Читать книгу Das unauslöschliche Siegel - Elisabeth Langgässer - Страница 5
I
ОглавлениеDas Wasser aus der großen, stehenden Gartenspritze ging wie ein mächtiger Schleier über den jungen Rasen und glänzte, von den Strahlen der Morgensonne durchfunkelt, in den sieben Farben des Regenbogens. Wo es hintraf, leuchteten Gras und Erde in übersinnlichen Farben und waren wie neugeboren; jeder Tropfen traf einen jungen Halm, den er beugte, wenn er den Stengel hinablief, und wiederum aufhob, erquickte und stärkte, indem er das Würzelchen speiste, mit welchem die Pflanze dem Boden und ihrem eigenen Dasein in dem Garten verhaftet war. Schon hatte der Rasen genug und ermüdete unter der Fülle. Er legte sich um; in den kleinen Pfützen, die sich, wo zwischen Gräschen und Gräschen nur die geringste Gelegenheit blieb, eilig gebildet hatten, schwamm winziges Getier: Ameisen, welche noch ruderten oder bereits ertrunken waren; ein Käfer, den die Nähe des Regens in eine Art Wirbel gezogen hatte, aus dem er nicht mehr herauskam, so sehr er sich auch von dem Mittelpunkt jener Kraft zu entfernen suchte; eine Mücke, die schon vergangen war, und ihre ätherischen Flügel, dem Stoff zurückgegeben, in Gallerte verwandelt sah. Nur in dem Schatten, wo der Jasmin, von spitzen, grünlichen Knospen durchsetzt, sich über die Erde beugte, schien der Rasen noch fähig zu sein, das Wasser aufzunehmen; er trank und verdunstete große Mengen, während die Sonne mit glühenden Speeren durch das verwucherte Blattwerk drängte und runde, zitternde Flecke auf das weiche Frühlingsgras warf; ein feiner Dunst schien den Büschen von unten entgegenzuwölken, sich zu verdichten und ganz allmählich zu jener schweren, schrecklichen Süße der Mittagsstunde zu sammeln, die aus Langerweile und Sättigung, aus fleischlicher Neugier und geistiger Trauer zu gleichen Teilen gemischt ist. . . .
Mit einem kurzen, zischenden Seufzer zog sich das ausgebreitete Wasser wieder zurück in den einfachen Strahl, erlosch und war so plötzlich verschwunden, als wäre es nie gewesen. Eine Weile lag noch die nasse Schlange des Gartenschlauchs zwischen den Gräsern und wurde dann von dem Gehilfen des Herrn Belfontaine eingezogen und für heute zusammengerollt. Seine Schritte entfernten sich langsam hinter dem Rücken des Mannes, dem dieser Garten und das Haus, an welches er anstieß, gehörte und das Ladengeschäft, das sich mit Gläsern voll gelber Erbsen, weißer und bunter Bohnen, mit schmalen Messingbehältern, die brasilianischen Kaffee und aufgestapelten silbernen Päckchen, die indischen Tee enthielten, mit beschrifteten weißen Porzellandosen voll Weizenmehl, Salz und geschältem Reis, Orangeade, Zimt, Zitronade und mit blauen, ehrbaren Zuckerhüten nach jener Seite des Kreisstädtchens auftat, deren Verlängerung anstieg und in die Wingerte führte; in bescheidene, nicht sehr berühmte Lagen, die das Eigentum eingesessener Bürger und weniger Bauern waren.
In den Rebensorten nicht unterschieden, trugen die der Bürgerschaft Weinberghäuschen, welche der eine und andere Besitzer wie rohe Liebestempelchen ringsum mit Amoretten hatte bemalen und mit Bänken, einfachen Eisenstühlen und in die Erde gestampften Tischen für gesellige Zwecke hatte versehen lassen. Sitzt man dort oben, so ist es ein leichtes, das Städtchen und seine Umgebung mit einem Blick zu umfassen. Auf den lang hingleitenden Bodenwellen des rheinischen Hügellandes liegt es an diesem Spätfrühlingstage wie erschöpft in den stumpfen, rostigen Farben der Ackererde da, von vielen Apfelbäumen umbuscht, die durch den reichlichen Ansatz der Früchte fast olivengrün schimmerten; trocken und staubig bei aller Fülle, als sei die Natur ihres Auftrags, immer das gleiche zu bilden, überdrüssig geworden. Man sieht auch die breite Straße Napoleons, welche schnurgerade und unbekümmert von Mainz bis Paris hinläuft; sie kam von dem Horizont wie ein Delphin, der hinter dem Wogenbug aufblitzt, herübergleitet, verschwindet und wieder sichtbar wird, bis sie endlich die letzte Erhöhung geschmeidig hinunterstürzte und wie ein scharfes, glänzendes Messer den südwestlichen Zipfel des Städtchens abschnitt, welcher inzwischen – man schrieb einen Maitag des Jahres 1914 – weitergewachsen ist; dann eilte sie auf den nächsten Hügel, das nächste Tal und den übernächsten der niedrigen Hügel zu und hatte die Stadt bereits völlig vergessen, welche gekränkt und beleidigt in ihrer Ordnung zurückblieb und das Schloß, in dem sich die Steuerbehörde, das Amtsgericht und das Museum befanden, wie eine Schulter emporzog. Hier war das Viertel der kleinen Beamten und grenzte sich selbstbewußt und bescheiden durch ein Stück der alten Stadtmauer ab; der Marktplatz, früher nur Pferdemarkt, weswegen dort vor allem die Schmiede, Kürschner und Seiler wohnten, lag schon bedeutend tiefer, von seiner blanken, gepflasterten Mitte strahlten nach allen Seiten die neuen Geschäftsstraßen aus.
Am Ende der größten erblickte man damals das Haus der Familie Belfontaine als eines der stattlichsten; aber gleichzeitig wurde auch deutlich, in welcher Art es sich von den andern um ein weniges abzusondern und zu behaupten wußte: es stand schräg, weil die Straße hier umbog und sich aufzulösen begann; als Gegenüber hatte es nichts als eine Doppelreihe beschnittener Akazien und das Tor der staatlichen Obstbaumschule, durch deren Gitter man weiter hinten das rote Dach des Verwaltungsgebäudes wie Gartenmohn schimmern sah. Auf der Straßenseite folgte ihm selbst eine große Wagenremise, wo ein Kutschergeschäft betrieben wurde; hierauf eine Eisenhandlung, die außer Scheren, Rebmessern, Pflügen und was sonst noch zu ihrem Bereich gehörte, auch Düngemittel und Kohlen verkaufte; danach kam gar nichts und auf das Garnichts ein Pumpwerk, welches schon höher lag; es begannen die Weinbergsmauern gemächlich anzusteigen und wieder an jene Stelle zu führen, wo der Blick das Städtchen umfangen hatte, als habe er es soeben aus dem Nichtsein herausgehoben und einem Schicksal Bedeutung gegeben, welches im Augenblick damit begann, daß Herr Belfontaine noch eine ganze Weile in die silberne Kugel starrte, die da auf dünnem, glänzendem Bein fast unwirklich vor ihm schwebte, den Garten spiegelte, einfing und ihn auf zaubrische Weise nach hinten verlängerte: endlos, in deutlichen Linien, die nichts an Umriß verloren, so weit sie sich auch entfernten; ja, noch die Art und Farbe des Kieses, mit welchem der Hauptweg bestreut war, wurde treulich wiedergegeben. Nur dieser Hauptweg selbst war verändert und schien sich in seinem Spiegelbild so unermeßlich zu dehnen, daß man denken konnte, wer ihn beschritte, gelangte an die Enden der Erde oder, was ein und dasselbe ist, an den Beginn aller Wege; obwohl ihn Rabatten und Stauden an beiden Seiten freundlich umschlossen, schnitt er gleichwohl so unbarmherzig und überhell durch den Garten, als käme er nur von draußen herein, um ihn vollkommen zu entzweien, ihn zurückzulassen und weiterzulaufen, mitten durch Haus und Laden – nicht unähnlich der Pariser Straße, die das Gleiche im Ganzen des Städtchens tat.
Die Kugel flimmerte in der Sonne, wurde dunkler, aber fast schärfer im Spiegel, weil eine Wolke über ihn hinzog, und blitzte, als diese vorbei war, mit einer Schnelligkeit wieder auf, als wäre nur eine Echse über ihr Bild gehuscht . . .
Geblendet schloß Belfontaine beide Augen und holte sich unter zuckenden Lidern aus der Gartenkugel zurück; dann trat er, von leichtem Schwindel erfaßt, einige Schritte seitwärts und schaute nun wirklich nach vorn; er erblickte das Haus und die Treppe, die in den Garten führte, und sah seine kleine Tochter Elfriede auf der obersten Stufe sitzen – aber weniger saß das Kind auf der Stufe, als zwischen den dürren Waden des ältlichen Dienstmädchens Berta, dessen Oberkörper sich über Elfriede und das Strickzeug in deren Händen beugte, sichtlich bemüht, dieser armen Kleinen die Anfangsgründe der Handarbeit, wie eine Zange der Walnuß das Knacken, gewaltsam beizubringen. »Richtig«, dachte Herr Belfontaine träge und noch immer ein wenig gelähmt, »sie ist jetzt fünf Jahre geworden. Zeit also, ihre Finger zu üben, bevor das Auf-Ab-Auf-Pünktchen-drauf anfängt.« Er betrachtete, was sich ihm darbot, und ging vorsichtig auf Elfriede zu, als ob sie eine Schwarzdrossel wäre, die unversehens fortfliegen könnte; doch merkte er bald, daß keine Gefahr war, so lange die festen Finger der Magd ihre Handgelenke umklammerten.
Einige Meter von beiden entfernt, spreizte sich, schräg überm Weg, ein Photographierapparat auf lächerlich hohem Gestell; er war über Nacht dort stehengeblieben, weil Belfontaine gestern vergeblich den Vollmond zu überlisten versucht hatte und außer sich vor Ärger, daß gerade zur Stunde des Aufgangs der Osten sich eingewölkt hatte, zu Bett gegangen war, ohne das Unglücksding mitzunehmen – nicht anders, als wolle er seinen Kasten in kindischer Weise dafür bestrafen, daß der Himmel nicht mithelfen mochte. Nun bot sich der Apparat seinem Herrn wieder aufs neue an; mit der schweren, dunklen Decke behangen, machte er einen beschämten und zugleich traurigen Eindruck und schien nur darauf zu warten, das Vertrauen zurückzuerwerben, das er sich gestern verscherzte.
»Man könnte es ja versuchen« – sagte Herr Belfontaine gnädig, rückte den Apparat in die Richtung des Genrebildchens auf der Treppe und bückte sich unter das Tuch. Er schob daran, drehte und schraubte, holte das Auge des Apparates aus der Entfernung Unendlich und hatte schließlich im Blickfeld, was er wiederzugeben wünschte. Indem er noch einmal drehte, trat das Bild auf der Mattscheibe deutlich hervor und stand, als hätte soeben ein zugespitzter Griffel seine Linien verbessert und nachgezogen, umgekehrt auf dem Glas. Herr Belfontaine schlüpfte eilig unter der Decke heraus und legte rasch die Kassette ein, griff nach dem Gummiball, wollte drücken, als sich das Dienstmädchen tiefer beugte und die Kleine fast völlig verbarg. Es war eine Masche gefallen, nun kämpfte Bertha zugleich mit dem Strickzeug und den widerspenstigen Fingern des Kindes, die sich nicht biegen wollten. In dem blassen, dicken Gesichtchen Elfriedens war der Mund, wie immer, bevor sie weinte, krampfhaft nach unten gezogen; eine Falte saß wie ein winziger Pfeil zwischen den hübschen Brauen; das nußbraune Haar mit dem rötlichen Schimmer fiel ihr geringelt und feucht in die breite, verschwitzte Stirn.
»Wie ungeschickt sie sich anstellt«, dachte ihr Vater verzweifelt. »Diese dummen Finger hat sie von mir. Natürlich. Und sie sieht mir auch ähnlich, Immer sehen die Töchter dem Vater und die Söhne der Mutter ähnlich.« Er hob von neuem den Gummiball an. »Sie wird häßlich werden«, setzte er grausam seine Betrachtungen fort. »Ihre Nase ist viel zu groß.« Die Masche war glücklich aufgefangen, das Dienstmädchen schob sich wieder zurecht und streckte die unschönen Grillenbeine der ganzen Länge nach aus, legte den Kopf auf die linke Schulter und sah mit dem rechten Auge – indem sie das andere zukniff, glich dieses runde, offene Auge einem ausgezogenen Fernrohr – auf die holpernden Kinderhände.
»Jetzt!« – dachte Herr Belfontaine wie ein Mensch, dessen Wille sich fürchterlich anstrengt, um einen Traum zu verlassen, von welchem er das Gefühl hat, daß nicht er selber ihn träumt. Doch er dachte und handelte nicht zu Ende. Das Kind ließ Nadeln und Wolle aus seinen Händen gleiten und rief mit klagender, hoher Stimme: »Ich habe keine Lust mehr . . . ich habe keine Lust mehr . . .«
»Keine Lust mehr . . .«, tönte der Ruf des Kindes in Herrn Belfontaines Herzen wider – laut, langgezogen, zurückgeworfen von einem unendlichen Echo, das, wie der Nachhall in leeren Räumen, gewaltiger schien als die Stimme, die es hervorgebracht hatte.
Er ließ den Gummiball fallen und sah ihn noch eine Weile pendeln; auch seine Hände sanken herunter, vollkommen schlaff und entseelt. Wie sie da hingen: einfach und arglos, mit etwas fleischigem Rücken, war nichts Auffälliges oder Verkehrtes an ihnen; sie waren weder zu groß, noch zu klein, eher breit als schmal, aber auch nicht plump, und hatten gleichmäßig dicke Finger mit spatelförmigen Kuppen. Nur die Nägel standen, kaum fühlbar, in eigentümlichem Gegensatz zu ihren Fingerenden. Sie hatten, vielleicht, weil Herr Belfontaine ein leidenschaftlicher Raucher war, eine vergilbte Farbe, als wären sie abgestorben, oder als hätte das Blut nicht mehr die Kraft, sie bis an den Rand zu füllen; auch waren sie spitzer geschnitten, als man erwarten sollte, und diese graugelbe Farbe in Verbindung mit ihrer gepflegten Form gab ihnen etwas von Stolz und Schwermut und geheimer Absonderung . . . Eine Hummel umschwirrte den reglosen Menschen und schien in gleichmäßig weitem Abstand einen verborgenen Kreis zu achten, der rings um seinen Kopf ging; dann schnurrte sie, unfähig, diese Grenze noch länger zu ertragen, enttäuscht und zornig davon. Sie kehrte zurück und beschrieb aufs neue ihre eigentümlich brausende Bahn, in der sich die Stille verstärkte. Doch auch diesmal wagte sie sich nicht näher, obwohl der Mann, den sie eifrig umsauste, keine Bewegung machte, vielmehr, wie der Rasen zu seinen Füßen, von dem Übermaß einer Gabe so beschwert und ermüdet zu sein schien, daß er Fülle und Leere austauschen konnte, als sei es das gleiche Gefühl . . .
»Fritz!« rief Herr Belfontaine plötzlich und drehte sich mit der Heftigkeit jener Art Menschen um, die alles wie von der Kordel reißen, weil sie sonst weder zu einem Entschluß, noch von Handlung zu Handlung kämen. Kein Fritz war zu sehen; er hatte den Garten schon längst durch den hinteren Ausgang verlassen und war mit Geschäftsbriefen in dem Rock auf das kleine Postamt gegangen. Wie auf Verabredung leerte sich auch, als Belfontaine ihr den Rücken kehrte, die niedergetretene Treppe, und der Hausherr war mit dem Apparat und der Gartenkugel allein.
Sofort fing er leise zu reden an, unbekümmert und rasch wie jemand, der den größten Teil seiner Gespräche nur mit sich selber führt. »Wo bleibt der Blinde? Er müßte doch da sein. Noch niemals hat er den Tag vergessen . . . und heute jährt es sich wieder. Es –«, er hielt inne und sagte so laut, daß er selber darüber erschrak: »Unser Geheimnis. Vor sieben Jahren. Sieben Jahre sind nun herum.« Er sah nach dem Gartenzaun, welcher den Weg zwischen Herrn Belfontaines Grundstück und der Wagenremise begrenzte. »Wenn er wüßte, daß er siebenmal mehr, als im vorigen Jahr, erhielte! Aber ich fühle, er wird nicht kommen. Niemals mehr. Nie . . . nie . . . nie . . !«
Dieses letzte Wort stieß Herr Belfontaine aus, als ob er damit sein Leben verströmte; es wollte nicht enden und glich im Tonfall der Klage seines Kindes; ja, es schien gleichsam die Antwort auf diesen ersten Ruf zu enthalten, ihn zu bestätigen und der Trauer, welche Vater und Kind überfallen hatte, gemeinsamen Inhalt zu geben.
Doch fast im nämlichen Atemzuge erlebte Belfontaine dieses ›Nie‹ mit fassungslosem Erstaunen. »Wer sagt das?« murmelte er bestürzt und blickte rechts und links in die Büsche, als sei der eben vernommene Ruf nicht aus ihm selber gekommen. »Bin ich verrückt oder werde ich krank? Denn es ist doch alles wie immer?« Er stampfte leicht mit dem Fuß auf und wiederholte: »Wie immer!« – dabei fühlte er aber deutlich, wie lächerlich dieses Aufstampfen wirkte, weil es nicht unwillkürlich erfolgt, sondern nur als gespielte Beschwörung vor dem Spiegel seiner Vernunft eingeübt worden war.
Mit solcher Erkenntnis wuchs unwillkürlich seine innere Unsicherheit. »Natürlich ist alles wie immer«, sagte er vor sich hin und bemühte sich, seinen Worten nicht mehr an Gewicht beizulegen, als hätte er zu Elfriede geäußert: »Natürlich scheint morgen die Sonne wieder«, oder »Natürlich ist alles richtig, was deine Mutter dich lehrt.« Er wartete, wie um sich selber zu fragen: »Nun also, genügt es dir? Bist du getröstet? Hast du dich wieder beruhigt?«
Nein. Nein, es hatte ihn nicht getröstet, und er war nicht beruhigt. »Ich werde noch warten«, beschloß der Mann und schmeckte schon unter dem Gaumen eine schale brütende Langeweile, die ohne Erbarmen war; schrecklicher als der Schmerz und das Unglück, denn diese sagen dem Menschen, warum sie ihn leiden machen, während jene ihn grundlos peinigt. »Ich werde hier auf den Blinden warten und den Weg im Auge behalten. Vielleicht ist er krank und schickt einen andern. Ach nein, er soll keinen andern schicken. Ein anderer könnte das nicht verstehen, wie es der Blinde versteht. Auch Elisabeth nicht, obwohl wir doch morgen sieben Jahre verheiratet sind.« Da waren sie wieder, die sieben Jahre; doch barg der Hochzeitstag nicht das Geheimnis, um das Herr Belfontaine kreiste, sondern jener, welcher voraufgegangen und den Augen der meisten Menschen verborgen geblieben war.
»Er soll kommen. Der Blinde soll kommen«, – flüsterte Belfontaine wieder und wanderte ruhelos zwischen der Kugel und dem Apparat hin und her. »Er soll kommen und seinen Lohn dafür nehmen, daß er heute vor sieben Jahren –« Belfontaine blieb vor der Kugel stehen und starrte auf ihre Oberfläche, die den Weg nach rückwärts verlängerte, schlang die Finger gedankenlos ineinander, bis das Knacken der Knöchel ihm deutlich machte, wie erregt sein Inneres war, und ging zu dem Apparat hinüber, kroch aufs neue unter das schwarze Tuch und prallte gegen die Dunkelheit an, denn er hatte vorhin vergessen, die Kassette herauszunehmen.
»Wenn ich mich umdrehe, ist er da«, sagte er wie ein Zauberkünstler vor einem Parkett voller Bauern; hielt den Atem an, schlug die Decke zurück und sah, geblendet vom Einfall des Lichtes, einen Schatten über die Mauer der Wagenremise huschen . . .
Es war ein Radfahrer, weiter nichts, der mit geschulterter Hacke den Weg auf das Feld hinausfuhr. Sein Rücken und diese Hacke, welche ihn überragte, waren das Erste und Letzte zugleich, was Herr Belfontaine von ihm erblickte.
»Also doch nicht«, sagte er matt und verloren, als sei nun die letzte Hoffnung mit Stumpf und Stiel ausgerodet. Er legte die Hände zusammen, spreizte die kleinen Finger weg und ließ sie gegeneinanderfallen; wiederholte diese Bewegung grundlos in einem fort und sagte dabei: »Tja . . . tja, tja, tja!« Nicht anders, als ob er sich selber zum Gegenüber hätte. Gleichzeitig überfiel ihn eine furchtbare Müdigkeit. Er gähnte krampfhaft; versuchte das Gähnen gewaltsam zu unterdrücken und mußte von neuem gähnen, immer wieder und wieder, tiefer und stärker, sodaß es fast schon ein Schluchzen war, was da, wie nach genossener Mahlzeit, unaufhörlich aus ihm emporquoll.
Dieses Gähnen, in enger Verbindung mit seiner grundlosen Trauer, erregte in Belfontaines Hirn die gleiche Verwunderung, wie sie das »Nie« hervorgebracht hatte, das seinen Lippen entschlüpft war, ohne daß er es wollte. Er wußte noch nicht, daß der Überdruß sich mit jeder Art von Empfindung zu paaren imstande ist, ja schließlich übrig bleibt als der schwarze, niedergebrannte Docht, an dem sich das Wachs verzehrte, und hätte deshalb jeden, der ihm von »gähnender Trauer« zu sprechen gewagt haben würde, als einen Schwätzer bezeichnet.
»Ei, was denn«, sagte er ruhiger und bemühte sich, seiner Stimme einen munteren Ton zu geben. »Ich habe nicht gut geschlafen, weil gestern Vollmond gewesen ist. Und was den Blinden betrifft, nun ja – er wird sich verspätet haben; er wird, noch ehe es Mittag schlägt, wie immer mit seinem Stock an der Mauer vorübertasten, den Zaun berühren, die Hand hinstrecken und ein kleines Geldstück erhalten; ich werde ihm eilig den Arm um seine Schultern legen und ihm zuflüstern: dort und dort wollen wir beide uns treffen, dann sollst du mehr bekommen und mich anhören, wie du mich Jahr für Jahr getreulich angehört hast.«
Indessen sich Belfontaine solcher Art zusprach, fiel ihm ein, daß er selber den Treffpunkt noch nicht erwogen hatte – doch erschreckte ihn diese Erkenntnis nicht, sondern erleichterte ihn auf eine fast mystische Art. »Natürlich, wie sollte der Blinde schon da sein, wenn der Ort noch nicht ausgemacht ist«, sagte er sich, als ob dieses Kommen von der Sorgfalt abhängig wäre, mit der er es vorbereitet, durchdacht und seinen Verlauf so und so festgelegt hatte.
»Keine Eile. Nur keine Eile. Der Tag ist noch lang, und das Wetter bleibt schön, man merkt es an den Schwalben. Wir könnten uns also wie voriges Jahr draußen im Freien treffen. Hübsch war der Weg durch das niedrige Korn, in dem die Fasanhenne brütete, und angenehm auf den heißen Steinen, die Hände am Boden, zu sitzen; den Sand durch die Finger laufen zu lassen und manchmal ein Muschelchen drin zu haben – – ja, denn der Boden war Meeresgrund, wie die Kinder schon in der Schule lernen. Meeresgrund . . . Meeresgrund . . .« Ein Zittern durchlief Herrn Belfontaines Körper wie die Brandung den Wasserspiegel; dann breitete er die Arme aus und sagte mit singender, fremder Stimme: »All deine Wellenberge, deine Fluten, sie gingen über mich hinweg . . .«
Dies war es, und es war ausgesprochen; das Geheimnis des Lazarus Belfontaine, der heute vor sieben Jahren die Taufe empfangen hatte.
. . . Er sank auf den Grund dieser sieben Jahre, ganz langsam, ein schwerer Körper, und kam mit weitgeöffneten Augen an dem Markstein eines jeden vorbei: noch sah er den Feldweg des vorigen Jahres wie ein glänzendes, taghelles Band an der Oberfläche des Wassers liegen; hierauf wuchs der dunkle, rissige Stamm und das zitternde Laubdach der großen Espe, die vereinzelt am Ende der Stadtmauer stand, allmählich vor ihm empor; dieses Laubdach fühlte er nur wie ein ständiges Zucken und Blinzeln, das in ihm selber wohnte. Auch an einer Schenke sank er vorüber, auf deren neubeworfene Wände der ausgestreckte Finger des Blinden irgend ein Zeichen malte – diesen Deutefinger sah Belfontaine hernach bei jeder Begegnung mit einer Erinnerungsstätte. Er machte nichts Besonderes sichtbar: manchmal nur einen Büschel Grases, auf welchem ein taubenähnlicher Vogel ohne Bewegung saß; eine Bank und ein Fensterkreuz zwischen verwölkten, von Weindunst beschlagenen Scheiben, und zuletzt die Treppe des Kirchenportals, aus welchem Herr Belfontaine schwankend herauskam, nachdem er getauft worden war – – nicht anders, als stünde die ganze Kirche selbst unter lauter Wasser; in der Heimat des Wassers gewissermaßen, und die Sinne des Lazarus Belfontaine seien alle von ihm erfüllt gewesen: Mund, Nase, Augen und Ohren hätten mitgeschluckt, als er untertauchte, und nun entströmte das Wasser ihm stark und springflutartig wie dem Lamm der Apokalypse.
Auf der untersten Stufe saß damals ein Bettler und streckte ihm die Hand hin; das Antlitz hatte er abgewendet, und noch heute hätte es Belfontaine nicht recht zu beschreiben gewußt. An dieser Hand hielt sich Lazarus fest, holte Atem, suchte in seiner Tasche nach irgendeinem Geldstück und fragte dabei wie ein Trunkener, der sich der Möglichkeit, noch vernünftig und richtig sprechen zu können, zu vergewissern sucht: »Da . . . und wie nennst du dich, guter Mann?«
»Der blinde Jean«, gab der Bettler zur Antwort, ohne den Kopf zu drehen.
»Johannes – der Evangelist?« fragte Belfontaine mit der Hartnäckigkeit aller Berauschten weiter.
»Der Täufer«, – sagte der Bettler und wandte sich endlich um. An dem Gesicht mit den toten Augen, die eine schwarze Brille bedeckte, wurde Belfontaine wieder klar.
»So, so, Johannes der Täufer. Oder hast du womöglich gar nicht gewußt, daß – hier . . . eine Taufe war?«
Der Blinde schüttelte seinen Kopf, es konnte ja oder nein oder auch überhaupt nichts bedeuten.
»Am Ende«, fuhr Belfontaine zögernd fort und warf einen Blick auf das Kirchenportal, als könne der Küster oder der Pfarrer, von denen der eine noch mit dem Brevier, der andere mit dem Ordnen der Paramente beschäftigt war, ihn plötzlich überraschen, »am Ende bist du nicht einmal von hier?«
»Nein«, gab ihm der Blinde leise zur Antwort. »Ich bin nicht am Ende von hier.«
Diese sinnlose Auskunft empfing der Getaufte wie einen starken Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts in das Geheimnis stieß, das er eben verlassen hatte. Er zitterte, griff in das Pfeilerbündel der schlechten Backsteingotik und fing zu schluchzen an – rauh, unterdrückt, mit den Zähnen knirschend, um sich nicht zu verraten; dann, hinter dem gebogenen Arm an den Ausbruch der Tränenflut hingegeben, faßte er sich allmählich wieder, wischte sich über die nassen Augen und blickte verstohlen nach rechts und links, ob ihn jemand beobachtet hätte.
Es war ein Werktag; der kleine, vergraste Platz, in dessen äußersten Winkel sich Kirche und Pfarrhaus drückten, lag still und menschenleer da. Gleich darauf ächzte die Flügeltür des Windfangs am Eingang der Kirche und schlug mit dem Lederpolster dumpf gegen den Holzrahmen an; eine Hand schien an dem Portalgriff ein paarmal daneben zu tasten, bevor er sich niedersenkte – und der Pfarrer, die Nase auf dem Brevier und die suchende Rechte noch immer gedankenlos ausgestreckt, trat aus der Kirchentür. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, den Kopf hielt er schief, was den Eindruck erweckte, als höre er jemandem zu, mit dem er gleichzeitig sprach. Ohne aufzublicken, ging er, umflügelt von dem weitgeschnittenen Kutschermantel über der langen Soutane, an Belfontaine und dem Blinden vorbei; er überquerte den kleinen Platz mit unregelmäßigen Schritten, die etwas Gefesseltes hatten und die einsame, schwarze Erscheinung auf dem verwilderten Fleckchen einem gestutzten Raben, der sich fügen muß, ähnlich machten. Im Dahingehen sank sein Kopf immer schiefer, auch die Schulter verzog sich mehr und mehr, der ganze Mann wurde gleichsam älter, von Asche überrieselt, die ihm die Ohren verstopfte und es unmöglich machte, ihn etwa zurückzurufen.
Belfontaine blickte ihm sehnsüchtig nach, bis er verschwunden war; ein tiefer Seufzer entrang sich gleichsam als Nachhall noch einmal seinem Herzen; dann berührte er die Schultern des Blinden, und sofort erhob sich der andere und folgte ihm ohne zu fragen kreuz und quer durch die Straßen, an den Ausgang des Städtchens und weiterhin in die ummauerten Weinbergswege, wo Belfontaine langsamer ging, weil der Boden gefurcht und steinig war. Auf halber Höhe hielt plötzlich der Zeuge an und stieß mit dem Stock auf die Erde; die Zwinge klirrte, ein Mittagsläuten kam dünn und verloren von ferne . . .
»Wohin gehen wir?« fragte der Blinde.
»In meinen Weinberg. Dort liegen ein paar Flaschen im Häuschen. Auch was zu essen. Kekse und Schinken. Und wenn du rauchen willst – na!« Er machte eine Bewegung: etwas prahlerisch, etwas zu weit, und stieg dem Anderen wieder voran, ohne sich umzusehen. »Weißt du«, sprach er dabei nach vorne, »eigentlich ist er ab morgen erst mein, dieser Wingert. Morgen – wenn ich die Tochter des alten Ignaz Schweickert geheiratet haben werde.« Ohne eine Erwiderung des Blinden abzuwarten, erging sich Belfontaine in der Beschreibung des Schweickertschen Ladengeschäftes, das auch Engrosvertrieb hatte, er schilderte den Keller, das Warenmagazin und zählte die Weinstücke auf – unermüdlich, ohne inne zu halten, baute er mit gewöhnlichen Worten den Uferwall gegen das Glück dieses Tages und seinen eigentlichen Besitz, an den er nicht denken durfte, ohne wieder aufs neue von ihm begraben zu werden. Wie der kleine Bruder im Märchen, der sein Schwesterchen an der Hand hat und vor der verfolgenden Woge flieht, warf er hastig die goldene Bürste und den goldenen Kamm zurück, damit sie als Kammberg und Bürstenberg zu einem Hindernis würden; aber wandte er sich in den Atempausen zu der Wasserflut, die hinter ihm herkam, um: so schien ihm das Nixenhaupt über den Wellen dem Mädchen an seiner Hand zu gleichen, ja, ein und dasselbe zu sein, weshalb er von seiner Braut so wenig wie von dem Wasser zu sprechen wagte, denn das Wasser brachte die Braut, und die Braut das Wasser hervor – eines die Mutter des andern und keines für sich allein . . .
Oben angekommen, drückte er sanft den Blinden auf einen Eisenstuhl nieder, griff in die Traufe des Weinberghäuschens und holte den Schlüssel hervor. Einige Zeit danach saßen sie beide vor Brot und Wein, denn einen anderen Vorrat hatte Belfontaine nicht entdecken können. Das Brot war fein, aber ausgetrocknet; sie tunkten es deshalb in ihr Getränk und wurden rascher berauscht, als naturgemäß notwendig war.
»Morgen um diese Zeit«, sagte Belfontaine mit verzauberter Stimme, »wird meine Brautmesse sein.« Gleich darauf rief er heftig aus: »Du mußt mich duzen, verstehst du, und ›Lazarus‹ zu mir sagen.«
Der Blinde griff ungeschickt nach dem Glas, sie überkreuzten die Arme und tranken einander zu.
»Prost Lazarus!«
»Prost, Johannes, mein Täufer!« erwiderte Belfontaine. »Im Grunde«, sagte er danach rasch und deutete auf das Städtchen, als ob der Blinde mitsehen könnte, »bin ich zur Hälfte von hier. Meiner Großmutter Mutter: die alte Johanna Levi wurde da unten geboren; ich glaube, damals bestand noch das Ghetto – – also war es wohl dort, wo das rote Hannchen mit der großen Nase herumlief; noch heute kann man erzählen hören, es habe sich nicht wie andere Kinder am Kopf, sondern stets an der Nase gestoßen. Schön war sie nicht, aber fromm und tapfer und soll bei dem Rückzug Napoleons mit zehn Kosaken auf einmal fertig geworden sein. Das war an einem Sabbath, die Kerle wollten Branntwein, da sagte sie: ja, doch sie müßten sich selber in den Keller hinunterbemühen. Eins, zwei, drei, schlug sie die Falltür zu, als alle unten waren, und setzte sich darauf; sie war so entsetzlich dick und schwer, daß keiner sie hochstemmen konnte. Ihr Mann und die Kinder wechselten ab; sie hatten dreizehn Söhne, das Schwesterchen war noch nicht da. Beim Sitzen sang die ganze Familie in einem fort Psalmverse her, mein Urgroßvater war Kantor, und die Russen sollen von unten herauf nicht schlecht geantwortet haben. Das ging so einen Tag, eine Nacht und wieder einen Tag. Dann wurde es stiller, und als das Hannchen die Falltür hochhob, lagen die Russen allesamt schnarchend um das Branntweinfäßchen herum. Inzwischen war das andere Heer schon wieder abgezogen; man lud die zurückgebliebenen Kerle auf einen Leiterwagen und fuhr sie zum Städtchen hinaus, legte sie dort in aller Stille auf einen Rübenacker und überließ es dem Beelzebub, ihnen den Weg zu weisen . . .
Ja, solch eine war die Johanna Levi, die nachher noch das Estherchen kriegte: meine Großmutter mutterseits. Die war nun ganz anders: sanft, schmal und klein und ist auch jung gestorben. Eigentlich weiß man nicht viel von ihr; nur, daß sie als Kind schon so schön war, daß immer zwei Brüder, rechts und links, an ihrer Seite gingen, sobald sie das Haus verließ. Ein Offizier, der im Reisewagen durch unsere Stadt kam, verliebte sich in sie. Man brachte sie daraufhin zu einer Tante nach Worms und gab ihr einen Mann, der zwanzig Jahre älter und der beste Gesetzeskenner der ganzen Gemeinde war. Ich glaube nicht, daß die beiden schlecht miteinander lebten; meine Großmutter war ihm in allem gehorsam und ehrte seinen Verstand und seine Rechtschaffenheit. Er wieder ließ es der jungen Frau an keiner Bequemlichkeit fehlen: sie durfte Kaffee brennen und sich bei dem Fräulein Desclavissac ihre Handschuhe nähen lassen. Doch, doch, sie hatte es gut, wurde aber nicht alt. Als ihr Kind, meine Mutter, fünf Jahre war, hat man sie schon begraben. Es gibt ein Medaillonbild von ihr, auf Porzellan gemalt. Da sitzt eine Taube auf ihrer Schulter, und auf der Rückseite stehen die Worte: ›Für Sulamith, Salomons Braut‹. Dieses Bildchen war ein Geschenk des fremden Offiziers – meine Mutter hat es nachher bekommen, und morgen schenke ich es meiner Elisabeth.«
Herr Belfontaine lachte ein wenig und sagte: »Die hat nämlich auch so ein Täubchen, und dieses Täubchen hat zwischen uns beiden den Kuppler gespielt . . . ja, ja. Es war bei einer Karnevalssitzung, sie war als Colombine verkleidet und trug ein Elfenbeintäubchen am Hals, das mich, ich weiß nicht warum, an ›Sulamith, Salomons Braut‹ erinnert haben muß. Ich spielte beim Tanzen ein wenig damit, es hing an einem hellblauen Samtband, sie wehrte mich ab, ich war schon verliebt und dachte: ein anderer, du mein Gott, hätte es ihr verehrt. ›Was ist denn das eigentlich?‹ fragte ich dumm. Sie sagte schnippisch: ›der heilige Geist‹, knickste und ließ mich stehen. So fing es an. Und den Abend über schmeichelte ich dem Täubchen, als sei das Täubchen sie selbst. Ich sagte: ›der heilige Geist muß was trinken‹, und brachte ihr ein Glas Wein. ›Komm, heiliger Geist und fliege nicht fort, ich tu dir ja nichts zuleide! Ruh dich aus bei mir, heiliger Geist!‹ Als es dann ernst mit uns wurde, verlangte sie meine Taufe; wir hätten ja auch, wie du weißt, sonst gar nicht getraut werden können. Nun, meine Eltern waren schon tot, ich hatte auch keine Geschwister, ein paar entfernte Verwandte nur . . . und brauchte nach nichts zu fragen. Das bißchen Wasser, dachte ich damals, kann dir ja wohl nicht schaden – –«
Herr Belfontaine schob sein Glas von sich weg, fiel mit dem Oberkörper nach vorne und legte den Kopf auf die Arme: »Ich habe es nicht gewußt . . . nicht gewußt«, sagte er mit erstickter Stimme, »daß ich nicht nur das Wasser wollte.«
Der Blinde drehte sich ganz zu ihm um, packte Lazarus an der Schulter und fragte mit harter Betonung: »Was wolltest du denn? Das Mädchen? Das Geld?«
»Den Glauben«, erwiderte Belfontaine einfach und richtete sich auf. »Den blinden Glauben – –«
»Prost, Lazarus!«
»Prost, Johannes, mein Täufer! Prost, blinder Glaube!« Und ablenkend, fragte er von sich fort: »Woher kommst du eigentlich? Hast du Verwandte? Und wovon ernährst du dich?«
Der Blinde blieb stumm und hielt sein Gesicht regungslos in die Sonne; in dem scharfen, brennenden Frühlingslicht traten mit überwirklicher Schärfe alle Linien um Schläfe und Mund hervor, der Bau seiner Nase, die Backenknochen, jede Mulde, Stoppel und Pore, das Beständige und das Verwandelnde – von dem Skelett, das sich jetzt noch verbarg, bis zu den ätherischen Ölen der Haut, den Tränenfurchen, der Feuchte des Lächelns und dem Atem, den sowohl Reden wie Schweigen wie einen mystischen Schleier über die Züge warfen . . . verbergend, alles wieder entrückend, was eben noch deutlich war.
Herr Belfontaine blickte ihn aufmerksam an. »Wahrhaftig, du bist nicht von hier«, sagte er überrascht. »Aber wo kommst du denn her, mein Lieber?« fragte er ihn zum zweitenmal, während sich eine steigende Spannung seines Wesens bemächtigte. »Von weit her?«
»Von weiter her, als du denkst«, sagte der Unbekannte.
»Also kenne ich deine Heimat nicht?« fuhr der andere hartnäckig fort.
Der Blinde lächelte. Dieses Lächeln schien gleichsam die Blüten und Gräser jener Gefilde zu sammeln, an die er sich nun erinnerte, und löste sie in Duft.
.»Schon gut. Ich werde es heute nicht wissen. Vielleicht einmal später – wie?«
»Heute . . .!« rief plötzlich der Blinde aus. »Was hat dir heute der Herr gesagt, Lazarus Belfontaine?« ›Heute habe ich dich gezeugt‹, gab er sich selbst zur Antwort. »Dies hier« – er wies in die Richtung des Städtchens und schien es wie einen Haufen Spielzeug mit seiner Hand zu bedecken – »bedeutet nichts gegen die Herkunft des Glaubens, aus dem du geboren bist. Alles andere: Vater, Mutter und Brüder . . .« Er verwölkte sich, legte den Arm um Belfontaines Nacken und sagte: »So sind wir nun Vettern von Abraham her, der der ›Vater des Glaubens‹ heißt. Aber du mußt noch zurück hinter ihn . . . dorthin, wo wieder die Blutkette abreißt und keiner sich auf sie berufen kann – – hinter Noë, Henoch und Seth.«
Der andere starrte über die Hänge, über die Rebstöcke, Mauern und Hügel, die ein wasserhaltiges Licht genährt und wieder entstofflicht hatte, bis sie nur noch Erinnerung waren. »Noë, Henoch und Seth . . .«, sagte er vor sich hin. Ein Schauder berührte plötzlich sein Hirn, als flösse das Leben mit furchtbarem Brausen von seinen Windungen ab wie Wasser von bleichen Grottengebirgen und sammelte sich bewußtlos in Becken und Eingeweide. Tief unten lag der dampfende Blutsee des auserwählten Volkes und tränkte den Wurzelballen der Herkunft mit Segen, Verheißung und Fluch. Bei jedem neuen Einschuß des Blutes bebte der ganze Baum und erinnerte sich an Jahwes Hand, die auf des Erzvaters Hüfte lag und auf der Schulter Mosis, als Gott vorübereilte.
»Jetzt!« – sagte der Herr und nahm seine Hand hinweg; da durfte Moses ihn schauen: doch nur seinen Rücken – das, was vergangen und nicht, was zukünftig war . . .
»Jetzt« – wiederholte Herr Belfontaine zum letztenmal seine Beschwörung und sah auf den Rücken der sieben Jahre, die er zu kennen glaubte wie der Fischer die Nixenbehausung am Grunde, in der er sieben Jahre verbracht hat, der Schäfer den Elfenhügel. Aber nichts als vollkommen finstere Schwärze schlug von dem Wasserspiegel zurück – und von dem Leben unter dem Wasser eine Hitze wie von der Bergwand an heißen Sommertagen. Das Licht war jenseits; gewiß: es hatte darauf gelegen und dieses Wasser durchfunkelt, diese seltsame Hitze erzeugt; nun aber war es verschwunden – er wußte nicht, wohin.
Aufs neue versuchten seine Gedanken, zu dem Anfang zurückzukehren: zu dem Kirchenportal, zu dem Haus in dem Weinberg und vor allem zu jenem Zeichen, das der Finger des Blinden, weit umgebogen, an das Wingerthäuschen geschrieben hatte, als sie beide, angehaucht von dem Duft einer jetzt erst geahnten Rebenblüte, daran vorübergetaumelt waren – auch dieses fand er nicht mehr. »Und ich habe es doch genau gewußt«, sagte Herr Belfontaine hilflos. »Es muß ein schreckliches Zeichen und ein merkwürdig fremdes gewesen sein, sonst wäre mir nicht von da ab der Bettler immer ein wenig zum Fürchten gewesen; gewiß: es war ein Ganovenzeichen, etwas, womit die Diebe das Fenster oder die Tür vermerken, durch welche sie einbrechen wollen.«
»Vielleicht ist es gut, daß der Blinde nicht kommt«, schloß Herr Belfontaine seine Erinnerung ab. »Denn was weiß ich im Grunde von ihm? Man hat sich einmal im Jahr gesehen, ich habe ihm Geld gegeben und vielleicht manches erzählt, was ich besser verschwiegen hätte. Nun ja, nichts Schlimmes und kein Geheimnis.« Bei den letzten Worten breitete sich allmählich eine Ruhe über Herrn Belfontaine aus, wie er sie vorher noch niemals gekannt oder besessen hatte – vorher, als er von Jahr zu Jahr wie über verschränkte Hände von Engeln gegangen war; über Winde, die trugen, und Feuerflammen, die ihn brannten und doch nicht verbrannten. Mag sein, daß dieses neue Gefühl mehr Enttäuschung als Ruhe war. Einerlei. Wenn nun der Blinde doch noch gekommen wäre, hätte Belfontaine ihm auf die Schulter geklopft und mit frischer Stimme gesagt: »Schnickschnack, mein Lieber, was denkst du dir denn? Ich habe jetzt keine Zeit. Ein Geschäftsmann –! Das Mehl muß durchgesiebt und das Öl auf Flaschen gezogen werden, dem Importeur ist nach Hamburg zu melden, daß der Tee zu staubig, der Kaffee verbrannt und der Zucker nicht gut verpackt war. Briefe zu schreiben, Bilanz zu machen, Bestellungen aufzugeben . . . nein, nein, so leid es mir tut. Die Pflicht geht vor, das verstehst du zwar nicht, aber es bleibt dabei.«
Ohne es selber gewahr zu werden, fing Belfontaine mit dem Unsichtbaren in lauten Worten zu sprechen an, ihm zuzureden, ihm Antwort auf allerlei Fragen zu geben, die überhaupt nicht gestellt worden waren, und näherte sich mit heftig bewegtem Körper wieder dem Gartenzaun. Wie ein Schauspieler, der seine Rolle, ein Schüler, der seine Lektion wiederholt, sagte er immer dasselbe mit behaglicher Hartnäckigkeit; er untermalte es mit Gebärden, welche ausdrücken sollten: nein und nein! Strich drunter! Dixi! Ich habe gesprochen! Ein Mann, ein Wort –! Und endlos so weiter in verfetteten, sinnlosen Redensarten, die niemand ihm abverlangte.
»Aber! Aber! Herr Belfontaine!« sagte der Lotterieeinnehmer: Adalbert Adam Gully, und hob die Hände in Augenhöhe. »Ich habe doch noch gar nichts gewollt –?«
Um ein Haar wäre Belfontaine an dem Zaun mit ihm zusammengeprallt. Verdammter Schleicher! durchzuckte es ihn; und: nur nichts merken lassen! war sein übernächster Gedanke. »Haha, nichts gewollt! Nichts gewollt, ist gut. Um was geht es denn eigentlich wieder? Die Preußische? Oder um Wohltätigkeit? Erdbeben, Überschwemmung? Die Orangenhaine am Fuß des Vesuvs, die Reisfelder an dem Jangtsekiang – alles hin und verwüstet, Herr Gully weiß es, Herr Gully wird es bessern.« Er lachte wieder gekünstelt auf und sah in das verhaßte Gesicht des Lotterieeinnehmers, von welchem er zu Elisabeths Schrecken neulich im Laden behauptet hatte, er habe Regenwurmhaut.
»Nein, nichts von Wohltätigkeit«, versicherte Gully geschmeidig. »Eine Landwirtschaftslotterie mit verschiedenen Pferdeprämien: Schimmel, Schecken und Rappen; auch Wägelchen sind zu gewinnen, Chaischen und Dogcarts, warum denn nicht, man muß es nur einmal wagen.«
»Schade«, sagte Herr Belfontaine boshaft. »Wenn es nämlich ein Wohlfahrtslos oder sowas gewesen wäre – eine Kirchenbaulotterie, na, ich weiß nicht – –«
Herr Gully zog die Augen zusammen, die winzigen federförmigen Büschel auf der häßlich gekniffenen Rundung seiner verschmalzten Ohren fingen zu zittern an. »Ja, leider kann ich damit nicht dienen. Keine Hungersnot augenblicklich in China, keine Feuersbrunst in der Pariser Oper, nur ein paar lumpige Heringskähne sind an der Küste untergegangen – aber«, nun salbte Gully die Zunge, »da hat schon der Kaiser persönlich die Hinterbliebenen für den Verlust ihres Ernährers getröstet. Es gibt im Verhältnis zum Wohlfahrtsdrang zu wenig Unglück auf dieser Welt. Die Leute sterben nicht mehr an Seuchen, sondern an Altersschwäche: die Kanalisation ist zu gut. Der Schnuller wird kreisärztlich abgeschafft werden, das Volk vermehrt sich, Schiffahrt ist not, die Wacht, die Wacht steht am Rhein. Ich frage also: was bleibt noch? Armut ist eine Schande, Almosen gibt man nicht schlank aus der Faust, sondern macht dafür einen Bazar.«
»Falsch!« widersprach Herr Belfontaine heftig. »Bazare sind nur ein Vorwand für Sekt und Küsserei. Wer geben will, soll ohne das geben. Alles andere«, sagte er, angeekelt von dem speichelnden Munde Gullys, »entspricht nicht meinem Begriff einer höheren Sittlichkeit.«
»Ja, wenn die Menschen alle Idealisten wären!« pflichtete ihm Herr Gully mit verdächtiger Eile bei. »Ich weiß noch genau, wie Sie damals als erster für den Zeppelin hundert Mark, oder waren es mehr? gezeichnet haben; die Liste lag doch bei mir im Laden, wo jetzt das neue Schneidemaschinchen für die Zigarrenspitzen – – ach, ich glaube, das kennen Sie auch noch nicht: man schiebt die Zigarre unter die Schneide wie bei den Brotmaschinen, knapp, ist es fertig, saubere Sache – ja, also da lag die Liste, und jedermann meinte: verrückt! Dieser Graf gehört unter Kuratel, einsperren sollte man ihn. Die Zeiten ändern sich, mutantur, wie der Lateiner sagt, nicht wahr? Heute denkt man darüber anders. Das Wasser, die Luft: da liegt es, da fliegt es, Deutschland will seinen Platz an der Sonne, das Heer ist gerüstet, es fehlt keine Litze; für die Flottenvorlage, na, haben wir alle gestimmt.«
Er war am Ende seiner Tirade und schob den Daumen der linken Hand in das ausgeleierte Knopfloch des schäbigen Jacketts. Belfontaine schwieg, und Gully schwang sich noch einmal auf. »Die Masse bringt es«, sagte er dunkel. »Der einzelne gilt nichts mehr. Wer steht, der sehe, daß er nicht falle . . . na, dafür gibt es den Nebenmann. Einer für alle, alle für einen – und auch die staatliche Lotterie beruht auf diesem Prinzip. Denn woher kommt sie? Wie ist sie entstanden?«
»Oh«, warf Herr Belfontaine nachlässig ein, »das dürfte sich sicher im Brockhaus finden –?«
»Hier! Hier!« schrie Gully ekstatisch und klopfte sich gegen die Schläfe. »Hier ist der beste Brockhaus, mein Lieber, wenn es sich um die Entwicklungsgeschichte großer Ideen handelt. Ich will also lieber anders fragen: wo kann sie nur herkommen – na? Antwort: aus Ländern mit blühendem Handel und wachsender Industrie. Der Kaufmann hat sie erfunden, wer sonst? Zuerst in Genua. Dann in London. Natürlich war das System verschieden. In Genua setzte man anfangs die Namen der Nobili ein . . .«
»Ach«, unterbrach ihn Belfontaine spöttisch und tippte nun seinerseits an die Schläfe, »und das haben Sie alles von – hier?«
»Nein«, sagte Gully verdutzt. »Es ist auch einerlei, nicht wahr, ich meine: das System. Aber dahinter ist immer das Gleiche. Die Masse. Die Bewegung der Masse. Ihr Zusammenschluß, ihre Verschiebung, ihr Aufstieg. Hunger und Hoffnung und Aberglaube: das alles gipfelt im Großen Los. Heute noch Knecht und morgen schon Herr, ich meine natürlich nur Achtel-Herr, denn es wird ja gewöhnlich nicht mehr gespielt. Dieser Eine – wem hat er sein Glück zu verdanken? Der Masse. Dem Staat, der die Gelder der Masse zu treuen Händen entgegennimmt und den Überschuß wieder für höhere Zwecke: Krankenhäuser, Kanonen, verwendet. Für die Flotte, die Wissenschaft, die Statistik; für alles, was sich entwickelt und wandert und selbsttätig weiterschiebt durch den Druck, der auf den Kot in dem Mastdarm der menschlichen Gesellschaft ganz mechanisch ausgeübt wird. Mechanischer Fortschritt! Die erste Stufe zu dem Reich der vollkommen reinen und blinden Gerechtigkeit.«
»Wie?« Belfontaine zuckte heftig zusammen, faßte sich gleich darauf wieder und fragte zerstreut: »Was sagten Sie eben? Blinde – Gerechtigkeit?«
»Ach«, flüsterte Gully verzückt, »Sie glauben nicht, welche Zusammenhänge ich bei geschlossenen Augen ahne; nachts: wenn es vollkommen dunkel ist und ich mich schlaflos, wälze, die Decke über den Kopf gezogen, damit der Mangel an Sauerstoff mich rascher betäuben kann. Ich sehe nichts, mein Gefühl ist erloschen; Geruch, Geschmack: alles verloren –« [Regenwurm, dachte Belfontaine wieder, ohne es auszusprechen.] »Jede Willkür der Sinne ist ausgeschaltet, ich bin ein Seismograph sozusagen, ein blindes Werkzeug, und zeige aufs feinste jede Erschütterung an. Es rieselt, ein Zittern läuft durch die Erde: die Masse bewegt sich, auch sie ist blind und folgt den Kausalgesetzen. Alles gesetzmäßig, alles bedingt und alles, wenn man es so betrachtet, von erhabener Schlüssigkeit. Wer die Logik des Lebens erfaßt hat, den trübt keine Träne mehr.«
»Nun, ja«, sagte Belfontaine unbehaglich. »Kein Haar fällt vom Haupt und kein Sperling vom Dach –«
»Willkür! Willkür!« schrie Gully entsetzt. »Welches Mißverständnis! Ein Gott von außen! Ein großes Auge im Strahlendreieck, wie es die Schulkinderfibel vorweist; darunter der Spruch – na, wie heißt er doch gleich? – ›Ein Auge ist, das alles sieht, auch was bei finstrer Nacht geschieht.‹ Haha! Und wir sind die Käfer. Das Auge blinzelt: wir werden verschüttet . . . zertreten . . . einige haben Glück und kommen für diesmal davon. Ein Glück, das vom Wimperschlag eines großen, offenen Auges abhängt? Nein. Ich behaupte, nein. Das Glück ist blind und hängt am Gesetz der Zahl. Genau wie die Masse. Genau wie der Fortschritt und die Gerechtigkeit.«
Herr Gully hob feierlich eine Hand und bog mit dem Zeigefinger der andern zuerst den Daumen ab. »Fortschritt!« sprach er pathetisch. Den zweiten Finger bezeichnend: »Gerechtigkeit!« Und den dritten: »Wohlfahrt – diese drei zusammen bilden die Pfeiler jeder künftigen Menschlichkeit. Mit dem Fortschritt«, wieder bog er den Daumen, soweit es anging, zurück, »entspringt und läutert sich ganz von selbst auch die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber und Fortschritt« – er spreizte den Zeigefinger angestrengt von dem Daumen weg – »verbürgen uns als drittes die Wohlfahrt. Das Glück, die Humanität. Mein Bester«, sagte er fast beschwörend, klappte Daumen und Mittelfinger nach unten und spießte über den Gartenzaun weg Herrn Belfontaine mit dem langen, gebogenen Deutefinger wie einen Kohlweißling auf, »ich glaube, wir pflücken erst heute die Früchte der französischen Revolution.«
Der andere schrak in die Höhe! »Nicht bei mir!« entgegnete er verwirrt und starrte gebannt auf den Finger Gullys, der immer noch unheimlich nahe auf ihn gerichtet war. [Bin ich wahnsinnig? fuhr er inwendig fort. Eine Geste. Nichts weiter. Eine Gewohnheit. Ich darf mir nichts merken lassen.] »Ich meine . . .«. setzte er wieder an, aber langsam, um Zeit zu gewinnen – – »Sie haben kein Glück bei mir mit Ihren Pferdelosen.«
Der Kollekteur sah ihm mild, fast mitleidig, in die Augen. »Herr Belfontaine«, fragte er dann in gleichmäßig ruhigem Tonfall, »trauen Sie mir vielleicht – Beobachtungsgabe zu?«
Ein langer, entsetzlicher Schauder fuhr geisterhaft über Belfontaines Scheitel und strich ihm den Nacken herunter. »Oh ja – gewiß . . . doch«, stotterte er. »Aber . . . was soll diese Frage?«
»Sie haben vorhin gewartet«, sagte Herr Gully bestimmt. »Ich weiß es. Aber, ich weiß nicht, auf wen. Einerlei. Und Sie wurden enttäuscht. Der Betreffende kam nicht und wird nicht kommen, ich habe das im Gefühl.«
»Natürlich«, entgegnete Belfontaine mit einem Versuch zu scherzen und merkte, daß sich sein Kragen schon langsam feuchtete, »natürlich: Seismograph!«
»Oh –« wehrte Gully bescheiden ab, »in diesem Fall nur Beobachtungsgabe. Weiter nichts als Beobachtungsgabe.«
»Und wie lange, mein lieber Gully«, fragte ihn Belfontaine mühsam beherrscht, »beobachten Sie mich schon?«
Anstelle einer Antwort schlug Herr Gully umständlich sein Jackett mit dem schlissigen Innenfutter zurück und holte auf zärtliche Art und Weise ein Bündel Lose hervor. »Bitte!« sagte er leise und fast ohne Eindringlichkeit. »Das Glück ist da. Das Glück ist gekommen und hat seinen Weg gefunden. Ich weiß: Sie werden gewinnen – pst, widersprechen Sie nicht.«
»Glück . . .« murmelte Belfontaine wie im Traum und hatte dabei die Empfindung, einen Stein auf der Zunge zu tragen. »Glück – das ist etwas für Dumme. Für Leute mit Liebeskummer, die sich einbilden: jetzt gewinnst du.«
»Aber meinen wir beide denn dieses Glück?« flüsterte Gully und schloß die Augen, als lausche er in sich hinein. »Nein, nein, wir meinen nicht dieses dumme, von Aberglauben getrübte Glück, dieses Kaffeesatzglück, dieses Dienstmädchenglück, von welchem die Jettchen und Bethchen glauben, daß es durch Liebeskummer beeinflußt werden kann. Wir meinen das blinde Glück. Das Gesetz. Das Glück, das in der Gesetzesschale wie ein Nußkern beschlossen ist.«
»Und«, fragte Belfontaine ihn betroffen, »Sie glauben im Ernst, daß es – so etwas gibt?«
Herr Gully blies durch die Nase. »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Ich weiß darum, wie ich beispielsweise – na . . . um das Fallgesetz weiß.«
»Kein Haar vom Haupt und kein Sperling vom Dach?« fragte Belfontaine wie ein Knabe, der ein Säckchen Bausteine haben soll, aber immer wieder aufs neue zu der glänzenden Murmel zurückkehrt, die er vorher gesehen hat.
Der andere blickte ihn nachdenklich an. »Später«, sagte er endlich. »Später werden Sie mich begreifen und den Unterschied zwischen Gesetz und – ›Vorsehung‹ kennen lernen. Heute müssen Sie mir vertrauen. Sich ganz auf mich verlassen. Sie werden gewinnen – –«
»Ich will nicht«, erwiderte Belfontaine schwach.
»Gut, gut, Sie wollen nicht. Nehmen wir an, dieser Wille könnte das große Gesetz, welches hier waltet, durchbrechen. Sie gewinnen nichts. Schön. Und was weiter? Sie haben durch Ihren Einsatz einem andern zum Glück verholfen. Ein Almosen für den Unbekannten, den großen Unbekannten – haha! Ein ›verdienstliches Werk‹: so würde wahrscheinlich Ihr Pfarrer dazu sagen.«
»Nein, nein«, erwiderte Belfontaine hastig und deckte unwillkürlich das Bündel, das ihm Gully entgegenhielt, zu. »Soviel ich weiß, ist der Pfarrer gegen Glücksspiel in jeder Form.«
Herr Gully verlor seine Fassung. »Ach«, rief er höhnisch, »und wogegen noch? Auch gegen die Familienmoral? Die Sittenreinheit? Die Einehe? Wie?«
»Ich verstehe nicht«, sagte Belfontaine hilflos und zog seine Hände langsam von dem Losebündel zurück.
»Nein, ich verstehe das auch nicht«, entgegnete Gully scharf. »Soeben bin ich ihm wieder begegnet, zehn Meter vor Ihrem Hause, ich dachte, er sei auf dem Weg zu Ihnen und wollte Ihnen den Dank abstatten für – ja, man erfährt eben alles . . . für Ihren selbstlosen Einsatz – –«
Belfontaine sah ihn verständnislos an, Gully wurde ein wenig verlegen und brachte rasch seinen Klatsch zu Ende.
»Es wurde doch letzten Mittwoch im Kasino darüber abgestimmt, ob der katholische Pfarrer eingeführt werden sollte. Die Kugeln standen vollkommen gleich. Zwölf schwarze: die Logenbrüder; zwölf weiße: der übrige Vorstand. Da sagten Sie: entweder – oder! Entweder nimmt man den Pfarrer auf, oder ich trete aus. Na, wie die Sache entschieden wurde, brauche ich nicht zu erzählen. A la bonheur! Und was tut der Pfarrer? Ich frage Sie: was tut er? Bitte, sagen Sie nicht, er könne nichts wissen. Das Kasino ist keine Loge. Die Vorstandsmitglieder haben Frauen, der Pfarrer hat eine Haushälterin. Also? Bedankt sich der Pfarrer? Sucht er Sie auf oder lädt er Sie ein? Er geht vorbei. Er marschiert zu Gitzlers, ganz ruhig, am hellichten Tage. Dabei weiß es das ganze Städtchen, daß Frau Gitzler ein schlechtes Verhältnis mit einem Schauspieler hat und jeden Donnerstag 12.20 nach Mainz herüberfährt. Von ihrem Mann will ich schweigen. Er gehört zu dem Jagdklub, das spricht für sich selbst. Und bei diesen Leuten verkehrt der Pfarrer. Morgens, mittags und abends – zu jeder Tageszeit. Obwohl man ihn aufklärt, obwohl man ihn bittet, kein Ärgernis zu geben. Einmal soll er sogar nach der Messe ohne Frühstück dorthin gegangen sein und erst zu dem Mittagsbrot wieder nach Hause gekommen sein. Freitags verspeist er da seinen Fisch, ich nehme an, daß die Hausfrau ihn regelmäßig von Mainz mitbringt, er trinkt mit Herrn Gitzler Bowle: Maibowle, Walderdbeerbowle, je nach der Jahreszeit, nicht wahr – –«
»Genug, genug!« sagte Belfontaine matt und gequält. »Glauben Sie etwa, ich bin nicht im Bilde? Übrigens gibt er den beiden Kindern jetzt Religionsunterricht. Eine Mischehe, Sie verstehen, die Kinder sind evangelisch getauft, nun soll die Frau es durchgesetzt haben –« Er stockte, errötete, fühlte dunkel, daß das Leben dieser Frau Gitzler in einem seltsamen Gegensatz zu dem eben erwähnten Erfolg in ihrer Familie stand, und zog mit flatternden Fingern ein Los, ohne es anzusehen; faltete rasch das Papier zusammen und fragte geschäftsmäßig: »Wieviel macht das?«
»Drei Mark und fünfzig«, gab Gully zur Antwort. »Kein großer Einsatz, baldige Ziehung, natürlich auch keine Million zu gewinnen – was schadet das aber? Sie nehmen es einfach als einen kleinen Versuch. Mißglückt er, so werden Sie nicht mehr spielen; gewinnen Sie – nun, ein hübsches Gespann ist im Handumdrehen verkauft. Vielleicht, ich weiß es natürlich nicht, haben Sie einen verborgenen Wunsch, den Sie sich dadurch erfüllen. Eine Abwechslung? Eine Reise? Ihre Frau hätte sicherlich nichts dagegen, besonders, wenn ganz nebenbei auch für sie eine Kleinigkeit abfallen sollte. Verplaudern Sie aber vorher nichts. Verstecken Sie auch das Los; die Überraschung ist nachher größer, und sollten Sie leer ausgehen, so hat sie nichts zu verzeihen.«
Herr Gully schichtete wieder die Lose zu einem Bündel zusammen und ließ das Geld, das ihm Belfontaine reichte, in seine Tasche gleiten: scheinbar gedankenlos, ohne zu zählen, mit bewußter Nachlässigkeit.
»Adieu!« sagte Belfontaine brüsk und fragte, schon halbwegs abgewendet: »Wann soll denn die Ziehung sein?«
»In vierzehn Tagen«, gab Gully zurück. »Zur Eröffnung des Pferdemarkts.« Er lüftete seinen Strohhut und war bereits mit der Geschwindigkeit eines Bodenreptils verschwunden.
Indem sich Belfontaine langsam in den Garten zurückbegab, entfaltete er das Los und sah seine Nummer an. Er zählte die einzelnen Ziffern zusammen und teilte die Quersumme wieder durch drei; fand – ohne sich zu fragen, warum – daß die Nummer ansprechend auf ihn wirke und einige Aussicht habe, etwas Tüchtiges einzubringen; dabei wurde ihm, wie er so spielte, bewußt, daß ihn seit langem nichts auf der Welt so angenehm aufgeregt hatte wie dieses sinnlose Stückchen Papier; sinnlos natürlich nur, wenn es am Ende doch bloß eine Niete war.
»Aber es ist keine Niete«, sagte Herr Belfontaine halblaut und ahmte unwillkürlich den Tonfall des Lotterieeinnehmers auf das genaueste nach. »Ich werde gewinnen. In vierzehn Tagen –.«
Er hielt den Atem an und versuchte, ganz langsam auf vierzehn zu zählen, ohne die Luft zu erneuern; dann stieß er sie mit einem Seufzer der Befriedigung wieder aus, drehte das Losblättchen gegen die Sonne und betrachtete aufmerksam das verschnörkelte Wasserzeichen, die Fäserchen, dünnen Linien und Unregelmäßigkeiten in dem graublauen, kleinen Papier, bis er schließlich darin einen Sinn und ein Bild zu erkennen glaubte: eine Algenlandschaft, blasigen Tang, dazwischen den Zug der Fische, und über allem ein Netz aus unbestimmt flirrenden Wünschen, träger Erwartung und schläfrigem Reiz, der nicht übel zu diesem Vormittag stimmte, zu dem langweilig schönen Wetter und den harmlosen Wattewolken.
»Du, meine Güte – fast hätte ich heute das Freitagsfrühstück vergessen!« sagte Herr Belfontaine plötzlich und ließ die Hand mit dem Los wieder heruntersinken. »Übrigens ist auch die Runde jetzt sicher zurückgekommen.«
Die »Runde« war, wie ihr Name besagt, eine Tafel von Artusrittern, die sich an jedem Freitag der Woche zu einem Gabelfrühstück mit Champagner zu treffen pflegten und den Eintritt in ihren seltsamen Orden weder von Stand, noch Bekenntnis, sondern allein von der Freude an erlesenen Gaumengenüssen und dem Wissen um ihre Herstellungsweise bis in die Zutaten abhängig machte – also wenn man so will, ein Stammtisch von Liebhaberköchen, deren jeder eine Besonderheit hatte, eine Schrulle, welche sich beispielsweise auf die Fütterung der Kapaunen bezog, auf die Art des Holzfeuers – keiner von ihnen hätte etwas gegessen, was auf dem Gasherd gekocht war! – auf die Höhe, Breite und Reinigungsart der verschiedenen Kasserollen und vorzüglich auf die Gewürze, von den gewöhnlichsten angefangen: Salz, Pfefferkorn, Weinbeere, Knoblauch, Muskat, von denen die albernste Köchin schon weiß, daß man nicht sagen darf: »Da ist Muskat –«, sondern vielmehr: »Ist da Muskat dran?« bis zu den ausgefallensten Dingen, die nur dem wägenden feinen Gefühl zwischen Daumen und Zeigefinger zu überlassen sind – der Paprikaprise, dem Curry, dem Ingwer: Reizmittel, denen der, der sie liebte, eine unersetzliche Wirkung zuschrieb, wogegen ein anderer wieder eine Krebssauce an die jungen Erbsen, Wacholderbeeren ans Kalbfleisch, gehackte Champignons, Estragon und etwas Zitronenschale an die Puterhenne zu geben befahl – und ein dritter auch diese Henne verschmäht und als barbarisch, ja, als mißglückt bezeichnet haben würde, wenn man den Boden der Pfanne nicht vorher mit den verschiedensten Küchenkräutern: Sellerie, Pastinak, Petersilie sorgfältig ausgelegt hätte.
Trotzdem konnte man jene Leute nicht einfach als »Fresser« bezeichnen; ja, nicht einmal der Ausdruck »Genießer« oder »Gourmand« hätte die Haltung dieser Lebenskünstler getroffen, die sich mit Stolz »Sybariten« nannten, noch lieber »Sybariten des Geistes«, eines Geistes, der seinen Sitz auf der Zunge und unter dem Gaumen hatte, im Eingeweide und nicht zuletzt in den verschwiegensten Körperteilen, wo man ihn freilich, wenn schon als Geist, so doch als tüchtig gefallenen Geist hätte bezeichnen müssen.
Will sagen, daß die Herren der Runde einen höheren Ehrgeiz hatten als jenen, den die Menschen dieser gesegneten Landschaft im allgemeinen besitzen: zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein; ja, daß sie mit Entsetzen und Abscheu einen Steinklopfer an der Straße betrachtet haben würden, der in der Linken sein Taschenmesser, in der Rechten den Wurstzipfel hat und die abgesäbelten Stücke behaglich unter den Schnurrbart schiebt. Denn ihre Art, mit den niedrigen Freuden des Daseins umzugehen, war vor allem und jederzeit ausgezeichnet durch ein moralisches Element, das sich auf alle Gebiete erstreckte, die der Mensch sonst nur in tierischer Dumpfheit oder kalten, entschlossenen Willens zur Weide nehmen kann. Deutlich gesagt: sie bemühten sich emsig, jedes Laster mit einer Tugend aufs innigste zu verbinden – und nicht die Freßlust, sondern die Nacktheit, mit der sich die Freßlust ganz unverhohlen am Straßengraben zeigt, hätte sie aufgeregt. So waren sie, außer dem Umstand, daß sie Ärzte, Kaufleute, Rechtsanwälte oder Privatiers waren, alles, wozu ein Schuß Geist gehört, ein Körnchen Weltschmerz und eine Art geläuterten Schönheitssinnes: sie waren zärtliche Ehebrecher und höfliche Halsabschneider, geschmackvolle Zotenreißer, elegische Sadisten – und wenn ein Fremder, ein Zugereister oder unglückseligerweise dorthin versetzter Beamter etwa glaubte, es dürfe sich jedermann zu ihrer Gemeinschaft rechnen, der nicht rülpste, den Fisch nicht zerschnitt und den Spargel von einem Ende des Mundes zum andern zu ziehen wußte, so sollte er bald erfahren, daß die Kunst: den Genuß mit Hilfe der Tugend [wie den Geschmack des erlegten Wildes mit dem Verwesungsduft] aufzustacheln, bedeutend schwieriger war, als er sich vorgestellt hatte.
Andererseits verlangte die Runde keine Ausschließlichkeit und bezog ihre Mitglieder ohne Schaden aus dem Jagdklub, der Freimaurerloge und dem allgemeinen Kasino, wobei der Bestand dieser ersten drei um keinen einzigen Mann vermindert und ihre Besonderheit nicht gestört, ja eher gesteigert wurde – nicht zuletzt deshalb, weil, wie schon berichtet, die Sybariten sich Mühe gaben, jede Eigenschaft durch ihr Gegenteil sowohl zu würzen wie auszugleichen; immer bedacht, das Gewürz nur als Frage: »Ist da Muskat dran?« ahnen zu lassen. So setzten sie der Verschwiegenheit einer dachsbauähnlichen Freimaurerloge das Geschwätz über Schwein und Forelle entgegen, den halben Verrat ihrer besten Rezepte und den ganzen der Ehebrüche, die sie begangen hatten; den Charakter des Jagdklubs, welcher hinwieder ein allzu reichliches Maß an derber Offenheit hatte und, was ihm an Frauen über den Weg lief, ganz ungesalzen und ungeschmalzen mit Haut und Haaren verspeiste, dämpften sie durch die Befolgung gewisser Anstands- und Tischregeln ab; das bürgerliche Kasino zuletzt verdarben sie durch Gedanken, die aus den hochgezüchteten Bäuchen: den weißen, weichlichen, hellblond beflaumten, mit dem Gewicht von Verdauungsblasen unaufhörlich ans Tageslicht stiegen, und beherrschten das Feld, wohin sie auch kamen, indem sie ihre ganze Person, gewissermaßen fertig gebraten, zu jeder Geselligkeit brachten: Spanferkel, denen Messer und Gabel schon kreuzweise hinter dem Specknacken saßen wie im Schlaraffenland.
Daß Herr Belfontaine, welcher von jeher ein bedeutender Schlemmer war, nicht ausdrücklich zu der Runde gehörte, lag vor allem in dem Trefftag begründet, der keinen Fleischgenuß für ihn zuließ und ihn daher bis zu gewissem Grad von dem Treiben der Sybariten ausschloß; ja, ihn zum Anstoß und Ärgernis machte, zu einem Anlaß, den Ton zu wechseln, sobald er zur Tür hereinkam, das abgenagte Geflügelblatt endgültig auf den Teller zu legen und nichts als behaglich zu sein – dies alles natürlich, nachdem man ihn anfangs reichlich gehänselt hatte, bis man einsehen mußte: Herrn Belfontaines Gründe verdorrten weder an solchem Gespött, noch ließen sie die Lebenslust dorren, die diesen gelassenen Mann erfüllte und ihm wie Salböl über den Scheitel und die kräftig durchbluteten Backen rann.
Heute nun war die Runde von einem Ausflug zurückgekommen, der sie für einige Tage auf ein Wasserschlößchen im Spessart entführt und mit Tafeln und Bechern, Schachspiel und prächtigen Mondaufgängen auf das angenehmste beschäftigt hatte. Ein früheres Mitglied der Runde, Heimatforscher und Archivar, dem von Staats wegen die Erlaubnis, dort in alten Papieren zu schnüffeln, vor kurzem erteilt worden war, hatte sie eingeladen: den Amtsrichter und den Apotheker, von denen der erste seinem Assessor, der zweite seinem Gehilfen die Arbeit überließ; Herrn Böhmer, welcher von seinen Zinsen, Herrn Rübsam, der von den Zinsen anderer Leute lebte, nicht zu vergessen Herrn Gitzler, der sich nur mit dem kleinen Finger auf seinen Kohlen- und Kalihandel, mit den andern vier auf die Börse stützte und als einziger außer Herrn Belfontaine etwas von Aktien verstand; lauter unabhängige Leute also, natürlich auch unabhängig im Denken, wie sie ausdrücklich zu betonen pflegten.
»Na, da wird ja wohl wieder was fällig sein«, sagte Belfontaine vor sich hin und verspürte plötzlich ein Hungergefühl von zwiespältig wirkender Art: etwas, das wie ein Pfefferkorn war, um seine Zunge zu reizen und ihr gleichzeitig den Geschmack für die feineren Grade von Süß und Sauer mutwillig zu zerstören; wie eine zarte, aus allerlei Kräutern zusammengeflochtene Peitsche, von welcher Belfontaine noch nicht wußte, wohin sie ihn treiben sollte.
»Dieser Blinde!« entfuhr es ihm unwillkürlich. »Mich aufzuhalten! Mir meine Zeit und jetzt auch noch mein Vergnügen zu stehlen! Denn es ist klar: ich bin überhungert und werde daher keinen rechten Genuß an meinen Schnecken haben. Nun, dem ist abzuhelfen mit etwas geröstetem Weißbrot und einem Schlückchen Wein. Aber, das Los! Ich muß es verstecken, bevor es Elisabeth sieht.« Er tastete seinen Rock ab. »In der Brieftasche? Nein, das wäre das Dümmste. Überhaupt nicht in meinem Anzug. Auch das Kontor ist nicht recht geeignet, ganz abgesehen davon, daß mich Fritz, dieser Esel, beobachten könnte und Anlaß zu grinsen hätte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, wohin damit. Das kommt von meinem moralischen Leben und meiner Arglosigkeit. Jeder Bauernbursche wäre so pfiffig, ein ganzes Huhn zu verstecken, während ich . . . ich bin weder ein Bauernbursche, noch ein gefährlicher Mann. Alles ist klar bei mir, alles liegt offen und unverhohlen zutage, ohne Klecks, mit dem Lineal gezogen wie die Linien in meinem Hauptbuch.«
Er dachte einen Augenblick nach. »Wenigstens seit dem Geheimnistag ist alles vollkommen klar«, sagte Herr Belfontaine dann.
Wiederum schwieg er, sein Herz schwieg mit und schien auf ein Lob zu warten. Doch es kam nichts, und seine Brust blieb leer, das Herz fing mit kleinen, hastigen Schlägen wieder zu gehen an, eifrig und trocken wie eine Uhr in einem nächtlichen Zimmer; richtiger: einem schon halb geräumten, ringsum verdunkelten Zimmer, das man eigentlich nicht mehr bewohnt.
»Das weiß niemand besser als er –«, setzte Belfontaine seine Erwägung fort. »Er, der mein zweites Geheimnis mit Gott zusammen hütet, auch wenn er zwischen sich und das Gitter immer die Stola hält und so tut, als wisse er nicht, wer da vor ihm im Beichtstuhl kniet.«
Herr Belfontaine verzog seinen Mund.
»Nun schließlich: es ist ja auch nicht erschütternd, was ich ihm so bei Gelegenheit der Generalkommunion der Männer einzugestehen habe. Ein bißchen oberflächlicher Staub – niemand würde ihn wahrnehmen können, wenn ihn das Licht durch die Kirchenfenster nicht ab und zu flimmern machte . . . Wenn, wenn! Ja, wenn ich die Sünden des braven Herrn Gitzler hätte! Oder noch besser: die seiner Frau oder die von beiden zusammen. Vielleicht – nein, ganz sicher käme der Pfarrer dann ebenso gerne zu mir. Dieser Gully ist natürlich ein Dummkopf, Walderdbeerbowle und Rheinlachs! Warum nicht gar noch die Anziehungskraft von Frau Gitzlers bildhübschem Busen? Lächerlich. Sünderliebe, nichts weiter, vielleicht sogar ein gewisses Vergnügen, sich seine Stellung als Nachfolger Fischers immer noch schwerer zu machen. Mein Gott, denn, wenn man es überlegt: wer spricht von unserem Pfarrer anders, als von dem ›Nachfolger Fischers‹, dieses hochgebildeten Mannes, dem der Bischof die Führung des Domkapitels, der diplomatischen Korrespondenzen und der adligen Konvertiten anvertraute? ›Wie bitte‹ fragt man, ›schreibt sich Ihr Pfarrer? Mathias? Soso, Mathias. Das ist doch der Nachfolger Fischers, dieses hochgebildeten Mannes . . .‹ Und so weiter. Ich fürchte, er kommt im Leben nicht über diesen Fischer hinaus. Gewiß, man schätzt ihn, das ist keine Frage. Man lobt seine Lauterkeit. Es gibt auch einige Leute, die seine Predigten mögen, obwohl sie für einen geschulten Hörer seine Unbildung deutlich verraten. Sein Bücherschrank ist ein wahrer Jammer. Die Heilige Schrift in dreierlei Sprachen und einige Wüstenväter mit abgegriffenem Rücken; die Predigten Sailers; Linsemann, Hirscher, ich glaube auch noch Scheeben und Möhler – das ist der ganze Bestand. Jeder Schullehrer würde sich schämen . . . Und dies noch in einer Kreisstadt, in welcher die Loge so stark ist und jedes Kasinomitglied den Fimmel des vollendeten Weltmanns hat. Du lieber Himmel: Kasino! Ich muß unbedingt auf dem Rückweg vom Frühstück mit seiner Trulle sprechen und ihr sagen, daß sie Hochwürdens Röcke der Reihe nach ausbürsten soll. Auch Fleckenwasser dürfte nicht schaden, obwohl ich annehme, daß der Speck hauptsächlich vom Alter herkommt. Es hilft nichts. Da ich mich für den Pfarrer nun einmal ins Zeug gelegt habe – – ach pfui, ich drücke mich aus wie Gully und weiß doch, daß ich im Grunde nur seine Freundschaft suche . . .«
Herr Belfontaine stieß einen seltsamen Laut aus und zuckte nach einer Fliege mit blaugrün schillerndem Körper, sah sie entweichen und hörte deutlich eine starke, entschiedene Stimme sagen: »Ohne seit sieben Jahren vorangekommen zu sein.«
Dies war die Antwort, die Belfontaine vor ungefähr fünf Minuten vergeblich erwartet hatte.
». . . vorangekommen zu sein«, wiederholte er wie ein Mensch, der den Schlag einer Turmuhr mitgezählt hat und dabei weiterdachte. »Und niemand weiß es doch besser als er, daß ich seit jenem Geheimnistag keine Todsünde mehr begangen habe und im Stande der Taufgnade bin. Er weiß es – auch wenn er als blinder Richter hinter dem Gitter sitzt. Nur Gott und er. Nicht der Bettler und nicht Elisabeth. Das ist mein zweites Geheimnis . . . und das dritte«, er spuckte gegen das Los, »das dritte ist dieses hier!«
Ohne nachzudenken, bog er es hastig zu einem Röllchen zusammen und ging zu der Gartenkugel.
»Hier sucht es niemand«, sagte er leise, schraubte den silbernen Ball ab und warf das Los in den hohlen Ständer, setzte dem Ständer wieder den Kopf auf und nickte seinem verzerrten Gesicht in dem Vexierspiegel zu . . .
Einige Zeit darauf sah man Belfontaine über den Roßmarkt in der Richtung des Schloßkellers schlendern. Er trug einen leichten, graublauen Filzhut, der zu dem Anzug paßte und mit dunklerer Litze eingefaßt war; eine Perle in der Krawatte und Schuhe mit Wildledereinsatz; seine Linke schlug ab und zu mit einem Paar Handschuhen gegen den Schenkel, die Rechte hatte er halb in seinem Jackett vergraben. So gab er den Anblick eines gepflegten, mit sich zufriedenen Mannes ab, nicht eigentlich eines Kaufmanns, aber auch keines Beamten; sicherlich keines Künstlers, doch eines kunstempfänglichen Menschen; vielleicht eines Architekten, wofür man Belfontaine schon auf Reisen öfter gehalten hatte. Von Zeit zu Zeit nahm er den Hut ab und grüßte in angemessenem Bogen; das leise, lustige Klatschen des Handschuhpaares begleitete ihn und wiederholte sich, wie er dahinging, in immer kürzeren Zwischenräumen; sein ganzer Körper bewegte sich rascher und wiegte sich in den Hüften.
Jetzt glich er mit diesem Gang einem Tänzer, jetzt wiederum einem Matrosen; es war der Gang eines Städters, dessen Geburtsort an einem Strom liegt und an dem großen Hafen des Stromes, der den Strom mit anderen Ländern und mit dem Weltmeer verbindet – der Nordsee und dem Atlantik, hoho! der Freiheitsstatue, den Wolkenkratzern und der Entwicklung des Menschengeschlechtes; mit lauter neuen, werdenden Dingen und also mit seiner Zukunft, während hier nur Vergangenheit war: ein Schloß, eine Straße Napoleons, die ursprünglich Römerstraße, und eine zerfallene Mauer, die schon keltisches Erbe gewesen; von dem Hunnenturm ganz zu schweigen, dem Etzelhof und den Gespenstergeschichten, die in den Ritzen saßen.
Nein, dieser lebhafte, offene Mann, der in Mainz die höhere Schule besucht, Italien und sämtliche Schweizer Kantone zu seinem Vergnügen bereist und als Banklehrling später ein Jahr in England zugebracht hatte, gehörte noch immer nicht ganz in das Städtchen, obwohl er von seiner Großmutter Seite darin beheimatet war und ein starkes, ja, eingefleischtes Gefühl für dessen Eigenart hatte. Entsann er sich doch, wie er, jungvermählt, mit dem heimlichen, heftigen Wunsch durch die Straßen gegangen war, sein Taschentuch wie eine Elfenkappe über die Steine zu werfen, die von den alten keltischen Kulten etwas wie einen schweißigen Glanz zurückbehalten hatten, etwas Tückisches, einen nächtlichen Zauber, der verwirren und narren konnte. »Dieses Mondnest«, nannte er es im stillen und meinte damit, daß es eigentlich immer wie unter dem Vollmond läge: so klar und gleichzeitig wie verhext und auf der Stelle zusammengeronnen; ohnmächtig, sich zu erweitern, es sei denn in die Tiefe; nicht unähnlich jenen Sagen, die stets damit beginnen: »Drei Schritte abwärts . . .«, also dorthin, wo die Erinnerung hockte und heckte – doch, was sie heckte, das waren Leute, von denen Belfontaine glaubte, daß sie alle ein wenig verrückt sein müßten wie Menschen, die eben kein anderes Licht als bloß der Vollmond bescheint; reizbar und geil, ohne richtigen Frohsinn, der nur an der Sonne gedeiht. Natürlich war er nicht dumm genug, diese Meinung zum besten zu geben oder auch nur vor sich selbst für rundherum richtig zu halten, obwohl sich ihm jener erste Eindruck in manchem bestätigt hatte – gewiß nicht so wie das Einmaleins, aber doch wie ein Traum, den geträumt zu haben man hinterher merkwürdig findet.
Oder war dieser Gitzler nicht geil wie ein Affe? Dieser Rübsam nicht ab und zu so gestört, daß man ihn einschließen mußte? Hatte Böhmer nicht Liebhabereien, von denen man besser nicht sprach? Und so war alles. Das ganze gesellige Leben in diesem vertrackten Städtchen glich den medusischen Bräuchen einer heidnischen Religion, der man, um sie zu retten, das Haupt der Göttin Vernunft auf die leeren Schultern gesetzt und am Halswirbel festgeschnallt hatte. Medusisch? Pah, eine Vogelscheuche. Eine Gartenkugel wie seine, aus Technik und Rührung zusammengesetzt – innen durch und durch hohl.
Herr Belfontaine grüßte wieder und wechselte mit dem Gerichtsvollzieher ein paar verbindliche Worte.
Medusisch? Doch: auch medusisch, wenn man damit die gespenstische Mischung von Laster und Fortschritt meinte; diese kindische Brunst, mit welcher die Väter von dem früheren Landesfürsten ein neues Bordell erbeten und kürzlich ein kleiner Knabe aus Belfontaines Nachbarschaft zu der österlichen Erzählung von Christi Auferstehung bedauernd geäußert hatte:
»Warum hat man auch Nägel genommen? Sie hätten ihn festschrauben sollen.«
Oh, ja – man merkte die Nähe Frankreichs und sah in der trockenen, klaren Luft die Guillotine blitzen – –.
Da. Da, jetzt mußte man stehen bleiben. »Guten Tag, Herr Rektor. Die Schule schon aus? Soso, Sie fahren aufs Ministerium. Sehr richtig, ich würde mich gleichfalls beschweren. Jawohl: unhaltbar. Ein ganz unhaltbarer Zustand. Wie bitte? Ob ich dran denke? Woran denn, zum Teufel? Pardon! Natürlich! An Ihre Schülerbibliothek. Ich schicke Ihnen den ›Kleinen Lord‹. Elfriedchen bringt ihn herüber. Wie schade – den ›Lederstrumpf‹ lehnen Sie ab? Aber es ist noch aus meiner Jugend ein alter ›Robinson‹ da. Den haben Sie zweimal? Das macht nichts, das macht nichts. Ein so ungeheuer bildendes Buch. Nichts zu danken! Jawohl! Adieu!«
Als der Rektor an ihm vorbei war, drehte sich Belfontaine um. Hatte er nun allein gesprochen . . . oder Rede und Antwort gestanden? Mein Gott – diese schreckliche Angewohnheit, mit sich selber Gespräche zu führen, nahm in letzter Zeit merkwürdig zu. Eine wölfische Welle, glühend und weich, leckte ihn flüchtig im Nacken und glitt etwas langsamer als die erste, welche Gully ausgeschickt hatte, von seinem Rücken herunter.
»Herr Rektor!« rief er unbeherrscht aus. Der andere zuckte zusammen, Belfontaine eilte rasch auf ihn zu und griff ihm an den Rock. »Robinson, nicht wahr?« fragte er leise, mit flatternder Oberlippe. »Mein alter Robinson!«
»Aber, Herr Belfontaine«, gab ihm der Rektor mit saurem Lächeln zur Antwort. »Sie scherzen, und ich versäume den Zug.«
»Richtig, Sie müssen aufs Ministerium!« sagte Belfontaine, tief erleichtert, und ließ den Verblüfften stehen.
Gleich darauf ging er sorgloser weiter, doch spannte sich sein Gesicht von neuem und schien nach innen zu starren: in eine Welt ohne Echo und Wände; so beschaffen, daß man darin allein war und Selbstgespräche führte.
»Unsinn«, sagte er plötzlich laut. »Jeder vertreibt sich die Zeit, so gut er eben kann. Der eine läuft, wenn er warten muß, wie ein Löwe im Käfig umher, und ein anderer schaut in den Spiegel. Ein dritter spricht mit sich selber oder tut alles zusammen: laufen, sprechen und in den Spiegel, beziehungsweise die Gartenkugel – –« dieses letzte Wort war bereits erloschen wie die Oberfläche des Silberballs, als die Wolke über ihn hinzog, und blitzte an einem anderen Licht ebenso schnell wieder auf.
». . . Und ein dritter starrt in die Gartenkugel«, flüsterte Belfontaine. »Gartenkugel: Kopf auf, Kopf ab. Ich sagte es ja, man sieht heute weit – bis an die Guillotine. Die Luft ist so trocken, und dieses Licht, dieses kalte, klare, verdammte Licht – – nein, nein! Ich habe mich doch wohl getäuscht, als ich glaubte, das wäre so etwas wie ein heiliger Vorzeitmond. Aber nun weiß ich es besser.« Langsam und feierlich hob er die Hand und grüßte wieder einen Bekannten in malerischem Bogen. »Dieses Städtchen mit seiner Bevölkerung liegt unter dem Licht der Vernunft.«