, so hatte er das Gefühl, dass diese Erfahrung sie als Paar zusammengeschweißt hatte. Er fühlte sich jetzt gebunden. Und er wollte Megan seine Liebe erklären. Weil es ihm nämlich zum ersten Mal in seinem Leben passierte, dass er nachts zerrissen und verstört aufwachte, was teils von dem Bewusstsein herrührte, geliebt zu werden, teils von der Furcht, dass dieses neu entdeckte Selbstwertgefühl am nächsten Morgen verschwunden sein könnte, dass alles vielleicht nur ein großer Witz, ein dummer Traum, eine Fata Morgana gewesen sein könnte.
***
Megans morgendliche Umarmung bescherte Diana schlagartig zwei Erkenntnisse über ihre Tochter. Erstens: Das Mädchen war verliebt. Es war eine gesicherte medizinische Tatsache, dass die Liebe aus muffeligen Halbwüchsigen gefühlvolle, zärtliche Töchter machte. Zweitens: Ihre Tochter war nicht nur verliebt, sie war auch sexuell aktiv – die Pheromone hingen in Schwaden im Haus, man hätte sie von den Wänden wischen können. Jedes Zimmer roch nach Pilzen und Moschus; Diana konnte Megan nicht mal anschauen, ohne sofort in die Zeit zurückgebeamt zu werden, als sie sechzehn und ebenfalls mit einem permanent stählernen Schmerz zwischen den Beinen herumgelaufen war.
Eines Abends stand sie in der Küche und schnipselte Gemüse. Frank saß an der Kücheninsel und arbeitete einen Schriftsatz durch. Die Brille saß schief auf seiner Nase. Die Nachrichten liefen, draußen bellte der Hund eines Nachbarn. Da war wieder dieser Geruch! Megan war gerade durch die Küche gegangen, und gegen ihren Duft verblasste sogar das Aroma der süßen Vidaliazwiebeln, die Diana gerade schnitt. Diana war sich sicher, dass es Frank auch auffallen würde. Das musste er doch einfach riechen. Sie könnten nach oben gehen, sich lieben und später zu Abend essen. Sie wartete darauf, dass er die Akte beiseitelegte. Als er es endlich tat, setzte er die Brille ab, nahm die Fernbedienung und zappte zu einem anderen Nachrichtensender.
Diana schnitt weiter Zwiebeln und fragte sich, wie sie nur so schnell so alt hatte werden können.
***
Im Frühling bekam Bill zu seinem siebzehnten Geburtstag von seinen Eltern eine Digitalkamera geschenkt. Er wollte sie sofort an Megan ausprobieren.
»Vergiss es!«, sagte sie, als sie begriff, was er damit meinte. Sie waren oben in Bills Zimmer, einer dunklen, chaotischen Höhle mit einem ungemachten Rollbett und herabgelassenen Jalousien. Außerdem hatte Bill eine Stereoanlage bekommen, deren klobige Komponenten wie riesige Steinblöcke auf dem Teppich herumstanden.
»Glaubst du etwa, dass ich die Fotos rumzeige?«
»Also ...«, sagte Megan. »Ehrlich gesagt, ja.«
»Kein Mensch kriegt die zu sehen.«
»Und wenn deine Mutter mal zufällig den Coumputer anmacht?«
»Was glaubst du, wofür es Passwörter gibt? Du vertraust mir nicht«, sagte er.
»Genau«, erwiderte sie. »Nicht mit einer Digitalkamera. Gott, stell dir vor, ich will irgendwann für den Kongress kandidieren.«
»Und, willst du für den Kongress kandidieren?«
»Wer weiß? Wen kümmert’s? Ich bin sechzehn, ich will keine Fotos von mir im Cyberspace. Was ist, wenn du sie verschluderst? Du bist nicht gerade der ordentliche Typ.«
Bill dachte nach. »Also gut«, sagte er. »Wir speichern nichts, nie, okay? Du kannst alles selbst löschen. Keine Bilder, keine Files, kein Garnichts.«
»Warum willst du’s dann überhaupt machen?«
»Weils mich anmacht«, sagte er schroff.
Argwöhnisch beäugte Megan den Apparat – als sei er ein treuer Haushund, der nur auf Bills Kommando hörte. Bill wollte sich ihre Unschlüssigkeit zunutze machen, schoss ein Foto von seinem ungemachten Bett, zeigte es ihr auf dem Display und sagte, sie solle die Löschtaste drücken. Sie drückte auf die Taste. Das Bild verschwand.
Sie wettete, dass ihre Mutter nichts dergleichen gemacht hatte.
»Das ist echt abartig«, sagte sie und zog sich die Jeans aus.
»Wir sind beide erwachsene Menschen.«
»Na ja, nicht ganz«, entgegnete sie.
»Leg dich hin«, sagte er. »Nicht da. Dahin. Gut so. O Mann«, sagte er leise. »Wow.«
Er verstellte die Jalousien so, dass Lichtstreifen quer über ihre Hüften fielen. Sie drehte ihren Kopf von ihm weg. Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihrem Rücken aufrichteten, und für einen Augenblick stellte sie sich vor, wie das Bild gedruckt aussehen würde: die blasse Haut unterhalb des Bikinistreifens, die leicht gekräuselten blonden Haare, das Muttermal in der Form Kaliforniens unter ihrem Nabel.
»Dreh dich um«, sagte er. »Gut. Nicht bewegen.«
An diesem Abend machte er fünfundsechzig Fotos, alle von Megan in verschiedenen Entkleidungsphasen. Nachdem es ein Dutzend Mal geklickt hatte, war sie so weit, direkt in die Kamera zu schauen. Sie drehte sich in Posen, die sie für anzüglich hielt; zum Beispiel kniete sie sich mit dem Rücken zur Kamera und schaute über die Schulter. Sie posierte im Schneidersitz. Dann sagte sie Bill, er sei jetzt an der Reihe, und nahm ihm die Kamera ab. Zögernd spielte er mit, aber der Spaß hielt sich in Grenzen. Auf dem Display sah sein Ständer wie eine dicke kleine Wurst aus.
»Jetzt reicht’s«, sagte sie. »Ich lösche alles. Und noch was, ein Wort zu irgendwem, und du bist Hackfleisch. Verstanden?«
»Du bist so verdammt sexy«, sagte Bill.
***
In der Zwischenzeit hatte sich Megan von Kondomen zur Antibabypille gemausert, die sie sich im örtlichen Planned-Parenthood-Büro besorgte – nachdem sie ihr versichert hatten, ihrer Mutter nichts davon zu sagen. Eine Folge der Pille war, dass ihre Akne verschwand; als Folge der verschwundenen Akne wurden ihre Zensuren besser und ihre Laufzeiten schlechter und sie schlief nicht mehr so unruhig. Sie und Diana stritten sich immer seltener – zu behaupten, sie kämen jetzt gut miteinander aus, wäre allerdings eine Übertreibung gewesen. Freiwillig erzählte Megan nie etwas. Wenn Diana etwas wissen wollte, antwortete sie vage und nichtssagend. »Habt ihr Verkehr?«, fragte Diana zum Beispiel, und Megan sagte: »Mom, ich weiß schon, was zu tun ist, falls und wenn ich mich entscheide, Sex zu haben.« (Was keine Lüge war.) Wäre Megan nicht ihre Tochter, sondern eine Patientin gewesen, hätte Diana wieder und wieder nachgehakt, ohne Umschweife, bis sie die Antwort bekommen hätte. Aber so ließ sie die Sache auf sich beruhen. Der Friede zwischen den beiden war ein fragiler.
An einem Abend im Sommer überreichte Bill ihr eine kleine Schachtel, die er in kindisches Dinosaurierpapier eingewickelt hatte. Megan, die verrückt nach baumelnden Ohrringen war, unterdrückte ihre Erregung. Als sie jedoch die Schachtel öffnete und die Watte in die Höhe hob, sah sie zwei kleine grüne Pillen.
»Wo hast du die her?«, fragte sie.
»Ist doch egal«, sagte Bill. »Und, hast du Lust?«
»Ich weiß nicht«, sagte Megan. Bis jetzt hatte sie ab und zu ein bisschen Pot geraucht, woraufhin sie allerdings nur Hunger bekam und so viel Süßigkeiten aß, dass ihr am nächsten Morgen ganz übel war. Ecstasy kannte sie nur vom Hörensagen: man würde am liebsten die ganze Welt umarmen, und man würde davon so durstig, dass man einen ganzen See austrinken könnte.
Wie jeder in ihrem Alter war sie neugierig. »Hast du schon mal eine genommen?«
»Ja.« Bills Stimme klang sehr ernst, als hätte ihn gerade jemand gefragt, ob er sich schon einmal Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht habe. »Eine nette, freundliche Droge.«
»Und der nächste Tag?«
»Perfekt.«
Megan dachte kurz nach. »Okay«, sagte sie.
Also nahmen sie an jenem Abend jeder eine Pille. Megan fühlte sich gut, aber nicht so gut wie erwartet, nach allem, was sie gehört hatte. Sie saßen in Megans Zimmer und hörten Musik, dann fuhren sie in die Stadt, um etwas zu essen, und landeten schließlich im Haus von Bills Eltern, wo sie sich alte Baby-Videos von Bill anschauten. Fünf Minuten lang fand sie es ganz niedlich, dann wurde ihr langweilig. Sie ging in den Garten, um etwas frische Luft zu schnappen. Es war eine warme Sommernacht. Grillen zirpten laut, und die blühenden weißen Hortensien am Rand des Grundstücks sahen aus wie weich strahlende Gesichter. Der Nachbar hatte einen Swimmingpool im Garten. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich das Mondlicht. Das Haus war dunkel.
Sie ging wieder ins Haus. Bill hantierte an seiner Kamera herum. »Sind die Nachbarn nicht da?«, fragte sie.
»Die sind rauf nach Steamboat gefahren«, sagte er. »Wie wär’s mit ein paar Fotos?«
»Ein bisschen billig, auf die Dauer«, seufzte Megan. »Ich hab eine bessere Idee.« Sie lief nach draußen, kickte ihre Flipflops in die Luft und lief über den trockenen Rasen zum Pool. Schnell zog sie ihr Tanktop über den Kopf und stieg aus den Shorts. Sie steckte kurz den Fuß ins Wasser und ließ sich dann leise in den Pool gleiten.
»Los, komm schon«, säuselte sie, während sie leicht mit den Armen rudernd in der Mitte des Pools trieb.
Aber Bill wollte nicht ins Wasser, warum auch immer. Er holte eine Decke aus dem Haus, breitete sie neben den Hortensien aus, setzte sich hin und wartete. Megan stieg schließlich aus dem Pool und lief nackt und lachend über den Rasen zur Decke.
»Herrgott, Bill, jetzt lass mal die Kamera liegen«, sagte sie und ließ sich neben ihn auf die Decke plumpsen.
Bill fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Oberschenkel. Sie legte sich auf den Rücken. Sie zitterte leicht in der Abendluft.
»Los, komm«, sagte er. »Setz dich auf.«
»Bill«, sagte sie seufzend. »Du bist ja ganz besessen von dem Ding.«
Bill kniete sich etwa einen Meter vor ihr ins Gras. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen. Ihre Haare waren nass. Sie lehnte den Oberkörper zurück und streckte die Zehen in seine Richtung. Plötzlich schoss ein Komet durch den Nachthimmel. Dann noch einer und noch einer. Bill machte ein Foto.
»Ist doch sowieso zu dunkel«, sagte sie.
Bill kroch zur Seite und nahm eine andere Kameraposition ein. Plötzlich fühlte sich Megan sehr müde. Sie stellte sich vor, dass sie am Strand eines türkisfarbenen Meeres läge und ihr Gesicht in die warme Tropensonne hielte. Dann legte sie sich wieder auf den Rücken, streckte die Arme in die Luft und wandte den Kopf zur Seite. Jemand brachte ihr eine Pina Colada, wilde Papageien kreischten, dunkelhäutige Männer priesen Hängematten an, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten.
Sie überquerte gerade in einem Segelboot den Äquator, als Bill sich neben sie legte.
»Du bist so schön«, flüsterte er.
Sie hörte ihre eigene Stimme, die etwas wegen der Bilder murmelte.
»Vertrau mir«, flüsterte er.
Oder etwas Ähnliches, wie ihr später wieder einfallen sollte.
***
Das vorletzte Jahr auf der Highschool war ein dauerndes Hin und Her zwischen Trennung und Versöhnung. Bill hatte eine eifersüchtige Ader, die sie irritierte, ihr allerdings auch schmeichelte. Schließlich kam er aber doch immer wieder an, unter Tränen, mit einem Strauß Blumen und gelegentlich auch der einen oder anderen Ecstasy-Pille, und sie söhnten sich wieder aus. Im Herbst des letzten Schuljahres jedoch verspürte Megan den dringenden Wunsch nach Veränderung. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie so viel ihrer Zeit und Energie einem Jungen opferte, und stürzte sich in die Bewerbungsformalitäten fürs College. Ihr Traum war, so weit weg wie möglich zu studieren – in Princeton, mindestens, oder noch weiter östlich: in Frankreich, Italien, Budapest, Moskau. Das einzig Missliche an dem Plan war, dass ihre Eltern ihn billigten.
In dem Herbst war sie unter Anleitung eines jungen Sprachlehrers namens Michael Malone Chefredakteurin der Schülerzeitung. In dem kleinen Redaktionsraum im zweiten Stock der Schule arbeiteten sie oft bis spätabends, wobei sie sich meistens nur von Powerriegeln und Cola ernährten. Eines Abends machte Michael den Vorschlag, noch zusammen einen Latte macchiato zu trinken.
Sie gingen zu einem Espresso-Stand gleich um die Ecke. Es war ein warmer Abend Ende Oktober, und so setzten sie sich draußen an einen Tisch. Michael krempelte die Ärmel hoch und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und geschlossenen Augen zurück. Sicher denkt er über etwas Wichtiges nach, dachte Megan, doch dann sagte er unvermittelt ihren Namen.
Verblüfft fragte Megan: »Was?«
Michael lächelte. »Megan Thompson«, sagte er noch einmal. »Was willst du mit deinem Leben anfangen, Megan Thompson?«
Die Frage erwischte sie auf dem falschen Fuß. Sie wusste zwar, wo sie studieren wollte, aber nicht was.
»Medizin, Jura?«, fragte er. »Journalismus, Betriebswissenschaft?«
»Tja«, sagte Megan. »Ich weiß noch nicht.«
Michael lachte leise. Obwohl er noch keine dreißig war, zeigten sich in seinem lächelnden Gesicht schon einige Furchen. Aus dem offenen Kragen seines Jeanshemdes lugten Büschel dunkler Haare hervor.
Megan mochte es nicht, wenn man über sie lachte. »Und Sie?«, fragte sie. »Was wollen Sie mit Ihrem Leben anfangen?«
Er legte den Kopf zurück und lachte laut auf. »Touché«, sagte er.
Megan entspannte sich wieder. Sie wollte ihm gerade erzählen, dass sie über Bewerbungsschreiben noch nicht hinausgekommen sei, als Bill mit ein paar Freunden vorbeischlenderte. Fast hätte er sie nicht bemerkt, als er sie dann aber doch sah, machte er ein übertrieben überraschtes Gesicht.
»Wen haben wir denn da? Schülerin und Lehrer beim kleinen Tête-à-Tête?« Bill lachte. »War nur’n Witz!«, sagte er. »Kräht ja heute kein Hahn mehr danach. Und, sehen wir uns noch heute Abend?«, sagte er zu Megan.
»Weiß nicht«, sagte Megan. »Wir stehen ziemlich unter Druck.«
»Hört sich sexy an. Komm einfach hinterher vorbei.« Er schaute Michael an. »Und falls Sie sich jetzt wundern, wir gehen seit zwei Jahren zusammen.«
Michael hob beide Hände. »Hab mich nicht gewundert«, antwortete er.
Bill verabschiedete sich – rückwärts gehend zielte er linkisch mit beiden Zeigefingern wie mit Pistolen auf Megan. Michael und Megan gingen zurück in die Schule. Sie ließen das Abendessen aus und arbeiteten durch. Sie saßen in dem kleinen Raum an zwei zusammengeschobenen Schreibtischen, und weil er auf einmal so wortkarg wurde, fragte sich Megan, ob sie ihn mit irgendetwas verärgert hätte. Die Spannung baute sich weiter auf, bis er schließlich aufstand und zu dem Aktenschrank ging, der direkt hinter Megans Stuhl stand. Er fuhr ihr sanft mit dem Finger über den Nacken und zog erst dann die Schublade des Aktenschranks auf.
»Du machst mich nervös, Megan«, sagte er leise.
Mehr brauchte Megan nicht. Diesmal gaben nicht ihre Eltern den Ausschlag, wie an dem Abend, als sie zum ersten Mal mit Bill geschlafen hatte; den Ausschlag gab diesmal Bill, dem man klarmachen musste, dass er keinen Anspruch auf sie hatte. Als Michael die Schublade wieder schloss, legte Megan den Stift beiseite und hob die Hand. Eins führte zum andern. Sie machten sich nicht mal die Mühe, das Licht auszuschalten oder die Tür abzuschließen oder auch nur zwischen Schreibtisch und Aktenschrank hervorzukommen, um sich auf einer nicht so schmutzigen Stelle des Teppichbodens niederzulassen.
»Ich will spüren, wie deine Knie zittern«, sagte er leise, bevor er in sie eindrang.
Es passierte nur dieses eine Mal. Worüber sie später immer wieder staunte, war die Tatsache, wie unbefangen sie wieder in ihre alten Rollen schlüpften: Michael in die des Tutors, Megan in die der Redakteurin. So gehen Erwachsene damit um, dachte sie, und hatte dabei die Bilder aus den Fernsehserien vor Augen, in denen jeder mit jedem ins Bett ging. Überhaupt kein Problem. Die Situation gefiel ihr. Sie bewies ihr etwas, nur was genau, konnte sie nicht sagen. Allerdings war sie sich sicher, dass es etwas mit Bill zu tun hatte. Sie erzählte ihm nie davon, achtete aber sehr genau darauf, dass sein Argwohn nie nachließ. Das gab ihr auf einmal das Gefühl von großer Macht, auf ihre Jungmädchenart kam sie sich sehr, sehr skrupellos vor.
***
Trotzdem musste sie sich gegen Endes des Jahres eingestehen, dass die Geschichte mit ihrem Jugendfreund aus der Highschool erledigt war. An Silvester kurz nach Mitternacht machte Megan offiziell Schluss. Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und erklärte es ihm mit dem College, das ja nun auf sie zukäme, und da wolle sie nicht angebunden sein. (Bill hatte sich auch in Princeton beworben, hatte aber – soweit sie das beurteilen konnte – keine Chance.) Unabhängig davon, was sich bezüglich Princeton für sie beide ergeben würde, sagte sie, sei es besser, wenn jeder seine eigenen Entscheidungen träfe. Sie hatte nicht gerade erwartet, dass er die Neuigkeit freudig aufnehmen würde, dennoch war sie über seine Reaktion erstaunt. Er sagte nämlich gar nichts.
»Sag was«, sagte sie schließlich.
Bill saß auf dem Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch und schaute sie nur verständnislos an.
»Es tut mir wirklich leid«, fuhr sie fort. »Ich mag dich, aber ich glaube einfach, dass wir jetzt getrennte Wege gehen sollten. Was denkst du?« Sie hasste sich für diese Frage – ehrlich gesagt, war es ihr völlig egal, was er dachte. Aber weil er so stumm dasaß, wollte sie einfach, dass er IRGENDWAS sagte.
Schließlich begann er mit dem Stuhl zu wippen. »Was ich denke? Was denkst du denn, was ich denke? Ich habe nie jemand anderen geliebt als dich, Megan.«
»Du wirst jemand andern kennenlernen«, sagte sie.
»Oh, danke, das hilft mir wirklich sehr.«
»Wir können doch Freunde bleiben.« O Mann.
Bill stand auf. »Wenn du glaubst, meine Liebe, dass wir Freunde bleiben können, dann hast du wirklich jeden Bezug zur Realität verloren. Du bist wirklich dümmer, als ich mir je hätte vorstellen können.«
Die Worte taten ihr weh, auch wenn sie noch so anmaßend waren. »Ich will’s doch bloß einfacher machen«, sagte sie.
»Ach ja, dann sag ich dir was, Megan.« Er sprach ihren Namen wie Megg-Ann aus. »Der Versuch war für’n Arsch. Was anderes ... Hast du dich eigentlich von diesem Malone-Typen vögeln lassen?«
Sie sagte nein, sie habe sich von diesem Malone-Typen nicht vögeln lassen.
»Und das soll ich dir glauben?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich keine Lügnerin bin.«
Bill sah sie mit scheinbar grenzenlosem Hass an. »Also gut«, sagte er. »Schön zu hören. Wär mir auch unangenehm gewesen der Gedanke, in den letzten zwei Jahren eine beschissene Lügnerin gevögelt zu haben.«
Megan war nervös. Sie stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube, du gehst jetzt besser.«
»Ist wahrscheinlich das Beste«, sagte er, rührte sich aber nicht vom Fleck. Verlegen drückte sie sich an ihm vorbei und machte die Tür auf. Schließlich stand er auf, und zusammen gingen sie nach unten. Im Flur fragte sie ihn noch, ob auch wirklich alles okay sei. Schwach, sehr schwach.
Bill grinste. »Klar«, sagte er. »Alles bestens. Gutes neues Jahr, Megan Thompson.« Dann warf er sich die Jacke über die Schulter, öffnete die Haustür und ging über den Kiesweg zur Straße.
Der Schnee fiel auf seine Schultern. Als ihn eine Windbö erfasste, zog er die Jacke an und schlug den Kragen hoch. Man hätte meinen können, die Szene hätte für Megan die Qualität eines dramatischen, wie fürs Kino inszenierten Ereignisses gehabt: die herabwirbelnden Schneeflocken, der Mann, der in der Dunkelheit verschwindet, in der Haustür die Frau, die ihn davongehen sieht. Sie hätte sich fühlen können wie Scarlett, die dem vom Nebel verschluckten Rhett hinterherschaut. Nur dass Megan sich in der entgegengesetzten Lage befand. Ihr war es nämlich ziemlich egal, was aus Bill wurde. Außerdem war Scarlett O’Hara eine spinnerte Traumtänzerin, wenn es um Männer ging.
Megan blieb in der Tür stehen, bis Bill weggefahren war, und ging dann wieder ins Haus. Am besten versuchte man erst gar nicht, sich etwas Bedeutendes und Melodramatisches zusammenzuspinnen, sagte sie sich. Du bist einfach ein Mädchen, das mit einem Jungen Schluss gemacht hat, nicht mehr und nicht weniger.
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Es verblüffte sie, wie vollständig er aus ihrem Leben verschwand. Außerhalb der Kurse, die sie zusammen hatten, liefen sie sich in den nächsten Wochen gerade zweimal über den Weg. Er schien eine neue Freundin zu haben, ein mausgraues Mädchen, das zwei Klassen unter ihnen und bekannt für seine schnellen Blowjobs war. Sie erfuhr, dass er seine Bewerbung für Princeton zurückgezogen und sich stattdessen für das State College im Norden entschieden hatte. Sie schickte ihm eine E-Mail, in der sie schrieb, dass das College einen ausgezeichneten Ruf habe und sie ihm alles Gute wünsche. Er antwortete Yabba-dabba-doo.
Danach wurde das Verhältnis zu ihrer Mutter noch schlechter. Diana wollte etwas, was Megan strikt ablehnte: Zugang zu ihren intimen Gedanken und Gefühlen. Wie konnte sie zugeben, dass ihre Mutter recht gehabt hatte, als sie Bill servil (das Wort hatte Megan nachschlagen müssen) genannt hatte? Sie wollte einfach in Ruhe gelassen werden. Manchmal kam Diana in Megans Zimmer, immer kurz vor der Schlafenszeit, und fing an, über ihre eigenen Eskapaden aus der Schul- und Unizeit zu erzählen, worüber Megan aber gar nichts wissen wollte.
Ab März lagen regelmäßig irgendwelche Dinge in ihrem Schulspind. Schokolade. Rosen. Anonyme Postkarten. Irgendwie war ihr Name auf eine Mail-Liste für Porno-Spam gelandet. Die obszönen Anspielungen, mit denen sie bombardiert wurde, waren von außergewöhnlich privater Natur. Sie änderte ihren Nickname und wechselte den E-Mail-Provider, worauf die Mitteilungen aufhörten.
Im April bekam sie ein geschäftsmäßiges Schreiben aus Princeton, in dem ihr in dürren Worten abgesagt wurde. Sie war geschockt und wünschte, sie hätte sich auch noch bei ein paar anderen Colleges beworben. Da sie nur noch die Uni vor Ort als Rückversicherung hatte, würde sie die nächsten vier Jahre in ihrer Heimatstadt verbringen müssen. Sie konnte jetzt entweder in Selbstmitleid zerfließen oder das Beste daraus machen. Da sie ein pragmatischer Mensch war, entschied sie sich für Letzteres. Sie handelte mit ihren Eltern eine schriftliche Übereinkunft aus, in der sie festhielten, dass sie nicht jedes Wochenende nach Hause zu kommen brauchte und ihre Eltern nicht unangemeldet bei ihr vorbeischauen würden. Diana und Frank betrachteten das als Akt der Reife ihrerseits und stimmten zu.
Und so zog Megan im August ins Studentenheim, und Bill verabschiedete sich ans fünfzig Meilen nördlich gelegene State College. Es kamen keine E-Mails mehr, keine Blumen, keine Schokoladenpräsente. Megan unterwarf sich einem rigiden Arbeitsrhythmus, der ihr wenig Zeit für andere Aktivitäten ließ. Samstagabends ließen sie und ihre Mitbewohnerin es gelegentlich krachen, ansonsten aber saß sie fast jeden Abend über ihren Büchern.
Es überraschte sie, wie man in der Stadt, in der man sein ganzes Leben verbracht hatte, einfach ein neues Leben anfangen konnte.