Читать книгу Das unauslöschliche Siegel - Elisabeth Langgässer - Страница 7

III

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Inhaltsverzeichnis

»Halb drei«, stellte Belfontaine mit der Miene eines vielbeschäftigten Mannes fest, zog seine Taschenuhr aus der Weste, verglich den Zeigerstand mit dem Nachhall der eben ausgeschwungenen Schläge und hatte, obwohl sie einander nur um die Breite des Wegs widersprachen, den die Töne vom Anschlag der Glocke bis zu Belfontaines Ohr zurücklegen mußten, jenes hörselberghafte Gefühl nicht verloren, das ihn zu immer neuen Versuchen, sich die Zeit zu bestätigen, antrieb; sie abzumessen von hier bis hier, um an Gestern, Heute und Morgen die Überzeugung zurückzugewinnen, er brauche nur heute wie gestern und morgen wie heute weiterzuleben, um immer er selber zu sein. Doch während er noch bemüht war, in keinem Punkt abzuweichen und gleichsam die Rolle dessen zu spielen, der er in Wirklichkeit war, widerfuhr es ihm, daß er den Weg verfehlte und an strotzenden Kleinbürgergärten entlang, an der Seitenwand einer Fabrik vorüber, durch deren hochgelegene Fenster lederne Treibriemen zuckten, in ein ausgewuchertes Viertel gelangte, das die Bewohner den ›Graben‹ nannten, weil sich ein sumpfiger kleiner Bach, in einer Roßschwemme mündend, zwischen die Häuser drängte. Der scharfe Geruch einer Gerberei schlug ihm, vermischt mit dem Duft der weichlichen Wasserblüte, die den Bach mit grünem Schleim überzog, unvermittelt entgegen; Wasserdost spitzte mit rötlichen Knospen aus der undurchsichtigen Oberfläche und stieß schamlose kleine Wunden durch den träge treibenden Gnast. Wo im Abstand von jedesmal zwanzig Metern eine Holztreppe von der Höhe der Gärten, die sich regellos bis an den Graben erstreckten, in das Bachbett hinunterführte, war die Decke der Wasserblüte gerissen und ließ eine unerwartete Klarheit, die den Blick fast beschämte, zutage treten. Hier hatten Algen den Sumpf gereinigt und kleine Perlenbäume getrieben . . . Einen ganzen Urwald von blasigen Bäumchen mit zahllosen Seitenästen, welche die Stöcke der Gassenjungen immer wieder herauszufischen, zu verteilen und abzudrängen versuchten, während andere, Netze und Eimerchen tragend, sich eifrig um einen Fang bemühten, den sie mit Heulen und Schreien einander schon streitig machten, bevor er gelungen war.

»In welchen Monaten fängt man Krebse?« rief Belfontaine, vor einem Gatter, welches den Weg versperrte, ärgerlich stehenbleibend, und fügte, ohne die Antwort oder auch nur die Aufmerksamkeit jener Kinder, die er gefragt hatte, abzuwarten, in lehrhaftem Tonfall hinzu: »In den Monaten ohne ›r‹. Seit wann kommt man hier nicht mehr weiter? Hat der Gerber etwa sein Grundstück geschlossen und muß ich den ganzen dreckigen Weg am Ende wieder zurück?«

Ein ohrenbetäubender Lärm stieg aus dem Bachbett empor und machte jeden Versuch einer Verständigung unnütz. »Laß ihn los! Es ist meiner! Loslassen sag ich!« Ein langer rotblonder Flegel von ungefähr dreizehn Jahren packte ein speckiges Kerlchen am Arm, das ihm, jämmerlich brüllend, die Hand hinhielt. »Ich will ja! Aber der Krebs will nicht. Au! Aua . . .«

Das fürchterliche Getöse begleitete Belfontaine noch eine Weile, als er den Graben zurückging, und verhinderte ihn, die Auskunft einer Frau am anderen Ufer zu deuten, die ihm mit Fuchteln und Rufen unaufgefordert erlaubte, den Weg durch ihr Gärtchen zu nehmen.

»Herr Belfontaine!« rief die Frau von neuem, schürzte den Rock auf und ging mit hohen, lächerlich großen Stiefeln stracks durch den sumpfigen Bach. Belfontaine sah ihr erschrocken entgegen und hatte die Vorstellung einer alten, verzweifelten Kabarettistin, die sich anschickt, Cancan zu tanzen.

»Ach, Sie sind's, Lorenzen,« sagte er dann, als ihr schweres, haariges Mannsgesicht in seine Blickweite kam; aber eigentlich war es nicht das Gesicht, an dem er die Schwester der schwatzhaften Beikler: die Waschfrau Lorenz, erkannte, sondern das Stiefelpaar, das sie wie stets, und nicht nur bei ihrer Arbeit, trug, um sich – so hatte die dürre Berta Frau Belfontaine neulich berichtet – bei ihrer feuchten Beschäftigung keinen Unterleibsschaden zu holen. [»Ihr Mann ist nämlich daran gestorben,« hatte Berta mit wichtiger Miene erzählt. »Das stimmt nicht,« entsann sich Herr Belfontaine der unaufgeklärten Berta voll Bosheit erwidert zu haben. »Er ist im ersten Kindbett gestorben. An einer Walfischforelle –.« Diese »Walfischforelle« war Gitzlers Wunschtraum, und die ständige Antwort der Tafelrunde, wenn irgendwo wieder in einer Zeitschrift die Frage erörtert wurde: was müßte nach Ihrer geschätzten Meinung noch erfunden oder hervorgebracht werden? oder: Was würden Sie, wenn Sie die Welt anstelle Gottes erschaffen hätten, noch hinzugefügt oder geändert haben? Gleich darauf hatte sich Belfontaine damals über sich selbst geärgert; teils, weil er den Witz seines Widersachers unbedacht plagiierte, teils, weil dieser Witz ihm die Feindschaft der unvorstellbar bigotten Berta bis zum heutigen Tage eintrug.]

Auch jetzt war Belfontaine die Begegnung mit dieser merkwürdig finsteren Lorenz eine Erinnerungspein; etwas, das wie ein Spuk auf ihn zukam und die unangenehme Eigenschaft hatte, dick und gefährlich zu werden. »Die Walfischforelle!« durchzuckte es ihn. »Da ist sie ja – Gitzlers Kreuzung aus Walfisch und Forelle!«

Mit einem Ruck ließ Frau Lorenz den Rock herunterfallen und stand nun in ihrer prallen Pracht, die wirklich etwas von jenem glatten, mächtigen Fischsäuger an sich hatte, vor dem zierlichen Belfontaine.

»Diese Rotznasen!« keuchte sie aufgeregt und schien einen armdicken Strahl von Empörung aus ihrem Munde zu lassen. »Schreien, daß man sein eigenes Wort schon beinahe nicht mehr versteht.« Sie reckte den Kopf aus dem fleischigen Busen, schüttelte ihre Faust hin und her, als hinge sie an der Harpune und schickte einige ebenso laute, wie unfeine Drohungen zu den Kindern, die plötzlich zu laufen begannen, dann stehen blieben und aus der Entfernung den Haken, an welchem die Feindin festsaß, anzuziehen begannen.

Die Waschfrau wandte sich gleichmütig ab, kreuzte die Arme unter der Brust und fragte: »Sie wollten wohl an dem Graben entlang, um abzuschneiden, Herr Belfontaine? Ja, ja, der Gerber hat kürzlich seinen Privatweg geschlossen, weil ihm allemal auf der Wasserseite die Häute gestohlen werden. Die Welt ist schlecht und wird immer schlechter. Aber Sie brauchen nicht mehr das Stück an dem Graben zurückzugehen, sondern dürfen durch meinen Garten.«

Sie kramte den Schlüssel aus ihrer Tasche, öffnete rasch das verrottete Türchen und ging ihm mit schweren Schritten voran; ihre Stiefel quietschten, der trockene Rocksaum, der beständig an ihnen anschlug, zog einen dunkleren Rand. Im Dahingehen zupfte sie Unkraut aus, stöhnte, murmelte finsteres Zeug und gebrauchte die nämlichen Redensarten, mit denen sie eben die Kinder beschimpft und von dem Treppchen vertrieben hatte, für Kreuzkraut und Vogelmiere. Herr Belfontaine folgte ihr auf dem Fuße und konnte sich nicht des Gefühls erwehren, als sei er in ihren Worten irgendwie mitgetroffen, oder Herrn Gitzlers mächtiger Einfluß übertrüge auf sein Geschöpf mystischerweise den Haß, mit welchem er alles in Belfontaines Umkreis – wie ein Brandstifter harmloses Stroh und leichtes Papier – belebte, zum Züngeln brachte, zum Zischen und Brausen, dem er nirgendwohin mehr ausweichen konnte.

An der Bohnenlaube, die sich nach rückwärts mit einer Lattentür öffnete und wieder ins Freie führte, blieb die Waschfrau neugierig stehen und fragte: »Wissen Sie nun den Weg? Oder soll ich Ihnen ein Endchen weiter, um die Ecke herum, behilflich sein? Ich meine: wo geht's denn nun hin?« platzte sie endlich heraus und klopfte geschäftig die schwarze Erde von den verrunzelten Händen, strich sich noch einmal die Schenkel herunter und sah ihn ermutigend an.

»Oh . . . ich«, Herr Belfontaine lachte verlegen und wirbelte ein gedachtes Stöckchen einigemal durch die Luft, »Ich muß noch rasch bei dem Pfarrer vorbei . . . Da bin ich wohl tüchtig vom Weg abgekommen?« fügte er hastig hinzu.

Die Waschfrau fuhr fort, den Sand und die Erde und hier und dort einen winzigen Kiesel von ihren Händen zu klopfen. »Zu dem Pfarrer? So? Zu dem Pfarrer?« fragte sie lauernd und leis. »Ach, dann könnten Sie mir –«, sie stockte betreten, Herr Belfontaine hakte bereitwillig ein und gewann dabei seine Sicherheit wieder.

»Was könnte ich, hm, Frau Lorenz? Etwas ausrichten – oder? Warum denn nicht? Nur immer heraus damit!«

»Na ja. Die Sache ist nämlich so: ich soll diesmal anstelle der Nonnen die Paramente waschen. Wenigstens hat das die Kindermann«, sagte sie überstürzt und verworren, »gestern abend mit mir besprochen. Aber natürlich müßte der Pfarrer noch seine Zustimmung geben. Das wundert Sie sicher? Ist ja auch närrisch, wo sich sonst die Nonnen doch rein zerreißen, wenn ein geistlicher Herr etwas will. Aber diesmal – – Fronleichnam steht vor der Tür, die Altardecken sind noch nicht auf der Bleiche, keine Albe, die nicht nach dem Waschfaß läuft, von der Stärkewäsche zu schweigen.«

»Jaja, Frau Lorenz, jaja«, sagte Belfontaine, düster gelangweilt von diesem Waschweibertratsch.

Die dicke Frau, obwohl weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, schob sich plötzlich mit ihrem ganzen Körper an den leicht erschrockenen Belfontaine und brachte ihr rotbraunes, breites Gesicht an sein abgewendetes Ohr. »Und wie kommt das?« murmelte sie mit tiefer, aus dem Busen quellender Stimme und schien auf jedes Wort, das emporstieg, ein Wasserbläschen zu setzen, welches leise knallend zersprang. »Warum waschen ihm denn die Nonnen nichts, hä? Weil er Streit mit der Oberin hat. Ich weiß auch den Grund.« Sie ließ eine Reihe sich überdrängender Bläschen platzen und fuhr genußsüchtig fort: »Die Nonnen haben doch eine Pflege, die mit Erbschaft ans Kloster verbunden ist – na? Und was die Oberin Maura betrifft, so will sie jetzt schon in Esselborns Haus eine Kapelle bauen. Wer kann's ihr verdenken? Das Grundstück liegt günstig und stößt geradewegs mit dem Garten und der Waschküche an das Kloster an. Daß der alte Esselborn noch nicht tot ist – du lieber Himmel, das kann über Nacht und kann auch erst in drei Jahren sein. Hauptsache, daß er ihr alles verschreibt und die Tochter aufs Pflichtteil setzt. Die Herz-Jesu-Statue haben sie schon. Nun bauen sie eine Kapelle herum. Den Knopf zu dem Anzug, sag ich. Aber die Sache geht ja noch weiter. Das Ganze soll eine Privatklinik werden; für feinere Leute, versteht sich.« Sie gab mit Daumen und Zeigefinger dem Sachverhalt, den sie beschrieb, eine unmißverständliche Deutung.

»Verdammt!« brauste Belfontaine jähzornig auf.

Die Waschfrau grinste. »Das ist nur menschlich. Im übrigen tut sie's ja nicht für sich selbst – genau wie die Bettelbrüder.« Sie schaute Herrn Belfontaine mitleidig an. »Ich glaube«, sagte sie voll Verachtung und schien ihn mit diesem Blick wie ein Schaf unter den Stempel zu ziehen, »Sie kennen die Leute im Kloster so wenig wie die Leute hier in der Welt.«

»Aber Mathias? Kennt der sie vielleicht?« fragte Belfontaine eifersüchtig.

»Na – wenigstens kennt er den Teufel und weiß, wer die Welt regiert.«

»Schöne Bekanntschaft«, sagte er hilflos; indessen schoben sich mehrere Bilder in die Netzhaut seiner Erinnerung ein: Herr Gully machte dem dicken Böhmer und jener Herrn Gitzler Platz; dazwischen, wie in der Gesichterfolge einer Laterna magica, klaffte und blitzte ein weißes Feld. Diese leere, lichtige Fläche erschreckte und blendete ihn zugleich; als ob alle Gesichter nur abkünftig seien von jenem entsetzlichen, wilden Glanz, der sie auslöschte, sammelte, einsog – schien er aufs höchste personenhaft, doch gegenmenschlich zu werden; er war der stecknadelgroße Fleck der Vergeßlichkeit in Herrn Belfontaines Hirn, der ihn seit dem Erwachen quälte, und gleichzeitig eine Erfahrung, die sich rasch zu verbreitern begann: etwas, das hell wie der Mond heraufstieg und mit rasender Schnelligkeit zunahm; bald würde, so fühlte Belfontaine deutlich, sein ganzes Gehirn von dem kalten Licht jenes Himmelskörpers ausgefüllt sein und er selber als rechter und gültiger Bürger in dieses ›Mondnest‹ gehören, das er verachtete. Eine wilde Sehnsucht – wohin? wonach? – erfüllte plötzlich Herrn Belfontaines Körper und war schlimmer als jede Geschlechtsbrunst, die sich jäh nach Vermischung sehnt. ›Sie kennen die Leute im Kloster so wenig, wie die Leute hier in der Welt.‹ Gully, Böhmer und Gitzler. Aber Gitzler – was hatte er doch gewimmert, als das Lachen ihn schüttelte? ›Endlich gehörst du an diesen Tisch wie nur irgendeiner von uns.‹ Er wollte es. Ja, wahrhaftiger Gott, er wollte dazugehören. Die Menschen erkennen – ihr Gut und Böse – und selber unberührt bleiben.

»Bah – Nonnenfürze«, meinte er leichthin. »Aber ich will Sie gerne dem Pfarrer für die Kirchenwäsche empfehlen. Wieviel bekommen Sie denn pro Tag? Und für das Plätten?« Er hatte im Sprechen bereits an den Hutrand gegriffen und die Laubentür aufgestoßen. »Jaja – ich weiß schon. Erst rechts, dann links. Nicht nötig, daß Sie noch mit mir kommen. Adjö denn – –.«

Er war, wie ein Hölzchen im Bach, schon lange weitergestrudelt, als die Waschfrau es endlich aufgab, ihm den Weg mit rudernden Armen zu weisen und hinter ihm dreinzurufen.

»Dem habe ich eingeheizt«, sagte sie dumpf. »Wenn die Kindermann jetzt nur fest bleibt und sich nicht gleich wieder vor der Maura aus Angst auf die Knie wirft. Mag ja möglich sein, daß die Nonnen bessere Mittel haben als alle Doktoren zusammen; den Fingerhutsaft, den die Alte braut, macht ihr nicht mal der Schäfer nach.« Sie beschattete mit der Hand ihre Augen und verfolgte Herrn Belfontaines Weg – die Gestalt des Mannes ward zusehends kleiner; schon hätte man ihn in das Guckloch einer Vorplatztür fassen können . . .

Als der Klöppel zweimal kurz nacheinander an die Eisenglocke geschlagen hatte, die in dem Steinflur mit heiserem Läuten aufgeregt schepperte, bevor man zur Pfarrwohnung kam, schob Fräulein Kindermann langsam die Klappe, die den Durchblick bedeckte, zurück und preßte ihr Auge dagegen; dann hörte man eine Zugkette schleifen, einen Schlüssel sich jammernd und schwerfällig drehen und sah in dem Türspalt die graue Erscheinung der ängstlichen Kindermann beben.

Herr Belfontaine, um sie zu ärgern, stellte rasch seinen Fuß in die Öffnung; das alte Mädchen schrie gellend auf und versuchte, blind vor Entsetzen, die Tür wieder zuzuwerfen. »Aber Kindermann!« rief er halb lachend, halb ärgerlich über sich selbst. »Ich bin es doch! Belfontaine!« Das arme Gespenst schielte starr vor sich hin, ohne ihn anzusehen. »Mein Gott«, sagte Belfontaine unbehaglich. »Ich habe Sie wohl erschreckt mit meiner Ungeduld? Wie? Aber Sie sahen mich doch durch das Guckloch! Oder – haben Sie mich mit sonst wem verwechselt?« fragte er wider Willen.

»Verwechselt?« stöhnte die Kindermann zwischen hastigen Atemzügen. »Also sind Sie wirklich nicht der von gestern?« fügte sie zitternd hinzu.

»Der von gestern?« fragte er seltsam berührt, während sein Rücken vereiste. »Was soll das bedeuten? So reden Sie doch!« schrie er scharf und hemmungslos auf.

Sie bewegte die Lippen, kein Laut kam darüber, durch das Flurfenster flirrte die Mittagssonne und lag auf den Steinplatten wie eine Kröte, an welcher die Kehle pocht.

Endlich schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein. Es ist ja natürlich Unsinn«, sagte sie traurig und sanft. »Ich bin nur erschrocken, weil Sie den Fuß wie ein Landstreicher in die Türspalte setzten: das tat der andere auch. Verzeihen Sie –« plötzlich wurde ihr klar, daß ihre Meinung für den Besucher etwas Kränkendes haben mußte. »Mein Gott, was müssen Sie von mir glauben?« begann sie mit flehender Stimme aufs neue und hob ihr kleines verschrumpftes Gesicht, um Verständnis bittend, empor. »Ich bin so ängstlich, seit man den Pfarrer in Heldenbergen ermordet hat. Sie wissen doch – –.« Weitschweifig führte sie aus, wie der Pfarrer getötet wurde.

»Beruhigen Sie sich, Fräulein Kindermann«, sagte Belfontaine trocken und spröd. »Er wird ihn sicherlich nicht ermorden. Der von gestern nämlich«, ergänzte er kühn und wurde von seiner eigenen Hellsicht wie von jählings gestrafften Segeln dem ruhigen Hafen entrissen. »Der Landstreicher, den Sie gefürchtet haben – was wollte er übrigens von dem Pfarrer? – wird morgen begraben werden. Man hat ihn schon gestern zwischen den Mauern, die Schweickerts Weinberg von Rockers trennen, mausetot aufgefunden.« Dieser flache, zynische Ausdruck war ihm unversehens entschlüpft; ein panisches Lachen erschütterte ihn, wie es manchmal, wenn er gezwungen war, einer Beerdigung beizuwohnen, seine Kehle kitzelnd erstickte.

Fräulein Kindermann sah ihn entgeistert an. »Aber wie können Sie eigentlich wissen –?« fragte sie fassungslos.

»Gar nichts weiß ich, verehrtes Fräulein«, erwiderte Belfontaine barsch. »Eine Vermutung. Doch, bitte, wie lange soll ich eigentlich noch vor der Flurtür stehen?« sagte er ungeduldig.

Die Kindermann zuckte zusammen wie unter einem Hieb.

»Oder ist der Herr Pfarrer am Ende noch gar nicht nach Hause gekommen? Ich meine . . .« Herr Belfontaine wußte nicht weiter, nun kam ihm das Fräulein eifrig zu Hilfe und fragte, in dem Bestreben, ihre Unhöflichkeit wiedergutzumachen: »Ja, freilich – Sie haben ihn sicher gesehen, als er nach der Messe zu Gitzlers ging? Nein, nein. Er ist schon lange zurück. Ich glaube«, tuschelte sie geheimnistuerisch, »es handelte sich um die Frage, ob Herr Gitzler ihn kommenden Sonntag zum Kasino mitnehmen möchte.«

»Ach so«, sagte Belfontaine, leicht verzerrt. »Dann kann ich mir meinen Besuch ja schenken. Ich glaubte nämlich – na, kurz und gut – –« Er wandte sich schon zum Gehen; hierauf, in einem Anfall von Großmut, drehte er sich auf der Schwelle um: »Ist sein Abbérock denn ausgebürstet? Vergessen Sie bitte auch nicht, einen frischen Kragen bereitzulegen. Ja, richtig: Frau Lorenz hat mich gebeten, eine Lanze für sie zu brechen – was also geschehen ist.«

»Nein, bleiben Sie doch, Herr Belfontaine!« flehte die Kindermann, närrisch vor Angst, ihn aufs neue beleidigt zu haben, und hielt ihn am Ärmel fest. »Das mit Gitzler war nur eine Vermutung –.«

»Genau wie mein Landstreicher, wertes Fräulein«, ergänzte er und betrachtete sie mit höhnischem Behagen. »Wir übertreffen heute einander in Vermutungen, meine Beste.« Er kreuzte die Arme, lehnte sich leicht gegen den Türpfosten an und fragte teilnahmsvoll wie ein Arzt: »Haben Sie eigentlich öfter solche . . . Visionen, Fräulein?«

»Visionen?« Sie blickte begierig auf.

»Oder soll ich Zustände sagen?«

Das Fräulein begann von neuem wie Schilf im Winde zu beben. »Ich habe keine Zustände. Nie!« sagte sie dann verzweifelt und bemühte sich, ihrer brüchigen Stimme einen Schein von Empörung zu geben. »Außerdem weiß ich gar nicht, was Ihre Frage bedeutet.«

»Dann können Sie nicht behaupten, Sie hätten ›nie‹ etwas dergleichen«, sagte Belfontaine schonungslos. »Aber schließlich: was geht mich Ihr Zustand an? Nur würde ich Ihnen empfehlen, sich weniger auf das Gesudel der Oberin zu verlassen, als einen tüchtigen Seelenführer für Ihr Leiden zu Rate zu ziehen.« Er zuckte die Achseln und spielte mit dem stählernen Zugseil der Schelle, die leise zu klappern begann.

»Wer an der Quelle sitzt, schöpft zuletzt«, entgegnete sie beziehungsvoll. »Und ein Maßliebchen neben dem Schuh pflegt man meistens zu übersehen.« Sie blickte Herrn Belfontaine nachdenklich an. »Ich glaube, ich hätte manches zu sagen«, vollendete sie geschraubt.

»Man läßt also Ihre Gaben verkümmern?« fragte der Mann gelangweilt.

Sie seufzte. »Das meinen die Nonnen auch. Nun, nun –. Wir wollen demütig bleiben. Demut ist alles. Anfang und Ende der persönlichen Heiligung, wie?« Fräulein Kindermann reckte den dürftigen Körper. »Aber mich tröstet ein treuer Freund«, sagte sie schlicht und stolz.

»Oh lala!« Belfontaine fuhr zurück und blickte verdutzt auf sie nieder.

»Mein Tagebuch«, trumpfte sie unschuldig auf, »von dem Heiligsten Herzen Jesu. Sie staunen?« fuhr sie geschmeichelt fort, während sich Belfontaine krampfhaft bemühte, ihr nicht ins Gesicht zu sehen. »Tagebuch ist auch kein richtiger Ausdruck. Die Nonnen meinen, man solle es besser ›Schule der Mystik‹ nennen.«

»Verdammt noch mal! Oh pardon, welches Unglück . . .« Er blickte entsetzt zu der Türglocke auf, die sein heftiger Ruck in Bewegung gesetzt und zu scheppern veranlaßt hatte; ihr törichtes Lärmen ruhte nicht eher, bis der mechanische Anreiz zum Stillstand gekommen war. »Also: Schule der Mystik?« fragte er höflich, um sein Mißgeschick auszugleichen. »Und was sagt Herr Pfarrer Mathias dazu?«

»Gar nichts. Das ist es ja eben. Ich lege das Tagebuch auf den Schreibtisch – bald rechts, bald links, bald unter die Akten, bald neben das Brevier. Er merkt nichts. Er hebt seine Bücher hoch, er hat es zwanzigmal in der Hand und legt es wieder beiseite. Ich sage: will der Pfarrer nicht endlich den Schreibtisch in Ordnung bringen? Erst gestern sagte Herr Pfarrer doch, er findet nicht einmal den Urkundenstempel in diesem Durcheinander.« Sie seufzte. »Vergebens. Er nimmt ein paar Bücher und packt sie den Zeitschriften auf; trägt den ganzen Krempel zum Sessel hinüber und bietet nach fünf Minuten den Sessel dem ersten besten Besucher an, der ihn erst abräumen muß, damit er sich setzen kann. Was ist da zu machen? Man müßte –« Fräulein Kindermann faßte ihn jäh am Jackett, ihre Schüchternheit war mit einemmal fort, ein wildes, hackendes Vogelgesicht mit unheimlich blitzenden Augen kam unter der rissigen Maske des alten Mädchens zum Vorschein. »Kommen Sie! Kommen Sie, bitte!« flehte sie mit dem Ausdruck der äußersten Verzweiflung;

Herr Belfontaine folgte ihr willenlos nach, sie zog ihn rasch in den dunklen Hausflur und machte die Tür zu dem Arbeitszimmer des Pfarrers mit ihrem Ellbogen auf, ohne ihn loszulassen. »Da!« keuchte sie. »Da, auf dem Schreibtisch! Da liegt es. Ich schiebe das Tagebuch jetzt an die Ecke, an die äußerste Kante, verstehen Sie? Wenn der Pfarrer hereinkommt, springen Sie hoch – – mein Gott, so setzen Sie sich doch nieder! Wohin? Auf den Sessel natürlich!« Sie fegte mit fliegenden Händen das bischöfliche Verordnungsblatt von dem schäbigen Plüsch herunter und versetzte Belfontaine einen Stoß, der ihn stracks in die Polster warf. »Ich wiederhole: Sie springen auf«, fuhr die Kindermann herrisch fort, »und werfen dabei das Buch herunter; es ist eine Kleinigkeit: so.« Das Buch fiel prompt auf die Erde, sie bückte sich, spielte die Überraschte und sagte: »Was sehe ich da? Eine außerordentlich feine Handschrift. Wohl ein Tagebuch? Na, und so weiter.«

»Aber wo ist der Herr Pfarrer denn?« fragte Belfontaine überwunden. »Sie sagten mir doch, er wäre schon längst von Gitzler zurückgekehrt?«

»Natürlich. Aber vor einer Stunde hat er Besuch bekommen«, erzählte sie aufgeregt. »Ein paar Bauern aus seiner vorigen Pfarre, die immer noch an ihm hängen. Rohes Pack mit Erdklumpen an den Schuhen; sehen Sie nur den Teppich an und die Flecken auf dem Parkett. Was sie wollten, konnte ich nicht verstehen, es ist ja auch einerlei. Nur merkwürdig, daß der Herr Pfarrer sichtlich erschrocken war, als er sie sah, und kaum fünf Minuten danach mit den Leuten das Zimmer verließ. Wahrscheinlich, um nicht belauscht zu werden«, fügte sie bitter hinzu. »Lächerlich. Wenn man das Fenster öffnet, und sie sitzen der Stadtmauer gegenüber auf der Gartenbank zwischen den Feuerbohnen, ist jedes Wort durch den Widerhall der Steine zu verstehen. Ich habe das ausprobiert. Da gehen sie ja! Aber schauen Sie doch – wie der Pfarrer mit seinen Armen fuchtelt, als ob er sie abwehren wollte. Nun hält er sich gar noch die Ohren zu. Das ist ja höchst sonderbar . . .«

»Hinaus!« schrie Belfontaine zügellos. »Ihre Milch läuft über. Man riecht es ja schon. So gehen Sie doch endlich!«

Mit einem Schlag sank die Kindermann wie ein Aschenhäufchen zusammen und wurde zu dem grauen Gespenst, das sie vorher gewesen war. »Oh bitte, bitte«, sagte sie leise. »Ich bin ja schon verschwunden.«

Herr Belfontaine nahm seinen Hut ab und warf ihn, weil er nichts fand, woran er ihn aufhängen konnte, mit einem Fluch auf den Boden, stützte die Ellbogen krampfhaft auf seine Oberschenkel und ließ mit einem Ton der Erschöpfung das Gesicht in die Hände fallen . . .

»Nein«, flüsterte er. »Ich habe es satt. Satt, satt.« Eine Uhr trat mit eiligem Ticken in seine Wahrnehmungskräfte und wiederholte das kleine Wort auf wispernden Atemzügen: »Satt, satt.« Und ringsumher Stille; die gähnende Stille über der Schwelle der dritten Nachmittagsstunde.

Belfontaine öffnete langsam die Augen und blinzelte durch die Finger hindurch auf das scheußliche Teppichmuster mit den blaugrünen Blattlianen; wo sie umbogen, jedesmal in dem Abstand von einer Fingerspanne, saßen staubige Wasserrosen. Vor dem Fenster, welches ein halbes Stockwerk über dem Garten lag, waren jetzt Stimmen zu hören; verworrene Laute näherten sich; durch das Sieb der Entfernung, welche sie dämpfte und ihnen Ähnlichkeit mit dem Geräusch schurrender Gerstenkörner verlieh, kollerten einzelne Worte.

»Nein!« hörte man deutlich den Pfarrer rufen. »Nein, nein! Ich sage euch . . .«, dann das Gemurmel erstickender Argumente.

Belfontaine richtete sich empor und starrte gespannt hinaus. Auf dem ungeschickt angeschobenen Schreibtisch, welcher mit allzu geringem Abstand quer vor dem Fenster aufgestellt war, und das Öffnen der hohen Flügel nur mit schmalem Winkel gestattete, erhob sich – peinlich genau in der Mitte zwischen beiden Gardinenbögen – ein jansenistisches Kreuz. Der gipserne Christus, fahl überleuchtet von dem Laubschatten vor den Scheiben, war wie mit unsichtbar wirkender Winde an den Handgelenken emporgezogen; die gewaltsam nach außen gedrehten Arme berührten sich über dem Haupt.

Wiederum kamen die Stimmen näher; die des Pfarrers, wie ein verfolgter Vogel, quälte sich höher hinauf. »Erbarmen!« hörte Belfontaine deutlich, als er sich, zitternd am ganzen Körper, gegen das Fenster bewegte. Er klemmte sich hinter dem Schreibtisch durch und tastete, um nicht gesehen zu werden, mit ausgestreckter Hand nach dem Griff, wobei er das Kreuz berührte; öffnete vorsichtig beide Flügel und zog sich tief in den Schatten der gerafften Gardinen zurück.

Sehr lange Zeit hindurch blieb es still – sei es, daß die Besucher den Garten verlassen hatten oder mit dumpfer Beharrlichkeit um ihre Beute standen, die ihnen, aus dem verzweifelten Anruf des armen Pfarrers zu schließen, nicht mehr entgehen konnte. Ein lauer Dunst, wie von stehendem Wasser, auf welchem abgefallene Blüten und kraftlose Pollen treiben, kam durch die Fensteröffnung; doch bewegte kein Lufthauch die hellen Gardinen, welche regungslos, wie aus Weißblech geschnitten, die tödliche Langeweile der Ordnung und ihre starre Wut gegen alles, was sie erschüttern könnte, bis in den Rand hinein aufzuzeigen und zu verkörpern schienen. Sie waren häßlich, ja widersinnig wie fast sämtliche Dinge in diesem Raum, der außer den baren vier Wänden und dem ärmlich bestellten Bücherbord keinen einzigen Gegenstand aufwies, der nicht geschenkt worden war – geschenkt von Brautpaaren, Erstkommunikanten, alten Jungfern und Vorstandsdamen – und der dennoch in höchstem Maß etwas hatte, was ihn liebenswert, ja sogar ehrwürdig machte und diesem verunglückten Weihwasserbecken, dieser buckligen Vase, dem traurigen Teppich, kurzum, diesen Scheusälern allen die Bedeutung von fröhlichen Läusen in dem Pelz eines Eremiten verlieh, dessen Duldung sie dauern ließ.

Nur das Kreuz –. Dieses Kreuz war nicht häßlich, nein. Es war furcht- und schreckenerregend. Aus einer französischen Seitenlinie der Familie Mathias stammend, hatte Herr Henri Matthieu, wie ein entfernter Onkel sich nannte, der bei der Aufhebung eines Klosters im Herzen der Vendée eine traurige Rolle gespielt haben sollte, jenes Kreuz seinem geistlichen Neffen vermacht – sei es, um noch auf dem Sterbebett eine Stimme zurückzuschlagen, die ihm schlimm genug mitgespielt haben mochte; sei es, um dieser Stimme einen ewigen Anwalt zu geben, der an seiner Statt für ihn flehte. Aber wie dem immer gewesen war: auch ohne jene Geschichte, die an ihm haftete wie der Duft aus der Narde der Magdalena an den Füßen des Todgeweihten, wäre es schrecklich gewesen. Diese dicht aneinandergedrängten Arme, die nach der Lehre von Port Royal nur wenige Auserwählte umspannten und die göttliche Liebesfülle der Brust im Augenblick der Erlösung verengten; das schmerzlich nach hinten geworfene Haupt mit dem angespannten Bogen der Kehle, die dem Schrei nach dem Vater in höchster Not eine gräßliche Dauer gewährte – – Dies alles war ohne Trost und Erbarmen; es war ein Zeichen des Zornes und der Gerechtigkeit; ja, mehr noch: das unwiderrufliche Urteil einer Vorherbestimmung, die gleich der ehernen Schlange hoch aufgerichtet war. Daß der Pfarrer, der sich an alle Menschen mit fast schmerzhafter Milde wandte, dieses Kreuz des Schreckens verehrte, war – oberflächlich betrachtet – vollkommen unverständlich. Fragte ihn ein Konfrater darnach [selten genug, denn dem stumpfen Auge entgeht nichts leichter als das Außergewöhnliche], so wurde ihm kaum eine Antwort zuteil, geschweige eine Erklärung; höchstens, daß Pfarrer Mathias, den Blick zu Boden geschlagen, bemerkte: es sei ein Familienstück – womit für den Durchschnittsmenschen alles begründet war. Einzig Herr Belfontaine glaubte zu wissen, worin die Vorliebe des Befragten für das Kreuz des Matthieu ihre Wurzel hätte, und daß er sie – furchtbares Mißverständnis! – zu teilen imstande wäre. Er ist einsam, vollkommen einsam wie dieser sterbende Christus, dachte er oft mit geheimer Wollust. Er hat keinen Freund, keine Menschenseele, die ihn verstehen könnte. Nur ich –. Wir beide sind ausgesondert. Das ist es, was uns verbindet. Verbinden sollte – fuhr er gewöhnlich in seinen Betrachtungen fort und schürzte die Unterlippe, wobei er die stolze, geistige Trauer des Vereinsamten nachzufühlen sich in allem Ernst unterstand. Seine Scheu vor den Menschen ist nichts als Verachtung, und wie sollte er sie nicht verachten dürfen, die sich anmaßen, ihn zu begönnern, während er sie durchschaut? Im günstigsten Fall hat man Mitleid mit ihm; mit seiner Scheu, seinem Ungeschick, hinter welchem er, ohne daß sie es ahnen, nur mit Mühe das überscharfe Bewußtsein um die Dummheit der Masse verbirgt.

Armer Pfarrer! In dieser Stunde und dem flüchtigen Augenblick, der das Kreuz aufs neue in Belfontaines Blickwinkel schob, war nichts weniger als Verachtung oder Hochmut an ihm zu entdecken. Er stand mit gesenktem Kopf vor den Bauern, die Hände über der Brust gefaltet, in der Haltung eines umstellten Tieres, das den Tod auf sich zukommen sieht.

»Herr Pfarrer –« begann ein Mann aufs neue und legte ihm scheu seine grobe Hand auf das zuckende Schulterblatt.

In dieser Sekunde löste sich jäh ein markerschütternder Schrei um Gnade aus der Brust des maßlos Gequälten. »Könnt ihr mich denn mit den alten Geschichten nicht endlich in Ruhe lassen?« rief der Pfarrer und warf die Arme empor, schwankte und fiel nach vorne über, von dem Bauern, welcher ihn angerührt hatte, gerade noch aufgefangen.

Der große Mensch in dem Fuhrmannskittel trug ihn, wie eine Mutter ihr Kind, mit unendlicher Zärtlichkeit zu der Bank und legte ihn dort nieder. »Er tut es«, sagte er zu den andern. »Er hat es noch immer getan.«

In dem nämlichen Augenblick, da der Pfarrer die Besinnung verloren hatte, war auf dem Schreibtisch das Kreuz umgefallen und über ein Aktenbündel gestürzt, dessen Staub es zum Wirbeln brachte. Gleich danach blähten sich die Gardinen im Luftzug der aufgerissenen Tür, und mit völlig verstörtem Ausdruck stolperte der Besucher ungeschickt über die Schwelle. Die Haare verwirrt, mit entsetzten Augen, ohne Hut und Haltung, bot Belfontaine den Anblick eines verfolgten Strolchs. Ein blasses Phantom, das in Lauscherstellung vor dem Schlüsselloch mußte gekauert haben, schoß jäh, wie aus klaffendem Erdspalt, empor – sie schrieen beide, die Kindermann und Herr Belfontaine. Herr Belfontaine brüllte und setzte in Abwehrbewegung den Fuß vor; das Gespenst, wie eine Mulde von Grillen, schien sich in eine schrillende Wolke von Tönen aufzulösen und körperlos zu werden. Der Mann, beide Daumen fest in die Ohren und den Rücken gegen die Mauer gedrückt, schob sich, die Schreie des armen Wesens mit seinem Gebrüll übertönend, den gekalkten Hausflur entlang, tastete rückwärts nach einer Klinke, drückte sie nieder, stürzte hinaus und riß wie ein Rasender an der Glocke, die nicht mehr endigen wollte . . .

Auf der Straße blieb Belfontaine schweißbedeckt stehen und ordnete seinen Schlips. »Es hilft nichts, ich muß noch einmal hinauf, um meinen Hut zu holen«, sagte er für sich hin. »Oder schicke ich besser Fritz, diesen Tölpel? Dann wird man Erklärungen mitgeben müssen, eine Entschuldigung an den Pfarrer, weil man nicht warten wollte. Lächerlich übrigens, dieser Umstand um einen vergessenen Hut. Oder kommt es heute zum erstenmal vor, daß einer den Hut liegen läßt? Eine ganz gewöhnliche Sache, he! Erst neulich – na, also.« Er fuhr in die Tasche und suchte links nach den Zigaretten und rechts nach dem Feuerzeug; rätschte es an, zog mit gierigem Ausdruck den Rauch der englischen Zigarette in seine Nasenflügel und blies das Benzinflämmchen aus. »Ich gehe doch besser selber zurück.« Er tat mit zitternden Knien einige Schritte vorwärts, blieb unschlüssig stehen und blickte gegen ein Fuhrwerk in der Mitte des kleinen Platzes, auf welchen die Sonne brannte. Die Gäule hielten die Köpfe nach unten und schienen eingeschlafen zu sein; ihre Haltung drückte den ewigen Vorwurf der sprachlosen Kreatur vollkommen absichtslos aus. Ein paar Sperlinge suchten zwischen den Hufen und unter dem Wagen nach den Körnern; sie waren von Staub überpudert, hatten den Wanst voller Erbsen und schienen, ab- und zufliegend, ihr Geschäft nur gewohnheitsmäßig und ohne Lust zu betreiben.

Herr Belfontaine starrte den Leiterwagen, die Säcke, die unter den Sitzbrettern lagen, und das flimmernde Kopfsteinpflaster mit einer Art von Entrückung an, als ob er sich dieses Bild für immer einprägen wollte. Solange die Bauernkarre hier steht, kann ich natürlich nicht stören, dachte er mit dem Gefühl eines Menschen, den ein äußerer Umstand entschuldigt. Andererseits entbehrt mich jedoch um diese Zeit das Comptoir. Was soll man machen? Ich könnte vielleicht einen Gassenjungen nach Hause schicken –.

Er blickte sich wie ein Schauspieler um, der nach gefallenem Stichwort den Auftritt seines Kollegen erwartet, um: »He! Da bist du ja, Bürschlein! Nimm diesen Brief mit dem Siegel und trolle dich!« sagen zu können.

Kein Gassenjunge war weit und breit, überhaupt kein menschliches Wesen nah oder fern zu erblicken. »Am besten warte ich in der Kirche.« Belfontaine überquerte die Bühne mit den dörflichen Requisiten und gewann erst auf den vergrasten Stufen, die zu dem Kirchentor führten, das Gefühl der Wirklichkeit wieder. »Hier hat er vor sieben Jahren gesessen«, sagte Herr Belfontaine laut. »An diesem Pfeiler.« Er bückte sich nieder und hob einen Kieselstein auf. »So war es. Ja, ja.« Er ballte die Faust um den Stein und warf ihn gedankenlos fort; auf der Handfläche zeichnete sich ein rotes, schon wieder vergehendes Mal ab und war verschwunden, als er die Kirche betrat.

An dem Weihwasserbecken blieb Belfontaine stehen und schlug ein verlorenes Kreuz. Die dunkle Kühle des Raumes ordnete seine Gedanken und deckte die Außenwelt ab; das ewige Licht, wie ein Blinksignal in der Nacht, schien ihm aus der geheimen Mitte einer unbegriffenen Ordnung zuckende Zeichen zu geben. Ohne Lidschlag versuchte er auszuhalten: das Licht wurde größer, es mühte sich sichtlich, ihm etwas mitzuteilen, das keinen Aufschub erduldete: eine Erklärung, welche die Welt, wenn sie fähig wäre, sie aufzunehmen, bis ins letzte verändern würde. Dann schlug es in Schwärze um, beißendes Feuer drang Belfontaine unter die Augen und verzehrte ihm Wimper und Braue.

Ich verstehe den ganzen Zusammenhang nicht, dachte der Mann erbittert. Es ist wohl auch besser. Für ihn – fuhr er fort und fühlte deutlich, wie sich sein Herz verzweifelt zusammenkrampfte. Ich will nicht darüber nachdenken. Nein. Obwohl es eigentlich klar auf der Hand liegt, daß der Arme durch eine geheime Schuld seinen früheren Pfarrkindern ausgeliefert und zum Gegenstand ihrer Erpressung und Willkür geworden ist.

[»Erbarmen!« hörte er wieder deutlich, und: »Könnt ihr mich denn mit den alten Geschichten nicht endlich in Ruhe lassen!«]

Nun bedrohen sie ihn von Zeit zu Zeit, das ist ja die Art solcher Leute, und nehmen ihm sein Geld. Kein Wunder, daß die Soutane geflickt und die Wohnung so armselig ist. Auch die Vorliebe für das Kreuz des Matthieu kann ich jetzt erst richtig verstehen. Er ist ein Sünder. Von allen getrennt durch den Makel jener verborgenen Werke, für die er noch büßen muß. Daher seine Menschenscheu, seine Angst, sein Bedürfnis, sich wie ein gejagtes Tier in die Höhle zurückzuziehen. Nicht zuletzt seine Neigung für solche Schurken wie Gitzler, die sich anmaßen, andere Leute über Frömmigkeit zu belehren und sich, je nach Bedarf, mit der mystischen Trauer eines gefallenen Engels oder der stolzen Kälte des Einsamen zu umkleiden wissen – ich begreife sie jetzt; ich begreife alles. Man braucht nur die einzelnen Züge in dem Wesen des guten Mathias aneinanderzuschieben wie Teile eines Zusammensetzspiels, dann sieht man, daß immer der eine den anderen ergänzt. Ganz einfach. Gar keine Hexerei. Wie sagte doch Gully? Beobachtungsgabe. Weiter nichts als Beobachtungsgabe. Gully –

Er fuhr mit der Zunge den Gaumenbogen entlang, als sei ihm ein schlechtes Bonbon dort oben hängengeblieben. »Nein, nein. So lächerlich einfach ist es am Ende doch nicht. Was mag der Pfarrer verbrochen haben? Was für ein Ärgernis hat er gegeben, das bis heute das Tageslicht scheut? Weibergeschichten –? Das wäre das Letzte, was ich ihm zutrauen würde. Obwohl er eigentlich mit der Gitzler – ach, Unsinn!« Ein frauenhaft feines Rot stieg Belfontaine in die Wangen. »Man braucht ihm ja nur in die Augen zu sehen, in diese großen, arglosen Augen, dunkel und klar in einem, die den Blick einer Hirschkuh haben. Eher möchte ich an ein Zerwürfnis in der Art wie das mit der Oberin Maura oder an sonst eine Sache glauben, in deren Verlauf er über die Grenzen seiner Befugnisse ging. Aber – das hätte er mit dem Bischof auszutragen gehabt und nicht mit drei Bauernlümmeln. Also doch ein Geheimnis? Und welches? Sicherlich keines von jener Sorte, wie es Schürzenjäger umgibt. Überhaupt nichts Gewöhnliches. Nein. Denn, wie man den Pfarrer Mathias auch immer beurteilen mag: er ist ein außergewöhnlicher Mensch, und es kann daher alles, was er getan hat, nur außergewöhnlich sein.«

Ob Herr Belfontaine ahnte, daß dieser Gedanke ihn so dicht vor die Wahrheit führte, daß er nur zugreifen mußte, um sie in Händen zu haben? Doch wie ein Mensch mit verbundenen Augen, den der Atem einer gesuchten Person, die seine Finger schon fast berühren, bereits gestreift hat – – verfehlte er schließlich ihre verhüllte Gestalt, und nichts als das Höllengelächter seiner Mitspieler, welche im Kreis um ihn standen, erwiderte Belfontaine.

»Gut, gut. Ich werde es schon erfahren – und wenn es mein Leben gilt.« Das Kirchentor ächzte und knallte zu, der Windfang flügelte, gleich danach drängte sich eine Horde von Knaben unbekümmert herein, ohne Belfontaine wahrzunehmen. Er erkannte den jungen Partenheimer, einen rohen, stämmigen Jungen aus der Eisenhandlung in seiner Straße; den sommersprossigen Sohn des Friseurs; die Zwillingsbrüder Jean und Baptiste, welche dem Bäcker gehörten, und von dem Vater stets »Schambattist« gerufen zu werden pflegten, da sie als unzertrennliches Paar nur dann in Erscheinung traten, wenn es beiden Teilen beliebte; das dicke Fränzchen der »heißen Else«, wie seine Mutter, die Plätterin Randolf – eine Witwe von staunenswert schlechtem Ruf – im Volksmund geheißen wurde; den tückischen Bengel des Organisten und Eugen, den Stift aus der Drogerie, welcher, wie immer, ein Stück Lakritze oder Kandiszucker im Munde herumschob – – kurzum, das zusammengewürfelte Korps der täglichen Ministranten, die der Pfarrer zu einer Übung hierher bestellt haben mochte.

Ohne Kniebeugung stürzten sie alle, einander puffend und tretend, in die erste Bank vor dem Josefsaltar und prügelten sich um die Plätze, indessen der Organistensohn Clemens mit dem Nachschlüssel leise die Sakristeitür, die nur ein Schnappschloß aufwies, betörte, um von dem Fenster des Räumchens aus, dessen Blick auf die Pfarrwohnung führte, das Nahen des guten Mathias durch einen Pfiff zu verkünden.

»Seht mal, das Käppchen des Pfarrers!« rief da plötzlich einer der Zwillingsbrüder und wies voller Spott auf den Gegenstand seiner Erheiterung: ein Birett, welches einsam unter der Tafel des heiligen Josef lag und ohne allen Zweifel vergessen worden war. Etwas später sah dieser gute Mann mit dem sorgsam geölten Mittelscheitel und der schräg wie ein Griffel geneigten Lilie bekümmert auf das Treiben der Ministrantengarde, die das unschuldsvolle Birett als Zielscheibe ihrer Mützen benutzte und anzuschießen versuchte. Die grünen und roten Schülerkappen knallten lustig an der Altarplatte auf, bis es endlich dem dicken Fränzchen gelang, das Birett herunter zu pfeffern.

»Kommt er?« fragte der kleine Unhold und stülpte sich seine Beute auf den kurzgeschorenen Kopf.

»Ich sehe noch nichts«, erwiderte Clemens boshaft und fuhr fort, den Pfarrer unter der Haustür und die drei Käsbauern – wie er sie innerlich nannte – mit Hochgenuß zu betrachten. Sie schienen den hinteren Ausgang von dem Garten her betreten zu haben; nun drängte der Pfarrer die Leute, die sich, aus ihren Gesten zu schließen, gerade verabschieden wollten, in den dunklen Hausflur hinein. »Wahrscheinlich geht er noch mit an den Wagen«, dachte der falsche Clemens enttäuscht und verließ seinen Lauscherposten.

»Na, los! Mach ihn nach!« befahl er dem dicken Fränzchen. Sofort ließ der Kleine die rechte Schulter etwas heruntersinken und ging mit unregelmäßigen Schritten, die wie aus versteiften und ruckweise vorwärts bewegten Hüften ohne Eigenbewegung kamen, gegen die Kanzeltreppe.

In diesem Augenblick löste sich rasch ein Schatten aus dem Gebälk des Pfostens, welcher die Treppe trug, und Herr Belfontaine hob dem erschrockenen Franz das Birett wie ein Lufthauch vom Kopf. »Nichtsnutzer! Jagen sollte man dich, daß du die Lappen verlierst«, sagte er in gedämpftem Ton, der seltsam genug zu dem Inhalt seiner drohenden Worte stimmte. »Du bringst das Birett zu dem Pfarrer hinauf und holst mir dafür meinen Hut, der oben geblieben ist. Ich erwarte dich vor der Kirchentür. Marsch! Oder soll ich dir Beine machen? Den Mund zu! Nimm dich gefälligst zusammen und stehe nicht da wie Lots Weib!«

»Wir gehen jetzt übrigens alle«, sagte der stämmige Partenheimer und schob sich kampfbereit aus dem Grüppchen der Kameraden hervor. »Wenn der Pfarrer selbst nicht die Zeit einhält, kann er von uns nicht verlangen, daß wir stundenlang auf ihn warten. Kommt, Buben!« Sie polterten hinter ihm drein, nur das dicke Fränzchen blieb schuldbewußt stehen und schielte Herrn Belfontaine ängstlich von unten herauf ins Gesicht.

»Nichts zu machen«, sagte sein Henker grimmig. »Und wenn du Prügel bekommst, hast du sie reichlich verdient.«

»Pah – Prügel!« erwiderte ihm der Kleine und schob seine dickliche Unterlippe mit verächtlichem Grunzen vor. »Das wären die ersten. Und mir schon gar nicht.« Er gewann seine Frechheit wieder zurück und sagte mit nachgemacht trauriger Stimme: »Deine arme Mutter! Schämst du dich nicht?«

Herr Belfontaine faßte ihn blitzschnell am Ohr und führte ihn, freundlich lächelnd, hinaus; das Läppchen schwoll an und rötete sich; bald war das ganze Gesicht des Kleinen wie mit Rinderblut übergossen und von Schweißtröpfchen dicht bedeckt. »Nun geh!« sagte Belfontaine vor der Tür und lockerte seinen Griff.

Er sah ihm nach, wie er langsam über den Platz hinschlich, das Birett wie ein Säckchen gestohlener Äpfel unter den Arm geklemmt. »Natürlich – die arme Mutter«, dachte er widerwillig. »Da haben wir's wieder: man braucht nur der Sohn einer stadtbekannten Hure zu sein, so rettet das schon vor Prügeln. Arm! Na!« Er verzog seinen Mund. »Ich wollte, ich hätte das Geld, das die heiße Else verdient.« Die heiße Else – er sah sie vor sich: ihr rotbraunes Löwenhaar, immer zerzaust, als käme sie aus dem Bett; die flackernden Augen mit dem gejagten, trostlosen Tierblick der Wollust und den ständig klaffenden Mund. Eigentlich, fand Herr Belfontaine heute, glich sie einer Gequälten; besonders, wenn sie lachte und die spitzen Eckzähne zeigte; einer Frau, die irgend ein Unsichtbarer beständig am Lockenhaar riß: na, los – die Kehle zurück und das hübsche Hälschen gezeigt! Sie war zu bedauern, gar keine Frage. Doch die Behandlung des Pfarrers war falsch. Grundfalsch. So eine wurde nicht besser, indem man mild mit ihr war. Durchpeitschen! Aus der Kirchenbank jagen! Den Jungen in die Fürsorge stecken und das Weibsbild ins Arbeitshaus! Statt dessen macht er den Ministranten mit seinem Quappengesicht, und es würde mich garnicht verwundern, wenn die heiße Else an Stelle der Nonnen die Wäsche zu plätten bekäme.

Herr Belfontaine schnippte ungeduldig mit Daumen und Mittelfinger und verfolgte im Geist seinen Auftrag: jetzt mußte der Junge das Glockenseil ziehen . . . jetzt schob sich die Klappe vom Guckloch fort . . . Fräulein Kindermann fragte nach seinen Wünschen und führte ihn in den Hausflur . . . er klopfte . . . Bis dahin war alles richtig; doch Mathias rief nicht herein, wie sich Belfontaine vorgestellt hatte. »So warte doch!« zischte die Haushälterin und drückte leise die Klinke herunter, schob die Nase vorsichtig durch den Türspalt und äugte in das Zimmer. Der Pfarrer lag mit geschlossenen Augen über der Schreibtischplatte, das totenbleiche Gesicht auf der »Schule vom heiligsten Herzen Jesu«, die Arme rechts und links ausgestreckt, als hätte der Blitz ihn gefällt. Daneben bemerkte die Kindermann den vergessenen Hut des Herrn Belfontaine, welcher auf seinem Kniff stand; ein leerer Topf, der etwas Groteskes in seinem Vergessensein hatte – aus dem Schweißband stachen die Initialen L. B. in der Nachmittagssonne.

Ein triumphierendes Leuchten eilte durch ihre Augen. »Du kannst jetzt nicht stören«, flüsterte sie und schob den Jungen zurück. »Er macht eine Meditation, verstehst du? Natürlich verstehst du garnichts, du Simpel», fügte sie trocken hinzu.

»Aber der Hut!«

»Was liegt an dem Hut? Doch wenn du nicht wagst, ohne Hut zu gehen, so warte draußen im Garten. Ich habe jetzt keine Zeit.« Sie öffnete ihm die Hintertür und eilte in die Küche. Der Junge, ohne sich zu besinnen, rannte wie eine Katze davon, teilte die Büsche, erklomm die Mauer, welche Gymnasium und Pfarrgarten trennte, und ließ sich auf der anderen Seite – mit Händen und Füßen in dem Gefüge der bröckligen Steine hängend – unbekümmert herab. »Herr Belfontaine kann mich –« murmelte er und spuckte befriedigt aus.

»Nun hat er das Tagebuch also gelesen«, dachte inzwischen die Haushälterin und fühlte ein eigentümliches Ziehen in ihrer Nabelgrube. »Ich kann mir vorstellen, wie es kam. Herr Belfontaine setzte den Hut auf das Buch, bevor er das Zimmer verließ.« [Hier überfiel die Mystikerin eine Regung der Unsicherheit. ›Hehe, mein Täubchen‹, sagte der böse Feind mit der siebenschwänzigen Rute, der sie nachts am Einschlafen hinderte, ›was du gesehen hast, hast du gesehen, und der Hut lag noch still auf dem Boden, als Belfontaine, dieser Rohling, dich an dem Schlüsselloch störte.‹] Fräulein Kindermann riß das Geschirrtuch vom Haken und schlug nach einer Fliege. »Bevor er das Zimmer verließ –« repetierte sie, fest entschlossen, ihre Meinung beizubehalten. »Als der Pfarrer nachher zurückkam, fand er den Hut auf dem Schreibtisch liegen und wendete ihn nach innen, um zu sehen, wem er gehört. Er setzt ihn beiseite, er sieht mein Buch, das der Hut noch eben bedeckte; er stutzt, er blättert es auf . . .«

Eine qualvolle Unruhe packte das Fräulein. Sie rang die Hände, lächelte, seufzte und wiederholte einige Stellen aus ihrem Tagebuch. »Sieh dieses Herz«, sagte Jesus und deutete auf die Seitenwunde, welche von Liebe glühte. Da bemerkte ich, daß aus dem Dornenkranz, mit welchem das Herz gekrönt war, feurige Rosen sprießten. »Jede Rose«, fuhr Jesus fort, »bedeutet ein Gebet in der Art, wie ich es dir beschrieben und von der Genossenschaft, die du gründen und als geistliche Mutter leiten sollst, schon so häufig gefordert habe. Wann endlich gehorchst du meinen Befehlen und rüttelst die lauen Seelen aus dem Schlaf ihrer Lüste empor?«

Fräulein Kindermann blieb vor dem kleinen Spiegel über der Küchenwaage, den das Zugehmädchen, ein eitles Ding, dort aufgehängt hatte, stehen und betrachtete sich verzückt; ihre Augen loderten, Wangen und Hals waren gefährlich gefleckt. »Eben hat Einer an mich gedacht«, sagte sie plötzlich in völlig normalem, beinahe neckischem Tonfall und schob eine Haarnadel, die sich wahrscheinlich bei ihrer Ekstase gelockert hatte, in das Rattenschwänzchen zurück . . .

Dieser Eine, welchen sie unbewußt meinte, lag immer noch mit dem Oberkörper über der Schreibtischplatte; der gipserne Christus am Kreuz des Matthieu sah gleichgültig über ihn fort.

»Was wollt ihr, daß ich euch tun soll?« murmelte er erstickt. Die krampfhaft geballten Hände entspannend, öffnete er die Augen. »Wenn es möglich ist, so erhöre mich nicht«, fuhr es ihm durch die Seele. »Aber du hast mich bereits erhört und wirst mich weiter erhören.« Er seufzte, ein Zittern ging über ihn hin wie der Windengel über den Teich Bethesda, dann bog sich der jünglingshaft klare Mund zu einem Lächeln, das aus der Tiefe unendlichen Mitleids kam. »Mein armer, kleiner Andreas«, flüsterte er mit zärtlichem Ausdruck. »Mein Freundchen –.« Sein glühendes, feines Gefühl, das sich auf jedes Geschöpf nicht schwerer als mit dem Gewicht einer Biene legte, ruhte auf dieser holden Bezeichnung für einen Augenblick aus. »Wie konnte ich deinen Vater in seinem Unglück zurückweisen wollen oder wünschen, daß der andere Vater mein Gebet für dich nicht erhört? Und dennoch mußte ich seinem Verlangen bis zum Äußersten widerstehen . . .«

Wiederum ließ er die Schultern unter der Last des Charismas, das seinen Nacken beschwerte, hilflos heruntersinken – eine Beute der furchtbaren Auserwählung, die mit ihm geboren war.

»Wenn dies Volk nicht Zeichen und Wunder sieht –«, flüsterte er erschöpft. »Aber ich Sünder: wer bin ich, ihm das geforderte Zeichen aus Ungeduld vorzuenthalten?« Er stutzte. »Aus Ungeduld? Nein, ach, nein. Wenn dies wirklich nur heilige Ungeduld wäre, die einen höheren Glauben, eine tiefere Hoffnung als die auf Wunder und Heilungen forderte – aber, so ist es ja nicht. Zwanzig Jahre lang war ich ihr Hirte, und immer noch lebt der Glaube dieser Armen nicht aus sich selbst. Ich bin es: ich ganz allein, der ihnen im Wege steht. Ein Wundertäter, doch kein Erwecker. Einer, der ihnen den Glauben abnimmt, anstatt sie hineinzustoßen.«

Da war sie wieder, die quälende Angst, nur ein Werkzeug des großen Versuchers zu sein, der sein sichtbares Reich auf der Erde hat: Friede, Wohlfahrt, Steh-auf-und-wandle, In meinem Namen, In diesem Zeichen – –.

»Nein, nein! Verschone mich, laß es genug sein mit jenen zwitternden Zeichen, die einander so ähnlich sehen!«

Er zitterte stärker; geistiges Licht, dem siebenten Himmel entwendet, quoll aus der Tiefe des Abgrunds, über den er sich niederbeugte. Legionen von Engeln. Ihr gleißendes Lachen stand wie das Felsengebirge der Landschaft Geresa um alles Fleisch, das in den Ketten des Wahnsinns, mondübergossen, verweste. Eine unübersehbare Menge von Leibern und doch nur ein einziger riesiger Leib, der sich mühte, im Widerschein sphärischer Ströme, gezelteter Strahlen, entfalteter Bahnen reine Bewegung zu werden, um in der Bewegung siderische Zahlen und Hieroglyphen zu zeichnen. Es gelang ihm. Er glich sich in Schlüsselbildern von ungeheuerlich klarer Ordnung dem Wesen der Formel, der nackten Bezüge um ihrer selbst willen an. In schwingenden Staffeln, als pure Gelenke, als Schnittpunkte, Richtungen, die sich beständig, wie eine zitternde Nadel, auszurichten versuchten, ahmte er jenen Gegengott nach, dessen Wonne es ist, seine Kinder mit Licht vom Lichte zu täuschen. Welcher Jubel, wenn ihnen Erkenntnis versprochen, wenn die Ähnlichkeit mit dem Haupt der Vernunft ihnen erreichbar wurde! Welche Güte, welche Herablassung Satans, dem es – außer im Fleisch der Schlange – nicht erlaubt wurde, Fleisch zu werden! Und, ach, welches Ebenbild bis in die Tiefe der teuflischen Trinität . . .

»Wem überantwortest du deinen Knecht?« stöhnte der Pfarrer geblendet. »Wer wirkt, wenn ich wirke? Aus welcher Kraft habe ich Kranke geheilt? Deinen Namen rief auch der Gerasener und wurde von Satan besessen. Kein ›Herr‹ und kein ›Heilig‹, das nicht in der Hölle sein scheußliches Echo hätte . . .« Er versuchte, den inneren Blick zu schließen, indem er das Fenster, von Laubwerk und Schatten eigentümlich umspielt, wieder ins Auge faßte. Aus Pfeifenstrauch, Schneebeere und Jasmin, welche, von Schlingpflanzen überwuchert, von der schlaffen Forsytia geschwächt und erstickt, die zwergisch blühenden Zweige ineinander verschlungen hatten, erbaute sich in dem Wechsel der Formen, den die Bewegung der Lüfte und das Weiterrücken der Sonne hervorgebracht haben mochte, ein schmerzlich wildes Gesicht.

Er schaute es an, und die arme Natur grüßte medusisch zurück.

Ihr Haupt, ein Spiegelbild jenes andern, das den Leib der Vernunft regierte, war von den Schleiern der Mitschuld wie von ziehenden Wolken bedeckt. Sie litt und stieß mit geöffnetem Munde den lautlosen Schrei ihres grünenden Gottes ununterbrochen aus; doch während sie hoch um Erbarmen flehte, entzog sie sich schon der Tröstung und wurde selber zum Trost; von dem gefallenen Geiste getäuscht, war sie zur Täuschung geworden – doch Täuschung und Trost widersprachen einander und hoben das Urleid nicht auf . . .

Mit einer entschiedenen, ruhigen Bewegung legte der Pfarrer, vollkommen klar über das Wesen jener Versuchung, die ihn in beiden Reichen zugleich von der Liebe Christi abscheiden wollte, die Hände um das Kreuz des Matthieu und richtete sich empor. »Tue mit mir, was du willst«, sagte er, während das Doppelgesicht sich auflöste und verschwand.

Entfernter Donner, welcher seit Stunden im Bogen um das Städtchen gegangen und von den Hügeln, die es umgaben, abgelenkt worden war, erschütterte wieder mit murrendem Drohen die sinnliche Atmosphäre; eine Flöte tropfte wie fließender Honig über die Schulhofmauer und schien aus der Mitte des Donners zu dringen, dessen Löwenrücken sich legte. »Speise ging von dem Fresser aus und Süßigkeit von dem Starken«, blitzte es ihm durch den Sinn.

Auf unerklärliche Weise erheitert, raffte der Pfarrer das Rituale, den Katechismus und nebenbei Fräulein Kindermanns »Schule der Mystik« zusammen und blickte zerstreut nach der Uhr. »Die Ministrantenstunde! Der Küster hat hoffentlich angefangen«, dachte er gegen sein besseres Wissen und stürzte aus der Tür.

In der Küche knallte ein Stuhl zur Erde, die Kindermann war schon herausgeschossen und stellte sich ihm in den Weg. »Die Buben sind fortgegangen, Herr Pfarrer«, sagte sie triumphierend. »Als letzter kam Fränzchen Randolf herauf, um Herrn Belfontaines Hut zu holen.«

»Belfontaine?« fragte Mathias verwirrt. »Hat Herr Belfontaine hier gewartet? Das ist mir unangenehm.«

Die Kindermann blickte ihn gleisnerisch an. »Was hätte ich machen sollen, Herr Pfarrer?« fragte sie unaufrichtig. »Herr Belfontaine wollte Sie unbedingt sprechen und hat mich einfach beiseite geschleudert, als ich ihn aufhalten wollte. Ich konnte nicht einmal das Buch vor ihm in Sicherheit bringen.«

»Das Buch? Welches Buch? Fräulein Kindermann?« fragte der Pfarrer verdutzt.

Die Kindermann rückte bedrohlich näher. »Prüfen Sie mich nicht länger«, flüsterte sie in der Ausdrucksweise einer Ekstatikerin. »Seit Wochen ringe ich mit dem Entschluß, Ihnen die Zwiesprache meiner Seele mit dem göttlichen Herzen zu zeigen. Und wenn Herrn Belfontaines stürmischer Eintritt nicht dazwischen gekommen wäre, hätte ich noch im letzten Moment mein Werk wieder an mich genommen.«

Der Pfarrer blickte verstört auf die Bücher, die er links in der Armbeuge hielt. »Ich kann Sie beruhigen«, begann er hilflos.

»Aber nein, Herr Pfarrer! Erröten Sie nicht. Beschämen Sie nicht die Vorsehung Gottes. Was geschehen ist, ist geschehen. Die Stunde mußte ja schließlich kommen, in der sich meine Sendung erfüllt. Ich werde jetzt mit der Gründung der Kongregation beginnen. Die Statuten sind bereits aufgestellt; das heißt, ich will mich natürlich durchaus nicht Ihrer besseren Einsicht verschließen, wenn Sie andere Vorschläge haben.«

Der Pfarrer sah seine Haushälterin mit jenem eigentümlichen Blick geistiger Leere an, von welchem sie ihrer Freundin Maura mit dem Ausdruck: ›er sieht in das Gerstenfeld‹ schon des öftern berichtet hatte. [»Ich glaube wirklich, Frau Oberin«, pflegte sie ihre Betrachtung regelmäßig zu schließen, »daß Hochwürden manchmal nicht ganz bei Trost ist – vorausgesetzt, daß kein Sehfehler vorliegt, der seine Augen entstellt.«]

»Soso – das war also Belfontaines Hut«, sagte er, tief in Gedanken. »Hören Sie«, fügte er rasch hinzu und warf die verschiedenen Bücher auf die Platte eines wackligen Tischchens unter dem Kleiderhaken, »ich laufe schnell hinterher.« Er eilte in sein Zimmer zurück, faßte den Hut und stand im Begriff, das Pfarrhaus, so wie er war, zu verlassen. »Bitte!« sagte die Kindermann spitz und reichte ihm das Birett.

Der Pfarrer fuhr mit dem Ärmel darüber und zog die Brauen zusammen. »Die Ministranten haben wohl wieder Fußball damit gespielt«, bemerkte er resigniert. »Adieu denn –!«

»Und mir hat Herr Pfarrer wirklich nichts anderes mehr zu sagen?« fragte die Kindermann außer sich und fiel, wie immer, wenn die Enttäuschung ihre Hühnerbrust zu zersprengen drohte, bei der Anrede in die dritte Person.

»Doch, doch. Natürlich. Ich möchte gerne . . . ich möchte zum Abendbrot Spargel essen. Neue Kartoffeln mit Spargel. Vergessen Sie es nicht.« Er drehte sich auf der Türschwelle um und lächelte kindlich zurück. »In letzter Zeit war das Essen geradezu miserabel«, brachte er schüchtern hervor.

Keine zehn Minuten danach gab Mathias es auf, den Besitzer des Hutes über den Umkreis von Kirche und Pfarrhaus und die gegabelten Seitenstraßen hinaus weiter zu verfolgen. »Ich kann es mir wohl zusammenreimen«, flüsterte er mit trockenen Lippen, während sich die Ereignisse langsam in seiner Betrachtung verschränkten, »warum sich Herr Belfontaine scheute, noch einmal zurückzukehren. Aber das hilft mir nichts.« Wieder versuchte er angestrengt, das geöffnete Fenster in seinem Zimmer, den Hut auf der Erde und die Verstörung, die über dem Schreibtisch lag, mit Fräulein Kindermanns Auskunft und dem umgestürzten Kreuz des Matthieu in eine Verbindung zu bringen; doch kam er mit dieser Bemühung nicht weiter, als hätte er einen nächtlichen Raum, dessen Läden ringsum geschlossen sind, aufzuräumen versucht. Gewiß: jeder Gegenstand war ihm vertraut, und jenen Stuhl in die richtige Ecke, diesen Spiegel in seinen Haken zu setzen, schien nichts als Gedächtnisgabe zu sein, als Ortsgefühl und das Vermögen, alles zusammenzurücken; doch es gelang ihm nicht. »Diese Dinge haben kein Licht in sich«, pflegte der Pfarrer zu sagen.

Den Hut in der kraftlos hängenden Hand, kehrte er um und nahm, wie schon oft, wenn seine Gedanken fast unvermittelt einen Grad von Hellsicht erlangten, die äußere Welt in Gestalt innerer Formen wahr. Er bemerkte die dumpfe Verlassenheit des Kirchplatzes in der Nachmittagssonne, vielmehr die Verlassenheit an und für sich als den Seelenzustand der Schöpfung, und hatte wieder den seufzenden Ton des Pferdekummets im Ohr, als der Wagen sich in Bewegung setzte und diesen Platz mit dem Eindruck der Räder in alter Trauer zurückließ. Wie waberndes Feuer wellte die Hitze in der stehenden Luft auf und nieder; doch während sie noch am Vormittag trocken und gewichtslos gewesen war, hatte nun die eingedrungene Feuchte ihren Strahlenkörper gleichsam verflüssigt und aus dem Zustand der Atmosphäre in die Welt der Erscheinung getrieben; es war die Stunde vor dem Gewitter, wo Spiegelungen, Naturgesichte, zentaurische Mischformen, phallische Zeichen sich zu versinnlichen suchen; wo der Glaube wankt, das Fleisch triumphiert und die Engel das Haupt verhüllen.

Beim Dahingehen, während er ohne Erstaunen die Zwischenwelt dieser Phantasmagorien mit geöffneten Augen durchschritt, sah der Pfarrer sich von allerlei Volk in Knöchelhöhe umgeben; von teuflischen Nichtsen aus Nun und Nie, die ihre Ohnmacht unter der Drohung gehäufter Merkmale zu verbergen und auszugleichen versuchten: sie waren doppelköpfig, geschuppt, aus Tier und Mann zusammengesetzt, von Gliedmaßen wimmelnd, bald reines Geschlecht, bald spinnenbeiniges Haupt. Der Kirche abgekehrt, schienen sie gleichsam den verborgenen Weg zu bezeichnen, den ein Mensch soeben genommen hatte – doch da sie endigten, wo der Bannkreis der Kirche zu Ende sein mochte, verlief sich dieser innere Weg in seinem eigenen Dunkel und fand sich selbst nicht mehr auf.

»Ich bringe den Hut in die Sakristei«, dachte der Pfarrer entschlossen. »Und sollte ihn noch vor dem Hochamt am Sonntag Herr Belfontaine abholen wollen, so weiß der Küster Bescheid.«

Er betrat die Stufen, zwei sphinxhafte Wesen mit Flügeln an den Schultern, die rechts und links von dem Eingang saßen, zerfielen vor ihm in Staub; als er sich umdrehte, war der Platz wieder so vollkommen einsam, wie er vorher gewesen war, und von kleinem, schwärzlichem Kot über und über bedeckt. »Das also ist dein Manna«, sagte der Pfarrer mit leisem Lächeln zu seinem Widersacher. »Süß wie Honig und schön geformt wie Koriandersamen.« Dann war auch dieses vorbei. Er ging in die Kirche und kniete nieder; seit der Frühmesse – und obgleich eine Nonne; als der Kerzenrauch noch in der Luft stand, auf dem Heimweg von Esselborns Haus ihr Herz dort entlastet hatte – geschah es wieder zum ersten Mal, daß jemand hier betete . . . .

Diese Nonne, die Oberin Maura, eine ungeheuerlich dicke Frau, welche die Nachtwachen schlecht vertrug, obwohl sie seit vierzig Jahren, wie sie sagte, ihr tägliches Brot waren, hatte sich mit dem bestimmten Gefühl, heute auf keinen Fall mehr den versäumten Schlaf nachholen zu können, von der Kirche sofort auf ihr Zimmer begeben und einer Novizin befohlen, ihr die Wirtschaftsbücher zu bringen. Die kleine Eustachia, ein dumm-schlaues Ding, das vor kurzem noch »Elsbeth« hieß und diesen Namen auf hundert Meter durch die schwarz-weiße Nonnentracht schwitzte, führte den Auftrag der Oberin mit jenem gefrorenen Lächeln aus, hinter welchem sich ihre Verwunderung über die fremde Umgebung verbarg, über die Tatsache, daß man den Kochfisch nur mit der Gabel verspeiste und die Hände vor jedem neuen Verband in eine Lysollösung steckte.

»Ich habe den Preiskatalog der Kliniksachen gleich mitgebracht«, sagte sie pfiffig und wartete ab, ob sie die Oberin wieder als Rechenmaschine gebrauchen und hierzubleiben veranlassen würde; ihr rundes, rotes Radieschengesicht platzte schon vor Bereitschaft, in der hochgebuckelten Schulmädchenstirn stand eine senkrechte Falte.

»Geh hinaus und nimm das Zeug wieder mit!« sagte die dicke Maura grob. »Nein, laß es hier. Bring mir Kaffee, verstehst du? Zwei Mäßchen Bohnen auf eine Kanne. Und unterstehe dich nicht, noch einmal in deinem Leben eigenmächtig zu handeln.«

Als die Kleine mit dem Kaffeegeschirr nachher wieder herauskam, sprudelte sie heraus: »Sie werden es mir nicht glauben, Schwester Immaculata, wie ich Ehrwürden Mutter antraf. Auf der Erde Papier, auf dem Bett Papier, zusammengeknüllt und mit Ziffern, so groß wie mein kleiner Finger, kreuz und quer überschrieben. Ehrwürden Mutter dazwischen, den Kopierstift wie einen Knochen im Mund, blaue Schmierflecken unter der Nase, kch, kch, wie ein Schnurrbärtchen, sage ich Ihnen; in der linken Hand ihren Rotstift und rechts einen Federhalter, kch, kch, oder war es ein Bleistift, ich weiß es nicht mehr genau. Der Kaffee, sage ich. Meine Güte: sieht sie mich doch mit den schwarzen Augen, als wollte sie mich auffressen, an; läßt die Stifte fallen, ballt ein Papierblatt und wirft es mir an den Kopf; dann noch eines gegen die Kaffeekanne und ein anderes auf das Tablett. Ich bleibe ruhig stehen und denke: sie will meine Demut prüfen, aber ich glaube, in Wirklichkeit hat sie mich überhaupt nicht bemerkt, sondern nach irgend etwas geworfen, das sie im Nachdenken störte. Mit einem Mal hört sie zu werfen auf und sagt: du bist meine gute Tochter. Lauter gute Töchter seid ihr, und ich bin eure Mutter. Alles für euch! Und schlägt mit der Faust auf die Bücher, zieht einen Schlüssel aus ihrer Tasche und schließt eine Schublade auf . . . Schwester Immaculata, Sie werden es mir nicht glauben: mein Großvater hatte so einen Strumpf unter dem Kopfkissen liegen, aber halb so gespickt wie dieser. Daneben lauter gebündelte Päckchen, ich denke, ich werde blind. Nur nicht auf eine Sparkasse, sagt sie. Alles Schwindel, alles Betrug. Da muß der Bock mich gestoßen haben, Schwester Immaculata. Aber die Zinsen, Frau Oberin? getraue ich mich, zu fragen. Ehrwürden Mutter, mit einem Ruck, erhebt sich, schiebt ihren Stuhl zurück und kommt wie ein feuerspeiender Berg geradenwegs auf mich zu. Zinsen? schreit sie. Du unterstehst dich, dieses Wort in den Mund zu nehmen? Zinsen! Und du willst Armut geloben? Den Pfiffen der Welt und den Schlingen des Teufels unter feierlichem Gelübde entsagen? Zinsen! Warum nicht gar spekulieren und Wuchergeschäfte betreiben? Meinen Rosenkranz möchte ich dir um deine Mausohren schlagen! Sie hält einen Augenblick inne und sagt: Du liebst wohl das Geld, Eustachia? Nein? Aber du denkst, deine geistliche Mutter liebt es über die Maßen? Sieh mal her, meine Tochter. Sie bindet den Sparstrumpf im Handumdrehen auf und schüttet ihn auf die Erde. Da! schreit sie. Da! So liebe ich es! Und tritt es unter den Betstuhl, unter den Schrank, das Bett, die Kommode – ich zittere jetzt noch wie Espenlaub, wenn ich davon erzähle. Für jedes Geldstück bückst du dich einzeln, sagt sie plötzlich mit ruhigerer Stimme. Das soll deine Buße sein. Wenn dir der Rücken dann ordentlich wehtut, wirst du die richtige Liebe zu diesem Teufelsdreck haben . . .«

Bis hierhin erzählte Schwester Eustachia und fügte abschließend noch hinzu: »Wissen Sie, Schwester Immaculata, voriges Jahr, ein paar Wochen früher, habe ich Bohnen gelegt. Unsereinem macht das nichts aus.« |

Was sie hingegen sorgsam verschwieg, war der Umstand, daß ihr die Oberin kaum fünf Minuten danach bereits befohlen hatte, das Geld mit dem Besen zusammenzukehren. »Ich merke schon, daß dein ganzes Geschwätz auf purer Dummheit beruht«, hatte sie liebenswürdig gesagt. »Aber Dummheit ist keine Sünde. Übrigens kommst du nicht mit den Armen unter den Schrank, Eustachia. Wenn du fertig bist, zähle sorgfältig nach. Es müssen auf Heller und Pfennig 580 Mark sein.«

Etwas später, nachdem dies getan war, versuchte die Oberin, in dem Lehnstuhl ein wenig einzunicken; sie war nun so gründlich erschöpft, daß sie glaubte, die Anfechtung dieser Nacht in Esselborns Krankenzimmer endlich vergessen zu können. Es gelang ihr auch und so gründlich, daß sie die Stunde versäumte, zu der sie aufwachen wollte. Sie schlief noch, als sich Herr Belfontaine in der Grabengegend verirrte und die merkwürdig wilde Begegnung mit der Walfischforelle hatte, wo über das Schicksal der Kirchenwäsche und die Entzweiung der Nonnen mit dem Pfarrer verhandelt wurde; sie schlief, als der rappelnde Leiterwagen mit den geängstigten Bauern über das Pflaster rollte; sie schlief und schlief, als die Kindermann den Besucher, da er den Fuß vorsetzte, mit einem Toten verwechselte, der morgen beigesetzt werden sollte – und erst, als die Schlafesdecke begann, da und dort aufzureißen, als der geile, spitzige Wasserdost ihrer untergegangenen Wünsche aus der träge ziehenden Traumesflut ragte und die Algenwälder unter dem Spiegel immer klarer zutage traten, trieb die Erinnerung alles, was sie verdrängen wollte, in Gleichnisgestalten empor:

Sie sah den keuchenden alten Mann in Kissenbergen sitzen, die sich, je mehr sie sie rüttelte, klopfte und niederzulegen versuchte, um so höher und höher türmten, indessen der Kranke, von Herzangst gepeinigt, sich, was er nur immer zu fassen bekam, hinter den Rücken stopfte: Daunenbälle, mit dicker Wolle in kreischenden Farben umhäkelt, Erbauungsbücher, fettige Bände der gesammelten Jahrgänge einer Zeitschrift, die den Titel trug ›Über Land und Meer‹, Patentmedizinen, Kamelhaarpantoffeln und – abwechselnd – wenn gerade die Nonne die gefüllte Bettpfanne eilig heraustrug, die Urinflasche, doch wenn die Urinflasche voll war, die gesäuberte Stuhlgangpfanne . . .

»Komm, Väterchen!« sagte die Maura im Traum und versuchte, ihm das Uringlas mit sanfter Gewalt zu entwinden. – Da bemerkte sie plötzlich, daß alle vier Wände des Krankenzimmers gleichfalls aus Glas und draußen von sämtlichen Töchtern ihrer Kongregation, Gesicht an Gesicht, umgeben waren. Ganz vorne stand die kleine Eustachia und drückte das unverschämt spitze Näschen gegen die Spiegelscheiben; ihre Augen und die der anderen Nonnen waren weit aufgerissen und schienen den Ringkampf zwischen dem Alten und ihrer geistlichen Mutter mit »gespannter, ja leidenschaftlicher Angst unter Zurufen zu verfolgen. Diese Rufe selbst waren nicht zu verstehen, weil das dicke Glas sie nicht durchließ, doch feuerte jenes lautlose Schreien sie zu immer größerer Kraftentfaltung um den Besitz der Urinflasche an, die der Alte verteidigte. Einer riesigen grünen Heuschrecke ähnlich, saß er mit angezogenen Knien auf seinem zerwühlten Lager und wehrte die Oberin bald mit den Kissen, den Schlummerrollen, den Büchern ab; bald stülpte er, während er kämpfte, eine fleckige rote Mütze, der Fingerhutblüte vergleichbar, auf seinen nackten Schädel, die ihm zehnfache Kraft verlieh. Die Oberin warf sich mit ihrem ganzen Gewicht über den zappelnden Kranken, der immer noch seine Flasche . . . nein, nicht mehr die Flasche, sondern ein Schriftstück mit der Aufschrift »Amtsgericht A.« krampfhaft festzuhalten versuchte.

»Das Testament! Gib es her . . . gib es her . . !« keuchte sie aufgeregt. In diesem Augenblick wendete plötzlich eine unsichtbare, luftige Hand das oberste Blatt herum, und mit klaren, zollgroßen Lettern stand die heilige Regel der Kongregation vor ihren entsetzten Augen.

Gleichzeitig sank die gerichtete Nonne in einen Bettenabgrund. Sämtliche Kissen, die sie geschüttelt, Zudecken, die sie zurechtgeschoben, Plumeaus, die sie jemals aufgeklopft hatte, wälzten sich über sie hin. Sie versuchte, mit Händen und Füßen die Kissen abzuwehren, und fühlte sich immer tiefer, wie ein Mensch in Moorgrund, in diese dicke, erstickende Daunenhölle geraten, die sie hinunterwürgte. Sie wollte schreien, doch ihren Lippen entrang sich nicht ein einziger Laut, bis sie endlich mit einem dumpfen, langgezogenen Heulen schweißübergossen erwachte . . . Ihr Herz ging rasend, in ihren Augen, die, trostlos und schwarz wie die Nacht, aus dem wachsbleichen Antlitz starrten, stand das Entsetzen des Traums. Es war unerträglich schwül in dem Zimmer, dessen Fenster hermetisch verschlossen waren. Eine Brummfliege raste immer von neuem blindlings gegen die Scheiben; der kurze knallende Ton, den der sinnlos getriebene Körper im Anprall verursachte, mochte das Bild jener Nonnen, die sich hart an die Glaswände drängten, unwillkürlich hervorgebracht haben.

Die Oberin krampfte die Hände um beide Sesselstützen und beugte den schweren Körper wie ein Mensch, der in sich hineinlauscht, vor. Ihrem starken Gesicht, dessen flatternde Lippen mit Stoßgebeten beschäftigt waren, prägte sich mehr und mehr jener Ausdruck unerträglichen Starrsinns, vulkanischer Wut und verzehrender Herrschsucht auf, der ihm zu eigen war; gleichzeitig aber schien diese Kraft, deren Wesen es ist, in die Welt zu drängen und den Widerstand ihrer Umgebung ohne Hemmung zu unterwerfen, im Kampf mit sich selber zu liegen; ja, mehr noch: der eignen Natur gerade entgegen zu sein. Denn während sich noch jene furchtbaren Züge eines lebensmächtigen Menschen mit rasender Schnelligkeit steigerten, so daß man den prächtigen Ausbruch entfesselter Triebgewalten erwarten zu können glaubte, trat unbegreiflicher Weise das Ganze schon unter ein neues Gesetz.

»Mein Jesus, Barmherzigkeit!« stöhnte die Nonne und trommelte mit geballten Fäusten unausgesetzt und ihr selbst nicht bewußt auf die zitternden Sesselstützen. »Süßes Herz Jesu, sei meine Rettung! Sei mir nicht Richter, sondern Erlöser!« Sie sagte her, was ihr einfiel; mit jedem Satz, den das dumpfe Trommeln, von dem tauben Plüsch des Sessels erstickt, als ein peitschender Wirbel begleitete, zog sich, wie eine marschierende Truppe, der Andrang ihrer verwilderten Wünsche in voller Ordnung zurück. Sie gehorchten; Befehl stand unter Befehl, und keiner meuterte. Mit einer letzten jähen Bewegung riß die Oberin ihre geballten Fäuste an den mächtigen Körper zurück und hämmerte wie zum Abschluß auf die heftig wogende Brust. Ein barbarisches, stilles Gelächter verklärte ihre Züge; schon ließ der Genuß des errungenen Sieges den Triumphator vergessen, welchen Preis er dafür bezahlte.

»Fort!« sagte die Nonne mit dem Gefühl, diese Walstatt verlassen zu sollen, bevor die Geister der Überwundnen ihren Kampf in den Lüften fortsetzen würden; denn daß sie es täten, war sicher und machte ihr Wesen aus. Sie kannte sich – oh! . . . Im nächsten Moment war die Oberin auf den Füßen; sie hatte die staunenswerte Gewandtheit unheimlich dicker Personen, die sich rollend vorwärts bewegen.

Indem sie die Zimmertür öffnete, donnerten ihre Befehle schon in den Hausflur hinein. Die Küchenschwester flog ihnen entgegen und machte zur Unterstützung ihres mangelhaften Gehörs den Mund, so weit es nur anging, auf. »Zum Essen, hä? Oder nach dem Essen?« wiederholte sie, was sie soeben verstanden zu haben glaubte.

»Ich habe nichts von Essen gesagt«, brüllte die dicke Maura. »Aber natürlich will ich erst essen, bevor ich zu Belfontaines gehe.«

Die Küchenschwester nickte erleichtert. »Ja, freilich war der Hering gewässert«, sagte sie guten Willens. »Genau wie Frau Oberin es bestellte. Und grüne Bohnen dazu.«

Die Oberin Maura, mit schallendem Lachen, ließ sich auf eine wackelnde Bank, die in dem Hausflur stand, nieder. »Na, so gebt mir mal von dem Heringschwanz«, sagte sie gut gelaunt.

»Von der Gans? Frau Oberin hat wohl vergessen –«, stotterte, unglücklich über sich selbst, die arme Küchenschwester.

»Schon gut.« Die Oberin winkte ab und rollte in die Küche. Die taube Nonne schöpfte ihr aus und warf eine Decke über den Tisch, an welchem ihre geistliche Mutter, wenn die Umstände ihr verwehrten, am gemeinsamen Mittagsmahl teilzunehmen, ihr mehr als bescheidenes Essen, »im Sprung«, wie sie selber sagte, herunterzuschlingen gewöhnt war.

Heute aber wollte sie nicht mit irgend einem Menschen, und sei es auch nur die taube Dolores, beim Essen zusammensitzen. Sie nahm ihren Teller, trug ihn hinaus und setzte sich, sehr zum Ärger der Nonne, auf die ächzende Bettlerbank; obwohl kein Tag verging, wo die Schwestern dieses Möbelstück nicht mit heftigen Laugen und scharfen Lösungen aller Art gebürstet und übergossen hätten, haftete ihm der durchdringende Duft der unfreiwilligen Armut hoffnungslos hartnäckig an. Aber die Oberin, peinlich zu sagen, liebte ihn, diesen Geruch aus kräftig verschwitzten Lumpen, die in Regen gekommen, durchnäßt und wieder trocken geworden waren; diesen unverbesserlich bösen Duft »ihrer Leute«, wie sie zu sagen pflegte, und womit sie unterschiedslos die Kinder der traurigen Wagenfamilien, denen die Mutter den Scheitel mit ranzigem Nußöl zu glätten bemüht ist, die Landstreicher, welche aus allen Poren nach billigem Fusel stinken, und die elenden, alten Weiber meinte, die hinter der vorgehaltenen Hand Kaffeebohnen zerkauen . . .

Nun gut, da saß sie, erschöpft und zufrieden, die großen staubigen Schuhe wie ein Wandersmann von sich gestreckt, und hatte nicht acht, was sie aß; man hätte ihr Küchenschaben in Brühe als Krebssuppe vorsetzen können, ohne daß sie es merkte. Auch von der Maigans, deren Erwähnung die taube Dolores gehört haben wollte, von diesem kostbaren jungen Mastvieh, das Frau Belfontaine gestern, gefüllt und gebraten, der Oberin zugeschickt hatte, war dieser wenig mehr als ein schlechtes, verhutzeltes Stückchen vom Bürzel und ein Löffelchen Apfelbrei zugefallen, obwohl ihr die Spenderin eigentlich alles, zumindest aber das Beste, davon wollte zukommen lassen. Doch die Oberin, weit entfernt, diese Absicht zu würdigen, hatte verdrießlich mit ihrer Gabel im Teller herumgestochert. »Eßt mal«, hatte sie mürrisch gesagt. »Ihr wißt doch, ich mache mir gar nichts daraus. Aber wenn noch ein bißchen Sauerkohl da ist –.« Daß sie sich »gar nichts draus machte«, war nicht einmal gelogen; von Natur aus wenig geneigt zu gutem Essen und Trinken, hatte die dicke Mutter asketisch die letzte Gaumenlust, die sich noch regte, durch vierzig Jahre hindurch bekämpft, ohne sie freilich ganz überwunden und ausgerottet zu haben. Noch immer hatte sie eine stille, unausgesprochene Liebe für die Kruste am Schweinebraten, die weiße speckige Haut an der Oberseite der Dampfnudel, ach, und – lächerlich, es zu gestehen – für die kleinen Zuckereier an Ostern, diese hellroten, goldgelben, graugrünen Dinger, mit süßem, klebrigem Saft gefüllt, die sonst nur Kindern behagen. Aber trotzdem mußte sie sich für die Maigans und einiges andere noch bedanken, überlegte die Oberin. Gut, gut. Bei dieser Gelegenheit –. Umgekehrt wäre es richtig gewesen, denn die Gelegenheit war das erste, woran die Oberin dachte, als sie sagte: ich muß noch zu Belfontaines; an die Gans, meine Güte, wer denkt an die Gans, wenn er nichts als den Bürzel hatte? Schnöde herausgesagt: was sie wollte, war gar nichts andres als betteln; feiner umschrieben: »Das Jesuskindchen kommt heute auf Kundschaft – was verdirbt denn wieder im Laden?«, wie die stehende Redensart hieß.

Die Oberin grunzte befriedigt und kratzte den Teller aus. »Wir danken dir, o Herr, für diese deine Gaben . . .«. Sie lief in die Küche und stürzte ein Glas eiskalten Wassers hinunter. »Die Eustachia soll auf der Stelle zum alten Esselborn gehen. Bis zum Abend bin ich wieder zurück. Verstanden?« dröhnte sie wie eine Tuba der armen Dolores ins Ohr.

Wenn sie freilich geahnt hätte, daß sie heute Herrn Belfontaine, »diesem Ekel«, würde begegnen müssen, hätte die Oberin höchst wahrscheinlich ihren Besuch verschoben; durch den Schlaf und das späte Mittagessen in ihrem Zeitgefühl gründlich verwirrt, glaubte sie ihn jedoch noch immer bei seinen »Saufkumpanen«, wie Frau Maura die Herren der Runde ein für allemal zu benennen liebte. Daß die dicke Mutter Herrn Belfontaine, wie an dem Ausdruck »Ekel« ersichtlich, nicht sonderlich leiden mochte, hatte außer dem einfachen Grund: »Ich kann diesen Kerl nicht riechen«, – sehr verständlich, wenn man die Duftvorliebe der guten Maura für Fusel und Nußöl im Gegensatz zu Herrn Belfontaines feiner, nach einer besonderen Mischung von Juchten und Lavendel riechenden Atmosphäre, gehörig berücksichtigte – eine weitere und recht muntere Quelle, aus welcher ihr Vorurteil Nahrung zog: nämlich Herrn Belfontaines striktes Verbot, daß Elfriede die Kinderschule der Nonnen noch länger mit ihrem Besuch beehrte, nachdem es einwandfrei feststand, daß sie dort Läuse geerbt und weitergegeben hatte. Läuse! Die Oberin lachte verächtlich, indem sie den uralten, schmalen Reuel zum Roßmarkt herunterrollte. Läuse! Was wollten schon Läuse bedeuten? Ein Petroleumwickel, und fertig. Jede läßliche Sünde war schlimmer. Und wer würde Herrn Belfontaine übrigens glauben, daß seine Vorväter diese Tierchen noch niemals beherbergt hätten? Auf dem Kopf, in den Kleidern und zwischen den Zehen, dachte die dicke Mutter erbost, wird man die Spezies gefunden haben, so wahr ich Maura heiße. Aber natürlich: gebranntes Kind – sie wollte sagen: »gebissenes Kind« und kam mit ihrem Vergleich nicht weiter, so sehr sie sich auch bemühte. Am meisten dauerte sie natürlich, dachte die Nonne in redlicher Täuschung, die arme, kleine Elfriede. Sie hatte so hübsch mit den andern gespielt und den Milchbecher ausgetrunken . . . Aber nein! eine dreckige, schwarze Laus, unterm Daumennagel wie nichts zu zerdrücken, hatte das alles zerstört.

»In Ewigkeit, Amen!« sagte Frau Maura und brachte, während der Roßmarkt sie aufnahm, ihre große weiße Altweiberhand gedankenlos aus dem Rock. Verschiedene Kinder, welche, Sandflöhen ähnlich, um eine Kuhle hockten und die Nonne schon aus der Entfernung mit: »Gelobt sei Jesus Christus!« begrüßt und, ob katholisch, ob evangelisch, mit diesem Gruß ein verbrieftes Anrecht auf den Inhalt von Mauras Taschen erworben zu haben glaubten, liefen herbei und holten die Finger aus ihren schmutzigen Nasen, um sie der Oberin darzubieten und ein Heiligenbildchen dafür zu ernten: das »Herz-Mariae« zum Beispiel in einem Oval aus Spitzen; ein Häuschen von Nazareth, aufzuklappen, innen geschleckt und geleckt; einen Josef, einen Antonius, die man hinterher austauschen konnte. Das schönste freilich sollte Elfriede, dieses Kind eines Rabenvaters, erhalten und das zweithübscheste seine Mutter, die gleichfalls – und gleichwohl als besseres Mädchen – die Spielschule ihres Klosters besucht und Läuse bekommen hatte, ohne daran zu sterben.

Als die Nonne jedoch um weniges später den Belfontaineschen Laden betrat – übrigens war es nicht richtig, ihn den Belfontaineschen zu nennen, denn erstens sagten die Leute noch immer: »Lauf mal zu Schweickerts hinüber und hole dies oder das!« und zweitens wäre es keinem Menschen von ferne eingefallen, den eleganten Herrn Belfontaine mit Heringsfässern, gestoßenem Zucker und Salatöl zusammenzubringen; höchstens, daß man ihn hinter den Büchern und auf dem Kontorschemel wußte – als die Nonne daher, wie gesagt, den »Schweickertschen« Laden betrat, war jedoch weder Frau Belfontaine, noch Elfriede dort zu entdecken. Schnurstracks ging sie durch den Verkaufsraum und anschließend durch das große, in Art der römischen Weinbergsmauern aus flachen, gemörtelten Ziegeln erbaute Warengewölbe und bemerkte zu ihrer Erleichterung, daß das Comptoir, dessen Fensterglas einen Blick in sein Inneres zuließ, vollkommen einsam und leer war. Dann stand sie vor dem Wohnungsabschluß: einer schweren Barocktür mit Messingklopfern, die aus Belfontaines Vaterhaus stammte und nach dem Tode des alten Herrn Schweickert hier eingesetzt worden war.

Die dürre Berta öffnete ihr mit den landesüblichen Redensarten und wies sie nach dem Garten, aus dem die Stimme Frau Belfontaines und der kleinen Elfriede drangen. Sie waren einander lächerlich ähnlich und hatten den gleichen arglosen Klang aus vogelhaft klarer Kehle; nur daß dem Tonfall des Kindes manchmal ein Hauch von Trauer und Dunkelheit beigemischt war, der Frau Belfontaine vollkommen fehlte.

»Schwester Maura«, rief Elfriede entzückt, als die Oberin, rund wie ein Regenfaß, auf der Gartentreppe erschien. »Meine Läuse sind alle schon fort!«

»So? Na, das wollen wir doch einmal sehen«, dröhnte die Nonne erheitert. »Hast du Stricknadeln bei dir, Elisabeth?«

Frau Belfontaine fuhr in die Taschen der Schürze, deren hellblaue Schulterflügel ein zartes, merkwürdig strenges Gesicht umrahmten, das nur durch die Löckchen über der Stirn ein wenig gemildert wurde, und sagte entschuldigend: »Hinten, am Gnom, ist mein Strickzeug liegen geblieben.«

Dieser Gnom, ein Gärtner aus Muschelkalk, der das eine Bein auf sein Grabscheit setzte, während das andere bis zum Knöchel in dem üppigen Rasen steckte, betrieb seinen Dienst zwischen Grottensteinen, welche am Rand des Goldfischbassins einen malerischen Prospekt abgaben und so üppig wie Moosplüsch bezogen waren, daß man sie an idyllischen Tagen als Hocker benutzen konnte. Herr Belfontaine pflegte daher diese Stelle seiner unbekümmerten Art gemäß den »Freiluftsalon« zu nennen und hätte mit jenem Gefühlspanorama aus Frau Elisabeths Kinderzeit schon lange kurzen Prozeß gemacht, wenn nicht Elfriede ihr Eigentumsrecht und das feurige, reine Gefühl eines Herzens, das den Ursprung der Götter auch in Gestalt einer Gartenfigur aus Muschelkalk nachzuerleben vermag, entschlossen verteidigt hätte. An diesem traurigen Vormittag nun, wo sie den Fingern der hageren Berta, die sich heftig über Elfriedens mangelnden »Trieb« für Handfertigkeiten bei der Mutter entrüstet hatte, eben entronnen war, hatte sie sich – wie gewöhnlich, wenn die Wirklichkeit sie enttäuschte – hinter dem Rücken des Vaters zu ihrem Freund geschlichen; von Herrn Belfontaine nicht beachtet, war sie, während sie scheinbar bemüht war, mit einem Stöckchen den Vogelschmutz von dem Zwergenhut abzukratzen, unfreiwilliger Zeuge seiner Selbstgespräche geworden und hatte, obwohl sie nicht das geringste von ihrem Inhalt verstand, das Korn eines Zwiespalts empfangen, nicht größer als Wegerichsamen, aber ebenso wetterhart. Sie hatte den Vater das Pferdelos in der Gartenkugel verbergen sehen und sein Geheimnis geteilt; ja, mehr noch: sie selbst war ein Teil dieses Mysteriums geworden und fühlte, daß sie um keinen Preis ihr Wissen hergeben würde.

»Na, nun komm mal, Elfriede, und lege den Kopf schön brav in meinen Schoß«, sagte die Oberin in dem Tonfall, den sie anwandte, wenn sie ängstlichen Kindern eine bittere Medizin einflößte, und nahm auf dem größten der Grottensteine mit behaglichem Seufzen Platz; ergriff zwei Stricknadeln, rückte den Kopf des niedergekauerten Mädchens auf ihren breiten Knien zurecht und begann genußvoll, Strähne um Strähne des kupferbraunen Haares zu teilen, das durchdringend nach Erdöl roch. »Ei, ei, da hängt ja noch – nein, das sind Schuppen . . . aber sollte das nicht eine tote Laus – – wahrhaftiger Gott, diese Nisse hier hat die Packung gesund überstanden«, murmelte sie vor sich hin. »Nicht zu glauben, wie zäh diese Rasse ist . . . ja, ja, meine Tochter, ja, ja.«

»Ich gehe rasch einmal in den Laden und mache Ihnen dort ein Paket für die Küche zurecht, Frau Oberin«, sagte Elisabeth freundlich. »Wir haben auch eine neue Sorte von Suppenwürfeln bekommen. Und wie steht es mit Kaffee und Tee?« Sie entfernte sich eilig, die leichten Schritte knirschten über den Kies und verloren sich in dem Gras.

»Warte doch«, brummelte wieder die Nonne und drückte Elfriedens Kopf herunter. »Wir sind noch lange nicht fertig. Wenn du geduldig bist, kriegst du ein Bildchen – du kannst dir nicht denken, wie schön.« Sie stocherte unentwegt weiter; jedesmal, wenn sie die Nadeln abnahm, um sie an einer anderen Stelle des Kopfes niederzusetzen, summte sie in der Kehle; dieses Summen glich dem Geräusch der Biene, die von Blüte zu Blüte fliegt. »Ein Sammetbildchen«, begann sie wieder. »Mit Goldspitze rings herum. Doch nur, wenn du stillhalten kannst.«

»Ich schwitze aber, Frau Oberin«, sagte Elfriede kläglich. »Und mein Kopf fängt wieder zu jucken an, als ob ich Läuse hätte. Darf ich ihn wenigstens einmal auf die andere Seite legen?«

»Meinetwegen«, knurrte die Nonne und begann, die angefeuchteten Locken etwas flüchtiger abzusuchen; dabei verstärkten sich ihre Gespräche und galten jetzt nicht nur den Läusen allein, sondern dem Herrn aller Plagen selber: Beelzebub, Fliegengott, Dämon der Herden, welche blökend über das Land hinirren, während die Stare ihnen den Pelz mit geduldigen Schnäbeln belesen; dem Herrn der Insekten, der Bremsen und Brummer, der Blutsauger und der Heuschreckenschwärme, die über die Felder fallen.

»Das alles kommt von der Erbsünde her«, sagte sie in beschwörendem Ton und knickte eine Nisse. »Darum ist es so dauerhaft.« Mit dem Anschein äußerster Seelenqual und innerer Bedrängnis stieß die Oberin plötzlich die Nadeln in den Wolleknäuel zurück und kratzte sich heftig die Hand. »Ich werde heute noch Geld bekommen«, sagte sie vor sich hin. »Sicher werde ich Geld bekommen, sonst juckte der Daumenballen mich nicht.«

Wie besessen fuhr sie zu kratzen fort und blickte dabei die kleine Elfriede vollkommen ausdruckslos an; das Kind gab ihr schweigend den Blick zurück und betrachtete sie mit versunkenen Augen, in denen sich gleichzeitig eine Neugier, wie Wasser in einem sich füllenden Teich, anzusammeln begann.

»Warum starrst du denn so – dummes Ding?« fragte die Oberin unbehaglich; ihre Glieder, betäubt von der Wiederkehr des ruhelos schleichenden Wetters, welches nun, ohne doch mehr als den Blattstiel im Espenlaub aufzuspulen, sich mit riesiger Schnelligkeit näherte, waren schwer und fühllos wie Blei.

Das kleine Mädchen blinzelte boshaft, ohne den Mund zu öffnen.

»Ach so, du wartest wohl auf dein Bildchen?«

Keine Antwort . . .

»Na ja, sieh mal her!« Sie kramte das Heiligenbild aus der Tasche: ein Krippenkindchen auf samtenen Kissen, das eine Schütte aus Weizenähren mit Goldgrannen vorstellen sollte.

»Danke«, sagte Elfriede artig und fuhr mit dem kleinen Finger über den Sammetbuckel.

»So ein Krippchen, siehst du; ja, so ein Krippchen müßte das Jesuskind haben«, stöhnte die Maura voll schmerzlicher Wollust und wiegte das kleine Mädchen wie verrückt auf den breiten Knien. »Und ein seidenes Hemdchen, mit Sternen besetzt, würden ihm die Novizinnen nähen – –«. Sie verdüsterte sich, eine Träne lief ihr die Wange herunter. »Zuerst das Kapellchen«, sagte sie zornig. »Und für das Kapellchen das Geld. Ohne Geld gibt es gar nichts: keinen Altar, keine Krippe, kein Kreuz und kein heiliges Grab. Nichts, garnichts ohne Geld!«

»Aber du hast doch eben gesagt, daß du heute noch Geld bekommen wirst, Maura?« zirpte Elfriede mit dünner Stimme und sah sie aufmerksam an; ihr Gesichtchen, bar jedes kindlichen Ausdrucks, war wie von älterer Haut überzogen und zuckte, unruhig unter der hüpfenden Spindel eines Weberschiffchens, das Faden um Faden in ihrem Gedächtnis schlug.

»Ja, ja – ich müßte mich nur darum kümmern«, gab die Oberin ihrem Versucher in Kindergestalt zur Antwort und faßte den Muschelkalkzwerg ins Auge, der seit ewigen Zeiten mit schläfrigem Lächeln den Fuß auf das Grabscheit setzte, ohne es niederzutreten. »Ein wenig Vorsehung spielen«, fuhr sie im Flüsterton fort. »Nur ein ganz kleines bißchen, verstehst du?«

»Was ist Vorsehung?« fragte Elfriede laut.

»Nun – wenn dein Vater ein Testament macht, worin geschrieben steht: so und so viel soll dem und jenem gehören. Ein Blättchen Papier und den Namen darunter – dann kann nach dem Tod deines Vaters nicht das Geringste passieren.«

»Aber vorher muß er das Blättchen verstecken?« fragte das Kind mit geweiteten Augen und krallte die Finger wie eine Furie um den Gürtel der Oberin.

»Nun, manche Leute verstecken es auch«, sagte die Nonne verwundert. »Aber willst du mich denn nicht loslassen, he?« fuhr sie ärgerlich fort und versuchte, die Krällchen von ihrem Gürtel zu lösen; das Kind, wie rasend, duckte sich nieder und biß die Oberin plötzlich in ihre fleischige Hand . . .

»Du Böse! Böse!« fauchte es wütend, während sein Körper von hilflosem Zorn und Abscheu geschüttelt wurde; in seinem Kopf gingen das Testament, von welchem die Nonne gesprochen hatte, das Lotterielos, das seltsame Spiel, das die Oberin »Vorsehung« nannte, und die Tatsache, daß sowohl Schwester Maura wie Herr Belfontaine heute morgen, in magischen Formeln gewissermaßen, von Geld und Gewinn geredet und etwas Kommendes vorgeahnt, ja, unter seltsamen Zeichen wie Handjucken, Abzählen, Flüstern, Verstecken, herbeigezogen hatten, wie ein Wirbelsturm durcheinander. Von dumpfen Ängsten gequält und durchzittert, glaubte das Kind mit dem Testament, vielmehr mit dem Los in der Gartenkugel, seinen Vater dem Tode verfallen – und ohnmächtig, seiner Befürchtung anderen Ausdruck zu geben, richtete sich der Schrei seines Herzens gegen die Oberin.

Als ob sich ein böses kleines Reptil aus dem Gras vor ihr aufgebäumt hätte, starrte die dicke Mutter entgeistert auf den kindlichen Racheengel. Ihre Lippen öffneten, schlossen und öffneten sich wieder, ohne ein Wort zu verlieren. Sie fühlte, daß sie zum zweiten Male an diesem Tage des Schreckens gerichtet worden war und schlug mit einem Laut des Entsetzens die Hände vor das Gesicht . . ..

Gleich danach sprühte die Gartenkugel in dem schwefligen Licht eines Blitzes, den der Himmel bis dahin verborgen hatte, wie ein tanzender Feuerball auf; der Donner warf sich so rasch hinterher, daß man glauben konnte, er habe das Licht wie Prometheus vom Himmel gerissen.

»Es hat eingeschlagen, so wahr ich lebe!« schrie die Oberin in das Getöse des losgebrochenen Wetters, das den Garten durchraste, das Strauchwerk zum Brechen und die Türen und Fenster des Hauses zum Schlagen und Klirren brachte.

»Noch nicht, Schwester Maura! Noch nicht!« erwiderte ihr im Rücken eine scharfe, spöttische Stimme, die sich dem Pfeifen des Sturmes mit durchdringender Härte vermählte: Herr Belfontaine hatte den Garten durch den hinteren Ausgang betreten und war nun über den hohen Rasen, in welchem das unablässige Schrillen der Zikaden plötzlich verstummt und von dem sinnlich vibrierenden Rohr der Windflöte eingesaugt worden war, gleichsam herangepeitscht worden. Die Oberin stieß einen gellenden Ton aus, raffte die Röcke zusammen und rannte gegen das Haus; Elfriede, als ob sie mit ihrem Schürzchen eine Henne vom Gras verscheuchte, lief mit »bschbsch« und »huschhusch« hinterher, während Herr Belfontaine achselzuckend bei den Grottensteinen verweilte und mit betonter Nachlässigkeit einen Fuß auf die Steinhocker stellte, den Ellbogen aufstützte und das Gesicht in die offene Handfläche legte.

Es flammte nun traumhaft schnell nacheinander, dann gleichzeitig hinter den Floren der blauschwarzen Himmelswände; als ob sich jeder Schlange, die zuckend und den Wetterweg zeichnend vorübereilte, eine Spiegelfläche entgegenstellte, löste Blitz den Gegenblitz aus. Der Donner überstürzte, vermischte, verstärkte sich in dem nächsten, und der dröhnende, feuerflüssige Hohlraum einer unaufhörlich sich bildenden Kugel umschloß mit den Innenwänden aus Glanz und löwenhaftem Gebrüll diesen Garten, der seine Wirklichkeit gegen den Trug einer Lichtmagie eingetauscht hatte, die ihn schöner und lebloser machte.

Wie aus dünnen, flachgewalzten Metallen: aus Rauschgold, Silberpapier und Stanniol; aus Glasfäden, kleinen, funkelnden Scherben von falschem Grün und vergiftetem Blau; aus Glimmerblättchen; aus allem geschaffen, was die bengalischen Feuerkünste eines Wetters auf der Netzhaut des stummen Beschauers hervorzubringen imstande waren – bog sich, wie Hauchpapier auf der Hand, diese Welt aus Blättern, Blumen und Gras von dem Wesensgrund der Natur hinweg und verstärkte den Schein durch den Schein. Sie erstarrte, sie wandte sich gegen sich selbst, widersprach sich und kehrte im Laubwerk die Unterseite der Blätter nach oben – bis an den Stamm hin erblaßt. Ein banger Schauder, die Hand des Todes, strich über die niedrig gehaltenen Hecken, den Buchs, die Ziersträucher und den Fuchsschwanz am Rande des Goldfischbassins und entfärbte selbst noch den Sand. Das dunkle Goldgelb und Violett der Stiefmütterchen, welche die Wege säumten, floß in dem Schmelztiegel eines Demiurgen wie Gold und Eisen zusammen; Sternblumen traten in das Gestein, das sie entlassen hatte, zurück und glänzten wie Bergkristalle; die Knospen kommender Frühsommerpflanzen mußten, als ob der Finger des Lebens, da er plötzlich von ihnen abließ, einen Gegendruck ausgeübt hätte, die unendlich langsame, milde Bewegung des Erblühens vergessen haben – doch schienen diese Blätter und Blumen alle, die über das trostlos gefesselte Reich der Elemente nicht vordringen konnten, den außerweltlichen Blick eines Dämons mit Ungeduld zu erwarten, der sie, Blitz um Blitz, aufspringen ließe wie dürre Storchschnabelfrüchte: unvermittelt und koboldhaft . . .

»Aber das ist ja die Hölle!« sagte Herr Belfontaine halblaut und starrte aufmerksam, ohne Furcht und fast ohne Anteilnahme, in den wilden Wechsel von Hell und Dunkel, den der brüllende Donner zermalmte. Eine lüsterne Neugier, die er zuweilen bei pyrotechnischen Schauspielen hatte, ließ ihn das Auf- und Niederwärtsflammen der sphärischen Feuer mit Ruhe betrachten, ja, ihre grottenbildende Wirkung, die, gleich der Gartenkugel am Morgen, diesem Ort eine saugende Tiefe verlieh, bewundern.

»Die Hölle . . .«, sagte er wieder mit einer gewissen Andacht – – dann stürzte, als ob die Schleusen des Himmels durch einen unvermittelten Stoß geöffnet worden wären, die betäubende Fülle des Regens herunter, eines Wolkenbruchs, welcher die Rasenfläche im Nu überschwemmte und aufriß, die Wege in sprudelnde Wasserbäche und das kleine Rondell vor der Gartentreppe in einen wilden knietiefen See, auf welchem abgetriebene Hölzchen und Blätter schwammen, verwandelte. Herr Belfontaine, bis auf die Haut durchnäßt, schlug den Kragen seines Jacketts in die Höhe und ging, da die Treppe schon überschwemmt war, den gleichen Weg wieder zurück, auf dem er gekommen war.

Er gewann das Haus von der Straße her, deren Pfützen unter dem fetzigen Himmel, den die Sonne bereits wieder aufriß, in kräftigem Silber glänzten, während Rinnstein und Dachkandel ununterbrochen von der drängenden Wasserflut brausten und rauschten, die sich mit unverminderter Kraft durch die Rohre und in die Behälter stürzte. Indem Herr Belfontaine, als er den Laden und das Warengewölbe durchschritten hatte, vor der Barocktür verweilte, deren Messingklopfer er angehoben und fallengelassen hatte, bemerkte er, daß sich zu seinen Füßen, in der Zeit, bis das Mädchen ihm öffnete, eine Wasserlache gebildet hatte; eilte daher die Treppe hinauf und in das Badezimmer, wo er sich trockenrieb, klopfte, massierte, die Wäsche wechselte und seine Kleider mit einem Mantel aus weinrotem Samt und brauner Seidenkordel vertauschte, den er, obwohl ein Geschenk seiner Frau, haßte, weil er ihm immer als »zu wenig seriös« erschien; nahm die scharfe, silberbeschlagene Bürste und ging mit ungeduldigen Strichen über das dunkle und nun von der Nässe noch stärker als sonst gekrauste Kopfhaar, das sich trotz der Zuhilfenahme von Öl und teuerster Pomade nicht glätten lassen wollte. Hierauf, eine Zigarette entzündend, welche er, um den Eindruck des Lebemannes vollzumachen, gegen seine Gewohnheit auf eine außerordentlich lange, verräucherte Bernsteinspitze verpflanzte, begab er sich wieder der Treppe zu und trat, sich innerlich selbst verspottend, »wie die Sonne aus ihrem Zelt«.

»Jetzt aber, verehrte Frau Oberin Maura – –«, sagte er wollüstig vor sich hin, als er plötzlich die Ladenglocke wie irrsinnig schellen hörte, das Werfen von Türen, das Schlagen des Klopfers und Bertas Pferdegalopp vernahm, der sich der Vorplatztür näherte.

»Um Gottes willen, ist unsre Frau Mutter . . . ist die Frau Oberin noch im Haus?« hörte er eine gellende Stimme und stieß an der untersten Treppenstufe mit der kleinen Eustachia zusammen. Sie hielt einen triefenden Regenschirm vor sich, den ihr Berta, um das Parkett besorgt, sogleich aus den Händen riß, und glotzte, außer sich vor Erstaunen, den schicken Herrn Belfontaine an.

»Bitte, folgen Sie mir nur immer«, sagte derselbe beflissen, öffnete ihr die Wohnzimmertür und ließ ihr mit einer Verbeugung den Vortritt.

»Nach Ihnen!« hauchte Eustachia verlegen und schlüpfte dann doch, von der Botschaft getrieben, welche sie ausrichten mußte, wie ein Kätzchen an ihm vorbei.

Im Hintergrunde des Zimmers saß die Oberin auf dem Sofa; Elisabeth, freundlich wie immer, daneben, und das artige kleine Elfriedchen kniete, den Rücken zu beiden gekehrt, auf einem Stuhl an dem Fenster und starrte, die Ellbogen aufgestützt, unbeweglich ins Freie hinaus. »Frau Oberin – er ist tot!« brachte Eustachia hervor. »Der alte Esselborn ist gestorben«, fügte sie trocken hinzu. Die Oberin tat einen seltsamen Satz und schnappte mit weit geöffnetem Mund wie eine dicke, schnellende Schleie nach den kurzen, schnurrenden Sätzchen, welche Eustachia entließ; dann fiel sie, ohne ein Wort zu sagen, in die Sammetpolster zurück und griff nach dem Rosenkranzkreuz. »Gerade als ich ihn umbetten wollte«, plapperte die Novizin wie ein eifriges Schulkind weiter, das sich entschuldigen möchte, »ist er mir unter den Händen geblieben und war so schnell aus wie ein Licht. Die Sakramente hatte er ja . . .« Sie war zu Ende mit ihrer Erzählung und blickte gespannt auf die Oberin, die das weitere wissen mußte.

Aber nichts von dem, was die kleine Eustachia, was Herr Belfontaine, der sich auf tückischen Sohlen den Frauen genähert hatte, ja, selbst was Elisabeth, peinlich berührt, im stillen erwartete, trat nun in Wirklichkeit ein. Die dicke Mutter, von Macht und Würde gleichermaßen umflossen, richtete sich in der ganzen Höhe ihrer schweren Leiblichkeit auf und sagte: »Gott sei Dank. Gott gebe ihm die ewige Ruhe –!«

»Amen«, ergänzte Herr Belfontaine scharf und fügte aufreizend freundlich hinzu: »Nun, da kann man Ihnen ja gratulieren!«

»Das kann man auch«, sagte die Oberin ruhig. »Aber zu etwas anderm, als Sie glauben, Herr Belfontaine.« Sie blickte aufmerksam in die Runde und sagte: »Ich weiß, was ihr denkt. Auch du, Eustachia –. Ihr alle. Ihr denkt: jetzt hat sie geerbt. Aber so wahr ich hier stehe – –« Sie mäßigte sich gewaltsam und schnitt mit der Hand durch die Luft, als wollte sie sagen: Aus. »Keinen Pfennig«, fuhr sie gelassen fort, »und keinen Stein in dem Haus. Wenn ich gewollt hätte – freilich, dann . . . Aber ich darf mich nicht loben. Ich habe auch manchmal gewollt. Erst heute wieder –. Das geht euch nichts an. Gott hat meine Prüfung abgekürzt, ja. Gott sei Dank. Gott sei Lob und Dank.« Sie atmete tief und wie schluchzend auf und sagte dann mit kindlicher Stimme: »Ich hätte so gern das Kapellchen gebaut. Das war mein einziger Wunsch.«

Elisabeth faßte nach ihrer Hand. »Liebe, gute Frau Oberin«, flüsterte sie bestürzt.

»Liebe! Gute! Du bist wohl verrückt«, knurrte die Nonne sie an. »Ich muß fort. Wer soll den Alten denn waschen? Hast du ihm wenigstens gegen die Fliegen ein Tuch aufs Gesicht gelegt?« fragte sie ihre Novizin mit bitterbösen Augen. »Natürlich nicht. Aber herlaufen kannst du, als stünde das Kloster in Flammen. So seid ihr. Es ist kein Verlaß auf euch. Ich gehe jetzt –.«

»Ach, einen Augenblick, bitte!« sagte Herr Belfontaine hastig. »Ich nehme doch an, es besteht nun kein Grund mehr, die Kirchenwäsche zurückzuweisen. Selbstverständlich werde ich mich bemühen, den Pfarrer über das böse Geschwätz der Lorenz aufzuklären und bitte Sie auch selbst um Verzeihung . . .«

»Dummes Zeug«, unterbrach ihn die Oberin grob. »Ich habe keinen Streit mit dem Pfarrer. Das könnte der Lorenzen freilich so passen, uns auseinanderzutreiben. Sie steckt sich wohl hinter die Kindermann, wie? Leichte Sache bei diesem Schaf!«

»Wen meinen Sie?« gab er entsetzt zurück.

»Nun – die Kindermann! Oder wen dachten Sie sonst?« Plötzlich lachte sie schallend und rauh auf ihre männliche Art. »Ach so . . . ich verstehe. Nein, nein. Nein, nein. Obwohl er wahrhaftig ein Starrkopf ist – aber klüger als ich und Sie.« Noch immer lachend, ging sie hinaus, die Novizin an ihrer Seite, Elisabeth hinter ihr drein.

»Ein Starrkopf? Soso?« sagte Belfontaine leise und suchte das scheue Wesen des Pfarrers mit diesem Wort zu vergleichen. »Ein Starrkopf ?« Sein vergebliches Ringen um die Freundschaft jenes seltenen Menschen fiel ihm unvermittelt und schmerzhaft ein. »Wenn es nur dies ist – –«, ein leichtes Geräusch ließ ihn heftig zusammenfahren.

»Elfriede!« rief er gleich darauf aus. »Was tust du denn hier an dem Fenster?« Die Kleine, als ob sie bis dahin eine Schutzfarbe verborgen hätte, drehte sich ängstlich um; ihr Gesichtchen, zeitlos und kindlich zugleich, trug einen Ausdruck, welcher die Mutter: ›Bist du krank?‹ zu fragen veranlaßt hätte; ein leidendes Angespanntsein der Züge, das über ihr Alter ging. »Elfriede?« sagte Herr Belfontaine wieder mit einem Anflug von Unsicherheit und umfaßte ihr Kinn mit der Hand.

»Was ist Vorsehung?« fragte die Kleine aufs neue und blickte den Vater an.

Belfontaine zuckte erschrocken zurück und starrte auf sie nieder. »Vorsehung? Aber wie kommst du darauf?« hörte er eine heisere Stimme, die seine eigene war.

»Nur so. Ich will wissen, was Vorsehung ist«, wiederholte sie eigensinnig.

»Das kannst du heute noch nicht verstehen. Später –« [›. . . werden Sie mich begreifen und den Unterschied zwischen Gesetz und . . . Vorsehung kennenlernen‹, ergänzte Gully in ihm.] »Später«, setzte er wieder an und blickte auf eine kleine, glasüberstürzte Kaminuhr, die eben zum Schlag ausholte: unter dem Rokokoaufbau des porzellanenen Fußes, der einen koketten Seeräuber trug, welcher gerade seine Pistole auf das zierliche Pulverfaß stellte, ging der Pendel unsichtbar hin und her und warf, von der Seite gesehen, seinen pulsierenden Schatten bei der Wiederkehr auf das Glas. »Vorsehung«, sagte Herr Belfontaine mühsam, »ist alles, was geschieht. Daß du lebst, und daß Herr Esselborn tot ist, daß die Sonne auf- und untergeht, weißt du . . .«, er hielt inne und wartete ab, welchen Eindruck seine Erklärung machte, die ihm selber merkwürdig leblos vorkam, als ob er den Pendel verschwiege, welcher den Schattenpuls wirkte, an dem man ihn ablesen kann. »Vorsehung«, wiederholte er zaghaft, »ist einfach alles, verstehst du?«.

»Und wer macht sie?« fragte das Kind.

In der Stille, die sich verbreitete, schien ein Engel Antwort gegeben zu haben; doch war es nur der silberne Uhrschlag, welcher als letzter verschwang.

»Ich weiß es. Natürlich der liebe Gott«, sagte Elfriede beruhigt. Sie drehte sich wieder dem Fenster zu und sah in den Garten hinaus. Der Wolkenbruch war jetzt schon lange vorbei und in das sanfte, schläfrige Rauschen eines Landregens übergegangen. Wie am frühen Vormittag unter der Wohltat der aufgefächerten Wasserstrahlen, die den Rasen mit Feuchtigkeit tränkten, bogen sich Blumen, Halme und Gräser bis auf die Erde hinunter und gewannen sich aus der Verzauberung der Gewitterspiele zurück . . .

In der Nacht – es hatte stark abgekühlt und der Regenfall nachgelassen – wachte Herr Belfontaine plötzlich auf und glaubte, noch halb im Schlaf befangen, das Ticken einer Uhr zu vernehmen, die irgendwie mit ihm selber und dem verflossenen Tage in tiefem Zusammenhang stand. Doch bald erkannte er, daß das Geräusch von einer tropfenden Dachkandel herkam, von welcher, in immer demselben Abstand, das Wasser sich löste und absprang. Die Hände unter dem Nacken verschränkt, starrte Belfontaine gegen die Decke und hatte den unabweisbaren Eindruck, als schlüge Tropfen um Tropfen an seiner Herzmitte auf. Er drehte sich ungeduldig zur Seite, doch war es wieder die nämliche Stelle, welche getroffen wurde.

»Was hast du nur? Warum schläfst du nicht?« fragte Elisabeths Stimme.

»Das Klopfen –«, gab er zur Antwort.

Elisabeth horchte und sagte dann leise, schon wieder in Schlaf versinkend: »Heute hat übrigens, kaum, daß du weg warst, einer nach dir gefragt.«

»Wer?« kam es atemlos aus dem Dunkel.

»Ach, ein Vertreter.« Sie raffte sich auf und ergänzte: »Ein Vertreter der französischen Firma, die uns den Beaujolais schickt. Ein Herr – nun weiß ich den Namen nicht mehr. Warte. Ein Herr . . . Tricheur. Am Montag kommt er wieder vorbei und wird seine Aufwartung machen.«

»So, so«, sagte Belfontaine tief enttäuscht. »Übrigens ein gelungener Name für einen Weinpanscher, wie?«

Das unauslöschliche Siegel

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