Читать книгу Der Gang durch das Ried - Elisabeth Langgässer - Страница 5
II
Оглавлениеzwei holzfäller, welche an diesem Tag in der Nähe der Schießstände rodeten, hörten jedesmal ein Echo, wenn ihre Axt einschlug. Sie machten einander aufmerksam und glaubten jetzt auch die Schläge, es war aber mehr ein Hämmern, für sich allein zu hören. »Ein Schwarzspecht!« lachte der Ältere und meinte damit einen Holzdieb, einen der Arbeitslosen, deren Väter schon im Ruhrkampf das kurze Beil ergriffen und sich in Rudeln aufgemacht hatten, in die schwarze »Tanne« zu gehen – nicht um die Liktorenbündel der Fremden aufzulesen, sondern weil die Grenze gesperrt, die Ruhrhilfe ausgeblieben und das Blut jener Männer aufgepeitscht von ruhelosem Warten, Gewehrfeuer und Erinnerung an den Schützengraben war. Er starrte nach einem Föhrenschlag hin, der, mit Birken untermischt, von kleinen Espenbüschen, die noch ein wenig Laub an den rötlichen Stengeln trugen, am Fuße aufgehellt wurde: der Himmel darüber klärte sich und wehte in Wolkenschleiern wie ein Fahnenwald auseinander.
»Ja«, redete er weiter und schlug nun seinen Gedankenfaden in das vermorschte Gewebe entwanderter Standarten, »das Räubern ist jedem im Rock und unter der Haut geblieben, der den Ruhrkrieg miterlebt hat.« Er lachte, nahm Dörrfleisch und Brot aus dem Rucksack und hielt eine braunumfilzte, französische Feldflasche hoch, die mit heißem Kaffee gefüllt war. Sie setzten sich auf die brüchigen Stümpfe zweier gefällter Bäume, verzehrten ihr Vesperbrot. Der Jüngere kratzte gedankenlos die eisgraue Flechte ab, blies einen Borkenkäfer von der gekrümmten Hand und fragte gelangweilt hin: »was hattet ihr bloß davon? Reich geworden ist doch keiner durch diese Narretei.«
»Darnach hat auch niemand gefragt«, versetzte der andere Mann; »es juckte uns eben an Händen und Füßen, als ob wir Krätze hätten, so haben wir uns gescharrt. Wer über das Lager kam, grub Spitzkugeln aus, bis der Hosensack schwoll, oder band sich, wenn er ein Weibsbild war, Patronentaschen unter, daß der Bauch wie im sechsten Monat vor seinem Schürzenband stand; wir waren auch neugierig, weißt du, hinter andere Türen zu sehen, und mancher hat damals den Dietrich in fremde Schlösser gesteckt.«
Sein Kamerad sagte gierig: »ihr hattet das schönste Leben, und wenn man über dem Dorf ein Dach errichtet hätte, so war es ein Hurenhaus.« Er nahm eine Speckseite, schnitt hinein und ließ langsam das schartige Messer durch das durchwachsene Fett und den glänzenden Knorpel knirschen.
Der Ältere wollte lachen; besann sich und rückte die Mütze von dem einen aufs andere Ohr. »Wie soll ich dir das erklären –?« sagte er dann gequält. Sie aßen stillschweigend weiter und bliesen die Krümel ab, als sie gesättigt waren; zogen Pfeifchen hervor und rauchten, belauerten sich tief.
»Du wirst es mir nicht glauben«, murrte endlich der Ältere, »daß kein Vergnügen dabei war.«
»Es juckte euch nur eben«, höhnte feindlich der junge Bursche und griff nach seiner Axt. Sie nahmen von neuem die Arbeit auf und hörten erst an dem eigenen Schlag, daß der Fremde dort drüben verstummt war. Darüber betroffen, hielten sie ein und sahen einander an.
»Es ist nicht geheuer im Walde«, bemerkte der junge Fäller. »Das ist es noch niemals gewesen«, versetzte der andere Mann.
Er legte den Kopf zurück, schnupperte: »riecht es schon wieder nach Morcheln?«
»Nach Morcheln . . .?« fragte zitternd der Bursche.
»Dann schaukelt ein Selbstmörder hier in der Tanne und fällt jetzt stinkend vom Fleisch.«
»Und der Kopf klappert gegen den Baumstamm?« »Nein – das nicht. Es geht ja kein Wind.« Der Ältere schaute starr in die düstere Fichtenschonung. »Es ist gar nichts . . .« er wandte sich um und sah den Burschen an. »Du hast ja noch Sommersprossen . . .« aus dem käsigen Antlitz des Jungen traten braunrote Pünktchen hervor, seine Nase war spitz geworden und stand für sich allein. »Man sollte es nicht glauben«, sagte der andere, »daß alles wiederkommt, was die Gegend einmal gesehen hat und die Erdlöcher eingeschluckt haben. Dort, wo wir die Schläge hörten, ist ein zugeschütteter Fuchsbau – ich habe selber geholfen, den Sand darüber zu schütten –, in dem ein ermordetes Kind von dem Lagerverwalter gefunden wurde. Es war ein kleines Mädchen, entsetzlich zugerichtet, du kannst dir denken, wieso. Am ärgsten sahen die Sohlen aus; es hatte keine Schuhe und mußte gejagt worden sein. Ein Glück, daß es nicht in das Dorf gehörte, sondern in eine Wagenfamilie, die damals schon weitergezogen und über der Grenze war. So wurde nicht erst Untersuchung gehalten. Die Belegschaft wechselte bald darauf, und wir alle hatten Schlimmes genug, jetzt und im Weltkrieg, gesehen, um das Schlimmere rasch zu vergessen.«
»Und machtet neue Kinder, von denen niemand gewußt hat, wer denn ihr Vater war«, ergänzte der andere. Der Kamerad sah betroffen auf das Werkzeug in seiner Hand. »Was nützt es, den Vater zu kennen«, erwiderte er dann. »Du weißt doch, daß wir uns hier im Ort nur nach der Mutter nennen, wie das schon immer so war, und mancher erst bei der Hochzeit den richtigen Namen erfährt, der in der Rolle steht. Nun, dazumal, in dem Ruhrkrieg, ging alles durcheinander, wie Tiere in dem Wald. Wir räumten fremde Äcker ab und schliefen bei fremden Weibern; wir haben kreuzweis geschlafen: die Mutter versuchte den Schwiegersohn, bevor ihn die Tochter hatte, und wieder kurz danach. So wurden sie beide schwanger, und ihre Kinder, das weißt du ja selbst –«
». . . heißen Zwillinge«, sagte der Jüngere kurz. »Manchmal denke ich, alles war nur geträumt«, fuhr der erste undeutlich fort. »Und sehe ich drüben die Lagerhäuser, so kneife ich mir in den Ellenbogen und weiß nicht, was es bedeuten soll, daß sie noch immer dastehen.«
»Ach, Träume sind Schäume«, sagte der Bursche.
»Ja, Schäume . . .«, erwiderte jener, »doch wer den Feldwebel fortbläst« – er meinte damit nach der Mundart: den Schaum auf seinem Biere –, »der sieht dem Glas auf den Grund.«
»Nun«, sagte der andere lustig, »der Feldwebel ist ja fortgeblasen und wird nicht wiederkommen, das Lagerbier freilich ist dünner geworden, und die Gemeinde vergibt wohl bald die Häuser an Wohnungslose.«
»Das geht nicht«, sagte der Alte, »es ist alles verwanzt und verlaust.«
»Dann räuchert man eben.«
»Du bringst nicht heraus, was in den Wänden steckt.« Sie rodeten jetzt weiter und brachten die Wurzelstöcke, an welchen Engerlinge und dürre Käfer hingen, aus der sandigen, feuchten Erde, die nach fauligen Blättern roch. Mit einemmal bückte der Junge sich und hielt ein zerfetztes Portefeuille aus feinem Juchtenleder ungläubig in der Hand. »Zeig her«, befahl der Ältere ruhig und reinigte seine Finger, nahm die Brieftasche, öffnete sie und hielt ein französisches Notenstück, eine alte Kantinenrechnung, ein Kartenblatt: Herzdame, prüfend gegen das Licht.
»Das Geld ist noch gut . . .«, er tat das Papier auf den Boden und legte ein Steinchen darüber, »wir beide verbrauchen es.«
»Du mußt es aber erst wechseln«, entgegnete der Junge und sah das Kartenblatt an.
»Keine Sorge«, versetzte der andere heiser, »ich weiß wen, die nimmt es auch so . . . was hast du?« Er beugte sich über den Burschen: »das meine ich eben, du Narr.« »Eine solche!« keuchte der andere und starrte auf das Blatt. Die Königin war mit Blaustift schamlos nach unten verlängert, ihr Gegenkopf ausradiert. Der Ältere flüsterte, Tau an der Wange, da es schon dämmerte: »Ein Bordellmädchen ist zurückgeblieben . . .«
»Und wohnt noch auf dem Lager?«
»Ja – wo die Soldatenkirche mit dem offenen Glockenstuhl steht.«
»Eine schöne Nachbarschaft«, sagte der Junge und versuchte, gemein zu lachen.
»Der Teufel sitzt immer daneben und blättert in seinem Gebetbuch, von dem du ’ne Seite gefunden hast.«
Nun trugen sie Reisig zusammen und warfen es über die Stümpfe, entzündeten ein Feuer und schoben das leere Portefeuille, die Spielkarte und das Vesperpapier mit ihren Schuhen hinein. Weil die Luft sehr feucht war, qualmte die Glut und biß wie ein wütendes Tier, das sich klein macht gegen den Rauch. Die Herzdame rollte zusammen, das zerrissene Futter der Tasche brannte langsam und lange aus. »Gehen wir?« fragte der Junge. Sie nahmen ihren Rucksack und banden die Werkzeuge ein, verschnürten ihn, setzten ihn auf und marschierten, den Daumen am Riemen, auf die dunkeln Schießstände zu.
»Wo hast du das Geld?« fragte plötzlich der Alte. »Vergessen«, gab der Bursche zurück und wollte sich wieder wenden. »Ich hole es«, sprach der andere rasch, »du wartest am Kugelfang.«
Der Junge ging weiter, pfiff vor sich hin und stellte die Schultern hoch. Es nieselte jetzt aufs neue, da und dort brachen dürre Ästchen herunter, und Waldmäuse raschelten. Der Bursche entsann sich, daß dieser Sommer, welcher naß und madig gewesen war, die Tiere angereizt hatte, sich fürchterlich zu vermehren – weiter drinnen im Ried gab es Felder, die bei Tage von ihnen wie überschwemmt und unter den wandernden Rücken fast völlig verschwunden waren; die Leute pilgerten scharenweise zu der ägyptischen Plage und starrten das Wunder an. Ein Brechreiz stieg in dem Arbeiter hoch, seine Füße glitschten und suchten nach Halt, dabei hatte er das Empfinden, auf Mäuseleiber zu treten, die, fett und erfüllt von junger Brut, auseinanderzuplatzen schienen. Nun tauchten zwischen den Bäumen die Kugelfänge auf und hoben ihre Galgengerüste sehr still in den herbstlichen Himmel, der krähengrau dunkelte. Der Bursche, noch immer pfeifend, ging, wunderlich durchlöchert und schwach in den Fußgelenken, auf den ersten von ihnen zu und wartete in der Schußbahn, die schon von Nesseln, Wollkraut und Gras überwuchert war. Ihn fror jetzt, er wurde sich selbst zum Gespenst und versuchte, die Begierde von vorhin zu erwecken, indem er sich an das Kartenblatt mühsam erinnerte; doch rollte es immer wieder, kaum gegenwärtig, zusammen und brannte wie unter Rauch. Er wölbte die Hände vor seinem Mund, blies, hauchte und fachte das Feuer an und sah nun deutlicher, was er zu sehen wünschte. »In das Herz getroffen?« flüsterte er, und dann: »in das Schwarze getroffen!« Als habe er einen Witz gemacht, fing er lange zu lachen an, lachte leiser, lallte vor Schrecken und fühlte, er war nicht allein. Vorsichtig wandte er seinen Kopf, als ob ihn ein Hexenschuß angerührt hätte, und blinzelte empor. Auf dem verfallenen Dach des Munitionsgebäudes saß ein Affe – nein: ein Zuave – nein: ein Gerippe in einem Soldatenmantel und blickte fürchterlich her. Der Bursche schrie wie von Sinnen und lief gegen Norden hin, verfing sich in glatten Wurzeln, in Ginster- und Brombeersträuchern, die ihn umarmen wollten, stürzte nieder und fühlte die Woge der Wollust ihn, mit Grauen vermischt, überströmen. Als er aufstand, blutete seine Hand; die Kappe war abgefallen. Er leckte die Wunde, umwickelte sie mit seinem Taschentuch und suchte nach der Mütze; erkannte sie endlich, bedeckte sich wieder und schlich wie ein geprügelter Hund auf die nahe Landstraße zu . . .
Jean-Marie Aladin sah ihm, vom Dach seiner Hütte aus, ohne Laut und Bewegung nach. Er hielt noch immer den Hammer, mit welchem er die geteerte Pappe, die ausgefetzt war, vernagelt hatte, still in der starren Faust. »He – Peter!« rief jetzt eine Stimme. Der ältere Holzhauer näherte sich und kam zu den Kugelfängen, schaute um und rief aufs neue; dann zuckte er mit den Schultern und wanderte davon. Er ging nach der Richtung des Lagers auf die Braunshardter Hausschneise zu; der Weg war angestiegen und führte ihn in das Dünengelände, wo noch ein alter Entfernungsmesser schräg in dem Sande stak. Hier war auch die Lagergrenze und das doppelsprachige Schild, welches abgehärmt mit den Zähnen fletschte und das Betreten des Platzes bei schwerer Strafe verbot. Der Arbeiter, als er vorüberkam, klopfte leis mit dem Knöchel des Zeigefingers an die vergitterte Fläche – ein klappernder Fensterflügel in einem Verwaltungsgebäude rief unaufhörlich: »herein«.
Nun war es völlig Nacht geworden auf dem einsamen Totenfelde. Der Mann ging zwischen den Häusern hin und nahm, wie ihm dünkte, die Geisterparade der eigenen Träume ab. Sie waren sehr offen und hatten Riegel, die lose herunterhingen, doch mochte sie keiner betreten; ihre Türen quollen im Rahmen und waren breiter geworden, von Grasschwellen angehemmt, so daß es dem Wind nicht möglich war, sie von innen her aufzudrücken; jeder Raum verbarg einen andern und dieser wieder einen; doch sich aufzuhalten, war sinnlos, denn alle waren leer. So stellte sich nun einmal das Leben heute dar: »nichts dahinter!« sagte der Mann sehr laut, griff nach der Taschenlaterne und schnitt sich einen Weg durch Ängste und Dunkelheit. Doch nun vereinzelte jeder Baum, jede Fensterhöhle, und jeder Stein wurde scharf und schäbig am Rande. Auf elende Weise ernüchtert, ging der Arbeiter mißmutig weiter, als ihm plötzlich vorkam, ein Lichtschein dringe rötlichgelb und flackernd aus einer Seitenstraße. Erschrocken deckte der Mann mit beiden Händen das Lämpchen zu und hielt den Atem an – wie er wußte, trieb sich sehr häufig landfremdes Räubergesindel hinter dem Schießplatz umher. Auch dachte er an das Lagermädchen und ob sie ihr Haus gewechselt habe, schlich, zauberisch angezogen, auf das Helle von hintenher zu und kroch auf allen vieren bis an das niedere Fenster einer steinernen Hütte hin. Es war unbedeckt, aber geschlossen, und als der Mann sich emporhob, sah er deutlich den ganzen Raum.
Von der Decke hing eine Petroleumlampe und warf einen runden Lichtschein auf den rostigen Eisentisch, der in der Mitte stand und ein offenes Köfferchen mit seidenen Halstüchern, Socken und bunten Krawatten trug. Den Rücken zum Tisch, saß ein Knabe auf einem winzigen Hocker, hatte neben sich noch einen andern stehen, auf welchem sich Bürsten und Flaschen, zwei Salbentöpfchen, ein Necessaire und ein Nadelkissen befanden, und zog, den Blick nach der Wand gerichtet, wo ein Spiegel hängen mußte, andächtig den Scheitel nach; griff nach dem Töpfchen und salbte, betupfte sich auch die Ohren, entkorkte eine Flasche und goß ein paar Tropfen aufs Taschentuch, das er, den Winkel nach oben, in seine Jacke tat und aufmerksam beroch. Dann erhob er sich, stellte den einen, hierauf den andern Fuß auf das wacklige Hockerchen, griff nach der Haarbürste, spuckte darauf und wichste die hellgelben Schuhe, bis sie ihm endlich genügten und er sich langsam im Kreise, hernach im Tanzschritt bewegte und seinen eigenen Anblick erblühend in sich trank. Nun sah man: es war kein Knabe, obwohl sein Gesicht noch schattenlos und die Hüfte mädchenhaft schien. Es war ein bräunlicher junger Mann, ein Marokkanerchen. Er wandte sich nach dem Eisentisch, entleerte den kleinen Koffer und glättete die Krawatten, legte Socken und Halstücher sorgsam zusammen und machte sich Notizen in einem Büchelchen, warf Geld auf die Platte und zählte, verschloß einen Teil des Geldes in einem Tannenschrank, neben welchem ein ganz zerschlissenes, antikes Damastsofa stand, hob sich langsam und fast genußvoll auf seine Zehenspitzen und wollte eben die Lampe löschen, als er das fremde Gesicht an den niederen Scheiben gewahrte und vor Schrecken versteinerte.
Der Arbeiter legte beide Arme auf die verwitterte Fensterbrüstung, nahm sich Zeit und klopfte dann an.
»Echte Seide! Seide mit Wolle, mein Härr! Alles preiswärt, alles billis, direkt aus Paris gekommen«, sagte der Jüngling zitternd, indem er öffnete.
An dem Akzent und dem Sprüchlein erkannte der Arbeiter ihn. »Ach, Mohammed!« rief er leise, »hier wohnt der Krawattenprophet?«
»Selbstbinder? Schal unters Mäntelchen? Feine Sokken?« drängte der Junge und hielt auf gebogenen Armen die schlechte Hausiererware inbrünstig zum Fenster hinaus.
Der Arbeiter warf seinen Rucksack zur Erde und knöpfte die Jacke auf. »Gib her . . .« er schlang einen Selbstbinder um und knotete ihn gefällig, legte mehrere Tücher darüber und schlug die Jacke zu. »Allons!« rief er dann lustig und wandte sich zum Gehen.
»Drei Mark und zwansig«, sagte der Knabe und bebte an allen Gliedern. »Swei Mark und neunsig«, er schluchzte und hielt den andern am Ärmel fest, »Swei Mark und fünfzig, mein lieber Härr – für armes Marokkaner!« »Weiß die Gemeinde, daß du hier wohnst, und hast du einen Hausiererschein?« fragte der Holzfäller grob. »Komm heraus!«
Der Junge löschte die Lampe und erschien in der offenen Tür. Er hatte jetzt einen Rohrstock mit dicker Elfenbeinrose forsch unter das Kinn gedrückt, ein heller Filzhut saß schief auf seinem duftenden Köpfchen. Der Arbeiter hakte ihn unter und fragte spöttisch, wohin. Weil er die Taschenlampe nicht wieder angezündet und der Mond seine Bahn an dem Himmel noch nicht begonnen hatte, war es stockfinster um beide. »Gehst du tanzen oder . . .« er strauchelte und riß den andern zu sich; der Körper des Braunen war leicht und zart, fast tierhaft in den Hüften und bebte wie Birkenlaub. »Ja«, seufzte Mohammed leise. »In die Waldklause?« »Nein, in den Felsenkeller.« Der Marokkaner atmete rasch und fing stärker zu zittern an. »Nicht verraten den kleinen Mohammed«, bat er mit schmeichelnder Stimme. Der Holzfäller keuchte, den Mund an Mohammeds Rosenohren: »ist die Laura noch auf dem Lager? das schwarze Hurenmädchen?« Der Braune blieb stehen, besann sich und sagte schlau: »vielleicht.« »Und wohnt noch neben der Kirche?« Der Marokkaner lief schneller und strebte der Landstraße zu. Dort habe er sie zuletzt gesehen, doch von ihr selber gehört, sie wolle zum Varieté, und wenn ihr das nicht glücke, in einem Rheinrestaurant Toilettenfrau oder Spülmädchen werden, vielleicht auch den Winter über mit Seife hausieren gehen. Sie waren nun unter den großen Platanen in der Nähe der Querstraße angelangt und hörten schon von ferne Geräusche der Chaussee. Nein, wenn er es recht bedenke, sei sie wohl nicht mehr hier, das heißt, es wäre wohl möglich, daß das Frühjahr sie wiederbringe, wie sich denn keiner zu trennen vermöge, der einmal hier gewesen und über das Lager gegangen sei . . . Indem er noch redete, war der Braune schon unsichtbar geworden; seine Stimme schlug um die Ecke . . . verhallte in dem Wind . . . Genarrt, empfand sich der Arbeiter ohne richtige Auskunft zurückgeblieben, stieß mit dem Fuß an die Bretterplanke, die das Lager westlich begrenzte, und knurrte böse: »warte!« Hierauf besann er sich, mochte nicht wieder auf die Chaussee zurück und von diesem und jenem angesprochen oder begleitet werden, bog also nach links zu dem früheren Wirtschaftsteil ab, um einen Weg zu verfolgen, der über die Felder hinweg parallel mit der Landstraße lief, und kam an den blassen Häusern dieses seltsamen Viertels vorüber, das einst die Bedürfnisse deutscher, hierauf französischer Truppen befriedigt und das Bordell, eine Fotobude, einen Kramladen, Wirtshäuser, Wirtshäuser und noch einmal Wirtshäuser eingehegt hatte. Auch eine Schauspielertruppe war hier ständig zu Gaste gewesen. Noch stand, von einer Laterne erbarmungslos erleuchtet, das Wort »Vergnügungs-Etablissement« in seiner ganzen Verrücktheit auf einem windschiefen Schilde, das über dem schmutzigen Eingang zu einer Schenke hing. In diese Häuser ergoß sich der Strom der Sonntagsgäste aus dem benachbarten Dorf: in die »Patronentasche«, den »braven Kanonier« und die anspruchsvolleren Baulichkeiten, die sich Hotels zu nennen wagten und an Wochentagen als Absteigebuffs, als Mineralwasser- und Bonbonsfabriken und Abdeckereien für Hunde, Katzen und heimliches Schlingenwild dienten.
Hier und dort brannte Licht in den Kellern und warf die bewegten Schatten von allerlei Geräten, von Kolben, die unten stießen, und Obstweinkeltern hinaus. Verschiedene Gerüche wehten schlaff mit dem Wind vorüber und schienen aus Totenstuben zu kommen, wo die geputzte Leiche sich mit den Düften der Blumenkränze und des schmelzenden Wachses vermischt; ein Grammophon wimmerte leise und erstarb mit ängstlichem Quietschen. Die Straße endigte hier, und das flache Feld nahm den Arbeiter auf. Sturm heulte über die Fläche und kam von Süden her, wo sich der große Schießplatz, dürr, unfruchtbar, erstreckt. Ein paar kleinere Häuser und Hütten gingen mit auf die Äcker hinaus. Sie standen wie Eigenbrötler verlassen an dem Rande und gehörten weder dem Lagergebiet, noch auch dem Dorfe an; hatten steinerne Zwerge, Rehe und abgeschlagene Vasen in ihren Gärten stehen und Beete, welche, wie Gräber mit Muschelstein eingefaßt, an den vier Ecken mit Blumenstöcken töricht bezeichnet waren.
Hierauf kamen Dickwurzäcker, sehr lange hölzerne Wände, hinter welchen der Arbeitersportplatz lag, und wieder Äcker, Gärten mit glasbedeckten Beeten; es rückten die ersten Häuser, helläugig, sauber verputzt heran: die Eigenheime der Schlosser, Dreher und Werkmeister in den Fabriken der Stadt; mit dem Geld von Bausparkassen errichtet; mit Darlehen, Hypotheken belastet, erfüllt mit Kindergeschrei . . . Die elektrische Bahn lief vorüber und hielt an der Wartehalle. Erschöpfte Frauen und Mädchen mit schäbigen Baskenmützen, Kattunschürzen, Körben am Arm, stiegen, lärmend vor Müdigkeit, aus. Daß nicht das Hausdach zusammenstürzte und die Schulden den Stein, das Sparrenholz, die Eisenschlösser fraßen, war dieser Weiber Verdienst. Den Weltkrieg, den Ruhrkampf nützend, hatten alle auf Ameisenwegen geschmuggelt, gehamstert, gehandelt, den Akker umgewühlt; sie waren zeit ihres Lebens mit Lasten bepackt gewesen, die dreimal so schwer wie sie selbst, sorgfältig überdeckt, duftend und dunkel waren; den Marktkorb auf ihrem Scheitel, ein paar andere in der Beuge der hart gewöhnten Arme, das Geld auf gedunsene Leiber geschnallt und unter ihnen ein Kind verwahrend, hatten Arbeit und Fruchtbarkeit abgewechselt wie Regen und Sommerhitze. Wo ihre Hände gruben, sproßte Sellerie, Dill und Lauch. Sie brachten die ersten Radieschen, Salat aus den Mistbeeten, Stiefmütterchen auf die Großstadtmärkte der Gegend und kamen mit Steckzwiebeln, Blumensamen, den Rhein herunter, herauf. So waren sie tüchtig, erfahren in allen weltlichen Dingen. Den Alten wuchs auf der Oberlippe und unter dem Kinn ein Bärtchen wie Schnittlauch in der Scherbe; den Jungen trieben die Füße aus, sobald sie tanzen gingen, und die weißen, kräftigen Brüste, wenn sie erst mannbar wurden. Ihre Burschen holten sie sich aus der Umgebung der Markthallen, Stände und kleinen Bahnhofsgebäude, aus den Vororten Frankfurts, aus Mainz und Worms und meldeten meist nach dem ersten Kind, oft nach dem zweiten und dritten, ihr Verhältnis beim Standesamt. Umherschweifend, blieben sie gleichwohl der sandigen Erde verhaftet, die immer wieder durchwurzelt wird, so viele Körner der Wind auch entführt: sie liebten in ihren Söhnen die männliche Kraft ihres Schoßes und nahmen von ihnen Rat und körperliche Hilfe mehr als von dem Gatten an . . . »Val’tin!« Der Arbeiter wandte sich um und sah seine Schwiegermutter, eine mächtige alte Frau, auf ihn zugewatschelt kommen. Ihr Gesicht war mit fleischigen Warzen besteckt; eine davon stieß oben am Scheitel, wo das Haar sich lichtete, porig und grau gebüschelt heraus. Obwohl er seit Jahren verwitwet war, sank der Arbeiter leicht in den Knien ein und nahm ihr die Körbe ab. Sie waren leer, ineinandergeschoben, indessen die Geldkatze prall an dem schwappenden Gürtel hing. Auch andere Männer kamen herzu, die Arbeitslosen des Dorfes, welche fleißig zu Hause hockten, den Kindern die Suppe brachten, sie wuschen, striegelten, fütterten, Spinat gesäubert, Rüben gebündelt, Kaninchenställe gezimmert und den Auslauf der Hühner erweitert hatten . . . Nun verstauten sie, was die Frauen im Schwung herüberreichten, auf ihren Handkarren, banden es fest und trotteten hinter den Weibern her, den abgerackerten Ehefrauen, den Mädchen, denen die Röcke um hel’bestrumpfte Waden mit schwachen Krampfadern schlugen. So ging die Karawane der Menschen zum Ort hinein, wo die Hunde zu heulen begannen.